Shalimar der Narr
Shalimarder Narr von Salman Rushdie
LESEPROBE
Mit vierundzwanzig Jahren schlief die Tochter desBotschafters in den warmen, ereignislosen Nächten schlecht. Sie wachte oft auf,und selbst wenn der Schlaf sie schließlich überkam, gab ihr Körper nur seltenRuhe, warf sich hin und her und schlug um sich, als versuchte er, sich vongrausamen, unsichtbaren Handschellen zu befreien. Manchmal schrie sie ängstlichin einer ihr unbekannten Sprache. Das hatten ihr Männer nervös gestanden.Nicht, dass es vielen Männern erlaubt gewesen wäre, bei ihr zu sein, wenn sieschlief. Die Zahl der Beweise war folglich begrenzt, Übereinstimmungen gab esselten, doch zeichnete sich ein Muster ab. Sie klinge guttural, hieß es ineinem Bericht, knacklautig, als spräche sie arabisch.Tausendundeine-Nacht-Arabisch, die Traumzunge Scheherazades, dachte sie. Einanderer nannte ihre Worte science-fiction-haft, klingonisch, als räusperte sichjemand in einer fernen Galaxie. Wie die von einem Geist besessene SigourneyWeaver in Ghostbusters.Aus einer Forscherlaune heraus beschloss die Tochter desBotschafters eines Abends, ein Tonband neben ihrem Bett laufen zu lassen, dochdie vertraute und zugleich fremde Totenkopfhässlichkeit der Stimme auf der Kassetteerschreckte sie dermaßen, dass sie die Aufnahme löschte, ohne damit etwas Wichtigeszu zerstören. Die Wahrheit blieb auch weiterhin die Wahrheit.
Diese unruhigen Phasen des Schlafredens waren zum Glück sehrkurz, und sobald sie endeten, versank sie für eine Weile schwitzend undkeuchend in traumloser Erschöpfung. Dann schreckte sie wieder hoch und war inihrer Verwirrung davon überzeugt, dass sich ein Eindringling in ihremSchlafzimmer befand. Doch es gab keinen Eindringling. Der Eindringling war eineAbwesenheit, ein Negativraum in der Dunkelheit. Sie hatte keine Mutter. Ihre Mutterwar bei ihrer Geburt gestorben: So viel hatte ihr die Frau des Botschafterserzählt, und der Botschafter, ihr Vater, hatte es bestätigt. Ihre Mutter wareine Kaschmiri gewesen, und wie das Paradies, wie Kaschmir, war sie in einerZeit vor aller Erinnerung verloren. (jeder, der sie kannte, musste sich damitabfinden, dass die Worte «Kaschmir» und «Paradies» für sie identisch waren.)Sie erzitterte vor der Abwesenheit ihrer Mutter, einem leeren Wächterschattenin der Dunkelheit, und wartete auf das zweite Unheil, wartete, ohne zu wissen,worauf sie wartete. Kaum war ihr Vater gestorben - ihr genialer,kosmopolitischer Vater, ein Franko-Amerikaner («wie die Freiheitsstatue», hatteer gesagt), ihr geliebter, unausstehlicher, launischer Vater, dieser oft abwesende,unwiderstehliche Frauenheld -, schlief sie tief und fest, als hätte man sie vonihren Sünden freigesprochen, vielleicht sogar von den seinigen. Die Last derSünde war weitergegeben worden. Sie glaubte nicht an Sünde.
Bis zum Tode ihres Vaters war sie daher keine Frau, mit deres sich leicht schlafen ließ, doch war sie eine Frau, mit der die Männerschlafen wollten. Sie hingegen fand männliches Begehren ermüdend, und der Drangihres eigenen Begehrens blieb meist ungestillt. Die wenigen Liebhaber, die siesich nahm, waren auf die eine oder andere Weise unbefriedigend, weshalb siesich (als wollte sie das Thema damit beenden) bald für einen durchschnittlichhübschen Kerl entschied und seinen Heiratsantrag sogar ernsthaft in Erwägungzog. Doch dann wurde der Botschafter vor ihrer Haustür wie ein Halal-Hühnchenabgeschlachtet, verblutete an einer tiefen Halswunde, die ihm der Täter miteinem einzigen Hieb seiner Klinge beigebracht hatte. Am helllichten Tag! Was musstedie Waffe geglitzert haben in der goldenen Morgensonne, diesem täglichen Segenoder auch täglichen Fluch dieser Stadt. Die Tochter des Ermordeten war eineFrau, die gutes Wetter hasste, doch die meiste Zeit des Jahres bot ihr dieStadt kaum etwas anderes, und sie musste sich mit langen, monotonen Monatenschattenlosen Sonnenscheins und trockener, schrundiger Hitze abfinden. An jenenseltenen Vormittagen jedoch, an denen sie aufwachte und der Himmel sich bedecktzeigte, an denen eine Ahnung von Feuchtigkeit in der Luft hing, räkelte siesich verschlafen in ihrem Bett, krümmte den Rücken und war für einen Momentfroh, gar voller Hoffnung. Bis zum Mittag aber waren die Wolken unweigerlichfortgebrannt, und dann war es wieder da, dieses unehrliche Kinderzimmerblau desHimmels, das die Welt kindlich und rein aussehen ließ, und das grelle,unhöfliche Gestirn, das sie belästigte wie das zu laute Lachen eines Mannes ineinem Restaurant.
In solch einer Stadt, so schien es, konnte es keineGrauzonen geben. Ohne alle Zweideutigkeit waren die Dinge, was sie waren, undnichts sonst, ihnen fehlten die Feinheiten von Nieselregen, Kälte und Schatten.Unter dem prüfenden Blick einer solchen Sonne blieb kein Platz, um sich zuverbergen. Überall waren die Menschen zur Schau gestellt, ihre spärlichbekleideten Körper glänzten im Sonnenlicht und erinnerten an Reklametafeln. KeineGeheimnisse, keine Tiefe, nur Oberfläche und Enthüllungen. Doch lernte man dieStadt erst kennen, entdeckte man, dass diese banale Klarheit einer Illusiongleichkam. Die Stadt war nichts als Verrat und Täuschung, eine sich rasantwandelnde, treibsandige Metropole, die ihre wahre Natur verbarg, die sichbedeckt hielt und trotz aller unübersehbaren Nacktheit verschwiegen gab. An einemsolchen Ort brauchten selbst die Kräfte der Zerstörung nicht länger den Schutzder Dunkelheit. Sie brannten aus der morgendlichen Helligkeit heraus, blendetendas Auge und erdolchten die Menschen mit scharfem, tödlichem Licht.
Sie hieß India, Indien also. Und ihr gefiel der Name nicht.(...)
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Bernhard Robben
Interview mit Salman Rushdie
Die Zeiten, in denen man Sie nur treffen konnte, nachdem maneinen Sicherheitscheck passiert hatte, gehören der Vergangenheit an. IstSicherheit überhaupt noch ein Thema für Sie?
Zum Glück nicht mehr. Ich habe geradeeine lange Lesereise durch verschiedene Länder hinter mich gebracht, und es gabnirgendwo irgendwelche Sicherheitsprobleme.
Shalimar der Narr" beginnt mit einem Mord und scheint ineiner Tragödie zu enden. Gleichzeitig bleibt der Schluss offen, in der Schwebe.Warum lassen Sie den Leser am Ende allein"?
Ich glaube, Hemingway sagte einmal, es hat eineeindrückliche Wirkung, wenn man in einem Roman einen Satz weniger schreibt, alsman könnte. So überlässt man es dem Leser, den letzten Satz zu ergänzen.Allerdings ist das Rätsel des Schlusses von Shalimar der Narr" nicht soschwierig zu lösen, letztlich ahnt man doch, was im letzten Satz" geschehenwird. Esscheint, als gäbe es in Ihrem Buch keinen Raum für eine glückliche" Lösung vonKonflikten?
Der Roman ist eine Tragödie, ja. Aber das Großartige aneiner Tragödie ist doch, dass die Bedeutung des Textes keineswegs nurdeprimieren muss, sie kann einen auch im positiven Sinne berauschen. Das hatetwas mit der Frage nach der Wahrheit zu tun. Wenn eine Tragödie etwas Wahresüber Menschen und ihre Motive aussagt, ist es nicht weiter wichtig, ob sie gutoder schlecht endet. Die Frage ist vielmehr, ob das Ende wahrhaftig,glaubwürdig ist.In Shalimar der Narr" geht es nicht zuletzt auch um die Mechanismen der Gewalt.In einem Interview sagten Sie einmal, dass nicht jeder Mensch in gleichem Maßezur Gewalt fähig ist. Unter welchen Bedingungen entsteht die Gewalt in IhremRoman?
Die Antwort auf diese Frage hat mit einer der Grundtatsachendes Romans zu tun: mit der Persönlichkeit, dem Charakter einer Figur. MancheMenschen neigen eher zur Anwendung von Gewalt als andere. Nehmen Sie einen Ortwie Kaschmir. Jeder Mensch dort leidet mehr oder weniger gleich unter denLebensumständen. Viele Menschen empfinden die Situation ähnlich, doch deshalbgreift bei weitem nicht jeder zur Gewalt! Warum entscheidet sich einer für dieAnwendung von Gewalt, während sein Nachbar, der in der gleichen Situation ist,dies nicht tut? Der Grund dafür liegt in der jeweiligen Persönlichkeit. Und diesezu ergründen, ist von jeher Sache des Romans gewesen. Ein Roman ist einfach einsehr gutes Medium, um diesen Fragen nachzugehen. Wenn man mit all den allgemeindiskutierten Erklärungen für Gewalt, die auf einen politischen, sozialen,ökonomischen oder ideologischen Druck verweisen, durch ist, stellt man fest:Diese Erklärungen reichen nicht aus. Um die Wurzeln der Gewalt zu finden, mussman in die Herzen der Menschen schauen, ihre Gefühle verstehen. Und das ist es,was die Literatur tut!
Es geht mir in Shalimar der Narr" nicht umVerallgemeinerungen, die Figuren sind nicht repräsentativ für Menschen indieser oder jener Situation. Ich möchte lediglich glaubwürdig und überzeugenddarstellen, warum genau diese Person genau diese Entscheidungen getroffen hat.Ich glaube, Literatur ist dort am besten, wo sie sich mit dem Besonderen, demEinzelnen beschäftigt, wo es um dieseeine Person geht - und nicht um alle. Wenn der Leser dem Geschehen inmeinem Roman folgt, es glaubwürdig findet, kann er sich selbst andereHandlungsabläufe vorstellen, die in ähnlicher Weise stimmig sind.
Ich habe mich immer dafür interessiert, was mit einemMenschen geschieht, in dessen Leben sich ein radikaler Wechsel vollzieht,dessen Schicksal plötzlich eine Wendung nimmt, die in keiner Weise vorhersehbarwar. Dieser Frage nach dem radikalen Wandel im Leben eines Menschen lässt sichnatürlich an Orten wie Kaschmir besonders gut nachgehen. Hier ist eswahrscheinlicher als anderswo, dass ein Leben, das sich eigentlich in einerbestimmten Richtung entwickelt hätte, plötzlich ganz anders verläuft. DieFragen, die mich interessieren, sind: Wie vollzieht sich eine solcheVeränderung? Und welche Konsequenzen hat sie? In Bezug auf Kaschmir kann manfast sagen, dass sich die gesamte Gesellschaft in den letzten 20 Jahrenkomplett gewandelt hat. Darum geht es in meinem Buch: die Gründe und die Folgendieses radikalen Wandels im Leben der Menschen dort mit den Mitteln des Romanszu ergründen.
In Ihrem Buch spielen Fragen der Identität eine großeRolle...
Ja, sicher. India z.B.: Der Roman beginnt mit dieser Figur,und Shalimar der Narr" erzählt nicht zuletzt ihre Geschichte. India kennt dieGeschichte ihres Lebens nicht, sie wurde ihr nie erzählt. Auf eine sehrgrundlegende Weise weiß sie nicht, wer sie ist. In gewisser Hinsicht ist das,was im Buch geschieht, die Darstellung des Weges, auf dem sie die Wahrheit überihr Leben herausfindet. Wenn sie schließlich nach Kaschmir geht, dieGeheimnisse ihrer Vergangenheit lüftet, am Grab ihrer Mutter steht usw., wirdsie in bestimmtem Sinne ganz", das neu gewonnene Wissen über sich selbstverleiht ihr Stärke. WelcheRolle spielt das Magische" in Shalimar der Narr"?
Einerseits ist dies vielleicht das naturalistischste Buch,das ich je geschrieben habe. Andererseits gibt es auch magische Elemente" in Shalimar der Narr". Es gibt sie, weil sie für die Menschen, die ichbeschreibe, wirklich existieren. Wenn die Menschen daran glauben, dass dasGöttliche in irgendeiner Art und Weise jeden Tag in ihr Leben eingreift, mussman einen Weg finden, dies auch darzustellen. Und dann muss man natürlich dieKonventionen naturalistischen Erzählens verletzen. Ich selbst bin nichtreligiös, aber die Figuren, über die ich in diesem Buch schreibe, sind es. Wennich glaubwürdig darstellen will, wie sie die Welt wahrnehmen, müssen in dieserGeschichte Wunder zumindest möglich sein. Deshalb muss es diese magische Ebenegeben - auch wenn ich persönlich ohne sie auskäme.
Sie sprachen bereits über die radikalen Veränderungen, dieKaschmir in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Ging es Ihnen in Shalimarder Narr" auch darum, das paradiesische" Kaschmir vor den Zeiten der Gewalt zuschildern?
Ja. Die Radikalisierung des Islam dort ist ein relativjunges Phänomen. Früher z.B. waren die Frauen dort sehr selbstbewusst, trugennicht unbedingt Schleier, arbeiteten mit Männern zusammen usw. Auch wennKaschmir sicherlich nie ein Paradies war - nichts auf dieser Welt istvollkommen -, so war es doch im Großen und Ganzen eine friedliche Gemeinschaft,das Zusammenleben funktionierte. In Indien kursierten Witze über die Menschenaus Kaschmir, in denen ihnen Feigheit unterstellt wurde. Aber sie waren nichtfeige, sie waren einfach nur friedlich! Es ist schon eine Ironie der Geschichte,dass dieser Teil des indischen Subkontinents, der einst wegen seinerFriedfertigkeit verlacht wurde, zu einer der am stärksten von Gewalt geprägtenRegionen geworden ist. Diese Zerstörung einer friedlichen Gesellschaftnachzuvollziehen, ist bitter. Insofern ist Shalimar der Narr" vielleicht meintraurigstes Buch. Ich habe versucht, das ein wenig zu verbergen, indem ich soviel Witz wie möglich habe einfließen lassen. So wurde der Roman zu einerTragödie im Gewand einer Komödie.
Selbst wenn es eines Tages eine Lösung des Konflikts gebensollte, ist die kulturelle Vielfalt des früheren Kaschmir nicht wiederherzustellen. Der große Verlust, der durch die Vertreibung der Hindusentstanden ist, ist irreparabel. Es ist ähnlich wie in Deutschland: Man spürt ingewisser Weise die Abwesenheit der geflohenen Juden, dieses Loch" innerhalbder deutschen Kultur. Etwas ist für immer verloren. Das ist auch eine möglicheDefinition des Tragischen: Etwas wurde unwiederbringlich zerstört. Auch in derLiebe zwischen einem Mann und einer Frau gibt es das: Eine Verletzung sitzt sotief, dass sie nie mehr verheilen kann, so sehr sich dies die Liebenden auchwünschen mögen. Die Geschichte einer solchen Zerstörung und ihrer Konsequenzen- auch das ist Shalimar der Narr".
Dies sind Auszüge aus einem Round-Table-Gespräch, das SalmanRushdie mit mehreren Journalisten in einem Berliner Hotel führte. Die Fragenstellte unter anderem Roland Große Holtforth, Literaturtest.
- Autor: Salman Rushdie
- 2006, 3, 544 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Robben, Bernhard
- Übersetzer: Bernhard Robben
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 349805774X
- ISBN-13: 9783498057749
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