Schreiben für die eigenen Augen
Aus den Tagebüchern 1915-1941
"Ein Dialog der Seele mit der Seele" (Virginia Woolf über ihre Tagebücher)
Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk,...
Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk,...
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Produktinformationen zu „Schreiben für die eigenen Augen “
Klappentext zu „Schreiben für die eigenen Augen “
"Ein Dialog der Seele mit der Seele" (Virginia Woolf über ihre Tagebücher)Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk, das ihr inneres und äußeres Dasein von 1915 bis zu ihrem Tod 1941 dokumentiert. Eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen macht unser Bild von ihrem Leben und ihrer Persönlichkeit um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Wir sehen, welchen Mut sie immer wieder ihren Ängsten und psychischen Krisen entgegensetzte - und wie genau sie ihre Umwelt beobachtete, mit Witz und Freude an Spott und Klatsch.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK
Lese-Probe zu „Schreiben für die eigenen Augen “
Schreiben für die eigenen Augen von Virginia Woolf... mehr
1917 Montag 8. Oktober 1917
Den Anstoß zu diesem Tagebuchversuch gab die Entdeckung eines alten Tagebuchbandes in einer Holzschachtel in meinem Schrank, das ich 1915 führte, & das uns immer noch zum Lachen bringen kann über Walter Lamb.1 Dieses wird also dem alten Plan folgen - nach dem Tee geschrieben, indiskret geschrieben, & im übrigen vermerke ich hier, daß L. versprochen hat, seine Seite beizufügen, wenn er etwas zu sagen hat.2 Seine Bescheidenheit muß überwunden werden. Heute planen wir, ihm eine Herbstgarderobe zu besorgen & mich mit Papier & Federn auszurüsten. Dies ist der glücklichste Tag, den es für mich gibt. Es regnete natürlich ununterbrochen. London scheint unverändert, was mich an die Veränderungen erinnert, die es gab, als man ein Kind war. Da war ein Mann, der Stiefel kaufte, der solch ein Connaisseur von Stiefeln war, daß er unterschiedliche Schnitte & Nagelungen kannte; & sehr verärgert war, als man ihm sagte, sein Paar sei »schön & fest«. »Ich hasse schöne, feste Stiefel«, knurrte er. Offensichtlich kann man ein Stiefel-Connaisseur sein. Wir gingen durch Gough Square; Dr. Johnsons Haus ist hübsch, sehr gut gehalten, nicht so schäbig, wie ich erwartet hatte. Ein kleiner Square, hinter Chancery Lane eingeklemmt, & jetzt überall
1 In einem früheren Tagebuch hatte Virginia Woolf (im Folgenden VW abgekürzt) von einem Besuch Walter Lambs berichtet, der ihr 1911 einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er war 1913 Geschäftsführer der Royal Academy of Arts geworden und in dieser Eigenschaft gelegentlich bei Hofe. VW schrieb am 10. Januar 1915: »Jedesmal, wenn er beim König gewesen ist, kommt er, um es uns zu erzählen. [...] Was Walter auch sagen mag, es hat die gleiche platte, weiche, graue Oberfläche; & mit seiner Stimme allein könnte man die feurigste Poesie der Welt ersticken. Außerdem sind feurige Gedichte nicht seine Sache.«
2 Leonard Woolf (1880-1969), mit dem VW seit 1912 verheiratet war (in den Fußnoten im Folgenden LW abgekürzt).
Dies ist die beste Gegend von London zum Anschauen - nicht zum dort leben, finde ich jetzt. Als ich mein Manuskript zur Times trug, kam ich mir wie ein ortsüblicher Schreiberling vor.3 Wir gaben es beim Pförtner ab & stolperten über Bruce Richmond, der an der Station Ludgate Hill den perfekten Gentleman in weißen Handschuhen hervorkehrte. Er schwenkte seinen Hut & verschwand.4 Liz. hat einen Sohn; so erledigen sich unsere Befürchtungen wegen der Vaterschaft.
Dienstag 23. Oktober 1917
Wieder ein Sprung in diesem Buch, muß ich gestehen; aber wenn ich es gegen meine Laune schreibe, werde ich anfangen, es zu hassen; also ist die einzige Lebenschance, die es hat, daß Sprünge klaglos hinzunehmen sind. Ich erinnere mich jedoch, daß wir spazieren gingen, druckten, & daß Margaret zum Tee kam.5 Wie blaß diese älteren Frauen werden! Die rauhe blasse Haut von Kröten, leider: M. neigt besonders dazu, den Glanz ihrer Schönheit zu verlieren. Dieses Mal wurden wir überschüttet mit der Coop.-Revolution; den Charakteren von Mr King & Mr May, & Eventualitäten.6 Ich kriege gelegentlich ein Schwanzwedeln
3 Wahrscheinlich VWs Rezension von The Gambler and Other Stories von Fjodor Dostojewski, übersetzt von Constance Garnett, die am 11. Oktober 1917 im TLS [Times Literary Supplement] erschien.
4 Bruce Lyttelton Richmond (1871-1964), Redakteur des TLS von dessen Anfängen 1902 bis zu seiner Pensionierung 1938. Seine Frau war Elena, geb. Rathbone, die VW in ihrer Jugend schwärmerisch bewunderte.
5 Die Woolfs hatten 1915 Hogarth House in Richmond, einem südwestlichen Vorort von London, angemietet und im Frühjahr 1917 eine Druckerpresse gekauft. Im Sommer dieses Jahres hatten sie ihre Publication No. 1 fertiggestellt: Two Stories, written and printed by Virginia Woolf and L. S. Woolf, nämlich VWs ›The Mark on the Wall‹ und LWs ›Three Jews‹. VW war auch für die Satzarbeiten der Hogarth Press verantwortlich.
6 Margaret Llewelyn Davies (1861-1944) war die Vorsitzende der Women's Co-operative Guild, einer selbständigen Organisation innerhalb der kooperativen Bewegung. 1917 machte der Co-operative Congress nach vehementen Debatten eine Kehrtwende in seiner traditionellen Neutralitätspolitik ab, was mich an die äußerst unbedeutende Stellung erinnert, die ich in dieser wichtigen Welt einnehme. Ich werde etwas deprimiert, etwas mehr geneigt Kritik zu üben - es ist eine Frage des Nicht-in-der-richtigen-Atmosphäre-Seins. L. empfindet vermutlich dasselbe gegenüber Gordon Square. Und dann beeindruckt mich die feine Rücksicht, die die Älteren & Fürsorglichen aufeinander nehmen: »muß nach Hause, sonst wird Lilian sich Sorgen machen«, Probleme von Müdigkeit oder Kälte, die ständig auftauchen - zum Teil der unverheiratete Status vielleicht; zum Teil das Gefühl, der Mittelpunkt der eigenen Welt zu sein, das Margaret ganz selbstverständlich hat. Aber natürlich erliege ich ihrer Nettigkeit & Tapferkeit immer wieder trotz verletzter Eitelkeit.
Sonntag 28. Oktober 1917
Immer noch keine Luftangriffe, vermutlich hält der Dunst am Abend sie ab, obwohl es still ist & der Mond völlig klar. Die Vielen, die diese Woche London verlassen haben, müssen sich etwas komisch vorkommen. Ein herrlicher kalter Oktobertag; Sonne rot durch die Blätter, die noch hängen. Um so viel in L.s Gesellschaft zu sein wie ich irgend kann, beschloß ich, mit ihm nach Staines zu fahren.7 Wir gingen von Shepperton durch Laleham, & dann nach Staines am Fluß entlang. Flaches, sehr ruhiges Land, oder Land das fast schon Stadt wird. Rosa Sessel waren um einen vollen aber nicht luxuriösen Teetisch aufgestellt; eine Mannigfaltigkeit von Tellerchen, winzigen Messern, die Leute ermuntert, sich selbst zu bedienen. Mr Lock, der etwas behindert ist, war da, & bald erschienen sie alle: Alice, Flora, Clara & Sylvia - Boshaftigkeit würde einen sagen lassen, die ganze Kensington High Street ergieße sich in ein Zimmer. Das Normale
und beschloß, sich um direkte Vertretung auf der nationalen und kommunalen Ebene zu bemühen.
7 In Staines lebten LWs Mutter, von VW immer »Mrs. Woolf« genannt, und andere Mitglieder der Familie.
Daran beeindruckte mich. Nichts Schönes; nichts Präzises; sehr sonderbar, daß die Natur diesen Typus in so reichlichem Maß hervorgebracht hat. Dann sagte das Dienstmädchen, »Mr Sturgeon «; Flora rief, »Ich gehe«, rannte aus dem Zimmer; alle sagten, Oh! Ah! Wie wunderbar!, wie auf der Bühne, wo die ganze Szene sich tatsächlich hätte abspielen können. Wir gingen, nach dem 2. Akt; Tinker rannte los; wurde aber eingefangen, & so nach Hause, sehr kalt, & Herbert schaute herein, & hier sitzen wir am Kaminfeuer, & ich wünschte, es wäre nächste Woche um dieselbe Zeit.
Donnerstag 22. November 1917
Ich habe in Garsington so viel geprahlt mit diesem Tagebuch & dem Reiz, es aus einem nie versiegenden Quell zu füllen, daß ich mich schäme, einen Tag zu verpassen; & doch besteht, wie ich sage, seine einzige Chance darin, auf meine Stimmung zu warten. 9 Ottoline führt übrigens auch eines, allerdings ihrem »inneren Leben« gewidmet; was mich darüber nachdenken ließ, daß ich ein inneres Leben nicht habe. Sie las mir aber einen Abschnitt vor, in dem ich gepriesen werde, also kommen die Realitäten doch manchmal hinein. Am Dienstag ging L. zu Williams & Norgate, die Angebote für ein 2/6 Buch [2 Shilling 6 Pence] machen - was überlegt sein will. Offensichtlich wollen sie ihn sehr; & können das nicht völlig verbergen trotz ihres Wunsches, hart zu verhandeln. Ich meine, ich wäre fertig, nachdem ich eine Seite niedergeschrieben habe. Jedenfalls kam Barbara am Mittwoch um anzufangen, & die Maschine streikte daraufhin völlig, da
8 Tinker war der Hund, den die Woolfs zwei Wochen zuvor bekommen hat
ten, »ein stämmiges, lebhaftes, dreistes Biest, braun & weiß, mit großen,
glänzenden Augen«, wie VW am 14. Oktober 1917 in ihr Tagebuch schrieb.
9 In Garsington Manor in Oxfordshire hatte VW Lady Ottoline Morrell
(1873-1938) besucht, Gastgeberin und Kunstmäzenin. In ihrem Haus trafen
sich Schriftsteller, bildende Künstler und Pazifisten. Sie hatte 1902 Philip
Morrell (1870-1943) geheiratet, Anwalt und 1906-1918 Abgeordneter der
Liberalen. (Siehe auch Biographische Skizzen im Anhang dieses Buches.)
Eine der Walzen einen Einschnitt hatte, & bockte, & da unser Vorrat an Ks ausging, konnte sie nur 4 Zeilen setzen.10 Das tat sie aber schnell & ohne Fehler, so daß es vielversprechend aussieht. Sie radelte von Wimbledon her, ihr kleiner kurzgeschorener Kopf, die roten Backen, das leuchtende Wams machen, daß sie wie ein lebhafter Vogel wirkt; aber ich bin nicht sicher, ob ich dieses sehr betonte Erscheinungsbild besonders interessant finde. Es scheint immer zu sagen, »Jetzt sind alle Decks klar zum Manöver«, & das Manöver folgt nicht.
Ich hatte Dinner mit Roger & traf Clive.11 Wir saßen am niedrigen quadratischen Tisch, der mit einem bunten Tuch bedeckt war, & essen aus Schalen, die eine jeweils andere Bohne oder ein Salatblatt enthalten: köstliches Essen zur Abwechslung. Wir tranken Wein & beendeten die Mahlzeit mit weißem Käse, den man mit Zucker ißt. Dann, uns herrlich über die Persönlichkeiten erhebend, diskutierten wir über Literatur & Ästhetik.
Donnerstag 6. Dezember 1917
Als ich schrieb, daß wir erst am Anfang unserer Tagesarbeit waren, gestern abend, war ich der Wahrheit näher als ich wußte. Nichts war uns so fern wie der Gedanke an Luftangriffe; eine bittere Nacht, kein Mond aufgegangen bis elf. Um 5 jedoch wurde ich von L. aufgeweckt und spürte unmittelbar die Präsenz der Geschütze: als würden alle Sinne in vollem Dress aufspringen. Wir nahmen Kleidung, Steppdecken eine Uhr & eine Taschenlampe, die Geschütze klangen näher als wir die Treppe hinuntergingen, um mit den Dienstmädchen auf dem alten schwarzen Roßhaarsofa in Steppdecken eingewickelt im Küchengang zu sitzen. Lottie sagte, daß sie sich schlecht fühle, und
10 Barbara Hiles war Lehrling der Hogarth Press. 11 Roger Fry (1866-1934), Kunsthistoriker und Maler und eine etablierte und anerkannte Persönlichkeit in der Museums- und Kunstwelt Englands,
Frankreichs und Amerikas. Er war eng mit VWs älterer Schwester Vanessa
und ihrem Mann Clive Bell befreundet. (Siehe Biographische Skizzen.)
legte dann los mit einem stereotypen Geratter von Witzen & Bemerkungen, das beinahe die Geschütze übertönte.12 Sie schossen sehr schnell, offenbar in Richtung Barnes. Allmählich klangen die Geräusche ferner, & schließlich hörten sie auf; wir wickelten uns aus & gingen ins Bett zurück. Zehn Minuten später stand es außer Frage dort zu bleiben: Geschütze offensichtlich in Kew. Wir sprangen auf, hastiger dieses Mal, denn ich erinnere mich, daß ich meine Uhr vergaß, & Mantel & Strümpfe hinter mir herschleifte. Die Dienstmädchen offensichtlich ruhig & sogar zu Scherzen aufgelegt. In der Tat redet man durch den Lärm hindurch, fühlt sich eher gelangweilt als sonstwas, daß man um 5 Uhr früh reden soll. Die Geschütze waren zeitweise so laut, daß das Pfeifen der aufsteigenden Granate erst auf die Explosion folgte. Ein Fenster, meine ich, klirrte. Dann Schweigen. Kakao wurde für uns gebrüht, & wir zogen wieder ab. Nachdem man seine Ohren aufs Hören eingestellt hat, kann man sie eine Weile lang nicht davon abbringen; & da es nach 6 war, rollten Karren aus Ställen, tuckerten Automotoren, & dann anhaltendes gespenstisches Pfeifen, das vermutlich bedeutete, daß belgische Arbeiter zur Munitionsfabrik gerufen wurden. Schließlich hörte ich in der Ferne Hörner; L. war zu diesem Zeitpunkt schon eingeschlafen, aber die pflichtbewußten Boyscouts kamen unsere Straße entlang und weckten ihn sorgfältig auf; mir fiel auf, was für einen sentimentalen Beigeschmack der Klang hatte, & wie Tausende alter Damen bei diesem Klang ihre Dankgebete emporschickten, & ihn (einen Boyscout mit kleinen Engelsflügeln) mit irgendeiner freudigen Vision in Zusammenhang brachten - Und dann schlief ich ein: aber die Dienstmädchen saßen mit ihren Köpfen aus dem Fenster gestreckt in der bitteren Kälte - Rauhreif weiß auf den Dächern - bis das Horn erklang, woraufhin sie in die Küche zurückgingen und dort bis zum Frühstück aufsaßen. Die Logik des Vorgehens entzieht sich mir.
12 Lottie Hope und ihre Freundin Nelly (oder Nellie) Boxall lebten seit 1916 als Köchin und Hausmädchen im Haushalt der Woolfs.
Heute haben wir gedruckt & über den Angriff geredet, der, laut dem Star den ich kaufte, das Werk von 25 Gothas war, die in 5 Staffeln angriffen & 2 wurden abgeschossen. Ein herrlich ruhiger & schöner Wintertag, also ungefähr um 5.30 morgen früh vielleicht - - -
Freitag 7. Dezember 1917
Aber es gab keinen Luftangriff; & da der Mond abnimmt, sind wir bestimmt für einen Monat frei davon. Glücklicherweise kein Lehrling heute, was ein Gefühl von Feiertag entstehen läßt. Wir mußten es Barbara ziemlich deutlich sagen, daß auf diese Arbeit vielleicht keine weitere folgen wird. Sie weigerte sich den Lohn für die letzte Woche anzunehmen. So kann man ihr keinen Vorwurf machen. Niemand könnte netter sein; & doch hat sie die Seele des Sees, nicht des Meeres. Oder ist man zu romantisch & anspruchsvoll in seinen Erwartungen? Jedenfalls, nichts ist faszinierender als ein lebendiger Mensch; immer sich verändernd, sich widersetzend & nachgebend entgegen den Voraussagen, die man macht; das stimmt sogar für Barbara, die nicht eine der beweglichsten oder talentiertesten ihrer Art ist. Nessa kam wegen einer Gouvernante in die Stadt (Mrs Brereton wurde vorgeschlagen anstelle der meckernden & männersüchtigen Miss E.),13 so beendete ich meinen Nachmittag in einem der großen weichen Sessel in Gordon Square. Ich mag das Gefühl von Raum & tiefem weitem Muster, das man dort bekommt. Ich saß 20 Minuten lang allein, ein Buch über Kinder & Sexualität lesend. Als Nessa kam, tranken wir Tee & es stellte sich heraus, daß Clive & Mary im Hause waren;14 Norton kam, dieselbe Gesellschaft wie ge
13 VWs ältere Schwester Vanessa Bell, geb. Stephen (1879-1961). (Siehe Biogra
phische Skizzen.) 14 Clive Bell (1881-1964), Kunstkritiker, war seit 1907 mit Vanessa verheiratet;
sie hatten die gemeinsamen Söhne Julian und Quentin. Seit 1914 war ihre Ehe
zu einer guten Freundschaft geworden. (Siehe Biographische Skizzen.) Schon
seit einigen Jahren galt seine besondere Zuneigung Mary Hutchinson, gebo
rene Barnes (1889-1977), einer Cousine ersten Grades von Lytton Strachey.
(c) S.Fischer Verlag GmbH - Dieser Textabzug ist nur für den Gebrauch durch Autoren, so lebendig, so voll neuester Nachrichten; ein wirkliches Interesse für jede Art von Kunst; & auch für Menschen. Ich erwarte fast, daß L. mit all diesem nicht übereinstimmt. Ich urteile nach der Menge von Anregung im Hirn, die sich in mir abspielt & nach dem Gefühl von völlig befreiten Gedanken. Nicht daß M. H. den Mund öffnen würde, aber sie strömt stumme Sympathie aus. Ich mag auch Norton - all den Verstand, den er für die allererhabensten Zwecke in seinem Kopf gehortet hat, weshalb seine Kritik immer unvoreingenommen ist. Clive fängt mit seinen Themen an - dabei Nessa mit Bewunderung & Aufmerksamkeit überschüttend, was mich nicht eifersüchtig macht wie früher, als der Ausschlag jenes Pendels so viel meines Glücks mit sich nahm: jedenfalls meines Wohlbefindens. Maynard sagt, daß Bonar Law die Regierung hereingelegt hat; das ganze Land hinter Lansdowne, & die Regierung unfähig, sich an die eigenen Erklärungen zu halten.15 Das kam von Lord Reading. Manchmal fällt mir auf, daß es in der Politik kein einziges Geheimnis gibt; alles kann aus den Zeitungen erraten werden. Nessa mußte bei Roger vorbeigehen & ich ging mit ihr & kaufte unterwegs Wurst & Käse für eine Abendgesellschaft. Roger ist im Begriff, einer der augenblicklich großen Namen zu werden als ein Maler absolut wahrheitsgetreuer & sehr unangenehmer Porträts. Heute (Samstag) gingen wir nach Twickenham, wo Leonard in den Zug nach Staines stieg. Ich fand Marny vor, als ich zurückkam. 16 Es ist 6.30 & sie ist gerade gegangen; wenn ich also die nächsten 10 Seiten nicht mit Familienklatsch fülle & jederlei Art von Details, geschieht es nicht aus Mangel an Stoff. Laß mich etwas davon aufschreiben, falls ich mich erinnern kann -
15 John Maynard Keynes (1883-1946), Ökonom; seit 1923 Vorsitzender des Verwaltungsgremiums der fusionierten Zeitschriften Nation & Athenaeum, zu deren Literaturredakteur er LW bestellt hatte. (Siehe Biographische Skizzen.)
16 Margaret (»Marny«) Vaughan, zweite Tochter von VWs Tante Adeline und von Henry Halford Vaughan.
(c) S.Fischer Verlag GmbH - Dieser Textabzug ist nur für den Gebrauch durch Autoren, Geschäftspartner und Mitarbeiter der Fischer Verlage bestimmt.
1917 Montag 8. Oktober 1917
Den Anstoß zu diesem Tagebuchversuch gab die Entdeckung eines alten Tagebuchbandes in einer Holzschachtel in meinem Schrank, das ich 1915 führte, & das uns immer noch zum Lachen bringen kann über Walter Lamb.1 Dieses wird also dem alten Plan folgen - nach dem Tee geschrieben, indiskret geschrieben, & im übrigen vermerke ich hier, daß L. versprochen hat, seine Seite beizufügen, wenn er etwas zu sagen hat.2 Seine Bescheidenheit muß überwunden werden. Heute planen wir, ihm eine Herbstgarderobe zu besorgen & mich mit Papier & Federn auszurüsten. Dies ist der glücklichste Tag, den es für mich gibt. Es regnete natürlich ununterbrochen. London scheint unverändert, was mich an die Veränderungen erinnert, die es gab, als man ein Kind war. Da war ein Mann, der Stiefel kaufte, der solch ein Connaisseur von Stiefeln war, daß er unterschiedliche Schnitte & Nagelungen kannte; & sehr verärgert war, als man ihm sagte, sein Paar sei »schön & fest«. »Ich hasse schöne, feste Stiefel«, knurrte er. Offensichtlich kann man ein Stiefel-Connaisseur sein. Wir gingen durch Gough Square; Dr. Johnsons Haus ist hübsch, sehr gut gehalten, nicht so schäbig, wie ich erwartet hatte. Ein kleiner Square, hinter Chancery Lane eingeklemmt, & jetzt überall
1 In einem früheren Tagebuch hatte Virginia Woolf (im Folgenden VW abgekürzt) von einem Besuch Walter Lambs berichtet, der ihr 1911 einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er war 1913 Geschäftsführer der Royal Academy of Arts geworden und in dieser Eigenschaft gelegentlich bei Hofe. VW schrieb am 10. Januar 1915: »Jedesmal, wenn er beim König gewesen ist, kommt er, um es uns zu erzählen. [...] Was Walter auch sagen mag, es hat die gleiche platte, weiche, graue Oberfläche; & mit seiner Stimme allein könnte man die feurigste Poesie der Welt ersticken. Außerdem sind feurige Gedichte nicht seine Sache.«
2 Leonard Woolf (1880-1969), mit dem VW seit 1912 verheiratet war (in den Fußnoten im Folgenden LW abgekürzt).
Dies ist die beste Gegend von London zum Anschauen - nicht zum dort leben, finde ich jetzt. Als ich mein Manuskript zur Times trug, kam ich mir wie ein ortsüblicher Schreiberling vor.3 Wir gaben es beim Pförtner ab & stolperten über Bruce Richmond, der an der Station Ludgate Hill den perfekten Gentleman in weißen Handschuhen hervorkehrte. Er schwenkte seinen Hut & verschwand.4 Liz. hat einen Sohn; so erledigen sich unsere Befürchtungen wegen der Vaterschaft.
Dienstag 23. Oktober 1917
Wieder ein Sprung in diesem Buch, muß ich gestehen; aber wenn ich es gegen meine Laune schreibe, werde ich anfangen, es zu hassen; also ist die einzige Lebenschance, die es hat, daß Sprünge klaglos hinzunehmen sind. Ich erinnere mich jedoch, daß wir spazieren gingen, druckten, & daß Margaret zum Tee kam.5 Wie blaß diese älteren Frauen werden! Die rauhe blasse Haut von Kröten, leider: M. neigt besonders dazu, den Glanz ihrer Schönheit zu verlieren. Dieses Mal wurden wir überschüttet mit der Coop.-Revolution; den Charakteren von Mr King & Mr May, & Eventualitäten.6 Ich kriege gelegentlich ein Schwanzwedeln
3 Wahrscheinlich VWs Rezension von The Gambler and Other Stories von Fjodor Dostojewski, übersetzt von Constance Garnett, die am 11. Oktober 1917 im TLS [Times Literary Supplement] erschien.
4 Bruce Lyttelton Richmond (1871-1964), Redakteur des TLS von dessen Anfängen 1902 bis zu seiner Pensionierung 1938. Seine Frau war Elena, geb. Rathbone, die VW in ihrer Jugend schwärmerisch bewunderte.
5 Die Woolfs hatten 1915 Hogarth House in Richmond, einem südwestlichen Vorort von London, angemietet und im Frühjahr 1917 eine Druckerpresse gekauft. Im Sommer dieses Jahres hatten sie ihre Publication No. 1 fertiggestellt: Two Stories, written and printed by Virginia Woolf and L. S. Woolf, nämlich VWs ›The Mark on the Wall‹ und LWs ›Three Jews‹. VW war auch für die Satzarbeiten der Hogarth Press verantwortlich.
6 Margaret Llewelyn Davies (1861-1944) war die Vorsitzende der Women's Co-operative Guild, einer selbständigen Organisation innerhalb der kooperativen Bewegung. 1917 machte der Co-operative Congress nach vehementen Debatten eine Kehrtwende in seiner traditionellen Neutralitätspolitik ab, was mich an die äußerst unbedeutende Stellung erinnert, die ich in dieser wichtigen Welt einnehme. Ich werde etwas deprimiert, etwas mehr geneigt Kritik zu üben - es ist eine Frage des Nicht-in-der-richtigen-Atmosphäre-Seins. L. empfindet vermutlich dasselbe gegenüber Gordon Square. Und dann beeindruckt mich die feine Rücksicht, die die Älteren & Fürsorglichen aufeinander nehmen: »muß nach Hause, sonst wird Lilian sich Sorgen machen«, Probleme von Müdigkeit oder Kälte, die ständig auftauchen - zum Teil der unverheiratete Status vielleicht; zum Teil das Gefühl, der Mittelpunkt der eigenen Welt zu sein, das Margaret ganz selbstverständlich hat. Aber natürlich erliege ich ihrer Nettigkeit & Tapferkeit immer wieder trotz verletzter Eitelkeit.
Sonntag 28. Oktober 1917
Immer noch keine Luftangriffe, vermutlich hält der Dunst am Abend sie ab, obwohl es still ist & der Mond völlig klar. Die Vielen, die diese Woche London verlassen haben, müssen sich etwas komisch vorkommen. Ein herrlicher kalter Oktobertag; Sonne rot durch die Blätter, die noch hängen. Um so viel in L.s Gesellschaft zu sein wie ich irgend kann, beschloß ich, mit ihm nach Staines zu fahren.7 Wir gingen von Shepperton durch Laleham, & dann nach Staines am Fluß entlang. Flaches, sehr ruhiges Land, oder Land das fast schon Stadt wird. Rosa Sessel waren um einen vollen aber nicht luxuriösen Teetisch aufgestellt; eine Mannigfaltigkeit von Tellerchen, winzigen Messern, die Leute ermuntert, sich selbst zu bedienen. Mr Lock, der etwas behindert ist, war da, & bald erschienen sie alle: Alice, Flora, Clara & Sylvia - Boshaftigkeit würde einen sagen lassen, die ganze Kensington High Street ergieße sich in ein Zimmer. Das Normale
und beschloß, sich um direkte Vertretung auf der nationalen und kommunalen Ebene zu bemühen.
7 In Staines lebten LWs Mutter, von VW immer »Mrs. Woolf« genannt, und andere Mitglieder der Familie.
Daran beeindruckte mich. Nichts Schönes; nichts Präzises; sehr sonderbar, daß die Natur diesen Typus in so reichlichem Maß hervorgebracht hat. Dann sagte das Dienstmädchen, »Mr Sturgeon «; Flora rief, »Ich gehe«, rannte aus dem Zimmer; alle sagten, Oh! Ah! Wie wunderbar!, wie auf der Bühne, wo die ganze Szene sich tatsächlich hätte abspielen können. Wir gingen, nach dem 2. Akt; Tinker rannte los; wurde aber eingefangen, & so nach Hause, sehr kalt, & Herbert schaute herein, & hier sitzen wir am Kaminfeuer, & ich wünschte, es wäre nächste Woche um dieselbe Zeit.
Donnerstag 22. November 1917
Ich habe in Garsington so viel geprahlt mit diesem Tagebuch & dem Reiz, es aus einem nie versiegenden Quell zu füllen, daß ich mich schäme, einen Tag zu verpassen; & doch besteht, wie ich sage, seine einzige Chance darin, auf meine Stimmung zu warten. 9 Ottoline führt übrigens auch eines, allerdings ihrem »inneren Leben« gewidmet; was mich darüber nachdenken ließ, daß ich ein inneres Leben nicht habe. Sie las mir aber einen Abschnitt vor, in dem ich gepriesen werde, also kommen die Realitäten doch manchmal hinein. Am Dienstag ging L. zu Williams & Norgate, die Angebote für ein 2/6 Buch [2 Shilling 6 Pence] machen - was überlegt sein will. Offensichtlich wollen sie ihn sehr; & können das nicht völlig verbergen trotz ihres Wunsches, hart zu verhandeln. Ich meine, ich wäre fertig, nachdem ich eine Seite niedergeschrieben habe. Jedenfalls kam Barbara am Mittwoch um anzufangen, & die Maschine streikte daraufhin völlig, da
8 Tinker war der Hund, den die Woolfs zwei Wochen zuvor bekommen hat
ten, »ein stämmiges, lebhaftes, dreistes Biest, braun & weiß, mit großen,
glänzenden Augen«, wie VW am 14. Oktober 1917 in ihr Tagebuch schrieb.
9 In Garsington Manor in Oxfordshire hatte VW Lady Ottoline Morrell
(1873-1938) besucht, Gastgeberin und Kunstmäzenin. In ihrem Haus trafen
sich Schriftsteller, bildende Künstler und Pazifisten. Sie hatte 1902 Philip
Morrell (1870-1943) geheiratet, Anwalt und 1906-1918 Abgeordneter der
Liberalen. (Siehe auch Biographische Skizzen im Anhang dieses Buches.)
Eine der Walzen einen Einschnitt hatte, & bockte, & da unser Vorrat an Ks ausging, konnte sie nur 4 Zeilen setzen.10 Das tat sie aber schnell & ohne Fehler, so daß es vielversprechend aussieht. Sie radelte von Wimbledon her, ihr kleiner kurzgeschorener Kopf, die roten Backen, das leuchtende Wams machen, daß sie wie ein lebhafter Vogel wirkt; aber ich bin nicht sicher, ob ich dieses sehr betonte Erscheinungsbild besonders interessant finde. Es scheint immer zu sagen, »Jetzt sind alle Decks klar zum Manöver«, & das Manöver folgt nicht.
Ich hatte Dinner mit Roger & traf Clive.11 Wir saßen am niedrigen quadratischen Tisch, der mit einem bunten Tuch bedeckt war, & essen aus Schalen, die eine jeweils andere Bohne oder ein Salatblatt enthalten: köstliches Essen zur Abwechslung. Wir tranken Wein & beendeten die Mahlzeit mit weißem Käse, den man mit Zucker ißt. Dann, uns herrlich über die Persönlichkeiten erhebend, diskutierten wir über Literatur & Ästhetik.
Donnerstag 6. Dezember 1917
Als ich schrieb, daß wir erst am Anfang unserer Tagesarbeit waren, gestern abend, war ich der Wahrheit näher als ich wußte. Nichts war uns so fern wie der Gedanke an Luftangriffe; eine bittere Nacht, kein Mond aufgegangen bis elf. Um 5 jedoch wurde ich von L. aufgeweckt und spürte unmittelbar die Präsenz der Geschütze: als würden alle Sinne in vollem Dress aufspringen. Wir nahmen Kleidung, Steppdecken eine Uhr & eine Taschenlampe, die Geschütze klangen näher als wir die Treppe hinuntergingen, um mit den Dienstmädchen auf dem alten schwarzen Roßhaarsofa in Steppdecken eingewickelt im Küchengang zu sitzen. Lottie sagte, daß sie sich schlecht fühle, und
10 Barbara Hiles war Lehrling der Hogarth Press. 11 Roger Fry (1866-1934), Kunsthistoriker und Maler und eine etablierte und anerkannte Persönlichkeit in der Museums- und Kunstwelt Englands,
Frankreichs und Amerikas. Er war eng mit VWs älterer Schwester Vanessa
und ihrem Mann Clive Bell befreundet. (Siehe Biographische Skizzen.)
legte dann los mit einem stereotypen Geratter von Witzen & Bemerkungen, das beinahe die Geschütze übertönte.12 Sie schossen sehr schnell, offenbar in Richtung Barnes. Allmählich klangen die Geräusche ferner, & schließlich hörten sie auf; wir wickelten uns aus & gingen ins Bett zurück. Zehn Minuten später stand es außer Frage dort zu bleiben: Geschütze offensichtlich in Kew. Wir sprangen auf, hastiger dieses Mal, denn ich erinnere mich, daß ich meine Uhr vergaß, & Mantel & Strümpfe hinter mir herschleifte. Die Dienstmädchen offensichtlich ruhig & sogar zu Scherzen aufgelegt. In der Tat redet man durch den Lärm hindurch, fühlt sich eher gelangweilt als sonstwas, daß man um 5 Uhr früh reden soll. Die Geschütze waren zeitweise so laut, daß das Pfeifen der aufsteigenden Granate erst auf die Explosion folgte. Ein Fenster, meine ich, klirrte. Dann Schweigen. Kakao wurde für uns gebrüht, & wir zogen wieder ab. Nachdem man seine Ohren aufs Hören eingestellt hat, kann man sie eine Weile lang nicht davon abbringen; & da es nach 6 war, rollten Karren aus Ställen, tuckerten Automotoren, & dann anhaltendes gespenstisches Pfeifen, das vermutlich bedeutete, daß belgische Arbeiter zur Munitionsfabrik gerufen wurden. Schließlich hörte ich in der Ferne Hörner; L. war zu diesem Zeitpunkt schon eingeschlafen, aber die pflichtbewußten Boyscouts kamen unsere Straße entlang und weckten ihn sorgfältig auf; mir fiel auf, was für einen sentimentalen Beigeschmack der Klang hatte, & wie Tausende alter Damen bei diesem Klang ihre Dankgebete emporschickten, & ihn (einen Boyscout mit kleinen Engelsflügeln) mit irgendeiner freudigen Vision in Zusammenhang brachten - Und dann schlief ich ein: aber die Dienstmädchen saßen mit ihren Köpfen aus dem Fenster gestreckt in der bitteren Kälte - Rauhreif weiß auf den Dächern - bis das Horn erklang, woraufhin sie in die Küche zurückgingen und dort bis zum Frühstück aufsaßen. Die Logik des Vorgehens entzieht sich mir.
12 Lottie Hope und ihre Freundin Nelly (oder Nellie) Boxall lebten seit 1916 als Köchin und Hausmädchen im Haushalt der Woolfs.
Heute haben wir gedruckt & über den Angriff geredet, der, laut dem Star den ich kaufte, das Werk von 25 Gothas war, die in 5 Staffeln angriffen & 2 wurden abgeschossen. Ein herrlich ruhiger & schöner Wintertag, also ungefähr um 5.30 morgen früh vielleicht - - -
Freitag 7. Dezember 1917
Aber es gab keinen Luftangriff; & da der Mond abnimmt, sind wir bestimmt für einen Monat frei davon. Glücklicherweise kein Lehrling heute, was ein Gefühl von Feiertag entstehen läßt. Wir mußten es Barbara ziemlich deutlich sagen, daß auf diese Arbeit vielleicht keine weitere folgen wird. Sie weigerte sich den Lohn für die letzte Woche anzunehmen. So kann man ihr keinen Vorwurf machen. Niemand könnte netter sein; & doch hat sie die Seele des Sees, nicht des Meeres. Oder ist man zu romantisch & anspruchsvoll in seinen Erwartungen? Jedenfalls, nichts ist faszinierender als ein lebendiger Mensch; immer sich verändernd, sich widersetzend & nachgebend entgegen den Voraussagen, die man macht; das stimmt sogar für Barbara, die nicht eine der beweglichsten oder talentiertesten ihrer Art ist. Nessa kam wegen einer Gouvernante in die Stadt (Mrs Brereton wurde vorgeschlagen anstelle der meckernden & männersüchtigen Miss E.),13 so beendete ich meinen Nachmittag in einem der großen weichen Sessel in Gordon Square. Ich mag das Gefühl von Raum & tiefem weitem Muster, das man dort bekommt. Ich saß 20 Minuten lang allein, ein Buch über Kinder & Sexualität lesend. Als Nessa kam, tranken wir Tee & es stellte sich heraus, daß Clive & Mary im Hause waren;14 Norton kam, dieselbe Gesellschaft wie ge
13 VWs ältere Schwester Vanessa Bell, geb. Stephen (1879-1961). (Siehe Biogra
phische Skizzen.) 14 Clive Bell (1881-1964), Kunstkritiker, war seit 1907 mit Vanessa verheiratet;
sie hatten die gemeinsamen Söhne Julian und Quentin. Seit 1914 war ihre Ehe
zu einer guten Freundschaft geworden. (Siehe Biographische Skizzen.) Schon
seit einigen Jahren galt seine besondere Zuneigung Mary Hutchinson, gebo
rene Barnes (1889-1977), einer Cousine ersten Grades von Lytton Strachey.
(c) S.Fischer Verlag GmbH - Dieser Textabzug ist nur für den Gebrauch durch Autoren, so lebendig, so voll neuester Nachrichten; ein wirkliches Interesse für jede Art von Kunst; & auch für Menschen. Ich erwarte fast, daß L. mit all diesem nicht übereinstimmt. Ich urteile nach der Menge von Anregung im Hirn, die sich in mir abspielt & nach dem Gefühl von völlig befreiten Gedanken. Nicht daß M. H. den Mund öffnen würde, aber sie strömt stumme Sympathie aus. Ich mag auch Norton - all den Verstand, den er für die allererhabensten Zwecke in seinem Kopf gehortet hat, weshalb seine Kritik immer unvoreingenommen ist. Clive fängt mit seinen Themen an - dabei Nessa mit Bewunderung & Aufmerksamkeit überschüttend, was mich nicht eifersüchtig macht wie früher, als der Ausschlag jenes Pendels so viel meines Glücks mit sich nahm: jedenfalls meines Wohlbefindens. Maynard sagt, daß Bonar Law die Regierung hereingelegt hat; das ganze Land hinter Lansdowne, & die Regierung unfähig, sich an die eigenen Erklärungen zu halten.15 Das kam von Lord Reading. Manchmal fällt mir auf, daß es in der Politik kein einziges Geheimnis gibt; alles kann aus den Zeitungen erraten werden. Nessa mußte bei Roger vorbeigehen & ich ging mit ihr & kaufte unterwegs Wurst & Käse für eine Abendgesellschaft. Roger ist im Begriff, einer der augenblicklich großen Namen zu werden als ein Maler absolut wahrheitsgetreuer & sehr unangenehmer Porträts. Heute (Samstag) gingen wir nach Twickenham, wo Leonard in den Zug nach Staines stieg. Ich fand Marny vor, als ich zurückkam. 16 Es ist 6.30 & sie ist gerade gegangen; wenn ich also die nächsten 10 Seiten nicht mit Familienklatsch fülle & jederlei Art von Details, geschieht es nicht aus Mangel an Stoff. Laß mich etwas davon aufschreiben, falls ich mich erinnern kann -
15 John Maynard Keynes (1883-1946), Ökonom; seit 1923 Vorsitzender des Verwaltungsgremiums der fusionierten Zeitschriften Nation & Athenaeum, zu deren Literaturredakteur er LW bestellt hatte. (Siehe Biographische Skizzen.)
16 Margaret (»Marny«) Vaughan, zweite Tochter von VWs Tante Adeline und von Henry Halford Vaughan.
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Autoren-Porträt von Virginia Woolf
Woolf, VirginiaVirginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Virginia Woolf
- 368 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben von Seifert, Nicole; Übersetzung: Bosse-Sporleder, Maria; Wenner, Claudia
- Übersetzer: Maria Bosse-Sporleder, Claudia Wenner
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904579
- ISBN-13: 9783596904570
- Erscheinungsdatum: 09.10.2012
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