Sieben Kinder und ein Rittergut
Eine Kindheit in der Altmark
Eine charmante, nostalgische und augenzwinkernde Anekdotensammlung. "Die Erinnerung an Zuhause ist heute noch mein kostbarster Besitz."
Mit fünf Schwestern und einem Bruder wuchs Huberta Viktoria Wilke von Goßler auf einem...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sieben Kinder und ein Rittergut “
Eine charmante, nostalgische und augenzwinkernde Anekdotensammlung. "Die Erinnerung an Zuhause ist heute noch mein kostbarster Besitz."
Mit fünf Schwestern und einem Bruder wuchs Huberta Viktoria Wilke von Goßler auf einem alten Rittergut in der Altmark auf. Mit diesem Buch entführt sie ihre Leser in den Zaubergarten einer glücklichen und unbeschwerten Kindheit. Charmant und augenzwinkernd erzählt sie herrliche Anekdoten von aufregenden Erlebnissen und lustigen Kinderstreichen. Das paradiesische Gut gibt es seit 1945 nicht mehr, doch die Erinnerungen an traditionelle Feste und Feiern, an die Weite der Landschaft, an endlose Alleen verzaubern Jung und Alt noch heute.
Lese-Probe zu „Sieben Kinder und ein Rittergut “
Sieben Kinder und ein Rittergut von Huberta Viktoria Wilke von GoßlerWO ICH HINEINGEBOREN BIN
Ich wurde am 22. März 1930 in Schinne, einem kleinen Dorf in der Altmark, geboren. Morgens um Viertel vor fünf.
Meinen ersten Schrei kommentierte meine sechsjährige Schwester Brigitte, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde, mit dem empörten Ausruf: »Was kräht denn da für'n Rabe?«
Die Freude über mich war gedämpft. Wieder ein Mädchen! Bereits das fünfte, dazu schrumpelig wie ein Weihnachtsapfel. Wieder kein Erbe fürs Rittergut!
Sie tauften mich Huberta. Sie hatten aufgegeben. Den Namen Hubertus, für den Sohn bestimmt und viermal enttäuscht zurückgelegt in die Schatulle zu Wertpapieren und Schmuck, ich bekam ihn! Ins Weibliche abgewandelt, versteht sich. Ich mochte ihn nicht besonders. Ich fühlte mich nie ganz zu Hause darin. Er war mir irgendwie fremd.
Ich bekam noch mehr Namen. Huberta war erst der Anfang. Es folgten Auguste, Viktoria, Wilhelmine, Luise! Ein weniger selbstbewusstes Kind wäre davon erdrückt worden.
»Was habt ihr euch nur dabei gedacht, ein unschuldiges Baby mit Preußens Gloria zu belasten?«, fragte ich später, als die Zeit kam, da ich händchenhaltend auf verschwiegenen Bänken saß. Nie durfte ich erleben, dass ein Verehrer zärtlich »Huberta« fl üsterte oder »Wilhelmine« oder »Auguste«. Es zehrte an mir.
... mehr
Zu meiner Taufe, die im Juni stattfand, bekamen meine Schwestern die legendären Röschen-Kleider. Weißgrundiger Musselin mit eingestreuten roten Rosen, dazu rote Bolero-Jäckchen.
Entzückend, wie sie sich engelgleich um meine Wiege scharten, alle im gleichen Kleid.
Ich hatte später volle zwölf Jahre zu tun, um diese Alpträume von Kleidern aufzutragen, da sie von bester Qualität waren. Und nicht nur die!
Meine Mutter pfl egte »im Ballen« zu kaufen, sparsam und praktisch wie sie war. Reißfeste, dunkle Stoffe, im Preis heruntergesetzt, weil nicht mehr modisch.
Die Hausschneiderin, Frau Schenk, eine graue Maus mit Eigengeruch, nähte jeweils fünf Kleider daraus. Für die Kleinen Hänger, für die Größeren mit Taille. Die Röschen-Kleider ausgenommen, waren sie allesamt scheußlich. Darüber trugen wir kräftigblaue Kutscherschürzen, in der Mitte mit einer großen Tasche. Daran waren wir weithin erkennbar. Wir litten unter dieser Kleidung, die uns heraushob, die uns anders machte. »Die vom Jute« nannten sie uns im Dorf und wunderten sich.
Jahrzehnte später, wegen dieser Barbarei zur Rede gestellt, erklärte meine Mutter erschrocken: »Das verstehe ich gar nicht. Ihr saht doch darin immer so reizend aus!«
Meine Erinnerung an Zuhause setzte ein, als ich etwa zwei war. Meine Schwestern Ute und Brigitte, sechs und acht Jahre alt, hatten mich liebevoll an den Händen gefasst und wanderten mit mir durch den Park, weit hinten, wo die Familiengräber lagen und es so modrig roch. Wo es dämmrig war im Schatten der alten Bäume und das Gebüsch dicht und undurchsichtig erschien.
Plötzlich, wie auf Kommando, ließen sie mich los, kreischten »Löwe kommt! Löwe kommt!«, und rasten davon.
Ich stand da wie gelähmt. Machte dann kehrt, schrie mörderisch und rannte auf unsicheren Beinchen in Richtung Gutshaus, jeden Augenblick erwartend, dass ein zähnefl etschender Löwe mich anfi ele.
War mein Vater in der Nähe, nahm er sich meiner an. »Diese Brut!«, schnaubte er, doch die hatte sich längst auf irgendeinem Baum in Sicherheit gebracht.
Ich durfte zum Trost an seiner Zigarre ziehen oder mit ihm aufs Feld fahren, sehen, wie die Arbeit dort voranging.
Schon früh lernte ich dadurch kutschieren, lernte, meine kleinen Schritte seinen großen anzupassen, lernte die Namen von Blumen und Gräsern und die Vogelstimmen zu unterscheiden.
Ich konnte lange nahezu bewegungslos sitzen, auch wenn mich Mücken piekten, wenn wir auf einen Bock ansaßen oder das Einfallen der Wildenten beobachteten. Ich wollte, dass er stolz auf mich war.
Voll von Erlebnissen kehrte ich zurück, schmutzig, mit zerrissenem Kleid. Schwester Lene wartete schon auf mich. Sie war eingestellt worden, um mich zu hüten, um den Geschwistern Manieren beizubringen. Und sie nahm ihre Rolle sehr ernst.
Sie trug Schwesternkleidung und ein weißes Häubchen, war freundlich-fröhlich, aber bestimmt. Sie aß mit uns abends im Kinderzimmer. Und wehe, eine von uns legte ihren Ellbogen auf den Tisch. Mit einem schmerzhaften
Ruck stieß sie ihn auf die Tischkante und tat, als wenn nichts gewesen wäre. Auch musste aufgegessen werden, selbst die verhasste Blutwurst.
Frauke erfand den Trick, sie im Mund zu behalten und später hinter den Kachelofen zu spucken. Das kam erst heraus, als faulige Gerüche aufstiegen. Von da an quetschte Schwester Lene nach jedem Essen mit Daumen und Zeigefi nger unsere Backen zusammen. Wenn jemand etwas versteckt hatte, quoll es heraus, wie einmal bei Ute! »Igittigitt!« Juchzend fl üchteten wir vom Tisch.
Wir ekelten uns oft voreinander. Bonbons blieben tagelang unberührt, man brauchte sie nur in Gegenwart aller anzulecken. Das war besonders an Geburtstagen wichtig, weil man sonst leicht beklaut wurde.
Aus demselben Becher trinken, eine Stulle abbeißen, die der Schwester gehörte. Ekelhaft! Lieber wären wir gestorben.
Wir schlugen uns wie die Kesselfl icker, fanden uns schlichtweg abscheulich, aber wir hielten zusammen! Das zeigte sich immer dann, wenn Gefahr heraufzog. Wie einmal, als Vater in blinder Wut drohte, er würde »Knöpfchen«, den Dackel, erschießen, sowie er vom Wildern zurückkäme.
Vater haßte wildernde Hunde und Katzen, die so viel Schaden unter dem Wild und den Vögeln anrichten konnten. Er schoß sie ab, traf er sie in der Feldmark. Und Knöpfchen, jagdlich ebenso passioniert wie sein Herr, schlich sich hin und wieder alleine vom Hof, wenn ihn das Jagdfi eber überkam.
Wir starteten sofort eine Rettungsaktion, egal, wie spinnefeind wir zuvor gewesen waren. Nach allen Richtungen schwärmten wir aus, um den Hund abzufangen, schafften das auch ungesehen, schleusten ihn in einem Korb ins Haus, hielten ihn drei Tage lang im Keller, in der Milchkammer, versteckt. Nur Herta, die Mamsell, war mit im Komplott!
Welche Ängste standen wir aus, dass Knöpfchen sich und uns verriet, indem er kläffte. Denn Vaters Drohungen nahmen wir ernst, nachdem wir erlebt hatten, wie er zwei Junghennen erschoss, die über den Zaun gefl ogen waren und in seiner frisch gedrillten Gerste scharrten.
Erst als er, der seinen Hund - diesen und viele andere - sehr liebte, bekümmert und empört zugleich, beim Mittagessen ausrief: »Knöpfchen ist weg, tot wahrscheinlich, abgeknallt von einem der Bauern, und euch kümmert das überhaupt nicht!«, ließen wir den Rüden aus seinem Versteck.
Er, der ohnehin nicht begriffen hatte, warum er in Einzelhaft saß, sprang schwanzwedelnd, gut genährt und knochentrocken an seinem Herrn empor, leckte ihm die Hände und wollte sich schier umbringen vor Wiedersehensfreude.
Vater fragte uns nie, wo der Hund gesteckt hatte, er dachte es sich auch so.
Die erste Mamsell, an die ich mich erinnern kann, war besagte Herta. Wie oft fl üchtete ich mich zu ihr. Sie war warm und weich und herrlich dick und viele Jahre in unseren Diensten. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, trug einen Mittelscheitel und straff nach hinten gekämmtes fettiges Haar, das in einem dicken Knoten mündete.
Ein wogender Busen, eine bunte Schürze mit großen Taschen, in denen oft Plätzchen steckten, der Geruch von Schweiß, deftiges Lachen, Fröhlichkeit - das war Herta. Und zu ihr gehörte ein großes Messer, mit dem sie in der Speisekammer Schinken abschnitt, mir zusteckte. Ein empörter Ausruf: »Lasst die Faxen!« Ein kräftiger Arm, der mich aus den klammernden Griffen meiner Schwestern rettete, die wieder einmal »Löwe kommt« mit mir vorhatten.
Sie herrschte über das Erdgeschoß! Küche, Keller und Milchkammer unterstanden ihr, dazu das Küchenmädchen und die alte Frau Steinberg.
Frau Steinberg, die Kartoffeln schälte, Hühner rupfte, Beeren pfl ückte, Wäsche wusch und im Sommer nie einen Schlüpfer trug, wie wir bald herausfanden. Sie stellte sich einfach breitbeinig hin und pinkelte zwischen die Himbeeren!
Herta hatte einen stattlichen Freund. Er war Gestütswärter und hieß Karl Bäsel. Er trug Knickerbocker, hatte blondes, krauses Haar und verschenkte Bonbons. Dafür mussten wir ihn küssen.
Meine Schwester Brigitte wies das weit von sich. Ute und ich taten es, mit Widerwillen zwar, doch so eklig wie die eigenen Schwestern war er uns nicht. Er besuchte Herta in der Küche, wenn Mutti nicht da war oder es nicht merkte. Dann saß er auf der Holzkiste und schäkerte mit Herta und dem Küchenmädchen und mit uns.
Karl Bäsel meinte es nicht ernst mit Herta. Er war nicht treu. Eines Tages ging er fort. Herta weinte viel, sie hatte ihn sehr geliebt. Ihre Tränen kullerten in die Suppe, fielen auf den Braten, tropften in den Kuchenteig. Ich leistete ihr Gesellschaft beim Weinen, weil ich doch bei ihrer Hochzeit die Schleppe hätte tragen sollen!
»Bloß gut, dass er mich nicht noch ›beschwängelt‹ hat«, sagte sie eines Tages, und da war sie auch schon über ihren Schmerz hinweg. Ich nickte zustimmend. Beschwängeln ist das altmärkische Wort für schwängern, aber das wusste ich damals noch nicht.
Herta heiratete dann doch noch. Eine Vernunftehe, wie sie mir erzählte. Ihr Mann war Kleinbauer in Grassau, einem Nachbardorf. Wenn ich später in aller Herrgottsfrühe mit dem Bummelzug in die Schule fuhr, stand sie oft in ihrem kleinen Garten am Zaun und winkte mir zu. Sie bekam dann eine Tochter, die sie Brigitte nannte, nach meiner Schwester, die ihrem ungetreuen Karl die Küsse verweigert hatte.
Ehe sie fortging, feierten wir ihr Jubiläum, sicher das zehnjährige. Es gab Baisertorte vom Konditor aus Stendal. Köstlich!
Vater führte Herta zu Tisch. Vor Rührung brach sie in Tränen aus. Diesmal weinte ich nicht mit.
Später gingen wir alle im Park spazieren, noch später wurde die drehbare Wippe geentert. Eine Belustigung, die schon die Kindheit meines Vaters und seiner drei Schwestern versüßt hatte. Auf jeder Seite konnten drei Personen sitzen. Zwei weitere drehten die Wippe mit aller Kraft im Kreise.
Herta - nicht mehr ganz nüchtern - die hinten saß, ließ plötzlich den Griff los und sauste kreischend über die Hecke zwischen die Gräber. Dann war Stille! Wir waren furchtbar erschrocken und stürzten hinterher. Sie rappelte sich gerade von der Ruhestätte der vierzehn Kinder hoch, die von der Pest dahingerafft worden waren, anno 1702. Die Spitzenbluse war zerrissen, sonst schien ihr nichts passiert.
»Kommt bloß weg«, rief sie, »sonst ziehen die Bälger mich noch in ihr Grab!«
Zu meiner frühesten Kindheit gehört auch Schmalz! Carl Schmalz, Gutsgärtner und Jagdaufseher meines Vaters. Schmalz war klein und o-beinig, er trug ein kurzes dunkles
Schnurrbärtchen und hatte einen ungemein listigen Gesichtsausdruck. Schmalz war ein Original!
Wie oft besuchte ich ihn in seinem Gewächshaus, in dem es so wunderbar roch, nach Erde, exotischen Pfl anzen, Petersilie, die durch große runde Löcher aus einer Holztonne wucherte. Und es roch nach den beiden Frettchen, Peter und Paul, die hier ihren Käfi g hatten. Flinke weiße Tiere mit roten Augen, die für die Karnickeljagd gebraucht wurden.
Stundenlang konnte ich bei Schmalz hocken, ihm zusehen, wie er Blumen eintopfte und mit gewichtiger Stimme Lebensweisheiten zum besten gab. Oder wenn er die Palmen, Agaven und die anderen Blattgewächse goss, die hier überwinterten, um im Sommer in großen Kübeln Park und Terrasse zu verschönern.
Er nannte mich »Ütte« wie die meisten in unserer großen Familie. Den Namen hatte ich mir selbst gegeben, abgeleitet von Lütte, wie Schwester Lene mich rief.
»Ütte, dat eene will ich dich sajen, dat Leben is schön, wennste vastehst, damit umzujehn!«
Eine simple Lebensweisheit, doch wie wahr! Oder er empfahl mir: »Musst imma deine Hände uffhalten! Nich für Süßigkeiten natierlich, nee, für't Leben! Wat globst du, wat sich da allet Schönet in sammelt. Kannste jar nich allet ufbrauchen, so reich biste!«
Sätze, die ich nie vergaß, bis heute nicht. Nach denen ich zu leben versuchte und deren Wirkung mich nie enttäuschte.
Schmalz schickte mir Kartons mit Äpfeln ins Internat, als die Zeiten schlecht wurden. Er legte ein paar ungelenke Zeilen obenauf, wie etwa diese:
»Liebe Ütte, lern dir man schön wat, hilft ja doch nischt.
Bei uns is allet wie imma. Bloß der Drachen is perdü, Chef war mit die Beene drüber her. Beste Grüße, dein treuer Schmalz.«
Dieser kurze Brief sagte mir mehr als jede andere Nachricht von Zuhause. Er tröstete mich über mein Los, berichtete, dass alles beim Alten war. Mit einer Ausnahme allerdings, denn Vater hatte den Drachen, in Gestalt eines Raubvogels, der zum Rebhühnerschießen benutzt wurde, anscheinend total demoliert. Aus Wut, so schätzte ich, weil das Ding mal wieder nicht so in die Lüfte stieg, wie Vater sich das gedacht hatte.
Vaters Zornesausbrüche machten auch Schmalz schwer zu schaffen. Er stand dann abseits und schüttelte nur den Kopf. Meist jedoch verrauchte Vaters Wut so schnell, wie sie gekommen war. Manchmal auch nicht, wie bei dem unschuldigen ausgestopften Uhu, dem er eine aufs Fell brannte, dass die Federn nur so stoben.
Vater und Schmalz waren sehr für jagdliche Neuheiten. Sie freuten sich wie die Kinder daran. Der Uhu gehörte auch dazu. Ihn stellte man auf einen Pfahl, mitten auf den Acker. Eine Schnur, die mit ihm verbunden war und mit der man seine Flügel bewegen konnte, führte in die versteckt liegende Jagdhütte. Stießen nun Bussarde und andere Raubvögel herab, um den vermeintlichen Feind anzugreifen, konnten sie leicht abgeschossen werden. Und das war nötig, denn gerade Bussarde gab es damals in Massen. Sie dezimierten unsere Küken und Junghennen beträchtlich. Aber dieser stolze, teure Uhu tat leider nicht so, wie er sollte. Da kochte Vater über und erledigte den Kunstvogel kurzerhand auf seine Art.
Schmalz erlebte noch, wie mein einziger Bruder geboren wurde. Er trug ihn Heiligabend, an dem er nie fehlen durfte, stolz auf dem Arm und zeigte ihm den brennenden Lichterbaum. Dann sagte er, für alle hörbar, indem er den Jungen abschätzend betrachtete:
»Wenn er mich bloß nicht so hitzig wird wie der Alte!«
Bald darauf starb Schmalz, ziemlich sinnlos an einer zu spät erkannten Diphtherie. Unsere Trauer um ihn war grenzenlos. Aber vielleicht war es gut, dass er unsere Vertreibung und Enteignung zwei Jahre später nicht mehr erlebte, er wäre sicherlich schlecht damit fertiggeworden. Auch dass sein einziger Sohn Rudi es später zum Bürgermeister in der früheren DDR brachte, hätte ihm wenig gefallen.
Rudi war die erste Liebe von Frauke, meiner zweitältesten Schwester. Als er nach einer Lungenentzündung in ein Erholungsheim verschickt wurde, sandte er ihr eine Karte, auf der das Kurheim abgebildet war. Ein Fenster davon hatte er angekreuzt. Er schrieb: »Liebe Frauke, wie geht es Dir? Mir geht es gut. Wo der Kreuz, ist meine Stube! In Liebe, Dein Rudi.« Worauf »Wo der Kreuz, ist meine Stube«, ebenfalls zum gefl ügelten Wort bei uns wurde und bis zum heutigen Tag benutzt wird.
Schmalz hatte ein breites Tätigkeitsfeld. Er war für den Gemüse- und Blumengarten, für den Park und für das Jagdrevier zuständig. Und er erledigte seine vielen Aufgaben, mit Unterstützung einiger Arbeiterfrauen, vortrefflich.
Dank seiner gärtnerischen Fähigkeiten gediehen bei uns Artischocken! Er verstand es, Englischen Sellerie zu züchten. Es gab Pfi rsiche, Weintrauben, Brombeeren und riesige Kürbisse, die, süßsauer eingelegt, eine Delikatesse waren, und vieles mehr.
Bei Kürbissen fällt mir eine Geschichte ein, die typisch
für meine Großmutter, Oma Suse, war, die sich die Oberherrschaft über den Gemüsegarten nicht hatte nehmen lassen.
Im Kriegsjahr 43/44 gab es ungeahnt viele Kürbisse, gegen die wir nicht mehr ankamen, obwohl bereits eimerweise Marmelade für die Gefangenen davon gekocht worden war.
Oma setzte sich also hin und schrieb an ihre hungernde Cousine Mande ins Rheinland. »Liebe Mande«, schrieb sie, »soll ich Dir einen Kürbis schicken? Wir haben zu viele, und unsere Schweine fressen sie nicht mehr!«
Mande lehnte empört ab. Ein Paket von mit Kürbis gemästetem Schwein wäre ihr lieber gewesen.
Aber zurück zu Schmalz, der es nicht vertragen konnte, wenn jemand in seinen Beeten herumtrampelte. Oma aber schickte dauernd eine ihrer Haustöchter, die ihm beim Pfl ücken von Obst helfen sollten. Daraufhin kam er eines Tages zu ihr ins Haus, drehte seinen grünen Hut in den Händen und bat: »Gnädje Frau, dat Frollein Toppius schicken Se mich man nich widder mang die Erdbeeren! Die hat ja Beene wie son Wallach!«
Und als er mittags ein anderes Mädchen beim Naschen der süßen Früchte erwischte, schnaubte er:
»Olja, wenn ick Ihnen noch enmal mang die Erdbeeren erwische, dann schlage ik Sie Ihre dicken Kackstelzen dicht unterm Hintern weg!«
Schmalz ergötzte uns ständig mit seinen Aussprüchen. Seine rundliche Frau, mit der er sehr glücklich lebte, nannte er nur: »Meine Olle, dat Aas!«
Und als ein Jagdhund nachts plötzlich tollwütig wurde und von Vater mit der Pistole in Schmalzens Küche erschossen werden musste, ging er ruhig eine Tür weiter ins
eheliche Schlafgemach, wo seine Frau vor Schreck über den Schuss aufrecht im Bett saß. Er drehte sich zu Vater herum, schüttelte missbilligend den Kopf und sagte: »Meine Olle, dat Aas, verpassen Se man och jleich noch eene!« Eine Kugel nämlich.
Schmalz blickte verächtlich auf alle Kollegen herab, die Försteruniform trugen. Womöglich hätte er selbst gerne eine gehabt. Nach einer Jagd in Neuermark trat er auf einen solchen Kollegen zu, dessen undisziplinierter Hund aufgefallen war. Er schüttelte dem erstaunten Mann die Hand und bemerkte trocken: »Männeken, an Sie is och dat Beste die Uniform!«
Mein recht gut aussehender, weltmännischer Onkel, Reinhard von Elern, war aus Berlin zu Besuch gekommen. Er wollte ein paar Fasanen schießen, und Schmalz begleitete ihn mit dem Jagdhund. Er erstattete später Bericht:
»Jetroffen hat er ja keenen. Aber wie er dat so macht, sowat Elejantes!« Dabei versuchte er (vergeblich) zu demonstrieren, mit welcher Eleganz der Onkel vorbeigeschossen hatte.
Gern wurde er von den benachbarten Gütern zu den Jagden »ausgeborgt«, weil er so gut mit den Jagdhunden umzugehen verstand, die ihm aufs Wort parierten.
Einmal war er in Kläden beim Grafen Bassewitz dabei und erzählte meinem Vater, der mit Grippe im Bett lag, seine Erlebnisse:
»Also jleich nach das erste Treiben, da kommt doch son Herr auf mich zu, Exzellenz sagten se zu den:
>Förster, Ihr Hund jeht jut. Woll'n Se mich den nich verkoofen?<
>Nee<, sag ich, >dat kann ich nich, der hört meinen Chef.<
Nachs zweite Treiben kommt mich doch der widder:
>Förster, Ihr Hund jeht jut. Woll'n Se mich den nicht verkoofen?<
>Nee<, sag ich, >der hört meinen Chef, den kann ich Sie nich verkoofen!<
Was soll ich Sie sagen, nach das nächste Treiben kommt mich der Mensch wahrhaftig zum dritten Mal! Mich deucht, der war nicht recht bebrütet!«
Dieser in seinen Augen nicht recht bebrütete Herr war übrigens der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt.
Als ein neues Küchenmädchen eingestellt wurde, sagte Vater zu ihm: »Hören Sie, Schmalz, das neue Mädchen heißt Ella, wie unsere Jagdhündin. Ich finde, das geht nicht. Wir wollen also Ella von jetzt an Bella rufen!«
Worauf sich Schmalz nachdenklich am Hinterkopf kratzte: »De Ella is jreulig eigen. Wenn se darauf man hört!«
Einmal wurde er noch spät zu einem unserer Tagelöhner geschickt, um etwas zu bestellen. Er kam grinsend zurück: »Jetzt wees ick och, warum die so ville Kinder haben! Frau Röhlecke war in' Schlafanzug!«
In seinen Augen wohl ein äußerst zeugungsfreudiges Kleidungsstück.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe 0 1992 by Huberta Viktoria Wilke von Goßler
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafi k, Teising
Umschlagmotiv: 0 Marc Fischer und Veena Kumbargadde /
0 privat (Sämtliche Fotos stammen aus dem Privatarchiv der Autorin)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-478-6
2013 2012 2011 2010
Zu meiner Taufe, die im Juni stattfand, bekamen meine Schwestern die legendären Röschen-Kleider. Weißgrundiger Musselin mit eingestreuten roten Rosen, dazu rote Bolero-Jäckchen.
Entzückend, wie sie sich engelgleich um meine Wiege scharten, alle im gleichen Kleid.
Ich hatte später volle zwölf Jahre zu tun, um diese Alpträume von Kleidern aufzutragen, da sie von bester Qualität waren. Und nicht nur die!
Meine Mutter pfl egte »im Ballen« zu kaufen, sparsam und praktisch wie sie war. Reißfeste, dunkle Stoffe, im Preis heruntergesetzt, weil nicht mehr modisch.
Die Hausschneiderin, Frau Schenk, eine graue Maus mit Eigengeruch, nähte jeweils fünf Kleider daraus. Für die Kleinen Hänger, für die Größeren mit Taille. Die Röschen-Kleider ausgenommen, waren sie allesamt scheußlich. Darüber trugen wir kräftigblaue Kutscherschürzen, in der Mitte mit einer großen Tasche. Daran waren wir weithin erkennbar. Wir litten unter dieser Kleidung, die uns heraushob, die uns anders machte. »Die vom Jute« nannten sie uns im Dorf und wunderten sich.
Jahrzehnte später, wegen dieser Barbarei zur Rede gestellt, erklärte meine Mutter erschrocken: »Das verstehe ich gar nicht. Ihr saht doch darin immer so reizend aus!«
Meine Erinnerung an Zuhause setzte ein, als ich etwa zwei war. Meine Schwestern Ute und Brigitte, sechs und acht Jahre alt, hatten mich liebevoll an den Händen gefasst und wanderten mit mir durch den Park, weit hinten, wo die Familiengräber lagen und es so modrig roch. Wo es dämmrig war im Schatten der alten Bäume und das Gebüsch dicht und undurchsichtig erschien.
Plötzlich, wie auf Kommando, ließen sie mich los, kreischten »Löwe kommt! Löwe kommt!«, und rasten davon.
Ich stand da wie gelähmt. Machte dann kehrt, schrie mörderisch und rannte auf unsicheren Beinchen in Richtung Gutshaus, jeden Augenblick erwartend, dass ein zähnefl etschender Löwe mich anfi ele.
War mein Vater in der Nähe, nahm er sich meiner an. »Diese Brut!«, schnaubte er, doch die hatte sich längst auf irgendeinem Baum in Sicherheit gebracht.
Ich durfte zum Trost an seiner Zigarre ziehen oder mit ihm aufs Feld fahren, sehen, wie die Arbeit dort voranging.
Schon früh lernte ich dadurch kutschieren, lernte, meine kleinen Schritte seinen großen anzupassen, lernte die Namen von Blumen und Gräsern und die Vogelstimmen zu unterscheiden.
Ich konnte lange nahezu bewegungslos sitzen, auch wenn mich Mücken piekten, wenn wir auf einen Bock ansaßen oder das Einfallen der Wildenten beobachteten. Ich wollte, dass er stolz auf mich war.
Voll von Erlebnissen kehrte ich zurück, schmutzig, mit zerrissenem Kleid. Schwester Lene wartete schon auf mich. Sie war eingestellt worden, um mich zu hüten, um den Geschwistern Manieren beizubringen. Und sie nahm ihre Rolle sehr ernst.
Sie trug Schwesternkleidung und ein weißes Häubchen, war freundlich-fröhlich, aber bestimmt. Sie aß mit uns abends im Kinderzimmer. Und wehe, eine von uns legte ihren Ellbogen auf den Tisch. Mit einem schmerzhaften
Ruck stieß sie ihn auf die Tischkante und tat, als wenn nichts gewesen wäre. Auch musste aufgegessen werden, selbst die verhasste Blutwurst.
Frauke erfand den Trick, sie im Mund zu behalten und später hinter den Kachelofen zu spucken. Das kam erst heraus, als faulige Gerüche aufstiegen. Von da an quetschte Schwester Lene nach jedem Essen mit Daumen und Zeigefi nger unsere Backen zusammen. Wenn jemand etwas versteckt hatte, quoll es heraus, wie einmal bei Ute! »Igittigitt!« Juchzend fl üchteten wir vom Tisch.
Wir ekelten uns oft voreinander. Bonbons blieben tagelang unberührt, man brauchte sie nur in Gegenwart aller anzulecken. Das war besonders an Geburtstagen wichtig, weil man sonst leicht beklaut wurde.
Aus demselben Becher trinken, eine Stulle abbeißen, die der Schwester gehörte. Ekelhaft! Lieber wären wir gestorben.
Wir schlugen uns wie die Kesselfl icker, fanden uns schlichtweg abscheulich, aber wir hielten zusammen! Das zeigte sich immer dann, wenn Gefahr heraufzog. Wie einmal, als Vater in blinder Wut drohte, er würde »Knöpfchen«, den Dackel, erschießen, sowie er vom Wildern zurückkäme.
Vater haßte wildernde Hunde und Katzen, die so viel Schaden unter dem Wild und den Vögeln anrichten konnten. Er schoß sie ab, traf er sie in der Feldmark. Und Knöpfchen, jagdlich ebenso passioniert wie sein Herr, schlich sich hin und wieder alleine vom Hof, wenn ihn das Jagdfi eber überkam.
Wir starteten sofort eine Rettungsaktion, egal, wie spinnefeind wir zuvor gewesen waren. Nach allen Richtungen schwärmten wir aus, um den Hund abzufangen, schafften das auch ungesehen, schleusten ihn in einem Korb ins Haus, hielten ihn drei Tage lang im Keller, in der Milchkammer, versteckt. Nur Herta, die Mamsell, war mit im Komplott!
Welche Ängste standen wir aus, dass Knöpfchen sich und uns verriet, indem er kläffte. Denn Vaters Drohungen nahmen wir ernst, nachdem wir erlebt hatten, wie er zwei Junghennen erschoss, die über den Zaun gefl ogen waren und in seiner frisch gedrillten Gerste scharrten.
Erst als er, der seinen Hund - diesen und viele andere - sehr liebte, bekümmert und empört zugleich, beim Mittagessen ausrief: »Knöpfchen ist weg, tot wahrscheinlich, abgeknallt von einem der Bauern, und euch kümmert das überhaupt nicht!«, ließen wir den Rüden aus seinem Versteck.
Er, der ohnehin nicht begriffen hatte, warum er in Einzelhaft saß, sprang schwanzwedelnd, gut genährt und knochentrocken an seinem Herrn empor, leckte ihm die Hände und wollte sich schier umbringen vor Wiedersehensfreude.
Vater fragte uns nie, wo der Hund gesteckt hatte, er dachte es sich auch so.
Die erste Mamsell, an die ich mich erinnern kann, war besagte Herta. Wie oft fl üchtete ich mich zu ihr. Sie war warm und weich und herrlich dick und viele Jahre in unseren Diensten. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, trug einen Mittelscheitel und straff nach hinten gekämmtes fettiges Haar, das in einem dicken Knoten mündete.
Ein wogender Busen, eine bunte Schürze mit großen Taschen, in denen oft Plätzchen steckten, der Geruch von Schweiß, deftiges Lachen, Fröhlichkeit - das war Herta. Und zu ihr gehörte ein großes Messer, mit dem sie in der Speisekammer Schinken abschnitt, mir zusteckte. Ein empörter Ausruf: »Lasst die Faxen!« Ein kräftiger Arm, der mich aus den klammernden Griffen meiner Schwestern rettete, die wieder einmal »Löwe kommt« mit mir vorhatten.
Sie herrschte über das Erdgeschoß! Küche, Keller und Milchkammer unterstanden ihr, dazu das Küchenmädchen und die alte Frau Steinberg.
Frau Steinberg, die Kartoffeln schälte, Hühner rupfte, Beeren pfl ückte, Wäsche wusch und im Sommer nie einen Schlüpfer trug, wie wir bald herausfanden. Sie stellte sich einfach breitbeinig hin und pinkelte zwischen die Himbeeren!
Herta hatte einen stattlichen Freund. Er war Gestütswärter und hieß Karl Bäsel. Er trug Knickerbocker, hatte blondes, krauses Haar und verschenkte Bonbons. Dafür mussten wir ihn küssen.
Meine Schwester Brigitte wies das weit von sich. Ute und ich taten es, mit Widerwillen zwar, doch so eklig wie die eigenen Schwestern war er uns nicht. Er besuchte Herta in der Küche, wenn Mutti nicht da war oder es nicht merkte. Dann saß er auf der Holzkiste und schäkerte mit Herta und dem Küchenmädchen und mit uns.
Karl Bäsel meinte es nicht ernst mit Herta. Er war nicht treu. Eines Tages ging er fort. Herta weinte viel, sie hatte ihn sehr geliebt. Ihre Tränen kullerten in die Suppe, fielen auf den Braten, tropften in den Kuchenteig. Ich leistete ihr Gesellschaft beim Weinen, weil ich doch bei ihrer Hochzeit die Schleppe hätte tragen sollen!
»Bloß gut, dass er mich nicht noch ›beschwängelt‹ hat«, sagte sie eines Tages, und da war sie auch schon über ihren Schmerz hinweg. Ich nickte zustimmend. Beschwängeln ist das altmärkische Wort für schwängern, aber das wusste ich damals noch nicht.
Herta heiratete dann doch noch. Eine Vernunftehe, wie sie mir erzählte. Ihr Mann war Kleinbauer in Grassau, einem Nachbardorf. Wenn ich später in aller Herrgottsfrühe mit dem Bummelzug in die Schule fuhr, stand sie oft in ihrem kleinen Garten am Zaun und winkte mir zu. Sie bekam dann eine Tochter, die sie Brigitte nannte, nach meiner Schwester, die ihrem ungetreuen Karl die Küsse verweigert hatte.
Ehe sie fortging, feierten wir ihr Jubiläum, sicher das zehnjährige. Es gab Baisertorte vom Konditor aus Stendal. Köstlich!
Vater führte Herta zu Tisch. Vor Rührung brach sie in Tränen aus. Diesmal weinte ich nicht mit.
Später gingen wir alle im Park spazieren, noch später wurde die drehbare Wippe geentert. Eine Belustigung, die schon die Kindheit meines Vaters und seiner drei Schwestern versüßt hatte. Auf jeder Seite konnten drei Personen sitzen. Zwei weitere drehten die Wippe mit aller Kraft im Kreise.
Herta - nicht mehr ganz nüchtern - die hinten saß, ließ plötzlich den Griff los und sauste kreischend über die Hecke zwischen die Gräber. Dann war Stille! Wir waren furchtbar erschrocken und stürzten hinterher. Sie rappelte sich gerade von der Ruhestätte der vierzehn Kinder hoch, die von der Pest dahingerafft worden waren, anno 1702. Die Spitzenbluse war zerrissen, sonst schien ihr nichts passiert.
»Kommt bloß weg«, rief sie, »sonst ziehen die Bälger mich noch in ihr Grab!«
Zu meiner frühesten Kindheit gehört auch Schmalz! Carl Schmalz, Gutsgärtner und Jagdaufseher meines Vaters. Schmalz war klein und o-beinig, er trug ein kurzes dunkles
Schnurrbärtchen und hatte einen ungemein listigen Gesichtsausdruck. Schmalz war ein Original!
Wie oft besuchte ich ihn in seinem Gewächshaus, in dem es so wunderbar roch, nach Erde, exotischen Pfl anzen, Petersilie, die durch große runde Löcher aus einer Holztonne wucherte. Und es roch nach den beiden Frettchen, Peter und Paul, die hier ihren Käfi g hatten. Flinke weiße Tiere mit roten Augen, die für die Karnickeljagd gebraucht wurden.
Stundenlang konnte ich bei Schmalz hocken, ihm zusehen, wie er Blumen eintopfte und mit gewichtiger Stimme Lebensweisheiten zum besten gab. Oder wenn er die Palmen, Agaven und die anderen Blattgewächse goss, die hier überwinterten, um im Sommer in großen Kübeln Park und Terrasse zu verschönern.
Er nannte mich »Ütte« wie die meisten in unserer großen Familie. Den Namen hatte ich mir selbst gegeben, abgeleitet von Lütte, wie Schwester Lene mich rief.
»Ütte, dat eene will ich dich sajen, dat Leben is schön, wennste vastehst, damit umzujehn!«
Eine simple Lebensweisheit, doch wie wahr! Oder er empfahl mir: »Musst imma deine Hände uffhalten! Nich für Süßigkeiten natierlich, nee, für't Leben! Wat globst du, wat sich da allet Schönet in sammelt. Kannste jar nich allet ufbrauchen, so reich biste!«
Sätze, die ich nie vergaß, bis heute nicht. Nach denen ich zu leben versuchte und deren Wirkung mich nie enttäuschte.
Schmalz schickte mir Kartons mit Äpfeln ins Internat, als die Zeiten schlecht wurden. Er legte ein paar ungelenke Zeilen obenauf, wie etwa diese:
»Liebe Ütte, lern dir man schön wat, hilft ja doch nischt.
Bei uns is allet wie imma. Bloß der Drachen is perdü, Chef war mit die Beene drüber her. Beste Grüße, dein treuer Schmalz.«
Dieser kurze Brief sagte mir mehr als jede andere Nachricht von Zuhause. Er tröstete mich über mein Los, berichtete, dass alles beim Alten war. Mit einer Ausnahme allerdings, denn Vater hatte den Drachen, in Gestalt eines Raubvogels, der zum Rebhühnerschießen benutzt wurde, anscheinend total demoliert. Aus Wut, so schätzte ich, weil das Ding mal wieder nicht so in die Lüfte stieg, wie Vater sich das gedacht hatte.
Vaters Zornesausbrüche machten auch Schmalz schwer zu schaffen. Er stand dann abseits und schüttelte nur den Kopf. Meist jedoch verrauchte Vaters Wut so schnell, wie sie gekommen war. Manchmal auch nicht, wie bei dem unschuldigen ausgestopften Uhu, dem er eine aufs Fell brannte, dass die Federn nur so stoben.
Vater und Schmalz waren sehr für jagdliche Neuheiten. Sie freuten sich wie die Kinder daran. Der Uhu gehörte auch dazu. Ihn stellte man auf einen Pfahl, mitten auf den Acker. Eine Schnur, die mit ihm verbunden war und mit der man seine Flügel bewegen konnte, führte in die versteckt liegende Jagdhütte. Stießen nun Bussarde und andere Raubvögel herab, um den vermeintlichen Feind anzugreifen, konnten sie leicht abgeschossen werden. Und das war nötig, denn gerade Bussarde gab es damals in Massen. Sie dezimierten unsere Küken und Junghennen beträchtlich. Aber dieser stolze, teure Uhu tat leider nicht so, wie er sollte. Da kochte Vater über und erledigte den Kunstvogel kurzerhand auf seine Art.
Schmalz erlebte noch, wie mein einziger Bruder geboren wurde. Er trug ihn Heiligabend, an dem er nie fehlen durfte, stolz auf dem Arm und zeigte ihm den brennenden Lichterbaum. Dann sagte er, für alle hörbar, indem er den Jungen abschätzend betrachtete:
»Wenn er mich bloß nicht so hitzig wird wie der Alte!«
Bald darauf starb Schmalz, ziemlich sinnlos an einer zu spät erkannten Diphtherie. Unsere Trauer um ihn war grenzenlos. Aber vielleicht war es gut, dass er unsere Vertreibung und Enteignung zwei Jahre später nicht mehr erlebte, er wäre sicherlich schlecht damit fertiggeworden. Auch dass sein einziger Sohn Rudi es später zum Bürgermeister in der früheren DDR brachte, hätte ihm wenig gefallen.
Rudi war die erste Liebe von Frauke, meiner zweitältesten Schwester. Als er nach einer Lungenentzündung in ein Erholungsheim verschickt wurde, sandte er ihr eine Karte, auf der das Kurheim abgebildet war. Ein Fenster davon hatte er angekreuzt. Er schrieb: »Liebe Frauke, wie geht es Dir? Mir geht es gut. Wo der Kreuz, ist meine Stube! In Liebe, Dein Rudi.« Worauf »Wo der Kreuz, ist meine Stube«, ebenfalls zum gefl ügelten Wort bei uns wurde und bis zum heutigen Tag benutzt wird.
Schmalz hatte ein breites Tätigkeitsfeld. Er war für den Gemüse- und Blumengarten, für den Park und für das Jagdrevier zuständig. Und er erledigte seine vielen Aufgaben, mit Unterstützung einiger Arbeiterfrauen, vortrefflich.
Dank seiner gärtnerischen Fähigkeiten gediehen bei uns Artischocken! Er verstand es, Englischen Sellerie zu züchten. Es gab Pfi rsiche, Weintrauben, Brombeeren und riesige Kürbisse, die, süßsauer eingelegt, eine Delikatesse waren, und vieles mehr.
Bei Kürbissen fällt mir eine Geschichte ein, die typisch
für meine Großmutter, Oma Suse, war, die sich die Oberherrschaft über den Gemüsegarten nicht hatte nehmen lassen.
Im Kriegsjahr 43/44 gab es ungeahnt viele Kürbisse, gegen die wir nicht mehr ankamen, obwohl bereits eimerweise Marmelade für die Gefangenen davon gekocht worden war.
Oma setzte sich also hin und schrieb an ihre hungernde Cousine Mande ins Rheinland. »Liebe Mande«, schrieb sie, »soll ich Dir einen Kürbis schicken? Wir haben zu viele, und unsere Schweine fressen sie nicht mehr!«
Mande lehnte empört ab. Ein Paket von mit Kürbis gemästetem Schwein wäre ihr lieber gewesen.
Aber zurück zu Schmalz, der es nicht vertragen konnte, wenn jemand in seinen Beeten herumtrampelte. Oma aber schickte dauernd eine ihrer Haustöchter, die ihm beim Pfl ücken von Obst helfen sollten. Daraufhin kam er eines Tages zu ihr ins Haus, drehte seinen grünen Hut in den Händen und bat: »Gnädje Frau, dat Frollein Toppius schicken Se mich man nich widder mang die Erdbeeren! Die hat ja Beene wie son Wallach!«
Und als er mittags ein anderes Mädchen beim Naschen der süßen Früchte erwischte, schnaubte er:
»Olja, wenn ick Ihnen noch enmal mang die Erdbeeren erwische, dann schlage ik Sie Ihre dicken Kackstelzen dicht unterm Hintern weg!«
Schmalz ergötzte uns ständig mit seinen Aussprüchen. Seine rundliche Frau, mit der er sehr glücklich lebte, nannte er nur: »Meine Olle, dat Aas!«
Und als ein Jagdhund nachts plötzlich tollwütig wurde und von Vater mit der Pistole in Schmalzens Küche erschossen werden musste, ging er ruhig eine Tür weiter ins
eheliche Schlafgemach, wo seine Frau vor Schreck über den Schuss aufrecht im Bett saß. Er drehte sich zu Vater herum, schüttelte missbilligend den Kopf und sagte: »Meine Olle, dat Aas, verpassen Se man och jleich noch eene!« Eine Kugel nämlich.
Schmalz blickte verächtlich auf alle Kollegen herab, die Försteruniform trugen. Womöglich hätte er selbst gerne eine gehabt. Nach einer Jagd in Neuermark trat er auf einen solchen Kollegen zu, dessen undisziplinierter Hund aufgefallen war. Er schüttelte dem erstaunten Mann die Hand und bemerkte trocken: »Männeken, an Sie is och dat Beste die Uniform!«
Mein recht gut aussehender, weltmännischer Onkel, Reinhard von Elern, war aus Berlin zu Besuch gekommen. Er wollte ein paar Fasanen schießen, und Schmalz begleitete ihn mit dem Jagdhund. Er erstattete später Bericht:
»Jetroffen hat er ja keenen. Aber wie er dat so macht, sowat Elejantes!« Dabei versuchte er (vergeblich) zu demonstrieren, mit welcher Eleganz der Onkel vorbeigeschossen hatte.
Gern wurde er von den benachbarten Gütern zu den Jagden »ausgeborgt«, weil er so gut mit den Jagdhunden umzugehen verstand, die ihm aufs Wort parierten.
Einmal war er in Kläden beim Grafen Bassewitz dabei und erzählte meinem Vater, der mit Grippe im Bett lag, seine Erlebnisse:
»Also jleich nach das erste Treiben, da kommt doch son Herr auf mich zu, Exzellenz sagten se zu den:
>Förster, Ihr Hund jeht jut. Woll'n Se mich den nich verkoofen?<
>Nee<, sag ich, >dat kann ich nich, der hört meinen Chef.<
Nachs zweite Treiben kommt mich doch der widder:
>Förster, Ihr Hund jeht jut. Woll'n Se mich den nicht verkoofen?<
>Nee<, sag ich, >der hört meinen Chef, den kann ich Sie nich verkoofen!<
Was soll ich Sie sagen, nach das nächste Treiben kommt mich der Mensch wahrhaftig zum dritten Mal! Mich deucht, der war nicht recht bebrütet!«
Dieser in seinen Augen nicht recht bebrütete Herr war übrigens der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt.
Als ein neues Küchenmädchen eingestellt wurde, sagte Vater zu ihm: »Hören Sie, Schmalz, das neue Mädchen heißt Ella, wie unsere Jagdhündin. Ich finde, das geht nicht. Wir wollen also Ella von jetzt an Bella rufen!«
Worauf sich Schmalz nachdenklich am Hinterkopf kratzte: »De Ella is jreulig eigen. Wenn se darauf man hört!«
Einmal wurde er noch spät zu einem unserer Tagelöhner geschickt, um etwas zu bestellen. Er kam grinsend zurück: »Jetzt wees ick och, warum die so ville Kinder haben! Frau Röhlecke war in' Schlafanzug!«
In seinen Augen wohl ein äußerst zeugungsfreudiges Kleidungsstück.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe 0 1992 by Huberta Viktoria Wilke von Goßler
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafi k, Teising
Umschlagmotiv: 0 Marc Fischer und Veena Kumbargadde /
0 privat (Sämtliche Fotos stammen aus dem Privatarchiv der Autorin)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-478-6
2013 2012 2011 2010
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Bibliographische Angaben
- Autor: HUBERTA VIKTORIA W. VON GOßLER
- 159 Seiten, Maße: 13,2 x 19,2 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004785
- ISBN-13: 9783868004786
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