"Schizophrenie ist scheiße, Mama!"
Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter
»Ihre Tochter hat Schizophrenie!«
Diesen Satz hört Janine Berg-Peer vor 16 Jahren das erste Mal. Von einem Tag auf den nächsten ist nichts in ihrem Leben so wie vorher. Der Kampf einer mutigen und starken Frau um das Wohl ihres Kindes beginnt....
Diesen Satz hört Janine Berg-Peer vor 16 Jahren das erste Mal. Von einem Tag auf den nächsten ist nichts in ihrem Leben so wie vorher. Der Kampf einer mutigen und starken Frau um das Wohl ihres Kindes beginnt....
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Produktinformationen zu „"Schizophrenie ist scheiße, Mama!" “
Klappentext zu „"Schizophrenie ist scheiße, Mama!" “
»Ihre Tochter hat Schizophrenie!«Diesen Satz hört Janine Berg-Peer vor 16 Jahren das erste Mal. Von einem Tag auf den nächsten ist nichts in ihrem Leben so wie vorher. Der Kampf einer mutigen und starken Frau um das Wohl ihres Kindes beginnt.
Selbstkritisch und mit großer Offenheit beschreibt sie, wie sie gemeinsam mit ihrer Tochter, manchmal auch gegen sie, lernt, mit deren Krankheit umzugehen.
»Der Boden hat sich unter mir aufgetan. Schizophrenie? Meine Tochter? Das muss das Ende von unserem Leben sein. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Krankheit erfasst alles, was ich tue, was ich denke und wie ich mit anderen Menschen kommuniziere. Es gibt keine Verhaltensanleitung für eine Angehörige. Es gibt kein Vorbild. Was darf ich, was mache ich richtig, was falsch? Darf ich überhaupt ein normales Leben weiterleben? Kann ich mich am Leben freuen?«
Lese-Probe zu „"Schizophrenie ist scheiße, Mama!" “
Schizophrenie ist scheiße, Mama! von Janine Berg-PeerEin Anruf, der alles verändert
1996
... mehr
»Sie müssen Ihre Tochter sofort abholen«, sagt der verärgerte Direktor des Internats in England, in dem Lena seit einem Jahr lebt. »Ihre Tochter hat Drogen genommen, sie benimmt sich unmöglich und hört nicht auf die Lehrer. Und sie raucht, obwohl das streng verboten ist. Sie ist hier untragbar.« Man habe sie am Morgen ins Krankenhaus gebracht, um einen Drogentest machen zu lassen. Nun sei sie unter der Aufsicht einer Krankenschwester in der Krankenstation. Keinen Tag länger könne sie im Internat bleiben. Das sei den anderen Kindern nicht zuzumuten.
Ich bin fassungslos. Besorgt um Lena, aber auch wütend. Was hat sie bloß angestellt? Ich hatte doch gerade den Eindruck, dass es ihr im Internat bessergeht, dass ihr die klaren Strukturen dort guttun. Und ich hatte geglaubt, Lena an einen sicheren Ort gebracht zu haben, an dem sie von ihren kiffenden und Alkohol trinkenden Freunden getrennt ist. Ihre Versetzung war gefährdet, und der Wechsel aufs Internat sollte das Sitzenbleiben verhindern. Außerdem hätte Lena mit einem englischen Schulabschluss bessere Chancen für Studium und Beruf, dachte ich.
Lena war nur unter Tränen nach England gegangen. Anfangs hasste sie das Internat. Sie hatte Probleme mit den anderen Mädchen, sie räumte im gemeinsamen Zimmer nicht auf und wusch ihre Sachen nicht oft genug. Um sie zu trösten, besuchte ich sie, und gemeinsam verbrachten wir schöne Ferien im Süden Englands. Bei unseren letzten Telefonaten klang Lena zufrieden und vergnügt. Sie erzählte, dass sie die beste Schwimmerin sei, dass ihr das Hockeyspielen keinen Spaß mache, aber dass sie in Englisch und Französisch gute Noten habe. Sie habe nun Freundinnen aus Hongkong, und außerdem gebe es einen Jungen, der Marc heiße und schon 19 Jahre alt sei.
Als ich meine Tochter nach England ins Internat schickte, habe ich nicht nur an sie gedacht, sondern auch an mich. Ich wollte ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, aber ich wollte auch endlich Ruhe haben vor den pubertätsbedingten Schwierigkeiten, die uns im Jahr davor in Atem gehalten hatten. Wir stritten uns oft, ich war mit meiner neuen Selbständigkeit beschäftigt, und Lenas Schulleistungen litten darunter.
Nach der Trennung von Lenas Vater lebte ich allein mit ihr, ich musste und wollte arbeiten und Geld verdienen. 1995 hatte ich mich als Beraterin selbständig gemacht. Es war aufregend, ein eigenes kleines Büro zu mieten und zum ersten Mal ein eigenes Schild an der Tür anzubringen. Schon vier Monate später bekam ich einen großen Auftrag, der über mehrere Jahre gehen sollte und mich zwang, mehr Mitarbeiter einzustellen. Sechs Monate danach bezog ich ein großes Loft als Büro in Berlin-Mitte. Jetzt arbeite ich begeistert bis zu 16 Stunden am Tag, bin oft vollkommen erschöpft und der glücklichste Mensch auf der Welt. Zum 1. Oktober 1996 habe ich eine herrliche Dachgeschosswohnung mit Terrasse und Blick über Berlin gemietet. Auch Lena soll dort ein schönes Zimmer bekommen. Ich freue mich auf den Umzug.
Der Anruf aus England bringt alle Planungen durcheinander. Lena muss sofort aus dem Internat abgeholt werden, aber wie soll ich das organisieren? Ich habe ein volles Programm und muss am nächsten Tag wegen eines Seminars nach Hamburg fahren. Ich habe Angst um Lena, bin aber auch wütend auf sie. Was ist bloß passiert? Ich rufe im Internat an, und nach langem Hin und Her werde ich zur Krankenstation durchgestellt. Lena freut sich, meine Stimme zu hören. »Bitte hol mich ab, Mama. Hier ist es schrecklich.« Ihre Stimme klingt normal. »Die anderen auf der Krankenstation schreien mich die ganze Zeit an und sind scheußlich zu mir. Sie lachen über mich. Auch die Krankenschwester brüllt mich an und gibt mir nichts zu trinken. Ich habe Durst.« Ich versichere ihr, dass ich sie abholen werde. »Bitte nicht böse sein, Mama, dass ich dir jetzt wieder Sorgen mache.« Sie weint. Wir reden noch eine Weile, und ich verspreche, sie wieder anzurufen und zu sagen, wann ich komme. Dann lege ich auf.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst um Lena, aber auch Angst um meinen Auftrag und die gerade erst eingestellten Mitarbeiter. Ein Fehler - und sofort stehen größere und bekanntere Beratungsfirmen als meine dem Auftraggeber zur Verfügung. Die Konkurrenz ist mörderisch. Ich kann nicht einmal daran denken, den Auftrag abzusagen. Ohne ihn kann ich weder das Loft noch die neue Dachgeschosswohnung bezahlen. Aber ich muss Lena abholen. Langsam beginne ich zu ahnen, dass mein gerade begonnenes glückliches Leben ein Ende hat.
Die Begrüßung im Internat durch den Direktor ist frostig, Lenas Koffer stehen schon gepackt in der Eingangshalle. Sie wirkt müde, freut sich aber, mich zu sehen, und folgt mir wie in Trance zum Flughafen. Auch ich funktioniere seit dem Anruf wie mechanisch. Zu Hause in Berlin versuche ich erst einmal, sie zu beruhigen. Ich mache ihr etwas zu essen, lasse ihr ein Bad einlaufen und beobachte sie heimlich. Ist etwas an ihr merkwürdig? Ich habe keine Erfahrung mit den Auswirkungen von Drogen. Wieder erzählt sie von der schlechten Behandlung in der Krankenstation, den unfreundlichen Mädchen. Mir fällt auf, dass sie etwas albern vor sich hin kichert. Ich versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen, aber sie erzählt dieselbe Geschichte immer wieder. Ich tröste sie, bin aber gleichzeitig wütend auf das Internat. Selbst wenn sie Drogen genommen hätte, wäre das doch kein Grund, eine Schülerin so zu behandeln. Nimmt Lena wirklich Drogen? Wie kann ich das herausfinden? Kann ich sie allein lassen?
Ich frage mich, wie es nun weitergehen soll. Für Lena muss ich in Berlin eine neue Schule finden. Im Büro muss ich mich um meine Klienten kümmern und eine Präsentation vor einem wichtigen Gremium vorbereiten. Für die nächste Woche ist der Umzug geplant, und die alte Wohnung muss renoviert werden. Wo soll Lena in dieser Zeit bleiben? Ich wage nicht, sie allein zu lassen. Eine Freundin weigert sich, Lena für ein paar Tage aufzunehmen, sie hat Angst. Lena muss also mit zu mir ins Büro. Meine Mitarbeiterinnen beschäftigen sich freundlich mit ihr und geben ihr kleine Aufgaben. Ein Kollege übernimmt selbständig die Organisation des Umzugs und der Renovierung. Ich versuche, den Seminarbetrieb aufrechtzuerhalten und mich abends um Lena zu kümmern. Ihr Verhalten schwankt zwischen infantilem Lachen und schlechter Laune, wenn ich ihr nicht sofort jeden Wunsch erfülle. Vor Anspannung schlafe ich schlecht, arbeite mehr denn je und habe ständig Angst, dass irgendetwas nicht klappt.
Keine Drogen
Wieder ein Anruf aus England: Der Test ist negativ, Lena hatte also doch keine Drogen genommen. Merkwürdigerweise bin ich nicht erleichtert, sondern noch beunruhigter als nach dem ersten Anruf. Wenn Drogen nicht die Ursache für Lenas seltsames Verhalten sind, was ist dann mit meiner Tochter los? Ich frage den Direktor, warum sie Lena überhaupt verdächtigt hatten, Drogen genommen zu haben, und er berichtet, dass man Lena abends rauchend am Seeufer im Park gefunden habe. Da Rauchen verboten ist, wurde sie von der Lehrerin streng ermahnt, worauf sie merkwürdig reagierte. Sie blieb einfach ruhig sitzen und rauchte weiter, lächelte vor sich hin und wollte nicht zurück in den Schlafsaal. Deshalb wurde Lena zum Drogentest ins Krankenhaus in die nächstgelegene Stadt gebracht und anschließend in die Krankenstation des Internats, um sie von den anderen Kindern zu isolieren. Warum sie auf der Krankenstation von den anderen Schülerinnen und der Schwester so unfreundlich behandelt worden sei, frage ich. Der Direktor ist erstaunt. Lena sei allein in der Krankenstation gewesen, nur die Krankenschwester habe sich freundlich um sie gekümmert. Aber Lena hat doch erzählt ...? Warum berichtet sie glaubhaft von Schülerinnen, die sie auslachen, obwohl sie doch alleine dort war? Weshalb behauptet sie, dass die Krankenschwester sie anschreit und ihr nichts zu trinken gibt? Ich habe keinen Grund, an den Aussagen des Direktors zu zweifeln, der jetzt auch besorgt ist und fragt, ob ich nicht doch mit Lena zum Arzt gehen wolle. Ich bin verwirrt und beunruhigt, begreife aber, dass ich dringend etwas unternehmen muss. Ein Arzt muss herausfinden, was mit ihr los ist.
Als Lena und ich bei einer Psychiaterin kurzfristig einen Termin bekommen, ist Letzterer sofort alles klar. Lenas Zustand sei auf ihren früheren Haschischkonsum zurückzuführen, sagt sie nur. Sie ermahnt Lena, auf keinen Fall mehr Drogen zu nehmen. Lena verspricht alles. Ich bin immer noch ahnungslos, welcher Zustand gemeint sein könnte. Weitere Hinweise oder Ratschläge bekommen wir nicht.
Ein neuer Schock: Eine Mitarbeiterin bittet mich in einem vertraulichen Gespräch darum, Lena doch nicht immer so anzuschreien. Das würde meine Tochter sehr belasten. Ich bin fassungslos. Ich soll Lena anschreien? Jeden Abend versuche ich, sie mit Freundlichkeit und warmem Tee zu beruhigen, ihre Lieblingsgerichte zu kochen und sie aufzuheitern. Ich merke ja auch, dass sie extrem nervös ist. Weshalb erzählt sie solche Sachen? Meine Mitarbeiterin guckt mich skeptisch an, und ich spüre, dass sie mir nicht wirklich glaubt.
Wieder scheucht mich ein Anruf auf. »Mami, irgendetwas stimmt mit Lenas Ticket nicht«, sagt meine ältere Tochter Friederike.
»Mit welchem Ticket? Und wo seid ihr überhaupt?«
»Wir sind hier am Flughafen. Lena fliegt doch wieder nach England, und du hast das Ticket hinterlegt. Aber die Frau von der BA sagt, hier sei kein Ticket.«
Ich falle aus allen Wolken. Lena am Flughafen, auf dem Weg nach England? Mein Pulsschlag erhöht sich. »Wieso bist du überhaupt mit ihr am Flughafen?« Friederike hat Lena auf dem Bürgersteig vor dem Haus sitzend neben einem Koffer vorgefunden. Sie müsse zum Flughafen, erzählt sie, habe aber kein Geld für ein Taxi und könne mich telefonisch nicht erreichen. Friederike bietet sich an, ihr zu helfen und sie zum Flughafen zu begleiten. Ich hole tief Luft und bitte Friederike, sich nicht von der Stelle zu rühren, bei Lena zu bleiben und jede Aufregung zu vermeiden. Sie solle ihr sagen, ich käme gleich. Endgültig wird mir klar, dass ich die Hilfe der Psychiatrie in Anspruch nehmen muss. Hier ist etwas nicht mehr normal. Aber was ist, wenn Lena sich weigert mitzukommen? Ich bitte einen Cousin von Lena, mich zu begleiten. Noch nie bin ich, unter Missachtung aller Verkehrsregeln, so schnell zum Flughafen gefahren. Dort treffen wir auf Friederike und eine entspannte Lena, die ruhig im Wartebereich sitzt, Cola trinkt und raucht. Zu meinem Erstaunen steigt sie ohne jeden Widerstand ins Auto. Sie freut sich, ihren Cousin zu sehen, aber sie ist etwas unruhig, und sie fragt noch einmal nach dem Flug. Ich verspreche, dass wir am nächsten Tag nachfragen würden. Während wir ins nächstgelegene psychiatrische Krankenhaus fahren, fällt mir wieder auf, wie albern sie vor sich hin kichert. Im Gegensatz zu mir scheint sie keine Angst vor dem zu haben, was sie erwartet. Sie geht ohne Widerstand in das Gebäude, sieht etwas abwesend, aber entspannt aus. Ob sie noch eine Cola haben könne? Und sie müsse unbedingt noch eine rauchen, bevor wir mit einem Arzt sprechen. Wir warten geduldig mit ihr in der Krankenhauslobby. Wir machen alles mit, solange sie nicht wegläuft oder sich weigert, mit zu den Ärzten zu kommen. Aber Lena folgt uns problemlos zur Anmeldung.
Die Diagnose
Eine freundliche Ärztin empfängt uns, und ich beschreibe ihr vorsichtig, was vorgefallen ist und dass ich sehr besorgt bin. Lena sitzt neben mir. Wie soll ich in ihrer Gegenwart erklären, dass sie sich »verrückt« verhält? Wie wird das auf sie wirken? Frau Dr. B. beginnt, sich mit Lena zu unterhalten, fragt, wie es ihr gehe, wie lange sie in England gewesen sei und ob es ihr dort gefalle. Lena antwortet ruhig, aber etwas fahrig und unkonzentriert. Sie scheint abwesend, will rauchen, kichert und sagt, dass sie schnell ins Internat zurückmüsse, weil sie eine Englischarbeit vor sich habe. Nach kurzer Zeit greift die Ärztin zum Telefonhörer und fragt, ob noch ein Bett frei sei.
»Ihre Tochter hat Schizophrenie«, sagt die Ärztin sachlich. »Aber Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben.«
Der Boden tut sich unter mir auf. Meine Tochter - Schizophrenie? Ist Schizophrenie nicht diese entsetzliche Krankheit, mit der man rasende, gefährliche Menschen assoziiert, die mit abstehenden Haaren und wahnsinnigem Blick ihre Umgebung bedrohen? Stöhnende, lethargische Patienten, die in weißen Kitteln durch die Flure von »Irrenanstalten « schleichen? So wie Jack Nicholson in dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest« oder Angelina Jolie in »Durchgeknallt «? Meine 17-jährige Tochter, die kindlich kichert und unverständliche Sätze vor sich hin murmelt, aber sicher für niemanden eine Bedrohung darstellt, soll an Schizophrenie erkrankt sein? Und was soll diese Diagnose mit Schuldgefühlen zu tun haben?
Ich ringe darum, die Diagnose zu begreifen und zu verstehen, dass meine Tochter nun auf die Station einer psychiatrischen Klinik gehen soll. Sie bekommt ein Zimmer zugewiesen, und ich muss sie dortlassen. Aus Filmen und Büchern habe ich entsetzliche Vorstellungen von psychiatrischen Anstalten. Wie wird es dort aussehen? Was wird mit Lena gemacht? Wird sie festgebunden werden? Wie wird der Umgangston dort sein? Darf ich sie begleiten?
»Ihre Tochter kann gleich hierbleiben, auf Station 4 steht ein Bett für sie bereit. Sie können mit ihr nach oben gehen, die Schwester weiß Bescheid. Sie können ihr ja später noch Sachen vorbeibringen.« Die praktischen Handlungsanweisungen der Ärztin bekomme ich kaum mit, ich stehe unter Schock. Dass Lena ein psychisches Problem hat, war irgendwie klar, sonst wäre ich nicht in die Psychiatrie gefahren. Aber niemals hätte ich mit der furchteinflößenden Diagnose Schizophrenie gerechnet. Es fühlt sich an, als ob dies das Ende unseres Lebens ist. Die Schuldgefühle, die ich nicht haben soll, nehme ich gar nicht wahr. Mein Kopf ist leer. Ich bin froh, dass die Ärztin mir erklärt, dass eine Schwester uns nach oben begleiten wird. Lena und ich brauchen jetzt jemanden, der uns sagt, was zu tun ist. Friederike und mein Neffe versprechen zu warten.
»Haben Sie Ihre DAK-Karte mit?«, fragt die Schwester. »Die brauche ich noch. Und dann müssen Sie dieses Formular ausfüllen.« Ich starre sie an. DAK-Karte? Formular? Ich bin unfähig, in diesem Moment über solche Dinge nachzudenken. Die Schwester bemerkt meine Verwirrung und murmelt, dass wir das später nachholen können.
Wir folgen der Schwester in den Fahrstuhl. Was erwartet uns auf der Station? Ich frage mich, ob es Anstaltskleidung gibt, abgeschlossene Flure und Zimmer ohne Fenster. Ob wir von stöhnenden und brüllenden Insassen und muskulösen Wärtern empfangen werden, die bereit sind einzugreifen, wenn jemand sich »verrückt« benimmt. Zu meiner Überraschung lässt sich die Glastür, die den Blick auf einen Flur freigibt, problemlos öffnen. Also keine verschlossenen Türen? Sie bittet uns höflich, im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen. Kurz darauf erscheint ein freundlicher junger Mann in Jeans und Kapuzenpulli. »Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragt er Lena. »Ich könnte Ihnen noch etwas warm machen.« Lena möchte gerne etwas essen. Ich bin überrascht, der junge Pfleger entspricht nicht meiner Vorstellung. Die Pfleger in Hollywoodfilmen sehen anders aus. Überhaupt ist alles anders, als ich - durch Literatur und Medien beeinflusst - gedacht habe. Niemand brüllt, es gibt keine verschlossenen Türen, und die Patienten werden höflich mit Nachnamen und »Sie« angesprochen. Niemand trägt Anstaltskleidung oder einen Schlafanzug. Lenas Zimmer sieht wie ein normales Krankenhauszimmer aus, nur das Fenster lässt sich nicht öffnen. Eine ältere Frau schläft im zweiten Bett. Es gibt einen großen Ess- und Aufenthaltsraum, in dem die Patienten rauchen können. Vom Gang aus kann ich in einen freundlich eingerichteten Fernsehraum blicken.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Sie müssen Ihre Tochter sofort abholen«, sagt der verärgerte Direktor des Internats in England, in dem Lena seit einem Jahr lebt. »Ihre Tochter hat Drogen genommen, sie benimmt sich unmöglich und hört nicht auf die Lehrer. Und sie raucht, obwohl das streng verboten ist. Sie ist hier untragbar.« Man habe sie am Morgen ins Krankenhaus gebracht, um einen Drogentest machen zu lassen. Nun sei sie unter der Aufsicht einer Krankenschwester in der Krankenstation. Keinen Tag länger könne sie im Internat bleiben. Das sei den anderen Kindern nicht zuzumuten.
Ich bin fassungslos. Besorgt um Lena, aber auch wütend. Was hat sie bloß angestellt? Ich hatte doch gerade den Eindruck, dass es ihr im Internat bessergeht, dass ihr die klaren Strukturen dort guttun. Und ich hatte geglaubt, Lena an einen sicheren Ort gebracht zu haben, an dem sie von ihren kiffenden und Alkohol trinkenden Freunden getrennt ist. Ihre Versetzung war gefährdet, und der Wechsel aufs Internat sollte das Sitzenbleiben verhindern. Außerdem hätte Lena mit einem englischen Schulabschluss bessere Chancen für Studium und Beruf, dachte ich.
Lena war nur unter Tränen nach England gegangen. Anfangs hasste sie das Internat. Sie hatte Probleme mit den anderen Mädchen, sie räumte im gemeinsamen Zimmer nicht auf und wusch ihre Sachen nicht oft genug. Um sie zu trösten, besuchte ich sie, und gemeinsam verbrachten wir schöne Ferien im Süden Englands. Bei unseren letzten Telefonaten klang Lena zufrieden und vergnügt. Sie erzählte, dass sie die beste Schwimmerin sei, dass ihr das Hockeyspielen keinen Spaß mache, aber dass sie in Englisch und Französisch gute Noten habe. Sie habe nun Freundinnen aus Hongkong, und außerdem gebe es einen Jungen, der Marc heiße und schon 19 Jahre alt sei.
Als ich meine Tochter nach England ins Internat schickte, habe ich nicht nur an sie gedacht, sondern auch an mich. Ich wollte ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, aber ich wollte auch endlich Ruhe haben vor den pubertätsbedingten Schwierigkeiten, die uns im Jahr davor in Atem gehalten hatten. Wir stritten uns oft, ich war mit meiner neuen Selbständigkeit beschäftigt, und Lenas Schulleistungen litten darunter.
Nach der Trennung von Lenas Vater lebte ich allein mit ihr, ich musste und wollte arbeiten und Geld verdienen. 1995 hatte ich mich als Beraterin selbständig gemacht. Es war aufregend, ein eigenes kleines Büro zu mieten und zum ersten Mal ein eigenes Schild an der Tür anzubringen. Schon vier Monate später bekam ich einen großen Auftrag, der über mehrere Jahre gehen sollte und mich zwang, mehr Mitarbeiter einzustellen. Sechs Monate danach bezog ich ein großes Loft als Büro in Berlin-Mitte. Jetzt arbeite ich begeistert bis zu 16 Stunden am Tag, bin oft vollkommen erschöpft und der glücklichste Mensch auf der Welt. Zum 1. Oktober 1996 habe ich eine herrliche Dachgeschosswohnung mit Terrasse und Blick über Berlin gemietet. Auch Lena soll dort ein schönes Zimmer bekommen. Ich freue mich auf den Umzug.
Der Anruf aus England bringt alle Planungen durcheinander. Lena muss sofort aus dem Internat abgeholt werden, aber wie soll ich das organisieren? Ich habe ein volles Programm und muss am nächsten Tag wegen eines Seminars nach Hamburg fahren. Ich habe Angst um Lena, bin aber auch wütend auf sie. Was ist bloß passiert? Ich rufe im Internat an, und nach langem Hin und Her werde ich zur Krankenstation durchgestellt. Lena freut sich, meine Stimme zu hören. »Bitte hol mich ab, Mama. Hier ist es schrecklich.« Ihre Stimme klingt normal. »Die anderen auf der Krankenstation schreien mich die ganze Zeit an und sind scheußlich zu mir. Sie lachen über mich. Auch die Krankenschwester brüllt mich an und gibt mir nichts zu trinken. Ich habe Durst.« Ich versichere ihr, dass ich sie abholen werde. »Bitte nicht böse sein, Mama, dass ich dir jetzt wieder Sorgen mache.« Sie weint. Wir reden noch eine Weile, und ich verspreche, sie wieder anzurufen und zu sagen, wann ich komme. Dann lege ich auf.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst um Lena, aber auch Angst um meinen Auftrag und die gerade erst eingestellten Mitarbeiter. Ein Fehler - und sofort stehen größere und bekanntere Beratungsfirmen als meine dem Auftraggeber zur Verfügung. Die Konkurrenz ist mörderisch. Ich kann nicht einmal daran denken, den Auftrag abzusagen. Ohne ihn kann ich weder das Loft noch die neue Dachgeschosswohnung bezahlen. Aber ich muss Lena abholen. Langsam beginne ich zu ahnen, dass mein gerade begonnenes glückliches Leben ein Ende hat.
Die Begrüßung im Internat durch den Direktor ist frostig, Lenas Koffer stehen schon gepackt in der Eingangshalle. Sie wirkt müde, freut sich aber, mich zu sehen, und folgt mir wie in Trance zum Flughafen. Auch ich funktioniere seit dem Anruf wie mechanisch. Zu Hause in Berlin versuche ich erst einmal, sie zu beruhigen. Ich mache ihr etwas zu essen, lasse ihr ein Bad einlaufen und beobachte sie heimlich. Ist etwas an ihr merkwürdig? Ich habe keine Erfahrung mit den Auswirkungen von Drogen. Wieder erzählt sie von der schlechten Behandlung in der Krankenstation, den unfreundlichen Mädchen. Mir fällt auf, dass sie etwas albern vor sich hin kichert. Ich versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen, aber sie erzählt dieselbe Geschichte immer wieder. Ich tröste sie, bin aber gleichzeitig wütend auf das Internat. Selbst wenn sie Drogen genommen hätte, wäre das doch kein Grund, eine Schülerin so zu behandeln. Nimmt Lena wirklich Drogen? Wie kann ich das herausfinden? Kann ich sie allein lassen?
Ich frage mich, wie es nun weitergehen soll. Für Lena muss ich in Berlin eine neue Schule finden. Im Büro muss ich mich um meine Klienten kümmern und eine Präsentation vor einem wichtigen Gremium vorbereiten. Für die nächste Woche ist der Umzug geplant, und die alte Wohnung muss renoviert werden. Wo soll Lena in dieser Zeit bleiben? Ich wage nicht, sie allein zu lassen. Eine Freundin weigert sich, Lena für ein paar Tage aufzunehmen, sie hat Angst. Lena muss also mit zu mir ins Büro. Meine Mitarbeiterinnen beschäftigen sich freundlich mit ihr und geben ihr kleine Aufgaben. Ein Kollege übernimmt selbständig die Organisation des Umzugs und der Renovierung. Ich versuche, den Seminarbetrieb aufrechtzuerhalten und mich abends um Lena zu kümmern. Ihr Verhalten schwankt zwischen infantilem Lachen und schlechter Laune, wenn ich ihr nicht sofort jeden Wunsch erfülle. Vor Anspannung schlafe ich schlecht, arbeite mehr denn je und habe ständig Angst, dass irgendetwas nicht klappt.
Keine Drogen
Wieder ein Anruf aus England: Der Test ist negativ, Lena hatte also doch keine Drogen genommen. Merkwürdigerweise bin ich nicht erleichtert, sondern noch beunruhigter als nach dem ersten Anruf. Wenn Drogen nicht die Ursache für Lenas seltsames Verhalten sind, was ist dann mit meiner Tochter los? Ich frage den Direktor, warum sie Lena überhaupt verdächtigt hatten, Drogen genommen zu haben, und er berichtet, dass man Lena abends rauchend am Seeufer im Park gefunden habe. Da Rauchen verboten ist, wurde sie von der Lehrerin streng ermahnt, worauf sie merkwürdig reagierte. Sie blieb einfach ruhig sitzen und rauchte weiter, lächelte vor sich hin und wollte nicht zurück in den Schlafsaal. Deshalb wurde Lena zum Drogentest ins Krankenhaus in die nächstgelegene Stadt gebracht und anschließend in die Krankenstation des Internats, um sie von den anderen Kindern zu isolieren. Warum sie auf der Krankenstation von den anderen Schülerinnen und der Schwester so unfreundlich behandelt worden sei, frage ich. Der Direktor ist erstaunt. Lena sei allein in der Krankenstation gewesen, nur die Krankenschwester habe sich freundlich um sie gekümmert. Aber Lena hat doch erzählt ...? Warum berichtet sie glaubhaft von Schülerinnen, die sie auslachen, obwohl sie doch alleine dort war? Weshalb behauptet sie, dass die Krankenschwester sie anschreit und ihr nichts zu trinken gibt? Ich habe keinen Grund, an den Aussagen des Direktors zu zweifeln, der jetzt auch besorgt ist und fragt, ob ich nicht doch mit Lena zum Arzt gehen wolle. Ich bin verwirrt und beunruhigt, begreife aber, dass ich dringend etwas unternehmen muss. Ein Arzt muss herausfinden, was mit ihr los ist.
Als Lena und ich bei einer Psychiaterin kurzfristig einen Termin bekommen, ist Letzterer sofort alles klar. Lenas Zustand sei auf ihren früheren Haschischkonsum zurückzuführen, sagt sie nur. Sie ermahnt Lena, auf keinen Fall mehr Drogen zu nehmen. Lena verspricht alles. Ich bin immer noch ahnungslos, welcher Zustand gemeint sein könnte. Weitere Hinweise oder Ratschläge bekommen wir nicht.
Ein neuer Schock: Eine Mitarbeiterin bittet mich in einem vertraulichen Gespräch darum, Lena doch nicht immer so anzuschreien. Das würde meine Tochter sehr belasten. Ich bin fassungslos. Ich soll Lena anschreien? Jeden Abend versuche ich, sie mit Freundlichkeit und warmem Tee zu beruhigen, ihre Lieblingsgerichte zu kochen und sie aufzuheitern. Ich merke ja auch, dass sie extrem nervös ist. Weshalb erzählt sie solche Sachen? Meine Mitarbeiterin guckt mich skeptisch an, und ich spüre, dass sie mir nicht wirklich glaubt.
Wieder scheucht mich ein Anruf auf. »Mami, irgendetwas stimmt mit Lenas Ticket nicht«, sagt meine ältere Tochter Friederike.
»Mit welchem Ticket? Und wo seid ihr überhaupt?«
»Wir sind hier am Flughafen. Lena fliegt doch wieder nach England, und du hast das Ticket hinterlegt. Aber die Frau von der BA sagt, hier sei kein Ticket.«
Ich falle aus allen Wolken. Lena am Flughafen, auf dem Weg nach England? Mein Pulsschlag erhöht sich. »Wieso bist du überhaupt mit ihr am Flughafen?« Friederike hat Lena auf dem Bürgersteig vor dem Haus sitzend neben einem Koffer vorgefunden. Sie müsse zum Flughafen, erzählt sie, habe aber kein Geld für ein Taxi und könne mich telefonisch nicht erreichen. Friederike bietet sich an, ihr zu helfen und sie zum Flughafen zu begleiten. Ich hole tief Luft und bitte Friederike, sich nicht von der Stelle zu rühren, bei Lena zu bleiben und jede Aufregung zu vermeiden. Sie solle ihr sagen, ich käme gleich. Endgültig wird mir klar, dass ich die Hilfe der Psychiatrie in Anspruch nehmen muss. Hier ist etwas nicht mehr normal. Aber was ist, wenn Lena sich weigert mitzukommen? Ich bitte einen Cousin von Lena, mich zu begleiten. Noch nie bin ich, unter Missachtung aller Verkehrsregeln, so schnell zum Flughafen gefahren. Dort treffen wir auf Friederike und eine entspannte Lena, die ruhig im Wartebereich sitzt, Cola trinkt und raucht. Zu meinem Erstaunen steigt sie ohne jeden Widerstand ins Auto. Sie freut sich, ihren Cousin zu sehen, aber sie ist etwas unruhig, und sie fragt noch einmal nach dem Flug. Ich verspreche, dass wir am nächsten Tag nachfragen würden. Während wir ins nächstgelegene psychiatrische Krankenhaus fahren, fällt mir wieder auf, wie albern sie vor sich hin kichert. Im Gegensatz zu mir scheint sie keine Angst vor dem zu haben, was sie erwartet. Sie geht ohne Widerstand in das Gebäude, sieht etwas abwesend, aber entspannt aus. Ob sie noch eine Cola haben könne? Und sie müsse unbedingt noch eine rauchen, bevor wir mit einem Arzt sprechen. Wir warten geduldig mit ihr in der Krankenhauslobby. Wir machen alles mit, solange sie nicht wegläuft oder sich weigert, mit zu den Ärzten zu kommen. Aber Lena folgt uns problemlos zur Anmeldung.
Die Diagnose
Eine freundliche Ärztin empfängt uns, und ich beschreibe ihr vorsichtig, was vorgefallen ist und dass ich sehr besorgt bin. Lena sitzt neben mir. Wie soll ich in ihrer Gegenwart erklären, dass sie sich »verrückt« verhält? Wie wird das auf sie wirken? Frau Dr. B. beginnt, sich mit Lena zu unterhalten, fragt, wie es ihr gehe, wie lange sie in England gewesen sei und ob es ihr dort gefalle. Lena antwortet ruhig, aber etwas fahrig und unkonzentriert. Sie scheint abwesend, will rauchen, kichert und sagt, dass sie schnell ins Internat zurückmüsse, weil sie eine Englischarbeit vor sich habe. Nach kurzer Zeit greift die Ärztin zum Telefonhörer und fragt, ob noch ein Bett frei sei.
»Ihre Tochter hat Schizophrenie«, sagt die Ärztin sachlich. »Aber Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben.«
Der Boden tut sich unter mir auf. Meine Tochter - Schizophrenie? Ist Schizophrenie nicht diese entsetzliche Krankheit, mit der man rasende, gefährliche Menschen assoziiert, die mit abstehenden Haaren und wahnsinnigem Blick ihre Umgebung bedrohen? Stöhnende, lethargische Patienten, die in weißen Kitteln durch die Flure von »Irrenanstalten « schleichen? So wie Jack Nicholson in dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest« oder Angelina Jolie in »Durchgeknallt «? Meine 17-jährige Tochter, die kindlich kichert und unverständliche Sätze vor sich hin murmelt, aber sicher für niemanden eine Bedrohung darstellt, soll an Schizophrenie erkrankt sein? Und was soll diese Diagnose mit Schuldgefühlen zu tun haben?
Ich ringe darum, die Diagnose zu begreifen und zu verstehen, dass meine Tochter nun auf die Station einer psychiatrischen Klinik gehen soll. Sie bekommt ein Zimmer zugewiesen, und ich muss sie dortlassen. Aus Filmen und Büchern habe ich entsetzliche Vorstellungen von psychiatrischen Anstalten. Wie wird es dort aussehen? Was wird mit Lena gemacht? Wird sie festgebunden werden? Wie wird der Umgangston dort sein? Darf ich sie begleiten?
»Ihre Tochter kann gleich hierbleiben, auf Station 4 steht ein Bett für sie bereit. Sie können mit ihr nach oben gehen, die Schwester weiß Bescheid. Sie können ihr ja später noch Sachen vorbeibringen.« Die praktischen Handlungsanweisungen der Ärztin bekomme ich kaum mit, ich stehe unter Schock. Dass Lena ein psychisches Problem hat, war irgendwie klar, sonst wäre ich nicht in die Psychiatrie gefahren. Aber niemals hätte ich mit der furchteinflößenden Diagnose Schizophrenie gerechnet. Es fühlt sich an, als ob dies das Ende unseres Lebens ist. Die Schuldgefühle, die ich nicht haben soll, nehme ich gar nicht wahr. Mein Kopf ist leer. Ich bin froh, dass die Ärztin mir erklärt, dass eine Schwester uns nach oben begleiten wird. Lena und ich brauchen jetzt jemanden, der uns sagt, was zu tun ist. Friederike und mein Neffe versprechen zu warten.
»Haben Sie Ihre DAK-Karte mit?«, fragt die Schwester. »Die brauche ich noch. Und dann müssen Sie dieses Formular ausfüllen.« Ich starre sie an. DAK-Karte? Formular? Ich bin unfähig, in diesem Moment über solche Dinge nachzudenken. Die Schwester bemerkt meine Verwirrung und murmelt, dass wir das später nachholen können.
Wir folgen der Schwester in den Fahrstuhl. Was erwartet uns auf der Station? Ich frage mich, ob es Anstaltskleidung gibt, abgeschlossene Flure und Zimmer ohne Fenster. Ob wir von stöhnenden und brüllenden Insassen und muskulösen Wärtern empfangen werden, die bereit sind einzugreifen, wenn jemand sich »verrückt« benimmt. Zu meiner Überraschung lässt sich die Glastür, die den Blick auf einen Flur freigibt, problemlos öffnen. Also keine verschlossenen Türen? Sie bittet uns höflich, im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen. Kurz darauf erscheint ein freundlicher junger Mann in Jeans und Kapuzenpulli. »Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragt er Lena. »Ich könnte Ihnen noch etwas warm machen.« Lena möchte gerne etwas essen. Ich bin überrascht, der junge Pfleger entspricht nicht meiner Vorstellung. Die Pfleger in Hollywoodfilmen sehen anders aus. Überhaupt ist alles anders, als ich - durch Literatur und Medien beeinflusst - gedacht habe. Niemand brüllt, es gibt keine verschlossenen Türen, und die Patienten werden höflich mit Nachnamen und »Sie« angesprochen. Niemand trägt Anstaltskleidung oder einen Schlafanzug. Lenas Zimmer sieht wie ein normales Krankenhauszimmer aus, nur das Fenster lässt sich nicht öffnen. Eine ältere Frau schläft im zweiten Bett. Es gibt einen großen Ess- und Aufenthaltsraum, in dem die Patienten rauchen können. Vom Gang aus kann ich in einen freundlich eingerichteten Fernsehraum blicken.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Janine Berg-peer
Mit 17 wird bei Janine Berg-Peers Tochter Schizophrenie diagnostiziert. Für die Autorin ist es ein Riesenschock, und ein langer Kampf um das Wohl ihrer Tochter beginnt.Heute engagiert sich Janine Berg-Peer aktiv im Verband der Angehörigen psychisch Kranker e.V., ist Mitglied von Bipolaris - Manie und Depression e.V. und deutsche Repräsentantin bei EUFAMI, dem europäischen Dachverband der Familien mit psychisch kranken Angehörigen. Sie hält Vorträge, moderiert Workshops zum Thema und berät Angehörige direkt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Janine Berg-peer
- 2013, 6. Aufl., 272 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189144
- ISBN-13: 9783596189144
- Erscheinungsdatum: 18.06.2013
Rezension zu „"Schizophrenie ist scheiße, Mama!" “
Herausgekommen ist ein Buch, das die schwierigen, aber auch die schönen Momente im Leben mit Schizophrenie vorstellt. Psychosoziale Umschau, 4/2013
Pressezitat
Herausgekommen ist ein Buch, das die schwierigen, aber auch die schönen Momente im Leben mit Schizophrenie vorstellt. Psychosoziale Umschau, 4/2013
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