Schmerzliche Heimat
Deutschland und der Mord an meinem Vater. Originalausgabe
Am 17. April beginnt der Prozess gegen die Neonazi-Terrorzelle "NSU". Semiya Simsek, die 14 Jahre alt war, als ihr Vater ermordet wurde, wird dabei als Nebenklägerin auftreten.
In ihrem Buch berichtet Semiya Simsek, wie das...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schmerzliche Heimat “
Am 17. April beginnt der Prozess gegen die Neonazi-Terrorzelle "NSU". Semiya Simsek, die 14 Jahre alt war, als ihr Vater ermordet wurde, wird dabei als Nebenklägerin auftreten.
In ihrem Buch berichtet Semiya Simsek, wie das Verbrechen ihr Leben und das Vertrauen in ihre Heimat Deutschland erschütterte. Nach der Ermordung von Enver Simsek wurde seine Familie von der Polizei, die Mafiakontakte vermutete, jahrelang verdächtigt, bedrängt und ausspioniert. Bis nach elf Jahren endlich die unglaubliche Wahrheit ans Licht kam.
Semiya Simsek hat ein Buch geschrieben, in dem sie das aufwühlende Schicksal ihrer Familie schildert. Das Buch enthüllt aber auch auf der Basis der Polizeiakten die Hintergründe des Verbrechens und die zahllosen Ermittlungspannen und Fahndungsirrwege. Und es stellt die quälende Frage: Wie war all dies möglich, über Jahre hinweg, mitten in Deutschland? Ein wichtiges Buch.
Klappentext zu „Schmerzliche Heimat “
Zweimal brach für Semiya Simsek eine Welt zusammen: das erste Mal am 9. September 2000, als ihr Vater Enver Simsek erschossen wurde. Da war sie vierzehn Jahre alt. Und dann, als nach über elf Jahren die Hintergründe der Tat ans Licht kamen: Es war der erste von zehn Morden des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Nun berichtet Semiya Simsek, wie das Verbrechen ihr Leben und ihr Vertrauen in Deutschland erschütterte - das Leben einer türkischen Einwandererfamilie, für die dieses Land längst Heimat war. Enver Simsek hatte es vom Hilfsarbeiter mit viel Fleiß zum Blumengroßhändler gebracht - eine deutsche Karriere. Doch nach seiner Ermordung wurde seine Familie von der Polizei, die Mafiakontakte vermutete, jahrelang verdächtigt, bedrängt und ausspioniert. "Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", sagt Semiya Simsek. Hier erzählt sie ihre bewegende Geschichte: die einer jungen Deutschen und ihrer Familie, deren Leben durch einen Terrorakt zerstört, durch Vorurteile weiter zerrüttet wurde und die dennoch stark blieb. Und sie schildert die Hintergründe des Verbrechens, der Ermittlungspannen und -irrwege; Semiya Simsek hatte exklusiven Einblick in die Polizeiakten. Ein Buch über einen der größten politischen Skandale der letzten Jahrzehnteund das aufwühlende Schicksal einer Familie.
Lese-Probe zu „Schmerzliche Heimat “
Schmerzliche Heimat von Semiya Simsek mit Peter SchwarzPROLOG
Meine schlimmste Nacht
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An einem Sonntag gegen vier Uhr morgens rüttelte mich jemand aus dem Schlaf. Ich war seit anderthalb Wochen zu-rück im Internat in Aschaffenburg, die ersten Schultage lagen hinter mir, den Kopf hatte ich noch voller Erinnerungen an die Ferien mit meiner Familie. Es war der 10. September des Jahres 2000. Das Datum hat sich mir eingebrannt. Ich war vierzehn Jahre alt.
Semiya, du musst aufstehen, sagte eine Betreuerin. Auf-stehen, mitten in der Nacht? Ich war so verwirrt und verschlafen, dass ich nicht weiter nachfragte. Pack deine Sachen zusammen, hieß es, nimm etwas zum Anziehen und Wasch-zeug mit und vergiss deinen Pass nicht.
Was bedeutete das? Warum musste ich jetzt los und wo-hin? Wozu brauchte ich den Pass? Die Leute vom Internat erklärten mir nicht viel, nur, dass ich gleich abgeholt würde. Schlaftrunken stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in meine Tasche und tappte hinaus. Vor dem Haus warteten ein Cousin meines Vaters und ein guter Bekannter unserer Familie. Sie sagten: Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach
Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.
Krank? Ich war durcheinander, besorgt und desorientiert, ich spürte eine drückende Angst im Bauch. Auf der Fahrt wurde kaum etwas geredet. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Kurz vor Nürnberg erzählten sie mir, dass mein Vater nicht krank, sondern verletzt sei. Und dann waren wir in der Klinik, um sieben Uhr morgens. Kerim wird bald da sein, sagte einer der beiden. Mein Bruder war also schon unterwegs aus seinem Internat in Völklingen. Meine Mutter sollte auch bald kommen.
Wir warteten auf dem Flur, ich weiß nicht genau, wie lange, mir ging das Zeitgefühl verloren, es kam mir end-los vor. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen an uns vorbei, eilten hin und her, verschwanden hinter Türen, aber niemand sprach mit uns. Ich war todmüde und furchtbar beunruhigt zugleich, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, alle möglichen Fragen kreisten mir im Kopf herum, ich betete: Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.
Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Simsek? Ist Enver Simsek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? Mein Vater besaß eine Gaspistole und hatte in der Regel ein Taschenmesser dabei, zum Blumenschneiden, auch eine Gartenschere lag im Wagen. Aber Feinde? Was für Feinde denn?
Es war mittlerweile neun Uhr, die ersten Verwandten waren eingetroffen, und wir warteten auf dem Gang vor der Intensivstation. Nur meine Mutter war immer noch nicht da. Dann kam die Schwester wieder zu mir, und endlich durfte ich zu meinem Vater. In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. Mein Vater lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. All die Schläuche, Kabel und Geräte waren mit ihm verbunden, mit seinem Körper.
Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares.
Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.
Auf dem Gang kam ich wieder zu mir. Immer mehr Verwandte trafen im Lauf des Vormittags im Nürnberger Krankenhaus ein. Erst am Mittag, gegen dreizehn Uhr, kam mein Bruder, und endlich, irgendwann am Nachmittag, waren meine Mutter und ihre Brüder da, meine Onkel Hüseyin und Hursit. Mutter begann zu weinen, als sie uns sah, sie war voll-kommen aufgelöst. Die Nürnberger Kriminalpolizei hatte sie schon vernommen, aber das erzählte sie mir erst viel später. Wir waren etwa vierzig Leute, die ganze Familie und viele Bekannte, alle wollten bei uns und bei meinem Vater sein, sie kamen aus Schlüchtern und aus Neuss angereist und ich weiß nicht, von wo überall her. In schwierigen Situationen stehen wir einander bei.
Ein Arzt kümmerte sich um uns und meinte, dass wir hineingehen und mit meinem Vater reden sollten. Vielleicht hört er das, sagte der Arzt, sprechen Sie mit ihm, vielleicht spürt er, dass Sie da sind. Aber er machte uns keine Hoffnungen. Vater würde nicht überleben. Wir sollten uns von ihm verabschieden. Trotzdem haben wir noch auf ein Wunder ge-hofft, dass er es irgendwie schafft. Wie konnten wir auch anders? Meine Mutter beschwor die Verwandtschaft immer wieder: Betet für ihn, betet für ihn.
In dieser Nacht schliefen wir bei Nürnberger Bekannten, aber was hieß da schlafen? Wir standen alle unter Schock. Die Erwachsenen diskutierten die ganze Nacht verzweifelt, sie hatten immer noch keine Ahnung, was da geschehen war. Kerim und ich lagen im Zimmer nebenan, wir verstanden nicht genau, worüber sie redeten, aber wir hatten furchtbare Angst um unseren Vater.
Am nächsten Tag berieten sich die Ärzte, wie weiter zu verfahren sei. Ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht.
Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. Die Entscheidung, um die es ging, war zu groß, zu unbegreiflich für mich. Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.
Die Ärzte hatten die Apparate abgeschaltet, es hätte keine Chance mehr gegeben. Mein Onkel erklärte uns, dass mein Vater klinisch tot sei; dass sein Körper zwar noch jahrelang so auf dem Bett liegen könnte, angeschlossen an Maschinen, dass er aber nie wieder aufwachen würde. Dass es hoffnungslos sei.
Alle gingen nacheinander noch einmal in das Kranken-zimmer und verabschiedeten sich von ihm. Wir traten an sein Bett und beteten für ihn. Dann fuhren wir heim nach Schlüchtern. Der Leichnam meines Vater blieb in Nürnberg zur Autopsie.
Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nach-zudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die
Vergangenheit tut mir weh. Vor allem natürlich die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Vieles macht mich noch heute ratlos, und ich bin hin- und hergerissen. Mein Vater war ein guter Mensch, und an das Gute in ihm denke ich gerne. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist.
Aber zu meiner Geschichte gehört dies alles: Die schöne Nacht im Urlaub vor dreizehn Jahren, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war. Und der Tag ein Jahr später, als ich ihn im Krankenhaus in seinem Blut liegen sah, nachdem sie auf ihn geschossen hatten. Die Zeit danach, die Jahre der Verdächtigungen, des Unrechts, das meine Familie ertragen musste. Die schlimmen Vermutungen, die sich meine Mutter anhören musste. Schließlich die Wahrheit, die nach so vielen Jahren herauskam. Eine Wahrheit, die befreiend war, weil sie die lastende Ungewissheit von uns nahm. Und die doch manches Unrecht umso schlimmer macht. Es ist anstrengend und auf-wühlend, das alles noch einmal vor mir zu sehen. Und doch bin ich dankbar für das, was ich mit meinem Vater erleben durfte, für die Erinnerungen, die ich in mir trage, für all das, was ich niemals missen möchte.
DRITTES KAPITEL
Meine Familie unter Verdacht
Der Mann hatte noch schnell Blumen kaufen wollen, in einem Laden in Nürnberg-Altenfurt, hatte das Geschäft aber geschlossen gefunden, es war nach zwei Uhr nachmittags an diesem Samstag, dem 9. September des Jahres 2000. Also fuhr er unverrichteter Dinge weiter und befand sich bereits auf dem Heimweg, als er am Straßenrand den Stand sah: Unter einem weiten, viereckigen Stoffschirm in Rot, Orange, Gelb und Lila standen etwa zwanzig Blumensträuße auf einem Klapptisch, auf dem Boden rund um den Tisch waren weitere Eimer mit Sträußen. Ein ansprechendes, mit Sorg-falt gestaltetes Arrangement. Der Mann hielt an. Neben dem Blumentisch, halb auf dem Seitenstreifen, halb schon im angrenzenden Gras, parkte ein weißer Kastenwagen. «Simsek Blumen» prangte auf der Kühlerhaube, in diagonalem Schwung nach vorne auf den Mercedesstern zulaufend, und hinten auf den Hecktüren stand «Simsek Blumen Groß- und Einzelhandel, Bahnhofstraße 1 - 3, 36381 Schlüchtern». Aber weit und breit war kein Verkäufer zu sehen.
Der Mann sah sich um. Der Standplatz des mobilen Blumenladens lag im Süden von Nürnberg, an der Liegnitzer
Straße; sie verbindet die Ortsteile Altenfurt und Langwasser. Die Straße war hier nicht dicht bebaut, die Stelle war von Wald und Sportanlagen umgeben, idyllisch, nicht laut und doch belebt. Bis zur A9-Auffahrt waren es nur ein paar hundert Meter, es floss reger Verkehr, und bestimmt hielten regelmäßig Autofahrer, um schnell noch einen Strauß für die Verwandtschaft, die Ehefrau oder die Geliebte zu kaufen. Rundherum verliefen Spazier- und Radwege, die Laufkundschaft verhießen, Flaneure, Rentner, Leute, die ihren Hund ausführten. Ein weiteres Auto stand ein paar Meter entfernt, ein Pärchen saß darin und wollte gerade weiterfahren. Ja, meinten die beiden etwas unschlüssig, sie hätten auch gehalten, um Blumen zu kaufen, aber auch nach zehn Minuten noch keinen Verkäufer gesehen. Sie fuhren schließlich davon.
Der Mann wartete eine Viertelstunde. Ein offener Stand, ein nicht abgeschlossener Wagen und kein Mensch weit und breit, das war seltsam. Jeder könnte hier einfach etwas mit-nehmen. Gegen Viertel nach drei rief er die Polizei an, fünf Minuten später war die Streife aus Langwasser vor Ort. Die Beamten hörten zu - niemand da, aha, seltsam, mal sehen - und warfen einen Blick in das leere Führerhaus des Mercedes Sprinter. Ein Essenskorb mit Vesper. Bananen, Streichkäse. Eine Kaffeekanne. Eine Plastiktüte mit Münzgeld, zum Wechseln wohl.
Ein Polizist versuchte, die seitliche Schiebetür des Kastenwagens zu öffnen. Sie klemmte, bewegte sich nach einem kräftigen Ruck dann doch und gab den Blick frei in den Lade-raum: Zwischen Töpfen, Körben, Kisten und Eimern, zwischen gebundenen Sträußen und losen Schnittblumen, zwischen
Rosen und Gerbera und Schleierkraut, die zum Teil noch ordentlich auf Regalböden standen, zum Teil herabgerissen und halb zertreten waren, lag auf dem gerippten Metallboden ein Mensch in einer Blutlache. An der Wand waren Blutspritzer. Er lag auf dem Rücken, der Kopf blutüberströmt, das Gesicht verschwollen. Er lebte, aber er war nicht ansprechbar. Was sich hier abgespielt hatte, war völlig unklar.
Er sei Rettungsassistent, sagte der Mann, der die Polizei alarmiert hatte. Der Sanitäter begann, den Liegenden vor-sichtig zu untersuchen. Der Puls war kräftig, aber die Atmung klang besorgniserregend, ein heftiges, unregelmäßiges Röcheln. Der Sanitäter holte ein Tragetuch aus seinem Auto, da-mit hoben er und die Polizisten den Blutenden aus dem Kastenwagen, dann führten sie ihm einen Absaugschlauch in den Rachen. Mehr konnten sie nicht tun. Bald war der Notarzt vor Ort und diagnostizierte mehrere Schussverletzungen.
Die Rettungskräfte lieferten den lebensgefährlich Verletzten, den seine Papiere als Enver Simsek auswiesen, in die Chirurgische Notaufnahme des Klinikums Nürnberg-Süd ein, und dort mutmaßten die Ärzte bald, was später die Obduktion erhärtete: Drei Projektile steckten in seinem Kopf, zwei Kugeln im rechten Schulterbereich, dazu zwei Durchschüsse, einer ging durch den linken Unterarm, der andere hatte die Unterlippe und die linke Augenhöhle durchschlagen, bevor die Kugel oberhalb der Braue wieder ausgetreten war. Ferner eine Streifschussverletzung am linken Ellbogen und ein Fehl-schuss, der das Wagendach traf. Neun Schüsse.
Die ersten Tage, ja die ersten Stunden sind oft entscheidend bei der Aufklärung von Tötungsdelikten, das weiß jeder Kriminalpolizist. Die Ermittlungsmaschinerie muss sofort anspringen und mit voller Drehzahl arbeiten, wobei Leerlauf unvermeidlich ist: Die Beamten müssen erste Schlüsse ziehen, Hypothesen bilden, verschiedene Verdachtsmomente erwägen, all diese ernst nehmen und ihnen nachgehen - doch gleichzeitig dürfen sie sich nicht vorschnell festlegen, sonst ermitteln sie womöglich geschäftig in die falsche Richtung. Manchmal müssen sie ihrem Bauchgefühl folgen - aber auf keinen Fall dürfen sie sich von ihren Emotionen blenden lassen. Sie müssen ihrem polizeilichen Erfahrungswissen vertrauen - aber damit laufen sie Gefahr, auch ihren eigenen Vorurteilen auf den Leim zu gehen. Sie arbeiten auf Hoch-touren - und im Blindflug. Es ist ein Spagat.
Ein paar Dinge standen in diesem Fall gleich fest, da waren die Indizien und der Tatort eindeutig: Im Sprinter befanden sich neben einem ADAC-Kranken- und Unfallschutzbrief, einer Reisegewerbekarte, Quittungen, Belegen und einem Rucksack mit Waschzeug, Zigaretten und Schlafanzug auch, in einer Tasche auf der Mittelkonsole, 6860 Mark in Scheinen. Hatten die Täter das Geld übersehen? Schwer vorstellbar. Das Fahrzeug sah nicht aus, als habe es irgendwer nach Beute durchkämmt, auch Enver Simsek war nicht durchsucht worden. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, fand man in der rechten hinteren Hosentasche seinen Geldbeutel. Eine Bankkarte war darin, ein Foto seiner Frau Adile, eine Service-karte der Pizzeria Enzo und 740 Mark, die Scheine sorgsam geordnet nach ihrem Wert. Raubmord? Ausgeschlossen.
Auffällig war, dass zwei Waffen bei diesem Verbrechen verwendet wurden, eine Ceska und eine Browning. Das deutete auf zwei Täter hin, auch wenn sich das nicht sicher sagen ließ. Aber eins war klar, der oder die Täter hatten aus kürzester Entfernung geschossen. Sie waren an die offene Schiebetür des Sprinters herangetreten, in dem Enver Simsek vermutlich gerade Blumen sortierte oder Nachschub holte, sie hatten geschossen, getroffen und wieder geschossen, neunmal insgesamt, achtmal trafen sie. Sie hatten noch geschossen, als er taumelte und versucht haben mochte, sich an einem Regal festzuhalten, sie hatten geschossen, als er am Boden lag. Sie hatten vom ersten Schuss an auf den Kopf gezielt. Sie hatten in reiner, unverstellter Tötungsabsicht gehandelt. Es war ihnen darum gegangen, diesen Mann umzubringen. Aus welchem Grund auch immer.
Die Polizeiarbeit folgt in diesen ersten Stunden Gesetzmäßigkeiten. Gibt es keinen offensichtlich Tatverdächtigen, rückt zunächst das Opfer ins Zentrum der Ermittlungen. Die Kripo leuchtet dessen persönliche und berufliche Lebens-umstände aus, sucht nach Spuren, die zu einem Motiv führen könnten. Das bringt die Polizei unausweichlich in einen Zwiespalt. Sie ist verpflichtet, die Angehörigen des Getöteten so einfühlsam zu behandeln, wie es trauernde und traumatisierte Menschen verdienen - gleichzeitig muss sie die Hinterbliebenen auch mit unangenehmen Fragen konfrontieren, muss sie sogar zum Kreis der denkbaren Täter zählen. Wenn die Ermittler dabei zu forsch auftreten, kann das die sowie-so schon schwer getroffenen Angehörigen weiter verletzen. Sie aber aus reiner Rücksichtnahme zu schonen, verstieße gegen alle professionellen Regeln. Es ist ein Merkmal guter Polizeiarbeit, diese Widersprüche zu meistern und konsequent das ermittlungstechnisch Notwendige zu leisten, ohne dabei den Angehörigen weh zu tun oder gar neue Wunden zu schlagen.
Meine Mutter erhielt die Nachricht am Abend des 9. September. Nach einem normalen, arbeitsreichen Samstag - sie hatte selber bis halb sieben an ihrem Stand bei Würzburg Blumen verkauft und war erst gegen neun nach Hause gekommen -, als sie sich gerade etwas zu essen machte, klingelte es. Sie öffnete, und zwei Polizisten platzten in unsere Wohnung und begannen, auf sie einzureden. Meine Mutter war völlig verwundert und dachte nicht im Entferntesten daran, dass ihrem Mann etwas passiert war. Sie verstand im ersten Moment gar nicht, wovon die Uniformierten sprachen. Es drang nicht zu ihr durch, wen sie meinten, sie verstand nur, dass irgendjemand umgebracht worden war. Dann begriff sie, dass Vater etwas zugestoßen sein könnte, ein Autounfall, ein Überfall? Von da an war sie aufgelöst und ganz durcheinander, dazu die sprachlichen Verständigungsprobleme, die die Aufregung noch verstärkten. Immer wieder hat sie uns später von diesen entsetzlich verwirrenden und beängstigenden Minuten erzählt, immer wieder.
Mittlerweile kann ich vermuten, woran es lag, dass dieser Besuch so wenig einfühlsam war, so gar nicht, wie man sich das Überbringen einer solch furchtbaren Nachricht vorstellt. Schon im allerersten Fax, in dem die Nürnberger Polizei ihre Kollegen in Schlüchtern verständigte, stand deutlich, man solle Angehörige ausfindig machen und über das Geschehene informieren - und sie auch gleich «vernehmen, insbesondere zu einem möglichen Tatverdacht». Diese Formulierung lässt vieles offen. Sollten sie fragen, ob meine Mutter einen möglichen Täter benennen konnte? Oder herausfinden, ob meine Mutter selbst etwas damit zu tun haben könnte? Ich denke, es ging von Anfang an um beides.
Dann kam mein Onkel Hüseyin hinzu. Er hatte von einem Blumenverkäufer erfahren, dass etwas passiert war, und daraufhin bei der Polizei in Nürnberg angerufen. Hüseyin erklärte nun seiner Schwester, dass ihr Mann mit schweren Schussverletzungen im Krankenhaus liege. Sie brach zusammen. Die beiden fuhren noch in der Nacht nach Nürnberg in die Klinik.
Als ich selbst am nächsten Morgen dort ankam, war meine Mutter nicht da, sie konnte mir nicht beistehen, als ich ans Bett meines Vaters trat. Sie wurde zu der Zeit in Nürnberg auf der Polizeistation vernommen. Die Beamten dachten wohl, sie könnte hinter dem Anschlag stecken. Nicht, dass sie ausdrücklich verdächtigt wurde an diesem 10. September, aber manche Fragen des Kommissars zielten in diese Richtung. Er stocherte offenkundig nach privaten Problemen: Hat Ihr Mann sich in zwielichtigen Kneipen herumgetrieben? Hat er Alkohol getrunken? Gab es Probleme in der Ehe? Hatten Sie Streit miteinander? Auch Onkel Hüseyin hat bereits in den ersten Vernehmungen, denen er sich stellen musste, solche Untertöne herausgehört: Was haben Sie am 9. September gemacht? Wo waren Sie? Können Sie das belegen? Gibt es dafür Zeugen?
Wir wissen bis heute nicht sicher, wie der Verdacht gegen meine Mutter und ihre Brüder aufkeimte. Was wir wissen,
ist dies: Bereits in seinem ersten Anruf bei der Nürnberger Polizei am 9. September bat Onkel Hüseyin die Kriminal-beamten, sie sollten seine Schwester mit der Nachricht bitte nicht überfallen, sie sei ohnehin gesundheitlich angeschlagen und würde es nicht aushalten, wenn sie unvorbereitet und ohne Beistand mit dieser Schreckensmeldung konfrontiert würde. Auf gar keinen Fall sollte die Polizei gleich zu ihr gehen, sondern unbedingt warten, bis er vor Ort sei und seiner Schwester beistehen könnte. Er wolle nicht, dass sie alleine wäre in diesem Moment.
Onkel Hursit hielt sich zu der Zeit in der Türkei auf. Seine kleine Tochter Beyza ging noch nicht zur Schule, er konnte es sich deshalb erlauben, drei Monate wegzubleiben. Er hatte irgendwie erfahren, dass etwas bei uns nicht stimmte, ich glaube, Hüseyin hatte kurz angerufen, ohne richtig mit ihm reden zu können. Daraufhin versuchte Hursit, seinen Schwager zu erreichen. Offenbar ging dann schon ein Polizist an dessen Handy und hörte, wie mein Onkel ganz aufgelöst fragte: Bist du am Leben, lebst du noch, lebst du noch?
Hüseyins Bitte und Hursits Anruf, so denken wir heute, haben die Polizei darauf gebracht, meine Mutter und ihre Brüder zu verdächtigen. Hursit hielten sie wohl für den Drahtzieher, der den Mord von der Türkei aus eingefädelt und sich damit gleichzeitig ein Alibi verschafft habe. Sein Anruf bei meinem Vater passte in dieses Bild, damit wollte er kontrollieren, ob er noch lebt, ob es geklappt hat. So in etwa haben sie sich das wohl zusammengereimt. Nach dieser Logik musste auch Onkel Hüseyins Bitte, nicht ohne ihn zu meiner Mutter zu gehen, verräterisch erscheinen: Er will dabei sein, damit meine Mutter vor der Polizei nichts Falsches sagt, nichts ausplaudert.
Der eine Bruder wollte für seine Schwester da sein, wollte ihr beistehen in den schlimmsten Minuten, die man sich vor-stellen kann, der andere Bruder rief an aus Sorge. Das klingt wie das verständlichste Verhalten der Welt. Aber das war es nicht für die Polizei, die daraus folgerte, dass diese Menschen nur unter Verdacht stehen konnten. Dabei ließ sich zwar leicht überprüfen, wo mein Onkel Hüseyin den ganzen Tag war, er ist Taxiunternehmer, es gab Zeugen, Kunden, und auch meine Mutter war nachweislich den ganzen Tag weit weg von Nürnberg - aber die Polizei hatte eine Antwort auf diese Tatsachen: Sie malte sich wohl aus, dass meine Familie Auftragsmörder angeheuert haben könnte. Warum sind die Ermittler gleich nach den Schüssen auf meinen Vater so auf-getreten? Warum haben sie uns, die Familie, die wir gelähmt waren vom Schock, auch noch verdächtigt? Man hat uns darauf eine Antwort gegeben, Jahre später, als längst klar war, dass niemand aus der Familie sich schuldig gemacht hatte. Es war eine kalte Antwort, die sich nur auf Zahlen stützte: Statistisch gesehen, hieß es, steckt nun mal bei etlichen Morden die Familie dahinter, viele Frauen brächten ihre Männer um. Ich verstehe das bis zu einem gewissen Punkt. Ich kann akzeptieren, dass die Polizei alle Möglichkeiten prüfen musste, dass sie auch in die Familie hineinleuchtete. Aber die Art, wie sie es tat, war unerträglich, all die Verdächtigungen und Unterstellungen. Der Druck, dem sie uns aussetzte, sollte in den folgenden Wochen immer heftiger werden.
Aber zunächst stand uns ein schwerer Gangbevor. Wir mussten meinen Vater zu Grabe tragen. Zu Hause packten wir sei-ne Sachen zusammen, das ist so Tradition: Die Anzüge des Toten behält man, aber alles andere, Hosen, Socken, Kleider, räumt man aus dem Schrank und verschenkt es an arme Leute. Die Verwandtschaft kam nach Schlüchtern in unser Haus, viele halfen uns, denn es gibt noch andere Bräuche: Wenn jemand gestorben ist, darf man in seinem Haus nicht kochen. Das Essen bereiten die Bekannten und Verwandten zu und bringen es mit. Sie helfen im Haushalt und sorgen dafür, dass die alltäglichen Dinge ihre Ordnung behalten, man isst zusammen. Wir hatten dauernd Besuch, die ganze Familie, viele Freunde und Bekannte. Die Verwandten kümmerten sich auch um die Organisation der Beerdigung, damit meine Mutter Zeit für die Trauer fand.
Bei uns ist es wichtig und üblich, dass viele Menschen sich zusammenfinden, wenn eine Familie einen Toten beklagt. Es ist im Schmerz ein gutes Gefühl, wenn man nicht allein ist, wenn alle da sind, einen begleiten und trauern. Bei uns stand in diesen Tagen die Haustür immer offen. Niemand musste klingeln, jeder trat einfach ein. Die Besucher saßen in allen Zimmern, Frauen lasen Suren aus dem Koran. Kerim musste mit seinen dreizehn Jahren stark sein, er versuchte, unserer Mutter beizustehen: Mama, weine nicht, sagte er immer wie-der, Allah holt die, die er gern hat, früh zu sich, Mama, hör auf, wenn du weinst, tust du seiner Seele weh.
Die Mutter meines Vaters, seine Brüder und engsten Verwandten in der Türkei wussten in diesen ersten Tagen noch nicht, dass er tot war. Meine Onkel hatten ihnen nur gesagt,
dass Enver angeschossen worden sei und im Krankenhaus liege. Am Montag hatten die Ärzte die Geräte abgeschaltet, und erst am Freitag wurde der Leichnam nach der Autopsie freigegeben. Es waren furchtbare Tage. Meine Mutter und meine Onkel hatten keine Vorstellung, wie sie das alles aus der Ferne Vaters Familie beibringen sollten. Ich weiß nicht, was los gewesen wäre in dieser Woche, wenn meine Groß-eltern und Onkel von seiner Ermordung gewusst hätten, es wäre für sie eine Zeit äußerster, grausamster Verwirrung gewesen. Deshalb beschlossen wir, weitere Entwicklungen abzuwarten, bevor wir ihnen alles enthüllten. Wenn sie an-riefen, ging ich ans Telefon. Ich musste ihnen sagen, dass es Papa den Verhältnissen entsprechend gutgehe, damit sie nicht in Panik verfielen. Meine Mutter wäre außerstande gewesen, solche Telefonate zu führen, ein Gespräch mit den Verwandten in der Türkei hätte sie zusammenbrechen lassen. Und wenn Onkel Hüseyin oder einer der anderen Erwachsenen, die jetzt im Haus waren, an den Apparat gegangen wäre, dann hätten sie sich in Salur gewundert und gleich geahnt, was los ist. Also war es an mir, dem älteren Kind, die Fragen nach meinem Vater zu beantworten: Macht euch keine Sorgen, ihm geht's gut, Mama ist gerade bei ihm im Krankenhaus. Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Ich habe in dem Moment nicht an mich gedacht. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, alle zu schützen, auch wenn mich die Situation emotional heillos überforderte, immer hatte ich Angst um meine Oma, Angst, dass sie krank wird vor Kummer.
Am Freitag nach der Autopsie flogen wir mit dem Sarg in die Türkei, das hatten wir in der Zwischenzeit organisiert.
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An einem Sonntag gegen vier Uhr morgens rüttelte mich jemand aus dem Schlaf. Ich war seit anderthalb Wochen zu-rück im Internat in Aschaffenburg, die ersten Schultage lagen hinter mir, den Kopf hatte ich noch voller Erinnerungen an die Ferien mit meiner Familie. Es war der 10. September des Jahres 2000. Das Datum hat sich mir eingebrannt. Ich war vierzehn Jahre alt.
Semiya, du musst aufstehen, sagte eine Betreuerin. Auf-stehen, mitten in der Nacht? Ich war so verwirrt und verschlafen, dass ich nicht weiter nachfragte. Pack deine Sachen zusammen, hieß es, nimm etwas zum Anziehen und Wasch-zeug mit und vergiss deinen Pass nicht.
Was bedeutete das? Warum musste ich jetzt los und wo-hin? Wozu brauchte ich den Pass? Die Leute vom Internat erklärten mir nicht viel, nur, dass ich gleich abgeholt würde. Schlaftrunken stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in meine Tasche und tappte hinaus. Vor dem Haus warteten ein Cousin meines Vaters und ein guter Bekannter unserer Familie. Sie sagten: Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach
Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.
Krank? Ich war durcheinander, besorgt und desorientiert, ich spürte eine drückende Angst im Bauch. Auf der Fahrt wurde kaum etwas geredet. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Kurz vor Nürnberg erzählten sie mir, dass mein Vater nicht krank, sondern verletzt sei. Und dann waren wir in der Klinik, um sieben Uhr morgens. Kerim wird bald da sein, sagte einer der beiden. Mein Bruder war also schon unterwegs aus seinem Internat in Völklingen. Meine Mutter sollte auch bald kommen.
Wir warteten auf dem Flur, ich weiß nicht genau, wie lange, mir ging das Zeitgefühl verloren, es kam mir end-los vor. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen an uns vorbei, eilten hin und her, verschwanden hinter Türen, aber niemand sprach mit uns. Ich war todmüde und furchtbar beunruhigt zugleich, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, alle möglichen Fragen kreisten mir im Kopf herum, ich betete: Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.
Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Simsek? Ist Enver Simsek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? Mein Vater besaß eine Gaspistole und hatte in der Regel ein Taschenmesser dabei, zum Blumenschneiden, auch eine Gartenschere lag im Wagen. Aber Feinde? Was für Feinde denn?
Es war mittlerweile neun Uhr, die ersten Verwandten waren eingetroffen, und wir warteten auf dem Gang vor der Intensivstation. Nur meine Mutter war immer noch nicht da. Dann kam die Schwester wieder zu mir, und endlich durfte ich zu meinem Vater. In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. Mein Vater lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. All die Schläuche, Kabel und Geräte waren mit ihm verbunden, mit seinem Körper.
Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares.
Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.
Auf dem Gang kam ich wieder zu mir. Immer mehr Verwandte trafen im Lauf des Vormittags im Nürnberger Krankenhaus ein. Erst am Mittag, gegen dreizehn Uhr, kam mein Bruder, und endlich, irgendwann am Nachmittag, waren meine Mutter und ihre Brüder da, meine Onkel Hüseyin und Hursit. Mutter begann zu weinen, als sie uns sah, sie war voll-kommen aufgelöst. Die Nürnberger Kriminalpolizei hatte sie schon vernommen, aber das erzählte sie mir erst viel später. Wir waren etwa vierzig Leute, die ganze Familie und viele Bekannte, alle wollten bei uns und bei meinem Vater sein, sie kamen aus Schlüchtern und aus Neuss angereist und ich weiß nicht, von wo überall her. In schwierigen Situationen stehen wir einander bei.
Ein Arzt kümmerte sich um uns und meinte, dass wir hineingehen und mit meinem Vater reden sollten. Vielleicht hört er das, sagte der Arzt, sprechen Sie mit ihm, vielleicht spürt er, dass Sie da sind. Aber er machte uns keine Hoffnungen. Vater würde nicht überleben. Wir sollten uns von ihm verabschieden. Trotzdem haben wir noch auf ein Wunder ge-hofft, dass er es irgendwie schafft. Wie konnten wir auch anders? Meine Mutter beschwor die Verwandtschaft immer wieder: Betet für ihn, betet für ihn.
In dieser Nacht schliefen wir bei Nürnberger Bekannten, aber was hieß da schlafen? Wir standen alle unter Schock. Die Erwachsenen diskutierten die ganze Nacht verzweifelt, sie hatten immer noch keine Ahnung, was da geschehen war. Kerim und ich lagen im Zimmer nebenan, wir verstanden nicht genau, worüber sie redeten, aber wir hatten furchtbare Angst um unseren Vater.
Am nächsten Tag berieten sich die Ärzte, wie weiter zu verfahren sei. Ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht.
Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. Die Entscheidung, um die es ging, war zu groß, zu unbegreiflich für mich. Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.
Die Ärzte hatten die Apparate abgeschaltet, es hätte keine Chance mehr gegeben. Mein Onkel erklärte uns, dass mein Vater klinisch tot sei; dass sein Körper zwar noch jahrelang so auf dem Bett liegen könnte, angeschlossen an Maschinen, dass er aber nie wieder aufwachen würde. Dass es hoffnungslos sei.
Alle gingen nacheinander noch einmal in das Kranken-zimmer und verabschiedeten sich von ihm. Wir traten an sein Bett und beteten für ihn. Dann fuhren wir heim nach Schlüchtern. Der Leichnam meines Vater blieb in Nürnberg zur Autopsie.
Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nach-zudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die
Vergangenheit tut mir weh. Vor allem natürlich die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Vieles macht mich noch heute ratlos, und ich bin hin- und hergerissen. Mein Vater war ein guter Mensch, und an das Gute in ihm denke ich gerne. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist.
Aber zu meiner Geschichte gehört dies alles: Die schöne Nacht im Urlaub vor dreizehn Jahren, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war. Und der Tag ein Jahr später, als ich ihn im Krankenhaus in seinem Blut liegen sah, nachdem sie auf ihn geschossen hatten. Die Zeit danach, die Jahre der Verdächtigungen, des Unrechts, das meine Familie ertragen musste. Die schlimmen Vermutungen, die sich meine Mutter anhören musste. Schließlich die Wahrheit, die nach so vielen Jahren herauskam. Eine Wahrheit, die befreiend war, weil sie die lastende Ungewissheit von uns nahm. Und die doch manches Unrecht umso schlimmer macht. Es ist anstrengend und auf-wühlend, das alles noch einmal vor mir zu sehen. Und doch bin ich dankbar für das, was ich mit meinem Vater erleben durfte, für die Erinnerungen, die ich in mir trage, für all das, was ich niemals missen möchte.
DRITTES KAPITEL
Meine Familie unter Verdacht
Der Mann hatte noch schnell Blumen kaufen wollen, in einem Laden in Nürnberg-Altenfurt, hatte das Geschäft aber geschlossen gefunden, es war nach zwei Uhr nachmittags an diesem Samstag, dem 9. September des Jahres 2000. Also fuhr er unverrichteter Dinge weiter und befand sich bereits auf dem Heimweg, als er am Straßenrand den Stand sah: Unter einem weiten, viereckigen Stoffschirm in Rot, Orange, Gelb und Lila standen etwa zwanzig Blumensträuße auf einem Klapptisch, auf dem Boden rund um den Tisch waren weitere Eimer mit Sträußen. Ein ansprechendes, mit Sorg-falt gestaltetes Arrangement. Der Mann hielt an. Neben dem Blumentisch, halb auf dem Seitenstreifen, halb schon im angrenzenden Gras, parkte ein weißer Kastenwagen. «Simsek Blumen» prangte auf der Kühlerhaube, in diagonalem Schwung nach vorne auf den Mercedesstern zulaufend, und hinten auf den Hecktüren stand «Simsek Blumen Groß- und Einzelhandel, Bahnhofstraße 1 - 3, 36381 Schlüchtern». Aber weit und breit war kein Verkäufer zu sehen.
Der Mann sah sich um. Der Standplatz des mobilen Blumenladens lag im Süden von Nürnberg, an der Liegnitzer
Straße; sie verbindet die Ortsteile Altenfurt und Langwasser. Die Straße war hier nicht dicht bebaut, die Stelle war von Wald und Sportanlagen umgeben, idyllisch, nicht laut und doch belebt. Bis zur A9-Auffahrt waren es nur ein paar hundert Meter, es floss reger Verkehr, und bestimmt hielten regelmäßig Autofahrer, um schnell noch einen Strauß für die Verwandtschaft, die Ehefrau oder die Geliebte zu kaufen. Rundherum verliefen Spazier- und Radwege, die Laufkundschaft verhießen, Flaneure, Rentner, Leute, die ihren Hund ausführten. Ein weiteres Auto stand ein paar Meter entfernt, ein Pärchen saß darin und wollte gerade weiterfahren. Ja, meinten die beiden etwas unschlüssig, sie hätten auch gehalten, um Blumen zu kaufen, aber auch nach zehn Minuten noch keinen Verkäufer gesehen. Sie fuhren schließlich davon.
Der Mann wartete eine Viertelstunde. Ein offener Stand, ein nicht abgeschlossener Wagen und kein Mensch weit und breit, das war seltsam. Jeder könnte hier einfach etwas mit-nehmen. Gegen Viertel nach drei rief er die Polizei an, fünf Minuten später war die Streife aus Langwasser vor Ort. Die Beamten hörten zu - niemand da, aha, seltsam, mal sehen - und warfen einen Blick in das leere Führerhaus des Mercedes Sprinter. Ein Essenskorb mit Vesper. Bananen, Streichkäse. Eine Kaffeekanne. Eine Plastiktüte mit Münzgeld, zum Wechseln wohl.
Ein Polizist versuchte, die seitliche Schiebetür des Kastenwagens zu öffnen. Sie klemmte, bewegte sich nach einem kräftigen Ruck dann doch und gab den Blick frei in den Lade-raum: Zwischen Töpfen, Körben, Kisten und Eimern, zwischen gebundenen Sträußen und losen Schnittblumen, zwischen
Rosen und Gerbera und Schleierkraut, die zum Teil noch ordentlich auf Regalböden standen, zum Teil herabgerissen und halb zertreten waren, lag auf dem gerippten Metallboden ein Mensch in einer Blutlache. An der Wand waren Blutspritzer. Er lag auf dem Rücken, der Kopf blutüberströmt, das Gesicht verschwollen. Er lebte, aber er war nicht ansprechbar. Was sich hier abgespielt hatte, war völlig unklar.
Er sei Rettungsassistent, sagte der Mann, der die Polizei alarmiert hatte. Der Sanitäter begann, den Liegenden vor-sichtig zu untersuchen. Der Puls war kräftig, aber die Atmung klang besorgniserregend, ein heftiges, unregelmäßiges Röcheln. Der Sanitäter holte ein Tragetuch aus seinem Auto, da-mit hoben er und die Polizisten den Blutenden aus dem Kastenwagen, dann führten sie ihm einen Absaugschlauch in den Rachen. Mehr konnten sie nicht tun. Bald war der Notarzt vor Ort und diagnostizierte mehrere Schussverletzungen.
Die Rettungskräfte lieferten den lebensgefährlich Verletzten, den seine Papiere als Enver Simsek auswiesen, in die Chirurgische Notaufnahme des Klinikums Nürnberg-Süd ein, und dort mutmaßten die Ärzte bald, was später die Obduktion erhärtete: Drei Projektile steckten in seinem Kopf, zwei Kugeln im rechten Schulterbereich, dazu zwei Durchschüsse, einer ging durch den linken Unterarm, der andere hatte die Unterlippe und die linke Augenhöhle durchschlagen, bevor die Kugel oberhalb der Braue wieder ausgetreten war. Ferner eine Streifschussverletzung am linken Ellbogen und ein Fehl-schuss, der das Wagendach traf. Neun Schüsse.
Die ersten Tage, ja die ersten Stunden sind oft entscheidend bei der Aufklärung von Tötungsdelikten, das weiß jeder Kriminalpolizist. Die Ermittlungsmaschinerie muss sofort anspringen und mit voller Drehzahl arbeiten, wobei Leerlauf unvermeidlich ist: Die Beamten müssen erste Schlüsse ziehen, Hypothesen bilden, verschiedene Verdachtsmomente erwägen, all diese ernst nehmen und ihnen nachgehen - doch gleichzeitig dürfen sie sich nicht vorschnell festlegen, sonst ermitteln sie womöglich geschäftig in die falsche Richtung. Manchmal müssen sie ihrem Bauchgefühl folgen - aber auf keinen Fall dürfen sie sich von ihren Emotionen blenden lassen. Sie müssen ihrem polizeilichen Erfahrungswissen vertrauen - aber damit laufen sie Gefahr, auch ihren eigenen Vorurteilen auf den Leim zu gehen. Sie arbeiten auf Hoch-touren - und im Blindflug. Es ist ein Spagat.
Ein paar Dinge standen in diesem Fall gleich fest, da waren die Indizien und der Tatort eindeutig: Im Sprinter befanden sich neben einem ADAC-Kranken- und Unfallschutzbrief, einer Reisegewerbekarte, Quittungen, Belegen und einem Rucksack mit Waschzeug, Zigaretten und Schlafanzug auch, in einer Tasche auf der Mittelkonsole, 6860 Mark in Scheinen. Hatten die Täter das Geld übersehen? Schwer vorstellbar. Das Fahrzeug sah nicht aus, als habe es irgendwer nach Beute durchkämmt, auch Enver Simsek war nicht durchsucht worden. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, fand man in der rechten hinteren Hosentasche seinen Geldbeutel. Eine Bankkarte war darin, ein Foto seiner Frau Adile, eine Service-karte der Pizzeria Enzo und 740 Mark, die Scheine sorgsam geordnet nach ihrem Wert. Raubmord? Ausgeschlossen.
Auffällig war, dass zwei Waffen bei diesem Verbrechen verwendet wurden, eine Ceska und eine Browning. Das deutete auf zwei Täter hin, auch wenn sich das nicht sicher sagen ließ. Aber eins war klar, der oder die Täter hatten aus kürzester Entfernung geschossen. Sie waren an die offene Schiebetür des Sprinters herangetreten, in dem Enver Simsek vermutlich gerade Blumen sortierte oder Nachschub holte, sie hatten geschossen, getroffen und wieder geschossen, neunmal insgesamt, achtmal trafen sie. Sie hatten noch geschossen, als er taumelte und versucht haben mochte, sich an einem Regal festzuhalten, sie hatten geschossen, als er am Boden lag. Sie hatten vom ersten Schuss an auf den Kopf gezielt. Sie hatten in reiner, unverstellter Tötungsabsicht gehandelt. Es war ihnen darum gegangen, diesen Mann umzubringen. Aus welchem Grund auch immer.
Die Polizeiarbeit folgt in diesen ersten Stunden Gesetzmäßigkeiten. Gibt es keinen offensichtlich Tatverdächtigen, rückt zunächst das Opfer ins Zentrum der Ermittlungen. Die Kripo leuchtet dessen persönliche und berufliche Lebens-umstände aus, sucht nach Spuren, die zu einem Motiv führen könnten. Das bringt die Polizei unausweichlich in einen Zwiespalt. Sie ist verpflichtet, die Angehörigen des Getöteten so einfühlsam zu behandeln, wie es trauernde und traumatisierte Menschen verdienen - gleichzeitig muss sie die Hinterbliebenen auch mit unangenehmen Fragen konfrontieren, muss sie sogar zum Kreis der denkbaren Täter zählen. Wenn die Ermittler dabei zu forsch auftreten, kann das die sowie-so schon schwer getroffenen Angehörigen weiter verletzen. Sie aber aus reiner Rücksichtnahme zu schonen, verstieße gegen alle professionellen Regeln. Es ist ein Merkmal guter Polizeiarbeit, diese Widersprüche zu meistern und konsequent das ermittlungstechnisch Notwendige zu leisten, ohne dabei den Angehörigen weh zu tun oder gar neue Wunden zu schlagen.
Meine Mutter erhielt die Nachricht am Abend des 9. September. Nach einem normalen, arbeitsreichen Samstag - sie hatte selber bis halb sieben an ihrem Stand bei Würzburg Blumen verkauft und war erst gegen neun nach Hause gekommen -, als sie sich gerade etwas zu essen machte, klingelte es. Sie öffnete, und zwei Polizisten platzten in unsere Wohnung und begannen, auf sie einzureden. Meine Mutter war völlig verwundert und dachte nicht im Entferntesten daran, dass ihrem Mann etwas passiert war. Sie verstand im ersten Moment gar nicht, wovon die Uniformierten sprachen. Es drang nicht zu ihr durch, wen sie meinten, sie verstand nur, dass irgendjemand umgebracht worden war. Dann begriff sie, dass Vater etwas zugestoßen sein könnte, ein Autounfall, ein Überfall? Von da an war sie aufgelöst und ganz durcheinander, dazu die sprachlichen Verständigungsprobleme, die die Aufregung noch verstärkten. Immer wieder hat sie uns später von diesen entsetzlich verwirrenden und beängstigenden Minuten erzählt, immer wieder.
Mittlerweile kann ich vermuten, woran es lag, dass dieser Besuch so wenig einfühlsam war, so gar nicht, wie man sich das Überbringen einer solch furchtbaren Nachricht vorstellt. Schon im allerersten Fax, in dem die Nürnberger Polizei ihre Kollegen in Schlüchtern verständigte, stand deutlich, man solle Angehörige ausfindig machen und über das Geschehene informieren - und sie auch gleich «vernehmen, insbesondere zu einem möglichen Tatverdacht». Diese Formulierung lässt vieles offen. Sollten sie fragen, ob meine Mutter einen möglichen Täter benennen konnte? Oder herausfinden, ob meine Mutter selbst etwas damit zu tun haben könnte? Ich denke, es ging von Anfang an um beides.
Dann kam mein Onkel Hüseyin hinzu. Er hatte von einem Blumenverkäufer erfahren, dass etwas passiert war, und daraufhin bei der Polizei in Nürnberg angerufen. Hüseyin erklärte nun seiner Schwester, dass ihr Mann mit schweren Schussverletzungen im Krankenhaus liege. Sie brach zusammen. Die beiden fuhren noch in der Nacht nach Nürnberg in die Klinik.
Als ich selbst am nächsten Morgen dort ankam, war meine Mutter nicht da, sie konnte mir nicht beistehen, als ich ans Bett meines Vaters trat. Sie wurde zu der Zeit in Nürnberg auf der Polizeistation vernommen. Die Beamten dachten wohl, sie könnte hinter dem Anschlag stecken. Nicht, dass sie ausdrücklich verdächtigt wurde an diesem 10. September, aber manche Fragen des Kommissars zielten in diese Richtung. Er stocherte offenkundig nach privaten Problemen: Hat Ihr Mann sich in zwielichtigen Kneipen herumgetrieben? Hat er Alkohol getrunken? Gab es Probleme in der Ehe? Hatten Sie Streit miteinander? Auch Onkel Hüseyin hat bereits in den ersten Vernehmungen, denen er sich stellen musste, solche Untertöne herausgehört: Was haben Sie am 9. September gemacht? Wo waren Sie? Können Sie das belegen? Gibt es dafür Zeugen?
Wir wissen bis heute nicht sicher, wie der Verdacht gegen meine Mutter und ihre Brüder aufkeimte. Was wir wissen,
ist dies: Bereits in seinem ersten Anruf bei der Nürnberger Polizei am 9. September bat Onkel Hüseyin die Kriminal-beamten, sie sollten seine Schwester mit der Nachricht bitte nicht überfallen, sie sei ohnehin gesundheitlich angeschlagen und würde es nicht aushalten, wenn sie unvorbereitet und ohne Beistand mit dieser Schreckensmeldung konfrontiert würde. Auf gar keinen Fall sollte die Polizei gleich zu ihr gehen, sondern unbedingt warten, bis er vor Ort sei und seiner Schwester beistehen könnte. Er wolle nicht, dass sie alleine wäre in diesem Moment.
Onkel Hursit hielt sich zu der Zeit in der Türkei auf. Seine kleine Tochter Beyza ging noch nicht zur Schule, er konnte es sich deshalb erlauben, drei Monate wegzubleiben. Er hatte irgendwie erfahren, dass etwas bei uns nicht stimmte, ich glaube, Hüseyin hatte kurz angerufen, ohne richtig mit ihm reden zu können. Daraufhin versuchte Hursit, seinen Schwager zu erreichen. Offenbar ging dann schon ein Polizist an dessen Handy und hörte, wie mein Onkel ganz aufgelöst fragte: Bist du am Leben, lebst du noch, lebst du noch?
Hüseyins Bitte und Hursits Anruf, so denken wir heute, haben die Polizei darauf gebracht, meine Mutter und ihre Brüder zu verdächtigen. Hursit hielten sie wohl für den Drahtzieher, der den Mord von der Türkei aus eingefädelt und sich damit gleichzeitig ein Alibi verschafft habe. Sein Anruf bei meinem Vater passte in dieses Bild, damit wollte er kontrollieren, ob er noch lebt, ob es geklappt hat. So in etwa haben sie sich das wohl zusammengereimt. Nach dieser Logik musste auch Onkel Hüseyins Bitte, nicht ohne ihn zu meiner Mutter zu gehen, verräterisch erscheinen: Er will dabei sein, damit meine Mutter vor der Polizei nichts Falsches sagt, nichts ausplaudert.
Der eine Bruder wollte für seine Schwester da sein, wollte ihr beistehen in den schlimmsten Minuten, die man sich vor-stellen kann, der andere Bruder rief an aus Sorge. Das klingt wie das verständlichste Verhalten der Welt. Aber das war es nicht für die Polizei, die daraus folgerte, dass diese Menschen nur unter Verdacht stehen konnten. Dabei ließ sich zwar leicht überprüfen, wo mein Onkel Hüseyin den ganzen Tag war, er ist Taxiunternehmer, es gab Zeugen, Kunden, und auch meine Mutter war nachweislich den ganzen Tag weit weg von Nürnberg - aber die Polizei hatte eine Antwort auf diese Tatsachen: Sie malte sich wohl aus, dass meine Familie Auftragsmörder angeheuert haben könnte. Warum sind die Ermittler gleich nach den Schüssen auf meinen Vater so auf-getreten? Warum haben sie uns, die Familie, die wir gelähmt waren vom Schock, auch noch verdächtigt? Man hat uns darauf eine Antwort gegeben, Jahre später, als längst klar war, dass niemand aus der Familie sich schuldig gemacht hatte. Es war eine kalte Antwort, die sich nur auf Zahlen stützte: Statistisch gesehen, hieß es, steckt nun mal bei etlichen Morden die Familie dahinter, viele Frauen brächten ihre Männer um. Ich verstehe das bis zu einem gewissen Punkt. Ich kann akzeptieren, dass die Polizei alle Möglichkeiten prüfen musste, dass sie auch in die Familie hineinleuchtete. Aber die Art, wie sie es tat, war unerträglich, all die Verdächtigungen und Unterstellungen. Der Druck, dem sie uns aussetzte, sollte in den folgenden Wochen immer heftiger werden.
Aber zunächst stand uns ein schwerer Gangbevor. Wir mussten meinen Vater zu Grabe tragen. Zu Hause packten wir sei-ne Sachen zusammen, das ist so Tradition: Die Anzüge des Toten behält man, aber alles andere, Hosen, Socken, Kleider, räumt man aus dem Schrank und verschenkt es an arme Leute. Die Verwandtschaft kam nach Schlüchtern in unser Haus, viele halfen uns, denn es gibt noch andere Bräuche: Wenn jemand gestorben ist, darf man in seinem Haus nicht kochen. Das Essen bereiten die Bekannten und Verwandten zu und bringen es mit. Sie helfen im Haushalt und sorgen dafür, dass die alltäglichen Dinge ihre Ordnung behalten, man isst zusammen. Wir hatten dauernd Besuch, die ganze Familie, viele Freunde und Bekannte. Die Verwandten kümmerten sich auch um die Organisation der Beerdigung, damit meine Mutter Zeit für die Trauer fand.
Bei uns ist es wichtig und üblich, dass viele Menschen sich zusammenfinden, wenn eine Familie einen Toten beklagt. Es ist im Schmerz ein gutes Gefühl, wenn man nicht allein ist, wenn alle da sind, einen begleiten und trauern. Bei uns stand in diesen Tagen die Haustür immer offen. Niemand musste klingeln, jeder trat einfach ein. Die Besucher saßen in allen Zimmern, Frauen lasen Suren aus dem Koran. Kerim musste mit seinen dreizehn Jahren stark sein, er versuchte, unserer Mutter beizustehen: Mama, weine nicht, sagte er immer wie-der, Allah holt die, die er gern hat, früh zu sich, Mama, hör auf, wenn du weinst, tust du seiner Seele weh.
Die Mutter meines Vaters, seine Brüder und engsten Verwandten in der Türkei wussten in diesen ersten Tagen noch nicht, dass er tot war. Meine Onkel hatten ihnen nur gesagt,
dass Enver angeschossen worden sei und im Krankenhaus liege. Am Montag hatten die Ärzte die Geräte abgeschaltet, und erst am Freitag wurde der Leichnam nach der Autopsie freigegeben. Es waren furchtbare Tage. Meine Mutter und meine Onkel hatten keine Vorstellung, wie sie das alles aus der Ferne Vaters Familie beibringen sollten. Ich weiß nicht, was los gewesen wäre in dieser Woche, wenn meine Groß-eltern und Onkel von seiner Ermordung gewusst hätten, es wäre für sie eine Zeit äußerster, grausamster Verwirrung gewesen. Deshalb beschlossen wir, weitere Entwicklungen abzuwarten, bevor wir ihnen alles enthüllten. Wenn sie an-riefen, ging ich ans Telefon. Ich musste ihnen sagen, dass es Papa den Verhältnissen entsprechend gutgehe, damit sie nicht in Panik verfielen. Meine Mutter wäre außerstande gewesen, solche Telefonate zu führen, ein Gespräch mit den Verwandten in der Türkei hätte sie zusammenbrechen lassen. Und wenn Onkel Hüseyin oder einer der anderen Erwachsenen, die jetzt im Haus waren, an den Apparat gegangen wäre, dann hätten sie sich in Salur gewundert und gleich geahnt, was los ist. Also war es an mir, dem älteren Kind, die Fragen nach meinem Vater zu beantworten: Macht euch keine Sorgen, ihm geht's gut, Mama ist gerade bei ihm im Krankenhaus. Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Ich habe in dem Moment nicht an mich gedacht. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, alle zu schützen, auch wenn mich die Situation emotional heillos überforderte, immer hatte ich Angst um meine Oma, Angst, dass sie krank wird vor Kummer.
Am Freitag nach der Autopsie flogen wir mit dem Sarg in die Türkei, das hatten wir in der Zwischenzeit organisiert.
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Autoren-Porträt von Semiya Simsek
Semiya Simsek, geboren 1986 im hessischen Friedberg, war vierzehn Jahre alt, als ihr Vater ermordet wurde. Jahrelang stand die Familie unter Verdacht, bis die Morde des NSU im November 2011 aufgedeckt wurden. Semiya Simsek hat als Pädagogin gearbeitet und entschloss sich im Herbst 2011, vorerst in die Türkei zu ziehen, wo sie nie zuvor gelebt hat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Semiya Simsek
- 2013, Neuausg., 269 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,7 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Hrsg. v. Peter Schwarz, unter Mitarb. v. Frank Ortmann
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 387134480X
- ISBN-13: 9783871344800
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