Sickster
Roman
Zwei junge Männer stehen an vorderster Front einer überhitzten Konsum- und Leistungswelt - und halten stand, bis die Beschleunigung ihr Leben erfasst, überwuchert: Der idealistische Magnus Taue schreibt für das Kundenblatt eines Ölkonzerns, fühlt sich als...
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Produktinformationen zu „Sickster “
Klappentext zu „Sickster “
Zwei junge Männer stehen an vorderster Front einer überhitzten Konsum- und Leistungswelt - und halten stand, bis die Beschleunigung ihr Leben erfasst, überwuchert: Der idealistische Magnus Taue schreibt für das Kundenblatt eines Ölkonzerns, fühlt sich als Loser und hasst seine Arbeit mit der Wut eines Schläfers. Thorsten Kühnemund, Manager und Macho, leidet insgeheim am erfolgreichen Hochglanzleben voller Druck und Alphatierneurosen, er betäubt sich mit Alkohol, schnellem Sex und Abstürzen im molochartigen Clubbing der Stadt. Aus Schulzeiten bekannt, freunden die beiden sich zögerlich an. Doch dann brechen die Fassaden ein. Magnus fühlt sich zu Thorstens Freundin Laura hingezogen, und alle drei strudeln ins Haltlose. So beginnt eine Suche nach irgendeiner Wahrheit des Empfindens, Denkens und Tuns - eine Suche im Rausch, Schmerz und Wahn, und in der eigenen Seele ...Einfühlsam und radikal erforscht Thomas Melle ein sich immer schneller um ein leeres Zentrum drehendes Leben - bis an die Grenzen des Ichs und darüber hinaus. «Sickster» ist ein großes diagnostisches Zeitbild - und das Romandebüt eines Autors, dessen Sprache, so Iris Radisch, «bis ins letzte Komma aufgeladen» ist.
Lese-Probe zu „Sickster “
Sickster von Thomas Melle 11
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Der Startschuss ist wörtlich zu nehmen: ein ohrenbetäubender Knall. Ihm folgt, feiner als haarfein, ein Riss. Es war der Sommer 1994, und der Abikorso der Canisius-Schule zog durch die stille, der Bedeutungslosigkeit entgegendämmernde Stadt Bonn. Aufgekratzt und zugleich etwas dumpf vom Feiern, das sich über Tage hingezogen hatte, dumpf auch von der langen Prüfungsphase und der plötzlichen Erleichterung, der kein rechter Sinn zugeordnet werden konnte, wollten die Abiturienten nur noch jubeln. Sie schwenkten die Bierflaschen, krächzten Triumphschreie in den Fahrtwind, hielten ihre Gesichter in die Sonne und holten aus den fingerbemalten Wagen so viel Lärm her aus, wie nur möglich war, durch Motorjaulen, Reifenquietschen, Dauerhupen : eine Schneise des Lärms, die sich gleich hinter ihnen wieder schloss. Der Jubel der Abiturienten hatte dabei etwas Ausgestelltes, Gespieltes. Er war mehr Wollen als Jubeln. Diesen Tag hatten sie sich schon so oft vorgestellt und herbeigesehnt, dass er das Versprechen, das von ihm ausgegangen war, kaum einlösen konnte. Mit unbeholfenen, groben Gesten und vollmundigen Rufen versuchten die Abgänger, sich als die Könige des Tages zu fühlen, und fielen dabei seltsamerweise in Stereotype ihrer jetzt begrabenen Achtziger-Jahre- Kindheit zurück. Lara imitierte ohne Grund den ostfriesischen Komiker Otto Waalkes und presste immer wieder ein tiefes « Jaa ! Jaaa ! » aus ihren Stimmbändern hervor. Eva warf mit ihren Korkenzieherlocken um sich und genoss den Wind, ganz so, als sei sie in einem Werbeclip für Haarspray gelandet. Jakob trug Basecap und Sonnenbrille und schrie unverständliche Parolen durch eine Flüstertüte, welche noch aus Golfkriegszeiten stammte. Achim und Anja tanzten eine seltsame Mischung aus Lambada und Breakdance und spitzten ihre Lippen immer wieder zu Kussmündern, wenn sie sich in die Augen blickten. Alle johlten, klatschten, stampften. Doch die Nachträglichkeit ihrer Bemühungen war nicht zu übersehen. Die Feier stand in Konkurrenz zu der aufgestauten Vorfreude, die sie selbst verursacht hatte. Dies war ihr Tag, aber es war ein Tag wie eine vergangene Erinnerung an eine Zukunft, die sich jetzt in ihrer ganzen banalen Sensationslosigkeit zeigte. Es schien, als wären die scheidenden Schüler das letzte Mal zum Diktat gerufen worden, zum Diktat des Spaßes. Und sie gehorchten. Das echolose Schweigen der Stadt passte gut dazu. Ein Knall, außen, und innen sofort ein Riss. Hendrik hatte früher Amseln und Spatzen im Garten seiner Eltern abgeschossen, mit einer Gaspistole, die er während der Internatszeit in seinem obersten Schrankfach versteckt hatte, aus Angst vor Razzien. Jetzt, beim Korso, sollte sie endlich wieder zum Einsatz kommen. Aber die Pistole hatte Ladehemmung. Nervös fuchtelte Hendrik an ihr her um, zeigte sie ungeduldig den teilnahmslosen Passanten, reckte sie in die Höhe, zielte auf die Sonne, drückte und zerrte am Abzug - nichts tat sich. Er fluchte. Magnus saß neben ihm, im Cabrio von Lutz, und war schon scharf betrunken vom Sekt. Er beobachtete, wie die Röte in Hendriks Gesicht mit jedem misslungenen Versuch eine Nuance dunkler wurde, während der Schweißfilm dar über immer heller glänzte.
Hendrik fluchte und fingerte an der Waffe her um. Er wollte unbedingt derjenige sein, welcher diesen Startschuss ins Erwachsenenleben abgeben würde, stellvertretend für den ganzen Jahrgang. Die Häuserreihen zogen an ihnen vorbei, das Schwimmbad, die Rigal'sche Wiese, die Redoute, der
Kurpark : altbekannte Plätze der Kindheit, jetzt entzaubert und profan. Alles dies wird bald verlassen sein, dachte Magnus und nahm einen weiteren Schluck vom abgestandenen Sekt.
Plötzlich schnitt ein Schmerz durch sein Ohr, riss in einen Ort hin ein, den er nie zuvor gespürt hatte. Er schreckte zusammen und jaulte auf. Der Schmerz war grell, nein, scharf und schnell. Ein Pfeifen setzte ein, laut, aufdringlich. Hendrik war auch erschrocken, feuerte aber sofort eine ganze Salve in die Luft, um das Missgeschick zu vertuschen, um den Fehlschuss wieder seinem Willen unterzuordnen, in die Reihe des Vorhergesehenen. Er fragte schnell, ob alles in Ordnung sei, und Magnus nickte, die Hand aufs Ohr gepresst. « Ist gleich wieder vorbei », sagte er, « pass aber auf,
verdammt, das war zu nah. » Namhafte und bestimmt amerikanische Wissenschaftler haben sich über die Hirnhälften Gedanken gemacht. Die linke Hirnhälfte gilt ihnen, überspitzt gesagt, als naive Buchhalterin; die rechte als fiebrige Verschwörungstheoretikerin. Links: werden einfache Regeln und Strukturen prozessiert, Unregelmäßigkeiten als Zufall verbucht. Rechts: leckt die Zwillingsschwester Blut. Geht ab in Assoziationen und Träumen, arbeitet sprunghaft, spürt Pfade auf, die nicht offen zutage treten, findet Zusammenhänge von Einzeldingen, die beliebig nebeneinander liegen. Koinzidenz ? Schicksal ! Anders gesagt : Während das Ursache-Wirkung-Schema in der linken Buchhaltung des Hirnes heimisch ist und dort dafür Sorge trägt, die Welt aufs Anschaulichste
zu simplifizieren, entspringen genialischere Theorien wie etwa das dritte Gesetz der Thermodynamik, der Da-Vinci-Code oder die Chaostheorie der tendenziell paranoiden rechten Hirnhälfte.
Nun sind die beiden Hirnhälften - seltsames Spiegelspiel des Lebens - bekanntlich für die jeweils entgegengesetzte Körperseite zuständig. Verschwörungstheoretiker drehen sich deshalb vorzugsweise um die linke Schulter, wenn sie von hinten angesprochen werden. Was nun aber, wenn
ein hartnäckiger Tinnitus im linken Ohr die rechte, assoziationssüchtige Hirnhälfte jahrelang unter einen subliminalen Strom setzte ? Würden namhafte und amerikanische Wissenschaftler in so einem Fall auftretende psychopathologische Störungen ursächlich auf diesen psychosomatischen
Druck zurückführen ? Wäre das der stete Tropfen, der den Verstand aushöhlt? Käme dann der eine zu laute Bass in jener verrauschten Clubnacht, poetisch gesprochen, einem pathologischen Urknall gleich ? Als Schöpfungsmythos der zentrifugalen Psychose, die, als innere Strahlung schon Jahre unterwegs, irgendwann die äußeren Ränder des Nervensystems erreichte ? Mit der Folge : gravitative Instabilität, Kollaps der Materie, ergo des Bewusstseins. Nennen wir es Neuralgie. Später am Tag wachte Magnus auf. Er lag im Gras. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er wirklich geschlafen hatte, wo er überhaupt war. Dann dämmerte es ihm: die Party, seine Freundin! Die Party war heute Abend in Godesberg, in einer Proletendisco namens Waveline, und alle würden hingehen. Aber seine Freundin und er waren nach Bad Breisig gefahren. Nur war um? Und wo war sie jetzt? Wieso lag er allein am Rande eines Radwegs auf einer Wiese, in Sinzig anscheinend, wenn seine Freundin doch in Bad Breisig wohnte? Und doch war da irgendwo ein Sinn. Es hatte eine Verabredung gegeben. Er konnte sich momentan nur nicht erinnern. Er blickte umher. Fertighäuser standen in der prallen Sonne und strahlten radioaktiv. Alle Gärten und Häuser waren genau abgezirkelt und sauber und sahen aus wie zum schnellen Abriss bereit. Kein Vogel am Himmel. Kein Mensch in der Nähe, nur Flächen und Quadrate. Das Brummen im Kopf war vom Pfeifen im Ohr kaum zu unterscheiden. Wird schon wieder verfliegen, das Pfeifen, dachte er, wie nach den Clubbesuchen, wie nach Rockkonzerten, wie das Brummen auch, wie jeder Kater bisher. Er stand auf, strich sich die Grashalme von der Kleidung, suchte einen Kiosk, um Bier und Wasser zu kaufen. Ein Knall, ein Riss, ein Riss mit Folgen womöglich, wenn man die Fakten und Theoreme auf bestimmte Weise übereinander schiebt. Tatsächlich hat Magnus den Tinnitus bis heute. Auf Stehpartys nannte er ihn oft meine private Sphärenmusik, « wie bei den Griechen », fügte er als Erklärung hinzu, « die alten Griechen dachten nämlich, die Sonne würde wunderbare Musik produzieren, und wir hören sie seit der Geburt, sind uns ihrer aber nicht bewusst, weil wir die Stille nicht kennen, weil die Musik schon immer da war ». Mädchen mit « Caipis » genannten Caipirinha-Drinks schauten ihn dann großäugig an und fragten: « Und jetzt piept es auch ? Und jetzt, und jetzt ? » « Ja », sagte Magnus dann, « jetzt piept, fiept und pfeift es auch, und jetzt, und jetzt, und immer. » Ende der Neunziger, kurz vor dem Ausbruch der sogenannten Schizophrenie, war Magnus dann einmal zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gegangen. Der hatte ihm gesagt, nein, das hätte sofort nach dem Vorfall behandelt werden müssen, auf die Schnelle sei das nicht mehr reparabel. Jetzt hülfen nur Langzeittherapien, die aber selten von der Krankenkasse bezahlt würden. Da war Magnus ohnmächtig geworden, aber nicht wegen der Nachricht, die ihn kalt ließ, sondern wegen des gleißenden weißen Lichts überall in der Praxis, das jede Ecke fand. Die Jesuitenschule, von der Magnus nun Abschied nahm, brachte alljährlich eine neue Generation von Gesellschaftsklonen hervor: arrogante, zumeist neureiche oder altadlige Schnösel, die die winzige Innenstadt Bad Godesbergs im immerselben Look der Button-up-Blauhemden, Levi's- Jeans und Barbourjacken (in den Neunzigern waren die Basecaps dazugekommen) gegen eine wachsende Horde von zumeist ausländischen Proleten verteidigten, durch Präsenz und Parfüm und durch Perspektiven. Es war ein Markieren, ein erstes Ringen um symbolische Felder der Männlichkeit und Macht - um sich nach dem Abitur über die gesamte Welt zu verteilen, die internationalen Universitäten und Konzerne aufzusuchen, Karriere zu machen: Schlussendlich würden sie den Kapitalismus der Eltern und die Schläue der Jesuiten in ideologischer Eintracht möglichst gewinnbringend in die Welt tragen, welche dann gemolken werden könnte nach Belieben und zum Vorteil aller Beteiligten. Die Zöglinge des Internats durchliefen während ihrer neun Schuljahre eine geistige Karriere, die schon weit vor dem Abitur in Zynismus und Saturiertheit endete: been there, done that, Gähnen in St. Moritz, Kotzen in Florida mehr nicht. Kein Wünschen, kein Sehnen, nur instantanes Ausfüllen funktionaler Stellen, welche schon seit der Geburt für sie vorgesehen und frei gehalten wurden. Ich war schon so oft in New York, ich war schon so oft auf Hawaii, schallte es voller Überdruss zum Karneval über die Flure und durch die Kneipen. Die Patres, weltoffen und angeblich papsttreu, konnten sich noch so sehr um ein ethisches Grundgerüst bemühen, es half nichts. Alle moralischen Fragen wurden als theoretische Logeleien im Religionsunterricht lediglich wahr-, doch selten ernst genommen. Dieser entleerte Geisteszustand (man mag ihn Ennui, Hedonismus oder horror vacui nennen: Zustände, die selbst meist wenig von sich wissen) musste ständig mit manisch wiederholten running gags und saloppen Sprecharten ausgefüllt werden. Diese Sprache spielte höchst unromantisch mit sich selbst und kannte keine Dringlichkeit außerhalb der von ihr hergestellten und behaupteten Gemeinschaft. Eine Grimasse in der Krypta morgens und dann ein Bier zu viel in der abendlichen Bar, das war das höchste der Gefühle. Ansonsten entlud sich alle Kreativität und Intelligenz, die dort auch vorhanden gewesen sein mochte, in einem selbstreferentiellen System, das jede Neuheit in Zynismus und Zukunftsgewissheit auflöste und sich so von allen anderen damals kursierenden Jugendentwürfen erfolgreich abgrenzte.
Magnus Taue stand als der nervöse Supertasker, der er war, entschieden außen vor. Zerbrechlich von Statur, feingliedrig und übersensibel, war er schon vor der Pubertät eine Art Wissender, halb Autist und halb Tourette, und zwar mit voller Absicht. Was blieb ihm auch übrig? Arrogant ging er durch die Stadt. Die Stadt war Bonn. Genauer : Godesberg. Godesberg war zu dieser Zeit eher ein verschlafenes Dorf. Die Godesburg, ein abgebrochener Zahn auf einem kleinen Hügel, stand da und faulte. Dagegen der Patresturm : eine Art in den Himmel gestülpter Schacht, phallisch hochgereckt und hochkant abgebunkert nach außen, grellweiß in der Sonne und mit schwarzen Fenstern wie Schießscharten ausgestattet. Er stand unverrückbar auf dem sogenannten « Heiligen Hügel » und stand und stand. Dar in wohnten die Patres und die Geheimnisse. Dort bunkerte Magnus sich nicht ein. Er hegte Skepsis gegen diesen Turm. Überhaupt kann man sagen, dass Magnus Taue einer war, den eine große Skepsis beseelte. Anfangs liebte er seine Lehrer, aber schnell schon, in der siebten Klasse etwa, keimten erste renitente Tendenzen in ihm auf.
Doch er liebte die alten Sprachen. Herr von Trivaux, ein schwunglippiger Santiago-Wallfahrer von über sechzig Jahren, war sein erster Lateinlehrer. Dann kam Herr Frack, eine Art Franzose, der sich unheimlich aufregen konnte, im Sprachlabor, wenn er, später in Französisch, sich dazuschaltete, aber plötzlich mit sehr sanfter Stimme sprach. Schließlich der Kriegsveteran Dohr, ein Junggeselle aus Plittersdorf. Sie alle wussten Magnussens Leidenschaft fürs Lateinische aufrecht zu erhalten, bis zum Abitur. In der Neunten gab Dohr Magnus und einem mauszähnigen Kameraden noch freie Nachmittagsstunden in Altgriechisch. Spucke und Vokabeln flogen da im Sonnenlicht. Bald aber wurde solcherlei lieber abgebrochen für Bier, Weib und Berentzen. Man machte Klassenreisen, Skifreizeiten, das übliche Programm mit Saufen, Hochbetten und Gulasch, das nach Hund roch. Magnussens durchgedrehte Achtundsechziger-Eltern waren immer vorne dabei : Lily Taue, rote Haare, aus Graz stammend, durchdringende, stechend blaue Augen, immer rauchend wie ein Dixporträt. Im Gegensatz dazu Anwalt Jochen Taue, schmaler, fast eingefallener Mund, pflichtbewusst, früherer Kiffer und Revolutionär ; geschieden waren sie seit 1979. Scheidungskinder, dachte Magnus, haben sicherlich einen ganz besonderen Schaden. Und natürlich, dann ab der achten, neunten Klasse : die Liebe, die Liebe und die Karnevalspartys. Für eine dieser Partys in der Turnhalle hatte Magnus einen Piraten gemalt. Keiner wollte sich diesem Bild so richtig nähern, es war ein wildes, buntes, von Farbe fingerdickes Schlachtengemälde, das ein Gesicht zeigte. Nur eine stellte sich auffällig interessiert davor und sah es sich an. Als Magnus dazukam, sah sie ihm kurz in die Augen und ging dann weg. Diese Frau sollte Magnus erst später, Jahre später, kennenlernen. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Als das Abitur näher rückte, hatte Magnus genug von seiner alleinstehenden Mutter, die er « Lily » nennen sollte. Es kam zu folgendem Wortwechsel: « Ich kann und will das hier nicht mehr. » « Was soll das denn heißen, Magnus? » « Eure Sachen hier. Eure alten Hippiesachen. Und deine Hysterie. Ich gehe aufs Internat. » « Wie, aufs Internat ? Wie meinst du das ? » (Leiser :) « Wir haben kein Geld. » « Ich habe mit Regler geredet. Er verschafft mir ein Stipendium. » « Aber Magnus - » « Ich find's eh scheiße, dass du die so ausnutzt und mich da fast umsonst essen lässt. Ich find's scheiße. Dabei kriegst du doch Geld. Ich bin eh immer dort. Wegen des Theaters auch. » Pause. « Okay. Okay, Magnus. Okay, okay. » Ein Lehrer sprach, es war etwa in der Neunten, folgende Worte : « Sophokles, der unter den klassischen Tragikern der Erste war, nämlich der Vortrefflichkeit und Vollendung nach, fällt mit seinem Geburtsjahre zwischen dem des Aischylos und dem des Euripides ungefähr in die Mitte, sodass er etwa ein halbes Menschenalter von jedem absteht ; die Angaben stimmen nicht ganz überein. Den größten Teil seines Lebens hindurch war er ihrer beider Zeitgenosse. Mit Aischylos hat er häufig um den tragischen Efeukranz gerungen und den Euripides, der doch gleichfalls ein hohes Alter erreichte, noch überlebt. » Die jungen Türken der Stadt stellte sich Magnus dabei so vor : Watt ? Hä ? « Man könnte den Aischylos einen tragischen Phidias nennen, der zur Erreichung der von ihm gewünschten Eindrücke nicht der riesenhaften Größe, der Pracht, des Goldes und des Elfenbeins entbehren konnte ; wohingegen Sophokles, wie Polykletus, aus schmuckloserem Erz goss, aber mithin Bildungen schuf, welche durch die Vollkommenheiten ihrer Proportionen in den ewigen Kanon eingingen. Sehr bedeutend ist auch der Ausspruch des Philosophen Polemon, welcher den Sophokles einen tragischen Homer nannte, während wir den Homer einen epischen Sophokles nennen, äh, können. » Als einmal die Türken eine der stadtbekannten Karnevalspartys stürmen wollten, stand Regler als lächerlicher Piratenzwerg vor dem Tor der Schule, einen Baseballschläger in der Hand. Magnus sah sich das an und hatte die Faxen dicke und stellte sich vor Regler und sah sich dann demonstrativ um. Oder auch : sah sich das Ganze an. Da trollten die Türken sich aber, den Berg wieder hinunter. Erschütterer - : Anemone, die Erde ist kalt, ist nichts, da murmelt deine Krone ein Wort des Glaubens, des Lichts.
Gottfried Benn. Benn und Latein. Velle, malle, nolle : wollen, lieber wollen, nicht wollen. Ja, was denn nun ? Gar nicht wollen ? Magnus war verwirrt. Das Wort Erschütterer auch. Magnus dachte : Anemone ? Erschütterer ? Ist das eine Aufforderung ? Was soll das sein ? Er überlegte. Nur noch enge Engel lecken, dachte er. Keine Anemonensohle weit und breit !
Aber solche Sprachspielereien halfen ihm auch nicht weiter in seiner gefühlten Einsamkeit. Die Eltern saßen manchmal vor der Tür der Sozialwohnung seiner Mutter und rauchten eine. Herr und Frau Taue ergingen sich dann in Erinnerungen an früher. Der Röhl, die Meinhof, Schwabing, der Rainer, der Werner. Magnus ging dann wieder los, in die Stadt, was trinken, eine rauchen, alleine sein. Weg
von alldem, weit weg.
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Der Startschuss ist wörtlich zu nehmen: ein ohrenbetäubender Knall. Ihm folgt, feiner als haarfein, ein Riss. Es war der Sommer 1994, und der Abikorso der Canisius-Schule zog durch die stille, der Bedeutungslosigkeit entgegendämmernde Stadt Bonn. Aufgekratzt und zugleich etwas dumpf vom Feiern, das sich über Tage hingezogen hatte, dumpf auch von der langen Prüfungsphase und der plötzlichen Erleichterung, der kein rechter Sinn zugeordnet werden konnte, wollten die Abiturienten nur noch jubeln. Sie schwenkten die Bierflaschen, krächzten Triumphschreie in den Fahrtwind, hielten ihre Gesichter in die Sonne und holten aus den fingerbemalten Wagen so viel Lärm her aus, wie nur möglich war, durch Motorjaulen, Reifenquietschen, Dauerhupen : eine Schneise des Lärms, die sich gleich hinter ihnen wieder schloss. Der Jubel der Abiturienten hatte dabei etwas Ausgestelltes, Gespieltes. Er war mehr Wollen als Jubeln. Diesen Tag hatten sie sich schon so oft vorgestellt und herbeigesehnt, dass er das Versprechen, das von ihm ausgegangen war, kaum einlösen konnte. Mit unbeholfenen, groben Gesten und vollmundigen Rufen versuchten die Abgänger, sich als die Könige des Tages zu fühlen, und fielen dabei seltsamerweise in Stereotype ihrer jetzt begrabenen Achtziger-Jahre- Kindheit zurück. Lara imitierte ohne Grund den ostfriesischen Komiker Otto Waalkes und presste immer wieder ein tiefes « Jaa ! Jaaa ! » aus ihren Stimmbändern hervor. Eva warf mit ihren Korkenzieherlocken um sich und genoss den Wind, ganz so, als sei sie in einem Werbeclip für Haarspray gelandet. Jakob trug Basecap und Sonnenbrille und schrie unverständliche Parolen durch eine Flüstertüte, welche noch aus Golfkriegszeiten stammte. Achim und Anja tanzten eine seltsame Mischung aus Lambada und Breakdance und spitzten ihre Lippen immer wieder zu Kussmündern, wenn sie sich in die Augen blickten. Alle johlten, klatschten, stampften. Doch die Nachträglichkeit ihrer Bemühungen war nicht zu übersehen. Die Feier stand in Konkurrenz zu der aufgestauten Vorfreude, die sie selbst verursacht hatte. Dies war ihr Tag, aber es war ein Tag wie eine vergangene Erinnerung an eine Zukunft, die sich jetzt in ihrer ganzen banalen Sensationslosigkeit zeigte. Es schien, als wären die scheidenden Schüler das letzte Mal zum Diktat gerufen worden, zum Diktat des Spaßes. Und sie gehorchten. Das echolose Schweigen der Stadt passte gut dazu. Ein Knall, außen, und innen sofort ein Riss. Hendrik hatte früher Amseln und Spatzen im Garten seiner Eltern abgeschossen, mit einer Gaspistole, die er während der Internatszeit in seinem obersten Schrankfach versteckt hatte, aus Angst vor Razzien. Jetzt, beim Korso, sollte sie endlich wieder zum Einsatz kommen. Aber die Pistole hatte Ladehemmung. Nervös fuchtelte Hendrik an ihr her um, zeigte sie ungeduldig den teilnahmslosen Passanten, reckte sie in die Höhe, zielte auf die Sonne, drückte und zerrte am Abzug - nichts tat sich. Er fluchte. Magnus saß neben ihm, im Cabrio von Lutz, und war schon scharf betrunken vom Sekt. Er beobachtete, wie die Röte in Hendriks Gesicht mit jedem misslungenen Versuch eine Nuance dunkler wurde, während der Schweißfilm dar über immer heller glänzte.
Hendrik fluchte und fingerte an der Waffe her um. Er wollte unbedingt derjenige sein, welcher diesen Startschuss ins Erwachsenenleben abgeben würde, stellvertretend für den ganzen Jahrgang. Die Häuserreihen zogen an ihnen vorbei, das Schwimmbad, die Rigal'sche Wiese, die Redoute, der
Kurpark : altbekannte Plätze der Kindheit, jetzt entzaubert und profan. Alles dies wird bald verlassen sein, dachte Magnus und nahm einen weiteren Schluck vom abgestandenen Sekt.
Plötzlich schnitt ein Schmerz durch sein Ohr, riss in einen Ort hin ein, den er nie zuvor gespürt hatte. Er schreckte zusammen und jaulte auf. Der Schmerz war grell, nein, scharf und schnell. Ein Pfeifen setzte ein, laut, aufdringlich. Hendrik war auch erschrocken, feuerte aber sofort eine ganze Salve in die Luft, um das Missgeschick zu vertuschen, um den Fehlschuss wieder seinem Willen unterzuordnen, in die Reihe des Vorhergesehenen. Er fragte schnell, ob alles in Ordnung sei, und Magnus nickte, die Hand aufs Ohr gepresst. « Ist gleich wieder vorbei », sagte er, « pass aber auf,
verdammt, das war zu nah. » Namhafte und bestimmt amerikanische Wissenschaftler haben sich über die Hirnhälften Gedanken gemacht. Die linke Hirnhälfte gilt ihnen, überspitzt gesagt, als naive Buchhalterin; die rechte als fiebrige Verschwörungstheoretikerin. Links: werden einfache Regeln und Strukturen prozessiert, Unregelmäßigkeiten als Zufall verbucht. Rechts: leckt die Zwillingsschwester Blut. Geht ab in Assoziationen und Träumen, arbeitet sprunghaft, spürt Pfade auf, die nicht offen zutage treten, findet Zusammenhänge von Einzeldingen, die beliebig nebeneinander liegen. Koinzidenz ? Schicksal ! Anders gesagt : Während das Ursache-Wirkung-Schema in der linken Buchhaltung des Hirnes heimisch ist und dort dafür Sorge trägt, die Welt aufs Anschaulichste
zu simplifizieren, entspringen genialischere Theorien wie etwa das dritte Gesetz der Thermodynamik, der Da-Vinci-Code oder die Chaostheorie der tendenziell paranoiden rechten Hirnhälfte.
Nun sind die beiden Hirnhälften - seltsames Spiegelspiel des Lebens - bekanntlich für die jeweils entgegengesetzte Körperseite zuständig. Verschwörungstheoretiker drehen sich deshalb vorzugsweise um die linke Schulter, wenn sie von hinten angesprochen werden. Was nun aber, wenn
ein hartnäckiger Tinnitus im linken Ohr die rechte, assoziationssüchtige Hirnhälfte jahrelang unter einen subliminalen Strom setzte ? Würden namhafte und amerikanische Wissenschaftler in so einem Fall auftretende psychopathologische Störungen ursächlich auf diesen psychosomatischen
Druck zurückführen ? Wäre das der stete Tropfen, der den Verstand aushöhlt? Käme dann der eine zu laute Bass in jener verrauschten Clubnacht, poetisch gesprochen, einem pathologischen Urknall gleich ? Als Schöpfungsmythos der zentrifugalen Psychose, die, als innere Strahlung schon Jahre unterwegs, irgendwann die äußeren Ränder des Nervensystems erreichte ? Mit der Folge : gravitative Instabilität, Kollaps der Materie, ergo des Bewusstseins. Nennen wir es Neuralgie. Später am Tag wachte Magnus auf. Er lag im Gras. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er wirklich geschlafen hatte, wo er überhaupt war. Dann dämmerte es ihm: die Party, seine Freundin! Die Party war heute Abend in Godesberg, in einer Proletendisco namens Waveline, und alle würden hingehen. Aber seine Freundin und er waren nach Bad Breisig gefahren. Nur war um? Und wo war sie jetzt? Wieso lag er allein am Rande eines Radwegs auf einer Wiese, in Sinzig anscheinend, wenn seine Freundin doch in Bad Breisig wohnte? Und doch war da irgendwo ein Sinn. Es hatte eine Verabredung gegeben. Er konnte sich momentan nur nicht erinnern. Er blickte umher. Fertighäuser standen in der prallen Sonne und strahlten radioaktiv. Alle Gärten und Häuser waren genau abgezirkelt und sauber und sahen aus wie zum schnellen Abriss bereit. Kein Vogel am Himmel. Kein Mensch in der Nähe, nur Flächen und Quadrate. Das Brummen im Kopf war vom Pfeifen im Ohr kaum zu unterscheiden. Wird schon wieder verfliegen, das Pfeifen, dachte er, wie nach den Clubbesuchen, wie nach Rockkonzerten, wie das Brummen auch, wie jeder Kater bisher. Er stand auf, strich sich die Grashalme von der Kleidung, suchte einen Kiosk, um Bier und Wasser zu kaufen. Ein Knall, ein Riss, ein Riss mit Folgen womöglich, wenn man die Fakten und Theoreme auf bestimmte Weise übereinander schiebt. Tatsächlich hat Magnus den Tinnitus bis heute. Auf Stehpartys nannte er ihn oft meine private Sphärenmusik, « wie bei den Griechen », fügte er als Erklärung hinzu, « die alten Griechen dachten nämlich, die Sonne würde wunderbare Musik produzieren, und wir hören sie seit der Geburt, sind uns ihrer aber nicht bewusst, weil wir die Stille nicht kennen, weil die Musik schon immer da war ». Mädchen mit « Caipis » genannten Caipirinha-Drinks schauten ihn dann großäugig an und fragten: « Und jetzt piept es auch ? Und jetzt, und jetzt ? » « Ja », sagte Magnus dann, « jetzt piept, fiept und pfeift es auch, und jetzt, und jetzt, und immer. » Ende der Neunziger, kurz vor dem Ausbruch der sogenannten Schizophrenie, war Magnus dann einmal zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gegangen. Der hatte ihm gesagt, nein, das hätte sofort nach dem Vorfall behandelt werden müssen, auf die Schnelle sei das nicht mehr reparabel. Jetzt hülfen nur Langzeittherapien, die aber selten von der Krankenkasse bezahlt würden. Da war Magnus ohnmächtig geworden, aber nicht wegen der Nachricht, die ihn kalt ließ, sondern wegen des gleißenden weißen Lichts überall in der Praxis, das jede Ecke fand. Die Jesuitenschule, von der Magnus nun Abschied nahm, brachte alljährlich eine neue Generation von Gesellschaftsklonen hervor: arrogante, zumeist neureiche oder altadlige Schnösel, die die winzige Innenstadt Bad Godesbergs im immerselben Look der Button-up-Blauhemden, Levi's- Jeans und Barbourjacken (in den Neunzigern waren die Basecaps dazugekommen) gegen eine wachsende Horde von zumeist ausländischen Proleten verteidigten, durch Präsenz und Parfüm und durch Perspektiven. Es war ein Markieren, ein erstes Ringen um symbolische Felder der Männlichkeit und Macht - um sich nach dem Abitur über die gesamte Welt zu verteilen, die internationalen Universitäten und Konzerne aufzusuchen, Karriere zu machen: Schlussendlich würden sie den Kapitalismus der Eltern und die Schläue der Jesuiten in ideologischer Eintracht möglichst gewinnbringend in die Welt tragen, welche dann gemolken werden könnte nach Belieben und zum Vorteil aller Beteiligten. Die Zöglinge des Internats durchliefen während ihrer neun Schuljahre eine geistige Karriere, die schon weit vor dem Abitur in Zynismus und Saturiertheit endete: been there, done that, Gähnen in St. Moritz, Kotzen in Florida mehr nicht. Kein Wünschen, kein Sehnen, nur instantanes Ausfüllen funktionaler Stellen, welche schon seit der Geburt für sie vorgesehen und frei gehalten wurden. Ich war schon so oft in New York, ich war schon so oft auf Hawaii, schallte es voller Überdruss zum Karneval über die Flure und durch die Kneipen. Die Patres, weltoffen und angeblich papsttreu, konnten sich noch so sehr um ein ethisches Grundgerüst bemühen, es half nichts. Alle moralischen Fragen wurden als theoretische Logeleien im Religionsunterricht lediglich wahr-, doch selten ernst genommen. Dieser entleerte Geisteszustand (man mag ihn Ennui, Hedonismus oder horror vacui nennen: Zustände, die selbst meist wenig von sich wissen) musste ständig mit manisch wiederholten running gags und saloppen Sprecharten ausgefüllt werden. Diese Sprache spielte höchst unromantisch mit sich selbst und kannte keine Dringlichkeit außerhalb der von ihr hergestellten und behaupteten Gemeinschaft. Eine Grimasse in der Krypta morgens und dann ein Bier zu viel in der abendlichen Bar, das war das höchste der Gefühle. Ansonsten entlud sich alle Kreativität und Intelligenz, die dort auch vorhanden gewesen sein mochte, in einem selbstreferentiellen System, das jede Neuheit in Zynismus und Zukunftsgewissheit auflöste und sich so von allen anderen damals kursierenden Jugendentwürfen erfolgreich abgrenzte.
Magnus Taue stand als der nervöse Supertasker, der er war, entschieden außen vor. Zerbrechlich von Statur, feingliedrig und übersensibel, war er schon vor der Pubertät eine Art Wissender, halb Autist und halb Tourette, und zwar mit voller Absicht. Was blieb ihm auch übrig? Arrogant ging er durch die Stadt. Die Stadt war Bonn. Genauer : Godesberg. Godesberg war zu dieser Zeit eher ein verschlafenes Dorf. Die Godesburg, ein abgebrochener Zahn auf einem kleinen Hügel, stand da und faulte. Dagegen der Patresturm : eine Art in den Himmel gestülpter Schacht, phallisch hochgereckt und hochkant abgebunkert nach außen, grellweiß in der Sonne und mit schwarzen Fenstern wie Schießscharten ausgestattet. Er stand unverrückbar auf dem sogenannten « Heiligen Hügel » und stand und stand. Dar in wohnten die Patres und die Geheimnisse. Dort bunkerte Magnus sich nicht ein. Er hegte Skepsis gegen diesen Turm. Überhaupt kann man sagen, dass Magnus Taue einer war, den eine große Skepsis beseelte. Anfangs liebte er seine Lehrer, aber schnell schon, in der siebten Klasse etwa, keimten erste renitente Tendenzen in ihm auf.
Doch er liebte die alten Sprachen. Herr von Trivaux, ein schwunglippiger Santiago-Wallfahrer von über sechzig Jahren, war sein erster Lateinlehrer. Dann kam Herr Frack, eine Art Franzose, der sich unheimlich aufregen konnte, im Sprachlabor, wenn er, später in Französisch, sich dazuschaltete, aber plötzlich mit sehr sanfter Stimme sprach. Schließlich der Kriegsveteran Dohr, ein Junggeselle aus Plittersdorf. Sie alle wussten Magnussens Leidenschaft fürs Lateinische aufrecht zu erhalten, bis zum Abitur. In der Neunten gab Dohr Magnus und einem mauszähnigen Kameraden noch freie Nachmittagsstunden in Altgriechisch. Spucke und Vokabeln flogen da im Sonnenlicht. Bald aber wurde solcherlei lieber abgebrochen für Bier, Weib und Berentzen. Man machte Klassenreisen, Skifreizeiten, das übliche Programm mit Saufen, Hochbetten und Gulasch, das nach Hund roch. Magnussens durchgedrehte Achtundsechziger-Eltern waren immer vorne dabei : Lily Taue, rote Haare, aus Graz stammend, durchdringende, stechend blaue Augen, immer rauchend wie ein Dixporträt. Im Gegensatz dazu Anwalt Jochen Taue, schmaler, fast eingefallener Mund, pflichtbewusst, früherer Kiffer und Revolutionär ; geschieden waren sie seit 1979. Scheidungskinder, dachte Magnus, haben sicherlich einen ganz besonderen Schaden. Und natürlich, dann ab der achten, neunten Klasse : die Liebe, die Liebe und die Karnevalspartys. Für eine dieser Partys in der Turnhalle hatte Magnus einen Piraten gemalt. Keiner wollte sich diesem Bild so richtig nähern, es war ein wildes, buntes, von Farbe fingerdickes Schlachtengemälde, das ein Gesicht zeigte. Nur eine stellte sich auffällig interessiert davor und sah es sich an. Als Magnus dazukam, sah sie ihm kurz in die Augen und ging dann weg. Diese Frau sollte Magnus erst später, Jahre später, kennenlernen. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Als das Abitur näher rückte, hatte Magnus genug von seiner alleinstehenden Mutter, die er « Lily » nennen sollte. Es kam zu folgendem Wortwechsel: « Ich kann und will das hier nicht mehr. » « Was soll das denn heißen, Magnus? » « Eure Sachen hier. Eure alten Hippiesachen. Und deine Hysterie. Ich gehe aufs Internat. » « Wie, aufs Internat ? Wie meinst du das ? » (Leiser :) « Wir haben kein Geld. » « Ich habe mit Regler geredet. Er verschafft mir ein Stipendium. » « Aber Magnus - » « Ich find's eh scheiße, dass du die so ausnutzt und mich da fast umsonst essen lässt. Ich find's scheiße. Dabei kriegst du doch Geld. Ich bin eh immer dort. Wegen des Theaters auch. » Pause. « Okay. Okay, Magnus. Okay, okay. » Ein Lehrer sprach, es war etwa in der Neunten, folgende Worte : « Sophokles, der unter den klassischen Tragikern der Erste war, nämlich der Vortrefflichkeit und Vollendung nach, fällt mit seinem Geburtsjahre zwischen dem des Aischylos und dem des Euripides ungefähr in die Mitte, sodass er etwa ein halbes Menschenalter von jedem absteht ; die Angaben stimmen nicht ganz überein. Den größten Teil seines Lebens hindurch war er ihrer beider Zeitgenosse. Mit Aischylos hat er häufig um den tragischen Efeukranz gerungen und den Euripides, der doch gleichfalls ein hohes Alter erreichte, noch überlebt. » Die jungen Türken der Stadt stellte sich Magnus dabei so vor : Watt ? Hä ? « Man könnte den Aischylos einen tragischen Phidias nennen, der zur Erreichung der von ihm gewünschten Eindrücke nicht der riesenhaften Größe, der Pracht, des Goldes und des Elfenbeins entbehren konnte ; wohingegen Sophokles, wie Polykletus, aus schmuckloserem Erz goss, aber mithin Bildungen schuf, welche durch die Vollkommenheiten ihrer Proportionen in den ewigen Kanon eingingen. Sehr bedeutend ist auch der Ausspruch des Philosophen Polemon, welcher den Sophokles einen tragischen Homer nannte, während wir den Homer einen epischen Sophokles nennen, äh, können. » Als einmal die Türken eine der stadtbekannten Karnevalspartys stürmen wollten, stand Regler als lächerlicher Piratenzwerg vor dem Tor der Schule, einen Baseballschläger in der Hand. Magnus sah sich das an und hatte die Faxen dicke und stellte sich vor Regler und sah sich dann demonstrativ um. Oder auch : sah sich das Ganze an. Da trollten die Türken sich aber, den Berg wieder hinunter. Erschütterer - : Anemone, die Erde ist kalt, ist nichts, da murmelt deine Krone ein Wort des Glaubens, des Lichts.
Gottfried Benn. Benn und Latein. Velle, malle, nolle : wollen, lieber wollen, nicht wollen. Ja, was denn nun ? Gar nicht wollen ? Magnus war verwirrt. Das Wort Erschütterer auch. Magnus dachte : Anemone ? Erschütterer ? Ist das eine Aufforderung ? Was soll das sein ? Er überlegte. Nur noch enge Engel lecken, dachte er. Keine Anemonensohle weit und breit !
Aber solche Sprachspielereien halfen ihm auch nicht weiter in seiner gefühlten Einsamkeit. Die Eltern saßen manchmal vor der Tür der Sozialwohnung seiner Mutter und rauchten eine. Herr und Frau Taue ergingen sich dann in Erinnerungen an früher. Der Röhl, die Meinhof, Schwabing, der Rainer, der Werner. Magnus ging dann wieder los, in die Stadt, was trinken, eine rauchen, alleine sein. Weg
von alldem, weit weg.
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Autoren-Porträt von Thomas Melle
Thomas Melle, 1975 geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor vielgespielter Theaterstücke und übersetzte u. a. William T. Vollmanns Roman «Huren für Gloria». Sein Debütroman «Sickster» (2011) war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman «3000 Euro», der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. 2015 erhielt Thomas Melle, der in Berlin lebt, den Kunstpreis Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Melle
- 2011, 2. Aufl., 336 Seiten, Maße: 13,4 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2100000144839
- Erscheinungsdatum: 30.08.2011
Rezension zu „Sickster “
Überzeugend und beklemmend nah an der Wirklichkeit. FAZ.NET
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Überzeugend und beklemmend nah an der Wirklichkeit. FAZ.NET
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