Seitenwechsel
Sex und hopp. Roman. Originalausgabe
Tim zuliebe hat Karina ihren Affären endgültig abgeschworen. Aber jetzt hat sie doch wieder eine - mit Tim!
Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn Tim nicht seine Kollegin Sarah auf ihrer Klassenfahrt nach Paris begleitet hätte. Und wenn Karina...
Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn Tim nicht seine Kollegin Sarah auf ihrer Klassenfahrt nach Paris begleitet hätte. Und wenn Karina...
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Produktinformationen zu „Seitenwechsel “
Klappentext zu „Seitenwechsel “
Tim zuliebe hat Karina ihren Affären endgültig abgeschworen. Aber jetzt hat sie doch wieder eine - mit Tim!Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn Tim nicht seine Kollegin Sarah auf ihrer Klassenfahrt nach Paris begleitet hätte. Und wenn Karina nicht allein ins Kino gegangen und dort auf ihren neuen und äußerst attraktiven Chef Hannes getroffen wäre, mit dem sie es Tim heimzahlt.
Aber nach drei Jahren Beziehungsalltag mit Kleinkind und Vollzeitjob scheint zwischen Tim und Karina die Luft raus zu sein. Die beiden trennen sich - und beginnen kurz darauf eine Affäre miteinander. Obwohl sie mittlerweile mit ihren neuen Partnern fest liiert sind, gelingt es ihnen nicht, einfach nur Freunde zu bleiben. Doch als Hannes Karina einen Heiratsantrag macht und Sarah mit Tim nach Dortmund ziehen will, muss Karina sich entscheiden: Sex oder Ex?
Lese-Probe zu „Seitenwechsel “
Seitenwechsel - Sex und hopp von Sabine LeipertDie Stadt der Liebe
... mehr
Ich war gerade dabei, die letzten Karten von Kais neuem Autoquartett unter dem Sofa hervorzuholen, als ich Tims Blick im Nacken spürte. »Ich muss dir was sagen.« Schon krampfte sich alles in mir zusammen. Wie ich diesen Satz hasste. Er bedeutete nie etwas Gutes. Oder hatte schon jemals jemand so begonnen und dann hinterhergeschoben: »Du siehst heute verdammt gut aus, obwohl du einen Sechzehnstundentag hinter dir hast, von dem du die eine Hälfte im Auto und die andere damit verbracht hast, die Trümmer hinter unserem Chaos-Sohn in Grenzen zu halten«? Gab es irgendeine Situation, in der diesem Satz zwangsläufig und ganz automatisch eine positive Nachricht folgen musste? Wenn ja, auf jeden Fall nicht heute und nicht hier. Ich drehte mich nicht um, sondern sortierte weiter Kais Kartenspiel nach den Marken der Autos, weil ich ahnte, was Tim mir sagen musste. Seit er die Wohnung betreten hatte, hatte ich so ein Gefühl. Tim benahm sich irgendwie anders. Aber er sagte einfach nichts. Er stand nur da und starrte mir in den Nacken. Vielleicht musste er auch nichts mehr sagen, weil mit diesem einen Satz bereits alles gesagt war. Er kam gerade von einer zehntägigen Klassenfahrt aus Paris zurück. Die Stadt der Liebe, Rotwein, schicke Französinnen. Es war etwas passiert in Paris, und ich brauchte nicht viel Phantasie, um zu ahnen, was. Ich räusperte mich, weil ich Angst hatte, meine Stimme würde versagen. Dann fragte ich leise: »Mit wem?«, weil es komischerweise die einzige Frage war, die mir in den Sinn kam, obwohl ich inständig hoffte, dass es die falsche war. Aber als Tim darauf immer noch nichts sagte, wusste ich, dass ich richtig lag. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte nicht mehr erkennen, ob ich jetzt einen Mercedes oder einen BMW in der Hand hielt. »Mit meiner Kollegin. ... Sarah«, erlöste er mich schließlich. Ich nickte und legte das Kartenspiel zur Seite. »Ich ... ich habe dir von ihr erzählt, sie unterrichtet Französisch ...« Was sicherlich hilfreich war, wenn man eine Klassenfahrt nach Frankreich machte. »... und Musik«, fügte Tim leise hinzu, als würde das die Sache besser machen.
Jetzt drehte ich mich zu ihm um. Ich nickte immer noch, als ich ihn anschaute. Ich konnte nichts anderes tun, als ziemlich dämlich nicken. Dann ging ich wortlos an ihm vorbei zur Garderobe, nahm meine Jacke und öffnete die Wohnungstür.
»Wollen wir nicht darüber reden?«, fragte Tim irritiert.
Ich schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter mir zu.
Am Ende dieses langen Tages war ich auch nervlich am Ende. Ich hatte Kai in den Kindergarten gebracht, war in die Redaktion gefahren, hatte ein anstrengendes Interview geführt und eine noch anstrengendere Pressekonferenz besucht, hatte Kai vom Kindergarten abgeholt und zu meiner Mutter gebracht, war wieder in die Redaktion gefahren, hatte meinen Artikel über die offensichtlichen Differenzen zwischen Kölns neuem Fußballtrainer und dem Vereinsmanagement geschrieben, Kai von meiner Mutter abgeholt, war mit ihm einkaufen gegangen und irgendwann viel zu spät nach Hause gekommen. Ich hatte aufgeräumt, Abendbrot gemacht, Kai vergeblich erklärt, dass er seinem Vater auch noch morgen früh sein neues Auto zeigen konnte, und mit ihm schließlich Karten gespielt, um ihn bei Laune zu halten. Ich hatte mich auf Tim gefreut, darauf, ein Glas Wein mit ihm zu trinken, und wer weiß, vielleicht hatte ich mich auch irgendwie auf Wiedersehensex gefreut, auch wenn wir beide vermutlich viel zu müde dazu gewesen wären. Ich wollte mit ihm die wenigen Minuten, die uns vom Abend noch übrig blieben, genießen. Aber ich wollte jetzt ganz bestimmt nicht mehr reden.
Im falschen Film
Aus Reflex stieg ich in die Bahn, um zu Tina zu fahren. Weil ich immer zu Tina fuhr, wenn ich ein Problem hatte. Aber als ich schließlich vor ihrer Haustür stand, fiel mir auf, dass ich auch mit ihr nicht reden wollte. Ich wollte heute gar nicht mehr reden, nachdenken oder mich bemitleiden. Ich wollte einfach nur abschalten und entschied mich schließlich dafür, ins Kino zu gehen. Mit etwas Glück hatte die Spätvorstellung noch nicht begonnen.
Ich war eigentlich nie viel ins Kino gegangen, und seit Kais Geburt hatte ich auch nicht mal mehr die Filme gesehen, die man unbedingt gesehen haben musste. Aber in diesem Moment erschien es mir wie eine gute Idee. Ich hatte keine Ahnung, was zur Zeit lief, als ich die im nüchternen Fabriklook gehaltene Vorhalle des Arthouse-Cinemas betrat. Ich betrachtete kurz das Programm, ohne danach schlauer zu sein. Sehr originell waren die Filme offenbar nicht gerade, denn was auch immer mich erwartete, es hatte mindestens ein Herz im Titel. Ich ließ mir von der gelangweilten Kartenverkäuferin eine kurze Inhaltsangabe geben. Offenbar hatte ich die Wahl zwischen einsamen französischen Herzen, die sich schon seit zehn Minuten ihr Leid klagten, und vermutlich für den Rest des Films auch nichts anderes tun würden, oder einsamen amerikanischen Herzen, die am Ende des Films wahrscheinlich glücklicher sein würden als ihre französischen Kollegen. Ich wählte die leichte Happy-End-Variante, auch wenn das bedeutete, dass ich noch eine Viertelstunde Werbung über mich ergehen lassen musste. Mit den Franzosen war ich für heute definitiv durch.
Zehn Minuten später bereute ich meinen Entschluss schon wieder. Nicht nur, dass ich mein Eis bereits vor der Eiswerbung aufgegessen hatte und die spärlichen Besucher, die sich mit mir auf die etwa dreihundert Sessel verteilten, längst ahnen ließen, dass der Film nicht gerade ein Anwärter auf die Top Ten war. Zu allem Überfluss erwies sich meine Vorstellung, im Kino abschalten zu können, als absoluter Trugschluss. Man konnte sich nirgendwo besser bemitleiden als in einem dunklen Kinoraum, besonders, wenn einem die Werbung im Minutentakt schöne, glückliche und verliebte Menschen vorgaukelte. Deos, Autos, Jeans. Alles machte so unwiderstehlich, dass sich jeder auf der Stelle seiner Klamotten entledigen musste. Und schon wanderten meine Gedanken wieder zu Tim und seiner Kollegin. Als sich auf der Leinwand dann auch noch zwei makellose Körper wegen einer albernen Flasche Mineralwasser durch kunstvoll drapierte Laken wälzten, hatte ich die Nase voll vom Kino. Ich stand auf und versuchte, im Dunkeln auf dem Weg nach draußen nicht über die Treppenstufen zu stolpern. Stattdessen stolperte ich über eine achtlos zur Seite gestellte Tasche.
»Verdammt!«, entfuhr es mir, als mich der Taschenbesitzer gerade noch davor bewahrte, nähere Bekanntschaft mit dem Boden zu machen.
»Tut mir leid«, sagte die männliche Stimme.
»Können Sie Ihre dämliche Tasche nicht woanders hinstellen? Die Fluchtwege müssen schließlich freigehalten werden.«
»Sicher. Ich wusste ja nicht, dass Sie auf der Flucht sind, Frau Schneider.«
»Äh, und woher kennen Sie bitte meinen Namen?«
»Aus Ihrer Personalakte.«
Das Fragezeichen in meinem Gesicht wurde größer, bis die Becks-Werbung den Kinoraum ein wenig erhellte und ich den bösartigen Taschen-in-den-Weg-Steller erkannte. Es war Hannes Jost, mein Chef.
»Unbequemer Sessel, aufdringlicher Sitznachbar, Mundgeruch?«, fragte er, während Joe Cockers »Sail Away« mit albernem Hip-Hop verjüngt wurde.
»Äh, was?«, fragte ich irritiert, weil ich es immer noch nicht fassen konnte, dass ich ausgerechnet meinen Chef angemotzt hatte. Was hatte er überhaupt um diese Uhrzeit im Kino und dann auch noch in einem mittelmäßigen Hollywood-Streifen zu suchen?
»Ich meine ja nur, der Film hat noch nicht angefangen, und Sie sind schon auf der Flucht«, präzisierte Herr Jost seine Frage. Er hatte wirklich einen eigenartigen Humor, aber das war mir schon bei der Arbeit aufgefallen. Die meisten meiner Kollegen konnten nichts damit anfangen - und im Moment war ich mir nicht sicher, ob ich nicht auch dazugehörte.
»Ach so, ja, ähm, nee, ich bin nicht ... ich bin allein. Ich ... ich ... wollte mir auch nur noch etwas Popcorn holen.«
Auffordernd hielt er mir seine Jumbopackung entgegen. »Mein Abendessen. Aber ich würde es notfalls mit Ihnen teilen.«
Okay. Das war jetzt wirklich komplizierter, als es ausgesehen hatte. Wie sage ich meinem Chef Adieu, ohne unhöflich zu erscheinen? Und vor allem, ohne ihn gleich in die Tiefen meiner Beziehungsprobleme einweihen zu müssen. Ein unvorhergesehener Arbeitstermin schied definitiv aus, da die Morgenausgabe schon im Druck war, wenn sogar unser Ressortleiter Feierabend machte.
»Gesalzen, nicht gezuckert«, bekräftigte er seine Einladung.
»Ja. Gut. Danke«, sagte ich leise und wünschte, dieser schreckliche Abend wäre endlich überstanden. Stattdessen war ich jetzt gezwungen, Smalltalk zu betreiben, denn während ich noch mit meinem Schicksal haderte, eröffnete mein Chef das Gespräch schon mit einem lockeren Kommentar zu dem Film.
»Er ist nicht so schlimm, wie der Titel vermuten lässt.« »Sie haben ihn schon gesehen?«
»Zweimal. Zugegeben, so gut ist er auch wieder nicht. Aber den französischen Film habe ich schon dreimal gesehen.«
»Dreimal?! Ähm, haben Sie noch keine Wohnung in Köln gefunden, oder ...?«
»Doch, doch«, lachte er. »Gleich hier in der Nähe. Aber im Kino kann ich nach der Arbeit einfach am besten abschalten.« »Verstehe. Sie gehen also jeden Abend ins Kino?«
»Nicht jeden. Ich bin schließlich kein Freak.« Er grinste mich an und wusste, dass ich ihn genau dafür hielt. Zusammen mit dem Rest unserer Redaktion, die ihn bereits als pedantischen Workaholic abgestempelt hatte. Er war morgens immer als Erster da und verließ die Redaktion als Letzter. Er schaffte es, neben seiner Cheftätigkeit täglich noch ein bis zwei gut recherchierte Artikel zum Sportteil beizutragen und hatte eine wöchentliche Kolumne im Kommentarteil. Er wusste alles und kannte jeden. Er las, wenn er nicht schrieb, oder besprach, wenn er weder las noch schrieb. Ich hatte ihn nie in der Kantine zur Mittagspause angetroffen und ihn höchstens mal bei einem Kaffee und Brötchen in seinem Büro erwischt, während er Artikel redigierte, schrieb oder las. Und wenn andere Leute nach sechzehn Stunden Arbeit geschafft ins Bett fielen, ging er ins Kino und schaute sich dreimal hintereinander denselben Film an. Doch, ja, er war eindeutig das, was man gemeinhin als Freak bezeichnen konnte. Anscheinend hatte er meine Gedanken gelesen, denn er fühlte sich genötigt, eine Erklärung abzugeben.
»Also gut, wenn Sie mich nicht verraten, vertraue ich Ihnen ein Geheimnis an, okay?« Bevor ich einwenden konnte, dass das gegenüber seiner Untergebenen nicht unbedingt ratsam war, fuhr er fort: »Eigentlich müsste ich ungefähr jetzt vom Stepper zur Drückbank wechseln. Und damit mein persönlicher Trainer mich nicht findet, verstecke ich mich im Kino.« Smalltalk mit ihm war wirklich nicht einfach. Ich sah meinen Chef reichlich verwirrt an, und sofort war Herr Jost bereit, mehr über sein ominöses Geheimnis preiszugeben.
»Ich habe mir vorgenommen, endlich nicht mehr nur über Sport zu berichten, sondern ihn zur Abwechslung auch selbst zu betreiben und einen Jahresvertrag bei dem Fitnesscenter nebenan abgeschlossen. Dann habe ich das Kino dahinter gesehen, und das war es dann, mit meinen guten Vorsätzen.«
Ich starrte ihn immer noch wie eine komplette Idiotin an, und wenn ich nicht langsam etwas Konstruktives zu unserer Unterhaltung beitrug, musste ich mir vermutlich bald Sorgen um meinen Job machen.
»Okay, Sie halten mich immer noch für einen Freak«, erriet Herr Jost meine Gedanken, und ich beeilte mich zu sagen:
»Nein, ich überlege nur, was die größere Tortur ist, eine halbe Stunde Stepper oder dreimal hintereinander ein französischer Film.«
»Für mich das erstere. Sport ist nicht so mein Ding.«
Und wieder konnte mein Gesichtsausdruck kein besonders intelligenter sein.
»Überrascht Sie das?«, fragte er, als wäre er nun seinerseits über meine Reaktion überrascht.
»Na ja«, stotterte ich. »Ihnen eilt irgendwie ein anderer Ruf voraus.«
Immerhin sprach ich gerade mit dem hochgelobten neuen Leiter unserer Sportredaktion. Mit dem Mann, der für seine WM-Berichterstattung mit so vielen Preisen überhäuft worden war, dass er es jetzt sogar wagte, aus Berlin direkt in den Kölner FC-Moloch hinabzusteigen. Eine Herausforderung, die er bisher mit Bravour meisterte, obwohl sie schon viele gestandene Fußballexperten an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte, denn in keiner anderen deutschen Stadt wurde ein Verein von seinen Fans so sehr geliebt und gehasst wie hier. Ich durfte also durchaus annehmen, dass Sport bei ihm mehr hervorrief als Fluchtreflexe ins nächste Kino. Aber Herr Jost wischte seinen guten Ruf mit einer Handbewegung beiseite. »Ich wollte nie Sportredakteur werden, geschweige denn der Chef dieser verrückten Abteilung, sondern Filmkritiker. Insgeheim warte ich immer noch auf einen Anruf von meinem Kollegen beim Feuilleton der Zeit.« Während ich noch überlegte, ob ich dieses Geständnis irgendwie gegen ihn und für eine Gehaltserhöhung verwenden konnte, drehte er den Spieß um: »Und Sie?«
»Äh, ich? Ich kenne leider keinen bei der Zeit.«
Er lachte wieder. Gott sei Dank. Ganz so doof fand er unsere Unterhaltung wohl doch nicht. »Nein, ich meine, wollten Sie immer Sportjournalistin werden?«
»Um Gottes willen, nein!«, platzte es aus mir heraus, und im nächsten Moment war mir klar, dass das sicherlich zu den Dingen gehörte, die man seinem Chef besser verschwieg.
»Äh, also nicht immer, als Kind wollte ich natürlich Tierärztin werden, oder Astronautin, na ja, was man als Kind ebenso werden will.«
Zum Glück schmunzelte mein Chef nur bei diesem ungeschickten Versuch, über meinen Fauxpas hinwegzutäuschen. »Sie können ruhig ehrlich sein, ich bin nicht im Dienst. Um einen Filmklassiker zu zitieren, quid pro quo. Ich habe Philosophie und Medienwissenschaften studiert und nebenbei über die berühmten Jahreshauptversammlungen der Kaninchenzüchter berichtet, von denen es übrigens gar nicht so viele gibt, wie immer behauptet wird. Nicht gerade die typische Sportreporter-Karriere.«
»Englisch und Französisch auf Lehramt, abgebrochen«, gab ich notgedrungen zu und geriet schon wieder in Bedrängnis. Meinen beruflichen Werdegang konnte man kaum mit einer klassischen Karriereleiter vergleichen. Eher mit einem verzweifelten Hangeln von einem Rettungsseil zum nächsten. Schon der Einstieg in den Journalismus war reiner Zufall, denn dass ich nach meinem abgebrochenen Studium überhaupt bei einemKölner Kulturmagazin gelandet war, hatte ich einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass ich mir an diesem schicksalhaften Abend in der Kneipe den Herausgeber dieses ambitionierten Blattes geangelt hatte. Genausogut hätte er ein Meeresbiologe sein können, dann würde ich jetzt vielleicht in der Nordsee herumtauchen und Wasserproben entnehmen.
»... na ja, und dann haben sich durch einen zufälligen Kontakt überraschend ein paar Türen geöffnet.«
Herr Jost verkniff sich einen Kommentar und fuhr fort:
»Ich habe in der Schule das Sportabzeichen nicht geschafft.« Allmählich machte mir das Spiel Spaß, und ich überlegte, womit ich das toppen könnte.
»Ich habe mir selbst ein ärztliches Attest geschrieben, das mich ein halbes Jahr vom Sportunterricht befreite.«
Ihm fiel kein Konter mehr ein. Ich hatte gewonnen und war ganz offensichtlich in seinem Ansehen gestiegen. Er lächelte mich an, und ich merkte plötzlich, dass ich schon fast zehn Minuten nicht mehr an Tims Seitensprung gedacht hatte. Leider fing in diesem Moment der Film an, dabei hatte ich jetzt sogar eher Lust, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Aber das wäre wohl etwas unhöflich gegenüber den wenigen anderen Besuchern im Kino gewesen. Stattdessen stotterte Hugh Grant auf der Leinwand seiner neuen Bekanntschaft etwas vor, die wiederum ihrer letzten Liebschaft hinterhertrauerte, und ich war im dunklen Kinosaal wieder mit mir und meinem Beziehungsproblem allein.
Ich hätte Tim gar nicht erst mitfahren lassen dürfen. Verdammte Klassenfahrten. Dabei wusste doch jeder Siebtklässler, dass sie nur eine Erfindung gelangweilter Lehrerinnen und Lehrer waren, damit sie endlich mit ihren Kollegen ins Bett springen konnten. Angeregt von zu viel Wein, rustikaler Jugendherbergsatmosphäre, Erinnerungen an die eigenen Klassenfahrten. Tim hätte niemals mit nach Paris fahren dürfen. Zumal er noch nicht einmal Französisch sprach. Sein Englisch war schon kaum zu verstehen, wieso war ich also so blauäugig an die Sache herangegangen? Die Antwort lag auf der Hand: weil Tim eben nicht zu der Sorte Lehrer im Kollegium gehörte, die bei der erstbesten Gelegenheit mit der Französischlehrerin ins Bett gingen. Weil Tim mir noch nie Anlass zur Eifersucht gegeben hatte. Weil Tim treu war, mich liebte, zu mir gehörte. Was also hatte dieser Seitensprung zu bedeuten? Warum hatte Tim das getan?
Plötzlich war dieses beklemmende Gefühl in der Magengegend wieder da. Breitete sich in alle Richtungen meines Körpers aus, bis mir ungewollt ein lauter Seufzer entfuhr.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Herr Jost.
»Ja«, erwiderte ich. Aber als die spärlichen Zuschauer im Saal in Gelächter ausbrachen und selbst mein Chef zum dritten Mal über den gleichen Witz lachen musste, wusste ich, dass ich im falschen Film war. Nein, Kino eignete sich ganz und gar nicht, um sich von Beziehungsproblemen abzulenken. Erst recht nicht, wenn man in einer Beziehungskomödie saß.
Ich entschuldigte mich kurz bei meinem Chef, ohne eine weitere Erklärung abzugeben. Dann ergriff ich zum zweiten Mal die Flucht aus dem Kinosaal.
Dieses Mal mit mehr Erfolg. Zumindest hatte ich das Kino schon hinter mir gelassen und das angrenzende Fitnesscenter erreicht, als Herr Jost mich einholte.
»Ich bin ein Idiot«, rief er mir zu.
Ich atmete tief durch und bemühte mich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, als ich mich zu ihm umdrehte. »Ich bin einfach nur müde.«
»Und ich zwinge Sie mit meiner Jumbo-Popcorn-Packung dazu, mir Gesellschaft zu leisten. Es tut mir leid. Ich bin wirklich ein Idiot, warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
»Na ja, weil Sie auch irgendwie mein Chef sind.«
»Ja, man hat es nicht leicht an der Spitze. Keiner ist ehrlich zu einem.«
Er sah mich prüfend an und mir war klar, dass er mir meine Ausrede nicht abnahm. »Wollen Sie darüber reden?«
»Besser nicht.«
»Weil ich Ihr Chef bin, oder ein Idiot?«
»Beides.«
Er bewies Humor und lachte über meinen ernst gemeinten Scherz.
»Gott sei Dank. Ich bin ohnehin nicht gut im Trösten. Berufskrankheit - fehlendes Taktgefühl.«
Tja, was sollte man dazu sagen. Am besten gar nichts. Ich versuchte mich unauffällig aus der Affäre zu stehlen. »Also gut. Dann werde ich mal ... bis morgen.«
Doch kurz hinter dem Fitnesscenter schloss mein Chef wieder zu mir auf und fragte: »Haben Sie vielleicht Lust, noch auf ein Glas Wein mit zu mir zu kommen?«, als wollte er damit sein mangelndes Taktgefühl unter Beweis stellen.
»Wie bitte?« Seine Frage wäre von einem Fremden schon unverschämt genug gewesen. Das hatte mir zu einem erfolgreichen Abschluss dieses miserablen Tages gerade noch gefehlt.
»Sie verstehen jetzt wahrscheinlich, was ich eben mit der Berufskrankheit meinte, oder?«
»Allerdings. Wenn Sie mit Ihrer Einladung das meinen, was ich darunter verstehe.«
»Gut, dann lassen Sie mich die Frage etwas genauer formulieren: Ihnen geht es offensichtlich nicht gut, und ich kann Ihnen mit meinem fehlenden Taktgefühl nicht helfen. Aber ich fühle mich irgendwie schuldig, Sie aus dem Kino vertrieben zu haben. Was ich also anbieten könnte, und das absolut ohne Hintergedanken, wäre, dass wir zu mir gehen - meine Wohnung ist gleich um die Ecke -, eine Flasche Wein köpfen und auf gar keinen Fall das machen, was Sie gerade befürchtet haben.«
»Und was machen wir dann?«
»Steif auf dem Sofa sitzen und ein hundert Prozent sentimentalitätsfreies Programm im Fernsehen anschauen.«
Okay, der Kerl verstand es, mich zu überraschen. Eine Unterhaltung mit ihm war wirklich alles, nur nicht langweilig.
»Danke, aber ich denke, das wäre in dieser Situation gerade nicht so klug.«
»Sicher. War nur ein Angebot. Schönen Abend noch.«
© S. Fischer Veriag GmbH, Frankfurt am Main 2012-02-22
Ich war gerade dabei, die letzten Karten von Kais neuem Autoquartett unter dem Sofa hervorzuholen, als ich Tims Blick im Nacken spürte. »Ich muss dir was sagen.« Schon krampfte sich alles in mir zusammen. Wie ich diesen Satz hasste. Er bedeutete nie etwas Gutes. Oder hatte schon jemals jemand so begonnen und dann hinterhergeschoben: »Du siehst heute verdammt gut aus, obwohl du einen Sechzehnstundentag hinter dir hast, von dem du die eine Hälfte im Auto und die andere damit verbracht hast, die Trümmer hinter unserem Chaos-Sohn in Grenzen zu halten«? Gab es irgendeine Situation, in der diesem Satz zwangsläufig und ganz automatisch eine positive Nachricht folgen musste? Wenn ja, auf jeden Fall nicht heute und nicht hier. Ich drehte mich nicht um, sondern sortierte weiter Kais Kartenspiel nach den Marken der Autos, weil ich ahnte, was Tim mir sagen musste. Seit er die Wohnung betreten hatte, hatte ich so ein Gefühl. Tim benahm sich irgendwie anders. Aber er sagte einfach nichts. Er stand nur da und starrte mir in den Nacken. Vielleicht musste er auch nichts mehr sagen, weil mit diesem einen Satz bereits alles gesagt war. Er kam gerade von einer zehntägigen Klassenfahrt aus Paris zurück. Die Stadt der Liebe, Rotwein, schicke Französinnen. Es war etwas passiert in Paris, und ich brauchte nicht viel Phantasie, um zu ahnen, was. Ich räusperte mich, weil ich Angst hatte, meine Stimme würde versagen. Dann fragte ich leise: »Mit wem?«, weil es komischerweise die einzige Frage war, die mir in den Sinn kam, obwohl ich inständig hoffte, dass es die falsche war. Aber als Tim darauf immer noch nichts sagte, wusste ich, dass ich richtig lag. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte nicht mehr erkennen, ob ich jetzt einen Mercedes oder einen BMW in der Hand hielt. »Mit meiner Kollegin. ... Sarah«, erlöste er mich schließlich. Ich nickte und legte das Kartenspiel zur Seite. »Ich ... ich habe dir von ihr erzählt, sie unterrichtet Französisch ...« Was sicherlich hilfreich war, wenn man eine Klassenfahrt nach Frankreich machte. »... und Musik«, fügte Tim leise hinzu, als würde das die Sache besser machen.
Jetzt drehte ich mich zu ihm um. Ich nickte immer noch, als ich ihn anschaute. Ich konnte nichts anderes tun, als ziemlich dämlich nicken. Dann ging ich wortlos an ihm vorbei zur Garderobe, nahm meine Jacke und öffnete die Wohnungstür.
»Wollen wir nicht darüber reden?«, fragte Tim irritiert.
Ich schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter mir zu.
Am Ende dieses langen Tages war ich auch nervlich am Ende. Ich hatte Kai in den Kindergarten gebracht, war in die Redaktion gefahren, hatte ein anstrengendes Interview geführt und eine noch anstrengendere Pressekonferenz besucht, hatte Kai vom Kindergarten abgeholt und zu meiner Mutter gebracht, war wieder in die Redaktion gefahren, hatte meinen Artikel über die offensichtlichen Differenzen zwischen Kölns neuem Fußballtrainer und dem Vereinsmanagement geschrieben, Kai von meiner Mutter abgeholt, war mit ihm einkaufen gegangen und irgendwann viel zu spät nach Hause gekommen. Ich hatte aufgeräumt, Abendbrot gemacht, Kai vergeblich erklärt, dass er seinem Vater auch noch morgen früh sein neues Auto zeigen konnte, und mit ihm schließlich Karten gespielt, um ihn bei Laune zu halten. Ich hatte mich auf Tim gefreut, darauf, ein Glas Wein mit ihm zu trinken, und wer weiß, vielleicht hatte ich mich auch irgendwie auf Wiedersehensex gefreut, auch wenn wir beide vermutlich viel zu müde dazu gewesen wären. Ich wollte mit ihm die wenigen Minuten, die uns vom Abend noch übrig blieben, genießen. Aber ich wollte jetzt ganz bestimmt nicht mehr reden.
Im falschen Film
Aus Reflex stieg ich in die Bahn, um zu Tina zu fahren. Weil ich immer zu Tina fuhr, wenn ich ein Problem hatte. Aber als ich schließlich vor ihrer Haustür stand, fiel mir auf, dass ich auch mit ihr nicht reden wollte. Ich wollte heute gar nicht mehr reden, nachdenken oder mich bemitleiden. Ich wollte einfach nur abschalten und entschied mich schließlich dafür, ins Kino zu gehen. Mit etwas Glück hatte die Spätvorstellung noch nicht begonnen.
Ich war eigentlich nie viel ins Kino gegangen, und seit Kais Geburt hatte ich auch nicht mal mehr die Filme gesehen, die man unbedingt gesehen haben musste. Aber in diesem Moment erschien es mir wie eine gute Idee. Ich hatte keine Ahnung, was zur Zeit lief, als ich die im nüchternen Fabriklook gehaltene Vorhalle des Arthouse-Cinemas betrat. Ich betrachtete kurz das Programm, ohne danach schlauer zu sein. Sehr originell waren die Filme offenbar nicht gerade, denn was auch immer mich erwartete, es hatte mindestens ein Herz im Titel. Ich ließ mir von der gelangweilten Kartenverkäuferin eine kurze Inhaltsangabe geben. Offenbar hatte ich die Wahl zwischen einsamen französischen Herzen, die sich schon seit zehn Minuten ihr Leid klagten, und vermutlich für den Rest des Films auch nichts anderes tun würden, oder einsamen amerikanischen Herzen, die am Ende des Films wahrscheinlich glücklicher sein würden als ihre französischen Kollegen. Ich wählte die leichte Happy-End-Variante, auch wenn das bedeutete, dass ich noch eine Viertelstunde Werbung über mich ergehen lassen musste. Mit den Franzosen war ich für heute definitiv durch.
Zehn Minuten später bereute ich meinen Entschluss schon wieder. Nicht nur, dass ich mein Eis bereits vor der Eiswerbung aufgegessen hatte und die spärlichen Besucher, die sich mit mir auf die etwa dreihundert Sessel verteilten, längst ahnen ließen, dass der Film nicht gerade ein Anwärter auf die Top Ten war. Zu allem Überfluss erwies sich meine Vorstellung, im Kino abschalten zu können, als absoluter Trugschluss. Man konnte sich nirgendwo besser bemitleiden als in einem dunklen Kinoraum, besonders, wenn einem die Werbung im Minutentakt schöne, glückliche und verliebte Menschen vorgaukelte. Deos, Autos, Jeans. Alles machte so unwiderstehlich, dass sich jeder auf der Stelle seiner Klamotten entledigen musste. Und schon wanderten meine Gedanken wieder zu Tim und seiner Kollegin. Als sich auf der Leinwand dann auch noch zwei makellose Körper wegen einer albernen Flasche Mineralwasser durch kunstvoll drapierte Laken wälzten, hatte ich die Nase voll vom Kino. Ich stand auf und versuchte, im Dunkeln auf dem Weg nach draußen nicht über die Treppenstufen zu stolpern. Stattdessen stolperte ich über eine achtlos zur Seite gestellte Tasche.
»Verdammt!«, entfuhr es mir, als mich der Taschenbesitzer gerade noch davor bewahrte, nähere Bekanntschaft mit dem Boden zu machen.
»Tut mir leid«, sagte die männliche Stimme.
»Können Sie Ihre dämliche Tasche nicht woanders hinstellen? Die Fluchtwege müssen schließlich freigehalten werden.«
»Sicher. Ich wusste ja nicht, dass Sie auf der Flucht sind, Frau Schneider.«
»Äh, und woher kennen Sie bitte meinen Namen?«
»Aus Ihrer Personalakte.«
Das Fragezeichen in meinem Gesicht wurde größer, bis die Becks-Werbung den Kinoraum ein wenig erhellte und ich den bösartigen Taschen-in-den-Weg-Steller erkannte. Es war Hannes Jost, mein Chef.
»Unbequemer Sessel, aufdringlicher Sitznachbar, Mundgeruch?«, fragte er, während Joe Cockers »Sail Away« mit albernem Hip-Hop verjüngt wurde.
»Äh, was?«, fragte ich irritiert, weil ich es immer noch nicht fassen konnte, dass ich ausgerechnet meinen Chef angemotzt hatte. Was hatte er überhaupt um diese Uhrzeit im Kino und dann auch noch in einem mittelmäßigen Hollywood-Streifen zu suchen?
»Ich meine ja nur, der Film hat noch nicht angefangen, und Sie sind schon auf der Flucht«, präzisierte Herr Jost seine Frage. Er hatte wirklich einen eigenartigen Humor, aber das war mir schon bei der Arbeit aufgefallen. Die meisten meiner Kollegen konnten nichts damit anfangen - und im Moment war ich mir nicht sicher, ob ich nicht auch dazugehörte.
»Ach so, ja, ähm, nee, ich bin nicht ... ich bin allein. Ich ... ich ... wollte mir auch nur noch etwas Popcorn holen.«
Auffordernd hielt er mir seine Jumbopackung entgegen. »Mein Abendessen. Aber ich würde es notfalls mit Ihnen teilen.«
Okay. Das war jetzt wirklich komplizierter, als es ausgesehen hatte. Wie sage ich meinem Chef Adieu, ohne unhöflich zu erscheinen? Und vor allem, ohne ihn gleich in die Tiefen meiner Beziehungsprobleme einweihen zu müssen. Ein unvorhergesehener Arbeitstermin schied definitiv aus, da die Morgenausgabe schon im Druck war, wenn sogar unser Ressortleiter Feierabend machte.
»Gesalzen, nicht gezuckert«, bekräftigte er seine Einladung.
»Ja. Gut. Danke«, sagte ich leise und wünschte, dieser schreckliche Abend wäre endlich überstanden. Stattdessen war ich jetzt gezwungen, Smalltalk zu betreiben, denn während ich noch mit meinem Schicksal haderte, eröffnete mein Chef das Gespräch schon mit einem lockeren Kommentar zu dem Film.
»Er ist nicht so schlimm, wie der Titel vermuten lässt.« »Sie haben ihn schon gesehen?«
»Zweimal. Zugegeben, so gut ist er auch wieder nicht. Aber den französischen Film habe ich schon dreimal gesehen.«
»Dreimal?! Ähm, haben Sie noch keine Wohnung in Köln gefunden, oder ...?«
»Doch, doch«, lachte er. »Gleich hier in der Nähe. Aber im Kino kann ich nach der Arbeit einfach am besten abschalten.« »Verstehe. Sie gehen also jeden Abend ins Kino?«
»Nicht jeden. Ich bin schließlich kein Freak.« Er grinste mich an und wusste, dass ich ihn genau dafür hielt. Zusammen mit dem Rest unserer Redaktion, die ihn bereits als pedantischen Workaholic abgestempelt hatte. Er war morgens immer als Erster da und verließ die Redaktion als Letzter. Er schaffte es, neben seiner Cheftätigkeit täglich noch ein bis zwei gut recherchierte Artikel zum Sportteil beizutragen und hatte eine wöchentliche Kolumne im Kommentarteil. Er wusste alles und kannte jeden. Er las, wenn er nicht schrieb, oder besprach, wenn er weder las noch schrieb. Ich hatte ihn nie in der Kantine zur Mittagspause angetroffen und ihn höchstens mal bei einem Kaffee und Brötchen in seinem Büro erwischt, während er Artikel redigierte, schrieb oder las. Und wenn andere Leute nach sechzehn Stunden Arbeit geschafft ins Bett fielen, ging er ins Kino und schaute sich dreimal hintereinander denselben Film an. Doch, ja, er war eindeutig das, was man gemeinhin als Freak bezeichnen konnte. Anscheinend hatte er meine Gedanken gelesen, denn er fühlte sich genötigt, eine Erklärung abzugeben.
»Also gut, wenn Sie mich nicht verraten, vertraue ich Ihnen ein Geheimnis an, okay?« Bevor ich einwenden konnte, dass das gegenüber seiner Untergebenen nicht unbedingt ratsam war, fuhr er fort: »Eigentlich müsste ich ungefähr jetzt vom Stepper zur Drückbank wechseln. Und damit mein persönlicher Trainer mich nicht findet, verstecke ich mich im Kino.« Smalltalk mit ihm war wirklich nicht einfach. Ich sah meinen Chef reichlich verwirrt an, und sofort war Herr Jost bereit, mehr über sein ominöses Geheimnis preiszugeben.
»Ich habe mir vorgenommen, endlich nicht mehr nur über Sport zu berichten, sondern ihn zur Abwechslung auch selbst zu betreiben und einen Jahresvertrag bei dem Fitnesscenter nebenan abgeschlossen. Dann habe ich das Kino dahinter gesehen, und das war es dann, mit meinen guten Vorsätzen.«
Ich starrte ihn immer noch wie eine komplette Idiotin an, und wenn ich nicht langsam etwas Konstruktives zu unserer Unterhaltung beitrug, musste ich mir vermutlich bald Sorgen um meinen Job machen.
»Okay, Sie halten mich immer noch für einen Freak«, erriet Herr Jost meine Gedanken, und ich beeilte mich zu sagen:
»Nein, ich überlege nur, was die größere Tortur ist, eine halbe Stunde Stepper oder dreimal hintereinander ein französischer Film.«
»Für mich das erstere. Sport ist nicht so mein Ding.«
Und wieder konnte mein Gesichtsausdruck kein besonders intelligenter sein.
»Überrascht Sie das?«, fragte er, als wäre er nun seinerseits über meine Reaktion überrascht.
»Na ja«, stotterte ich. »Ihnen eilt irgendwie ein anderer Ruf voraus.«
Immerhin sprach ich gerade mit dem hochgelobten neuen Leiter unserer Sportredaktion. Mit dem Mann, der für seine WM-Berichterstattung mit so vielen Preisen überhäuft worden war, dass er es jetzt sogar wagte, aus Berlin direkt in den Kölner FC-Moloch hinabzusteigen. Eine Herausforderung, die er bisher mit Bravour meisterte, obwohl sie schon viele gestandene Fußballexperten an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte, denn in keiner anderen deutschen Stadt wurde ein Verein von seinen Fans so sehr geliebt und gehasst wie hier. Ich durfte also durchaus annehmen, dass Sport bei ihm mehr hervorrief als Fluchtreflexe ins nächste Kino. Aber Herr Jost wischte seinen guten Ruf mit einer Handbewegung beiseite. »Ich wollte nie Sportredakteur werden, geschweige denn der Chef dieser verrückten Abteilung, sondern Filmkritiker. Insgeheim warte ich immer noch auf einen Anruf von meinem Kollegen beim Feuilleton der Zeit.« Während ich noch überlegte, ob ich dieses Geständnis irgendwie gegen ihn und für eine Gehaltserhöhung verwenden konnte, drehte er den Spieß um: »Und Sie?«
»Äh, ich? Ich kenne leider keinen bei der Zeit.«
Er lachte wieder. Gott sei Dank. Ganz so doof fand er unsere Unterhaltung wohl doch nicht. »Nein, ich meine, wollten Sie immer Sportjournalistin werden?«
»Um Gottes willen, nein!«, platzte es aus mir heraus, und im nächsten Moment war mir klar, dass das sicherlich zu den Dingen gehörte, die man seinem Chef besser verschwieg.
»Äh, also nicht immer, als Kind wollte ich natürlich Tierärztin werden, oder Astronautin, na ja, was man als Kind ebenso werden will.«
Zum Glück schmunzelte mein Chef nur bei diesem ungeschickten Versuch, über meinen Fauxpas hinwegzutäuschen. »Sie können ruhig ehrlich sein, ich bin nicht im Dienst. Um einen Filmklassiker zu zitieren, quid pro quo. Ich habe Philosophie und Medienwissenschaften studiert und nebenbei über die berühmten Jahreshauptversammlungen der Kaninchenzüchter berichtet, von denen es übrigens gar nicht so viele gibt, wie immer behauptet wird. Nicht gerade die typische Sportreporter-Karriere.«
»Englisch und Französisch auf Lehramt, abgebrochen«, gab ich notgedrungen zu und geriet schon wieder in Bedrängnis. Meinen beruflichen Werdegang konnte man kaum mit einer klassischen Karriereleiter vergleichen. Eher mit einem verzweifelten Hangeln von einem Rettungsseil zum nächsten. Schon der Einstieg in den Journalismus war reiner Zufall, denn dass ich nach meinem abgebrochenen Studium überhaupt bei einemKölner Kulturmagazin gelandet war, hatte ich einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass ich mir an diesem schicksalhaften Abend in der Kneipe den Herausgeber dieses ambitionierten Blattes geangelt hatte. Genausogut hätte er ein Meeresbiologe sein können, dann würde ich jetzt vielleicht in der Nordsee herumtauchen und Wasserproben entnehmen.
»... na ja, und dann haben sich durch einen zufälligen Kontakt überraschend ein paar Türen geöffnet.«
Herr Jost verkniff sich einen Kommentar und fuhr fort:
»Ich habe in der Schule das Sportabzeichen nicht geschafft.« Allmählich machte mir das Spiel Spaß, und ich überlegte, womit ich das toppen könnte.
»Ich habe mir selbst ein ärztliches Attest geschrieben, das mich ein halbes Jahr vom Sportunterricht befreite.«
Ihm fiel kein Konter mehr ein. Ich hatte gewonnen und war ganz offensichtlich in seinem Ansehen gestiegen. Er lächelte mich an, und ich merkte plötzlich, dass ich schon fast zehn Minuten nicht mehr an Tims Seitensprung gedacht hatte. Leider fing in diesem Moment der Film an, dabei hatte ich jetzt sogar eher Lust, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Aber das wäre wohl etwas unhöflich gegenüber den wenigen anderen Besuchern im Kino gewesen. Stattdessen stotterte Hugh Grant auf der Leinwand seiner neuen Bekanntschaft etwas vor, die wiederum ihrer letzten Liebschaft hinterhertrauerte, und ich war im dunklen Kinosaal wieder mit mir und meinem Beziehungsproblem allein.
Ich hätte Tim gar nicht erst mitfahren lassen dürfen. Verdammte Klassenfahrten. Dabei wusste doch jeder Siebtklässler, dass sie nur eine Erfindung gelangweilter Lehrerinnen und Lehrer waren, damit sie endlich mit ihren Kollegen ins Bett springen konnten. Angeregt von zu viel Wein, rustikaler Jugendherbergsatmosphäre, Erinnerungen an die eigenen Klassenfahrten. Tim hätte niemals mit nach Paris fahren dürfen. Zumal er noch nicht einmal Französisch sprach. Sein Englisch war schon kaum zu verstehen, wieso war ich also so blauäugig an die Sache herangegangen? Die Antwort lag auf der Hand: weil Tim eben nicht zu der Sorte Lehrer im Kollegium gehörte, die bei der erstbesten Gelegenheit mit der Französischlehrerin ins Bett gingen. Weil Tim mir noch nie Anlass zur Eifersucht gegeben hatte. Weil Tim treu war, mich liebte, zu mir gehörte. Was also hatte dieser Seitensprung zu bedeuten? Warum hatte Tim das getan?
Plötzlich war dieses beklemmende Gefühl in der Magengegend wieder da. Breitete sich in alle Richtungen meines Körpers aus, bis mir ungewollt ein lauter Seufzer entfuhr.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Herr Jost.
»Ja«, erwiderte ich. Aber als die spärlichen Zuschauer im Saal in Gelächter ausbrachen und selbst mein Chef zum dritten Mal über den gleichen Witz lachen musste, wusste ich, dass ich im falschen Film war. Nein, Kino eignete sich ganz und gar nicht, um sich von Beziehungsproblemen abzulenken. Erst recht nicht, wenn man in einer Beziehungskomödie saß.
Ich entschuldigte mich kurz bei meinem Chef, ohne eine weitere Erklärung abzugeben. Dann ergriff ich zum zweiten Mal die Flucht aus dem Kinosaal.
Dieses Mal mit mehr Erfolg. Zumindest hatte ich das Kino schon hinter mir gelassen und das angrenzende Fitnesscenter erreicht, als Herr Jost mich einholte.
»Ich bin ein Idiot«, rief er mir zu.
Ich atmete tief durch und bemühte mich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, als ich mich zu ihm umdrehte. »Ich bin einfach nur müde.«
»Und ich zwinge Sie mit meiner Jumbo-Popcorn-Packung dazu, mir Gesellschaft zu leisten. Es tut mir leid. Ich bin wirklich ein Idiot, warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
»Na ja, weil Sie auch irgendwie mein Chef sind.«
»Ja, man hat es nicht leicht an der Spitze. Keiner ist ehrlich zu einem.«
Er sah mich prüfend an und mir war klar, dass er mir meine Ausrede nicht abnahm. »Wollen Sie darüber reden?«
»Besser nicht.«
»Weil ich Ihr Chef bin, oder ein Idiot?«
»Beides.«
Er bewies Humor und lachte über meinen ernst gemeinten Scherz.
»Gott sei Dank. Ich bin ohnehin nicht gut im Trösten. Berufskrankheit - fehlendes Taktgefühl.«
Tja, was sollte man dazu sagen. Am besten gar nichts. Ich versuchte mich unauffällig aus der Affäre zu stehlen. »Also gut. Dann werde ich mal ... bis morgen.«
Doch kurz hinter dem Fitnesscenter schloss mein Chef wieder zu mir auf und fragte: »Haben Sie vielleicht Lust, noch auf ein Glas Wein mit zu mir zu kommen?«, als wollte er damit sein mangelndes Taktgefühl unter Beweis stellen.
»Wie bitte?« Seine Frage wäre von einem Fremden schon unverschämt genug gewesen. Das hatte mir zu einem erfolgreichen Abschluss dieses miserablen Tages gerade noch gefehlt.
»Sie verstehen jetzt wahrscheinlich, was ich eben mit der Berufskrankheit meinte, oder?«
»Allerdings. Wenn Sie mit Ihrer Einladung das meinen, was ich darunter verstehe.«
»Gut, dann lassen Sie mich die Frage etwas genauer formulieren: Ihnen geht es offensichtlich nicht gut, und ich kann Ihnen mit meinem fehlenden Taktgefühl nicht helfen. Aber ich fühle mich irgendwie schuldig, Sie aus dem Kino vertrieben zu haben. Was ich also anbieten könnte, und das absolut ohne Hintergedanken, wäre, dass wir zu mir gehen - meine Wohnung ist gleich um die Ecke -, eine Flasche Wein köpfen und auf gar keinen Fall das machen, was Sie gerade befürchtet haben.«
»Und was machen wir dann?«
»Steif auf dem Sofa sitzen und ein hundert Prozent sentimentalitätsfreies Programm im Fernsehen anschauen.«
Okay, der Kerl verstand es, mich zu überraschen. Eine Unterhaltung mit ihm war wirklich alles, nur nicht langweilig.
»Danke, aber ich denke, das wäre in dieser Situation gerade nicht so klug.«
»Sicher. War nur ein Angebot. Schönen Abend noch.«
© S. Fischer Veriag GmbH, Frankfurt am Main 2012-02-22
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Autoren-Porträt von Sabine Leipert
Sabine Leipert, geboren 1973 in Bünde, Westfalen, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Anglistik und Romanistik in Köln und Paris. Sie arbeitete als Regieassistentin beim Fernsehen und schreibt seit einigen Jahren Drehbücher für Fernsehserien und Filme. Sabine Leipert lebt mit ihrer Familie in Köln. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ihre Romane 'Wackelkontakte. Kein Sex geht gar nicht' und 'Geheimnummer. Kein Sex nach Plan'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Leipert
- 2012, 1. Auflage, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191300
- ISBN-13: 9783596191307
- Erscheinungsdatum: 21.02.2012
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