Sieben Magier
Von mutigen Mädchen und freundlichen Monstern
Als Nin eines Morgens aufwacht, ist ihr Bruder Toby verschwunden. Es ist, als hätte es Toby nie gegeben. Doch Nin ahnt, wo er jetzt ist: im Haus der Schrecken. Und von dort ist noch niemand wieder...
Als Nin eines Morgens aufwacht, ist ihr Bruder Toby verschwunden. Es ist, als hätte es Toby nie gegeben. Doch Nin ahnt, wo er jetzt ist: im Haus der Schrecken. Und von dort ist noch niemand wieder...
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Produktinformationen zu „Sieben Magier “
Klappentext zu „Sieben Magier “
Von mutigen Mädchen und freundlichen MonsternAls Nin eines Morgens aufwacht, ist ihr Bruder Toby verschwunden. Es ist, als hätte es Toby nie gegeben. Doch Nin ahnt, wo er jetzt ist: im Haus der Schrecken. Und von dort ist noch niemand wieder zurückgekommen. Nin muss ihren Bruder retten! Mutig wagt sie sich in jene magische Welt, in der alles Gestalt annimmt, wovor Menschen sich fürchten. Doch findet sie den Weg? Und was ist das Geheimnis der sieben Magier? Nin hat keinen Plan, sie verlässt sich auf ihr Glück ...
Lese-Probe zu „Sieben Magier “
Sieben Magier von Caro King1 Der Junge, den es nie gab
... mehr
Nin hatte Dienstage noch nie leiden können, aber dieser Dienstag hier war echt das Letzte. Als sie aufwachte, schüttete es wie aus Kübeln, und ihr kleiner Bruder war...verschwunden.
Das Erste, was sie traf, war der Regen. Weil sie gestern Abend vergessen hatte, das Fenster zuzumachen, platschten ihr dicke Tropfen direkt ins Gesicht. Nicht die schönste Art aufzuwachen.
Mit einem Schrei fuhr Nin hoch und starrte das Fenster an. Dann stand sie auf und mühte sich mit den klatschnassen Gardinen und dem Fensterriegel ab, der sich nicht bewegen lassen wollte. Es dauerte Ewigkeiten, bis sie das Fenster zuknallen konnte, damit das Gewitter draußen blieb, wo es hingehörte.
Sie wischte sich mit dem Schlafanzugärmel über das nasse Gesicht und spähte zu den grauen Wolken hoch, oder zumindest auf das, was sie von ihnen durch die am Fenster herabströmenden Sturzbäche sehen konnte.
»Toll!«, knurrte Nin. »Einfach super. Bestimmt ist heute Dienstag.«
Sie sah auf ihrer großen lila Uhr, dass sie noch eine knappe halbe Stunde Zeit hatte, und ließ sich ins Bett zurückfallen.
Und dann fiel ihr noch etwas auf. Eigentlich hätte Toby schon wach sein müssen. Ihr Bruder war immer als Erster auf den Beinen, obwohl er nicht so früh wie Nin in der Schule sein musste. Jeden Morgen hörte sie ihn zum Bad tapsen und dann wieder zurück in sein Zimmer, wo er sich mit seinem jeweiligen Lieblingsspielzeug beschäftigte.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte böse auf die Uhr. Egal. Anscheinend schlief er heute länger. Nin seufzte und spielte in Gedanken noch einmal den Vorfall mit den Säcken im Keller durch.
Als sie gestern Abend in der Abendsonne gesessen und in ihrem Lieblingsbuch gelesen hatte, war Toby in der Tür vom Wintergarten aufgetaucht, wie immer mit seinem abgegrabbelten Äffchen unterm Arm. Er blieb dort eine Weile stehen, bevor er sich herein traute und sich neben ihren Sessel stellte.
»Da ist was im Keller«, sagte er.
Nin stöhnte und sah von ihrem Buch auf. »Was?«
»Im Keller«, flüsterte Toby. »Was Grüseliches.«
»Es heißt gruselig, nicht grüselich«, blaffte Nin ihn an. »Grüselich ist Babysprache.«
Das war gemein, aber Toby nervte sie, und deshalb meckerte sie ihn an.
Toby stand einfach da und schaute sie an wie immer, wenn sie etwas für ihn machen sollte.
»Sag es Mama.« Nin blätterte die Seite um. Sie war gerade an einer guten Stelle, wo die Heldin den Weg in eine Parallelwelt entdeckte.
Toby sah sie immer noch an. Er hatte blonde Haare und seine Augen waren sehr blau, fast violett. Nin dagegen hatte ganz gewöhnliche braune Haare und gewöhnliche blaue Augen. Und sie war jetzt total genervt.
»Hör mal, ich lese, klar? Erzähl es Mama.«
»Sie ist einkaufen gegangen.«
Montags ging ihre Mutter immer einkaufen.
Nin verdrehte die Augen.
»Dann erzähl es Oma. Oder Opa.«
»Oma ist im Garten und Opa ...«, er hielt kurz inne, »...schläft.«
Damit meinte er, dass er sich ein wenig vor dem Großvater fürchtete.
Nin ließ ihr Buch auf den Tisch fallen und stand auf.
»Na gut!«, sagte sie wütend. »Aber wehe, wenn es irgendein Minischeiß ist.«
Es war welcher.
Im Keller stand nur ein alter Tisch, auf dem verstaubtes Werkzeug lag. Außerdem die Weinsammlung ihres Opas, ein paar verbeulte Farbdosen und ein paar alte Säcke, die unordentlich verknäult in der Ecke lagen.
»Und wo ist nun das grüseliche Ding?«, funkelte Nin Toby an.
Sie steigerte sich gerade in eine miese Laune rein. Die Sorte Laune, die ihre Oma übel nannte und bei der ihre Mutter aufgeblähter Miesmolch zu ihr sagte.
Toby zeigte auf die Säcke.
Nin seufzte.
»Das sind Säcke, du Blödi. Bloß leere, dreckige, alte Säcke. «
Aber seltsamerweise hatte sie nicht die geringste Lust, in die dunkle Ecke zu gehen und die alten Säcke auszuschütteln, um Toby zu zeigen, wie leer sie waren.
»Na, los«, sagte sie. »Geh wieder rauf und nerv mich nicht mehr.«
Und damit war die Säckeschau beendet.
Der Regen strömte immer noch an der Scheibe herab, und Nin lag im Bett und seufzte. Vielleicht hatte Toby heute Nacht Albträume gehabt. Oder er hatte aus lauter Angst vor dem Kinderschreck nicht einschlafen können. Oder sonst was. Plötzlich hatte sie wegen der blöden Säcke im Keller ein schlechtes Gewissen. Na toll.
»Ich hätte netter zu ihm sein sollen«, stöhnte Nin laut auf. »Ich hätte die gammeligen Säcke wegschmeißen und im Keller herumgehen sollen, um ihm zu zeigen, dass da nichts ist.«
Sie stand auf, zog den hässlichen grünen Bademantel an und patschte auf nackten Füßen in die Diele. Tobys Zimmer war am anderen Ende des Flurs, hinter der Abstellkammer, wo Papas alter Krempel aufbewahrt wurde. Sie öffnete die Zimmertür so leise sie konnte.
Ungläubig starrte sie hinein. Das Zimmer war aufgeräumt! Eigentlich war es mehr als aufgeräumt: Es war fast leer.
Verdutzt betrachtete sie den leeren Fußboden, auf dem keine Spielsachen und alte Socken herumlagen. Auf der Kommode fehlten Tobys riesige Panda-Uhr, sein Zeichenblock und die Malstifte und die vielen Bilderbücher, die sonst dort lagen. Dann sah sie zum Bett hinüber.
Es war leer.
Schlimmer - es sah aus, als hätte gar niemand darin geschlafen. Die Bettdecke lag ordentlich gefaltet auf dem glattgezogenen Laken, und die Kissen waren aufgeschüttelt.
Nin zog die Brauen zusammen.
Die Bettdecke war nicht mehr mit Tobys Spiderman-Bettwäsche bezogen.
Sie rannte zum Schrank und riss die Tür auf. Wie erwartet hingen darin Kleidungsstücke. Aber es waren die alten Sakkos ihres Großvaters, und die hatte sie nicht erwartet.
Ihr wurde ganz flau im Magen, und mit einem Mal hatte sie überall Gänsehaut. Dann holte sie tief Luft. Nin blickte sich um und machte sich darauf gefasst, dass Toby kichernd in der Ecke stand.
Doch da war niemand.
Sie stieß die Schranktür zu und lief nach unten.
Nin ging sonst nie vor dem Frühstück runter. Normalerweise kam sie erst in die Küche, wenn ihre Mutter den Toast in den Toaster steckte. Dann war die Küche warm und roch nach...na ja, nach Toast.
Heute war alles anders. Aber es war ja auch Dienstag. Lena war noch nicht aufgestanden. Nin stand oben an der Treppe und sah hinunter in die Dunkelheit. Sie wusste, dass Toby nicht im Wohnzimmer war, weil die Wohnzimmertür offenstand und dahinter noch mehr Dunkelheit lauerte.
Sie drückte auf den Lichtschalter, und die Diele wurde von Helligkeit durchflutet. Dann sauste Nin nach unten und achtete darauf, dass sie nicht in den dunklen Winkel unter der Treppe schaute.
Als Nin damals so alt wie Toby war, hatte sie immer geglaubt, dass unter der Treppe irgendetwas lauerte und sich unter den Mänteln versteckte. Die Garderobe war genau der Ort, an dem irgendetwas lauern würde. Wegen der Dunkelheit, die dort selbst dann noch herrschte, wenn man bereits Licht angemacht hatte.
Sie hatte lange nicht mehr an das Irgendetwas gedacht, aber heute Morgen war alles irgendwie anders als sonst, und die Erinnerung daran überfiel sie so heftig, dass ihre Haut kribbelte. Sie stürmte in die Küche.
Im dämmrigen Morgenlicht konnte Nin gerade eben die Umrisse des Toasters und des Wasserkessels auf dem Herd erkennen und die glatten Oberflächen der Küchenschränke.
Kein Toby. »Du bist früh auf.« Lena stand hinter Nin in der Türöffnung und knipste das Licht an.
Nin war zusammengezuckt und fuhr herum.
»Du auch.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die verwuschelten Haare. Sie war noch nicht angezogen.
»Ich hab schlecht geschlafen.« Sie seufzte. »Und du?«
»Der Regen hat mich aufgeweckt«, sagte Nin, und das stimmte ja auch.
Lena ging zur Arbeitsfläche.
»Wenn wir nun schon mal hier sind, könnte ich ja auch Frühstück machen, hm?«
Ohne eine Antwort abzuwarten füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd, dann steckte sie vier Scheiben Toast in den Toaster und ging zum Schrank, um die Teebeutel zu holen. Nin blickte über die Schulter ihrer Mutter und stellte fest, dass auch die große Schachtel mit Tobys Lieblingsmüsli verschwunden war.
»Mama, ist mit Toby alles in Ordnung?«, fragte sie ängstlich.
Dienstage waren immer schlimm, aber der hier entwickelte sich nachgerade zum allerschlimmsten Tag, den es jemals gegeben hatte.
»Mit wem?«, fragte Lena.
Nins Mutter stritt ab, dass Nin jemals einen Bruder gehabt hatte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass das Wasser kochte.
»Du weißt doch«, versuchte Nin zu scherzen. Sie wünschte sich, ihr Magen würde endlich mit diesen Purzelbäumen aufhören. »Toby. Mein Bruder. Ungefähr so groß.«
Ihr war, als wäre sie fälschlicherweise in das Leben eines anderen Menschen gerutscht. Lena lachte.
»Ich könnte ja wohl kaum noch mehr Kinder versorgen. Ich hab mit dir schon genug zu tun! Und falls du es noch nicht gemerkt hast: Ich habe noch nicht wieder geheiratet. Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass ich mich mehr um mein Privatleben kümmern sollte?«
Nin wand sich innerlich. Ihr Vater hatte vor drei Jahren einen tödlichen Unfall in einer Unterführung gehabt. Die Erinnerung daran tat immer noch weh.
»Nein, Mama«, sagte sie voller Mitgefühl. »Ich wollte nur...«
Doch dann pfiff der Wasserkessel los, und das Geräusch unterbrach den Augenblick.
Lena stand auf, um den Tee aufzubrühen, und da sprangen auch schon die Toastscheiben hoch. Nin holte schnell die Orangenmarmelade und gab sich große Mühe beim Buttern der Toastscheiben, damit Lena vergaß, worüber sie gerade geredet hatten.
Als Nin gewaschen und angezogen war, war Toby immer noch nicht erschienen. Doch Nin wartete unbeirrt darauf, dass er endlich aus einem Versteck auftauchte und sich so benahm, als wäre nichts passiert. Schließlich konnten vierjährige Brüder nicht einfach verschwinden!
Im Unterricht musste Nin ständig an Toby denken und passte deshalb in Englisch nicht auf, obwohl das eigentlich ihr Lieblingsfach war. In Erdkunde wurde sie zweimal wegen Unaufmerksamkeit getadelt.
Nin begriff einfach nicht, was geschehen sein konnte. Erst hatte sie noch gedacht, Toby wäre oben im zweiten Stock in der Wohnung von Oma und Opa Covey, aber dann wäre er rechtzeitig zum Frühstück aufgetaucht. Er konnte auch nicht bei Oma Redstone sein, die in Sandybay am Meer wohnte. Toby blieb nie allein bei Oma Redstone. Außerdem hätte ihre Mutter dann gesagt: »Er ist doch bei Oma, Schatz, hast du das vergessen?«, statt sich zu wundern, von wem Nin redete. Und außerdem würde das auch nicht erklären, warum alle seine Sachen verschwunden waren. Sogar sein Müsli!
Bestimmt hat ihn der Kinderschreck geholt, dachte sie und lachte über diesen albernen Gedanken.
Es war ein grimmiges Lachen.
Im Laufe des Vormittags hörte es endlich auf zu regnen, und in der Pause zog LinetteNin in eine ruhige Ecke vom Schulhof.
Linette maulte wegen ihrem Vater, weil er ihr neuerdings jeden Spaß vermiesen würde. Sie erzählte, dass er sie eine Woche lang gezwungen hatte, Kartoffeln zu essen, weil sie ihr Geld nicht für das Schulessen, sondern für Chips ausgegeben hatte.
Doch Nin unterbrach sie.
»Das ist doch so was von egal«, sagte sie ungeduldig.
»Heute Morgen ist was total Verrücktes passiert.«
Linette sah sie wütend an.
»Hör mal!«, fauchte sie. »Ich war gerade am Erzählen!«
»Aber es ist wichtig«, beharrte Nin.
»Ach ja? Und dass ich mich zu Tode hungere ist nicht wichtig?«
Nin schüttelte den Kopf. »Jetzt hör mir doch mal zu! Toby ist verschwunden!«
Linette starrte Nin an, als ob sie verrückt geworden wäre.
Eine lange Pause entstand.
Und dann geschah es wieder.
»Wer?«, zischte Linette. »Von wem redest du da eigentlich? Kenne ich den?«
»Ja!«, jaulte Nin. »Das ist mein Bruder!«
Linette gab ein ungeduldiges Schnauben von sich.
»Also ehrlich, Ninevah Redstone«, schleuderte sie zurück, während sie davonstapfte, »manchmal glaube ich, du hast eine Totalmeise.«
Irgendwie schaffte Nin es durch den Nachmittag. Als schließlich die Schulglocke das Ende des Unterrichts verkündete, schnappte sie sich ihren Rucksack und rannte los. Aus dem Schulgebäude raus und vorbei an der Bushaltestelle. Immer weiter. Sie konnte jetzt nicht mit den anderen abhängen, sie wollte nur noch nach Hause. Und der kürzeste Weg nach Hause führte zu Fuß durch den Park und durch die Unterführung, das wusste sie.
Normalerweise hätte Nin die Unterführung gemieden wie die Pest. Aber heute würde sie das Risiko eingehen.
Jemand brüllte ihr etwas zu, als sie am Parkeingang durch eine Gruppe von älteren Schülern rannte, aber sie hörte gar nicht hin. Sie lief durch den Park, über die Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer, an den Enten und am Café Wacholder vorbei und um die Blumenrabatten herum.
Dann kam die Unterführung.
Sie ragte wie ein großes schwarzes Loch vor ihr auf, als wollte sie sie verschlingen. Urplötzlich blieb sie stehen und wäre fast gestürzt. Einen Augenblick lang befürchtete sie, sie müsste sich in die Geranien übergeben.
In tiefen Atemzügen sog sie frische Luft ein und betrachtete den Tunneleingang.
Ein tiefes, dunkles Loch, das grauenvolle Gespenster verbarg, so schrecklich, dass in ihren Augen Angsttränen pieksten.
Aber auch ein Tunnel unter der Straße, durch den sie rasch nach Hause käme.
»Okay, Toby Redstone«, sagte sie laut. »Wenn du nachher zu Hause bist und ich ganz umsonst hier durchgegangen bin, dann stecke ich dein blödes Äffchen in die Waschmaschine und du musst eine Woche lang dein Müsli ohne Zucker essen!«
Dadurch wurde die Unterführung zwar nicht weniger bedrohlich, aber der entschiedene Ton ihrer Stimme bewirkte, dass ihr nichtmehr so übel war. Sie ballte die Fäuste und betrat den Tunnel.
Es war so schlimm, wie sie gedacht hatte.
Drinnen war es nämlich viel dunkler und stank viel schlimmer, als sie sich hatte vorstellen können - ein tierischer Geruch, fast wie im Zoo. Und der Tunnel wirkte endlos, aber bestimmt kam ihr das nur so vor, weil sie solche Angst hatte. Das Echo ließ ihre Tritte widerhallen, als würden ihr Schritte folgen.
Ein paar Meter weiter machte die Unterführung einen scharfen Knick nach rechts, wodurch die nackte Betonwand wie eine Sackgasse wirkte. Man konnte nie wissen, was einen hinter der Kurve erwartete. Die meisten Leute störte das nicht, aber Nin störte es gewaltig, denn hinter dieser Kurve war ihr Vater gestorben.
Was ihm passiert war, war so mysteriös, dass es wahrscheinlich nie wieder jemandem passieren würde. Das wusste Nin. Deshalb war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr dasselbe widerfuhr, äußerst gering.
Sie wusste, nach der Kurve ging der Tunnel noch ein kleines Stück weiter, und dann führten einige Stufen hoch zur Straße. Nur in ihrer Phantasie wirkte die Strecke so besonders lang und besonders dunkel. Fast alles - wie zum Beispiel ein wilder Stier - konnte dort lauern.
Heute war da nur ein Junge, der aussah wie ein verwahrloster Penner, in einemzerlumpten schwarzen Mantel und einem löchrigen roten Schal. Er war ein paar Jahre älter als Nin, und sie hatte ihn in der letzten Zeit öfter in der Stadt herumlungern sehen. Sie lief an ihm vorbei und wich ganz bewusst seinem Blick aus.
Endlich erreichte sie die Treppe und dann stand sie auf der anderen Straßenseite. Ihre Lebensgeister erwachten erneut, und sie lief den Dunforth Hill so schnell hinauf wie sie konnte.
Das war nicht leicht. Der Dunforth Hill war schrecklich steil. Aber wenn man erstmal oben war, bot sich einemein unglaublicher Ausblick. Der Nachmittag war hell und sonnig, und wenn Nin in der Stimmung gewesen wäre, um die Aussicht zu genießen, hätte sie über eine Patchworkdecke aus Feldern und das glitzernde Flussband bis hin nach Midtown schauen können.
Jetzt tauchte das Haus vor ihr auf, im Schatten der großen Weihnachtstanne, die ihr Vater gepflanzt hatte, als Nin fünf gewesen war. Seither war die Tanne unglaublich hoch gewachsen. Alles wirkte ganz normal und friedlich. Für kurze Zeit hätte Nin fast vergessen, dass etwas nicht stimmte.
Sie schloss die Tür auf und stand ängstlich lauschend im Flur. Normalerweise wäre ihre Mutter mit Toby zu Hause gewesen. Heute war alles still. Sie waren bloß noch unterwegs, redete sie sich ein. Und dann rutschte ihr das Herz in die Hose, als die Wahrheit sie traf wie ein herabfallender Ziegelstein.
Ihre Mutter war nicht da, weil sie noch arbeitete. Und sie arbeitete noch, weil sie Toby nicht aus der Kita abholen musste. Und sie musste Toby nicht abholen, weil es Toby nicht mehr gab.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nin hatte Dienstage noch nie leiden können, aber dieser Dienstag hier war echt das Letzte. Als sie aufwachte, schüttete es wie aus Kübeln, und ihr kleiner Bruder war...verschwunden.
Das Erste, was sie traf, war der Regen. Weil sie gestern Abend vergessen hatte, das Fenster zuzumachen, platschten ihr dicke Tropfen direkt ins Gesicht. Nicht die schönste Art aufzuwachen.
Mit einem Schrei fuhr Nin hoch und starrte das Fenster an. Dann stand sie auf und mühte sich mit den klatschnassen Gardinen und dem Fensterriegel ab, der sich nicht bewegen lassen wollte. Es dauerte Ewigkeiten, bis sie das Fenster zuknallen konnte, damit das Gewitter draußen blieb, wo es hingehörte.
Sie wischte sich mit dem Schlafanzugärmel über das nasse Gesicht und spähte zu den grauen Wolken hoch, oder zumindest auf das, was sie von ihnen durch die am Fenster herabströmenden Sturzbäche sehen konnte.
»Toll!«, knurrte Nin. »Einfach super. Bestimmt ist heute Dienstag.«
Sie sah auf ihrer großen lila Uhr, dass sie noch eine knappe halbe Stunde Zeit hatte, und ließ sich ins Bett zurückfallen.
Und dann fiel ihr noch etwas auf. Eigentlich hätte Toby schon wach sein müssen. Ihr Bruder war immer als Erster auf den Beinen, obwohl er nicht so früh wie Nin in der Schule sein musste. Jeden Morgen hörte sie ihn zum Bad tapsen und dann wieder zurück in sein Zimmer, wo er sich mit seinem jeweiligen Lieblingsspielzeug beschäftigte.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte böse auf die Uhr. Egal. Anscheinend schlief er heute länger. Nin seufzte und spielte in Gedanken noch einmal den Vorfall mit den Säcken im Keller durch.
Als sie gestern Abend in der Abendsonne gesessen und in ihrem Lieblingsbuch gelesen hatte, war Toby in der Tür vom Wintergarten aufgetaucht, wie immer mit seinem abgegrabbelten Äffchen unterm Arm. Er blieb dort eine Weile stehen, bevor er sich herein traute und sich neben ihren Sessel stellte.
»Da ist was im Keller«, sagte er.
Nin stöhnte und sah von ihrem Buch auf. »Was?«
»Im Keller«, flüsterte Toby. »Was Grüseliches.«
»Es heißt gruselig, nicht grüselich«, blaffte Nin ihn an. »Grüselich ist Babysprache.«
Das war gemein, aber Toby nervte sie, und deshalb meckerte sie ihn an.
Toby stand einfach da und schaute sie an wie immer, wenn sie etwas für ihn machen sollte.
»Sag es Mama.« Nin blätterte die Seite um. Sie war gerade an einer guten Stelle, wo die Heldin den Weg in eine Parallelwelt entdeckte.
Toby sah sie immer noch an. Er hatte blonde Haare und seine Augen waren sehr blau, fast violett. Nin dagegen hatte ganz gewöhnliche braune Haare und gewöhnliche blaue Augen. Und sie war jetzt total genervt.
»Hör mal, ich lese, klar? Erzähl es Mama.«
»Sie ist einkaufen gegangen.«
Montags ging ihre Mutter immer einkaufen.
Nin verdrehte die Augen.
»Dann erzähl es Oma. Oder Opa.«
»Oma ist im Garten und Opa ...«, er hielt kurz inne, »...schläft.«
Damit meinte er, dass er sich ein wenig vor dem Großvater fürchtete.
Nin ließ ihr Buch auf den Tisch fallen und stand auf.
»Na gut!«, sagte sie wütend. »Aber wehe, wenn es irgendein Minischeiß ist.«
Es war welcher.
Im Keller stand nur ein alter Tisch, auf dem verstaubtes Werkzeug lag. Außerdem die Weinsammlung ihres Opas, ein paar verbeulte Farbdosen und ein paar alte Säcke, die unordentlich verknäult in der Ecke lagen.
»Und wo ist nun das grüseliche Ding?«, funkelte Nin Toby an.
Sie steigerte sich gerade in eine miese Laune rein. Die Sorte Laune, die ihre Oma übel nannte und bei der ihre Mutter aufgeblähter Miesmolch zu ihr sagte.
Toby zeigte auf die Säcke.
Nin seufzte.
»Das sind Säcke, du Blödi. Bloß leere, dreckige, alte Säcke. «
Aber seltsamerweise hatte sie nicht die geringste Lust, in die dunkle Ecke zu gehen und die alten Säcke auszuschütteln, um Toby zu zeigen, wie leer sie waren.
»Na, los«, sagte sie. »Geh wieder rauf und nerv mich nicht mehr.«
Und damit war die Säckeschau beendet.
Der Regen strömte immer noch an der Scheibe herab, und Nin lag im Bett und seufzte. Vielleicht hatte Toby heute Nacht Albträume gehabt. Oder er hatte aus lauter Angst vor dem Kinderschreck nicht einschlafen können. Oder sonst was. Plötzlich hatte sie wegen der blöden Säcke im Keller ein schlechtes Gewissen. Na toll.
»Ich hätte netter zu ihm sein sollen«, stöhnte Nin laut auf. »Ich hätte die gammeligen Säcke wegschmeißen und im Keller herumgehen sollen, um ihm zu zeigen, dass da nichts ist.«
Sie stand auf, zog den hässlichen grünen Bademantel an und patschte auf nackten Füßen in die Diele. Tobys Zimmer war am anderen Ende des Flurs, hinter der Abstellkammer, wo Papas alter Krempel aufbewahrt wurde. Sie öffnete die Zimmertür so leise sie konnte.
Ungläubig starrte sie hinein. Das Zimmer war aufgeräumt! Eigentlich war es mehr als aufgeräumt: Es war fast leer.
Verdutzt betrachtete sie den leeren Fußboden, auf dem keine Spielsachen und alte Socken herumlagen. Auf der Kommode fehlten Tobys riesige Panda-Uhr, sein Zeichenblock und die Malstifte und die vielen Bilderbücher, die sonst dort lagen. Dann sah sie zum Bett hinüber.
Es war leer.
Schlimmer - es sah aus, als hätte gar niemand darin geschlafen. Die Bettdecke lag ordentlich gefaltet auf dem glattgezogenen Laken, und die Kissen waren aufgeschüttelt.
Nin zog die Brauen zusammen.
Die Bettdecke war nicht mehr mit Tobys Spiderman-Bettwäsche bezogen.
Sie rannte zum Schrank und riss die Tür auf. Wie erwartet hingen darin Kleidungsstücke. Aber es waren die alten Sakkos ihres Großvaters, und die hatte sie nicht erwartet.
Ihr wurde ganz flau im Magen, und mit einem Mal hatte sie überall Gänsehaut. Dann holte sie tief Luft. Nin blickte sich um und machte sich darauf gefasst, dass Toby kichernd in der Ecke stand.
Doch da war niemand.
Sie stieß die Schranktür zu und lief nach unten.
Nin ging sonst nie vor dem Frühstück runter. Normalerweise kam sie erst in die Küche, wenn ihre Mutter den Toast in den Toaster steckte. Dann war die Küche warm und roch nach...na ja, nach Toast.
Heute war alles anders. Aber es war ja auch Dienstag. Lena war noch nicht aufgestanden. Nin stand oben an der Treppe und sah hinunter in die Dunkelheit. Sie wusste, dass Toby nicht im Wohnzimmer war, weil die Wohnzimmertür offenstand und dahinter noch mehr Dunkelheit lauerte.
Sie drückte auf den Lichtschalter, und die Diele wurde von Helligkeit durchflutet. Dann sauste Nin nach unten und achtete darauf, dass sie nicht in den dunklen Winkel unter der Treppe schaute.
Als Nin damals so alt wie Toby war, hatte sie immer geglaubt, dass unter der Treppe irgendetwas lauerte und sich unter den Mänteln versteckte. Die Garderobe war genau der Ort, an dem irgendetwas lauern würde. Wegen der Dunkelheit, die dort selbst dann noch herrschte, wenn man bereits Licht angemacht hatte.
Sie hatte lange nicht mehr an das Irgendetwas gedacht, aber heute Morgen war alles irgendwie anders als sonst, und die Erinnerung daran überfiel sie so heftig, dass ihre Haut kribbelte. Sie stürmte in die Küche.
Im dämmrigen Morgenlicht konnte Nin gerade eben die Umrisse des Toasters und des Wasserkessels auf dem Herd erkennen und die glatten Oberflächen der Küchenschränke.
Kein Toby. »Du bist früh auf.« Lena stand hinter Nin in der Türöffnung und knipste das Licht an.
Nin war zusammengezuckt und fuhr herum.
»Du auch.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die verwuschelten Haare. Sie war noch nicht angezogen.
»Ich hab schlecht geschlafen.« Sie seufzte. »Und du?«
»Der Regen hat mich aufgeweckt«, sagte Nin, und das stimmte ja auch.
Lena ging zur Arbeitsfläche.
»Wenn wir nun schon mal hier sind, könnte ich ja auch Frühstück machen, hm?«
Ohne eine Antwort abzuwarten füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd, dann steckte sie vier Scheiben Toast in den Toaster und ging zum Schrank, um die Teebeutel zu holen. Nin blickte über die Schulter ihrer Mutter und stellte fest, dass auch die große Schachtel mit Tobys Lieblingsmüsli verschwunden war.
»Mama, ist mit Toby alles in Ordnung?«, fragte sie ängstlich.
Dienstage waren immer schlimm, aber der hier entwickelte sich nachgerade zum allerschlimmsten Tag, den es jemals gegeben hatte.
»Mit wem?«, fragte Lena.
Nins Mutter stritt ab, dass Nin jemals einen Bruder gehabt hatte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass das Wasser kochte.
»Du weißt doch«, versuchte Nin zu scherzen. Sie wünschte sich, ihr Magen würde endlich mit diesen Purzelbäumen aufhören. »Toby. Mein Bruder. Ungefähr so groß.«
Ihr war, als wäre sie fälschlicherweise in das Leben eines anderen Menschen gerutscht. Lena lachte.
»Ich könnte ja wohl kaum noch mehr Kinder versorgen. Ich hab mit dir schon genug zu tun! Und falls du es noch nicht gemerkt hast: Ich habe noch nicht wieder geheiratet. Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass ich mich mehr um mein Privatleben kümmern sollte?«
Nin wand sich innerlich. Ihr Vater hatte vor drei Jahren einen tödlichen Unfall in einer Unterführung gehabt. Die Erinnerung daran tat immer noch weh.
»Nein, Mama«, sagte sie voller Mitgefühl. »Ich wollte nur...«
Doch dann pfiff der Wasserkessel los, und das Geräusch unterbrach den Augenblick.
Lena stand auf, um den Tee aufzubrühen, und da sprangen auch schon die Toastscheiben hoch. Nin holte schnell die Orangenmarmelade und gab sich große Mühe beim Buttern der Toastscheiben, damit Lena vergaß, worüber sie gerade geredet hatten.
Als Nin gewaschen und angezogen war, war Toby immer noch nicht erschienen. Doch Nin wartete unbeirrt darauf, dass er endlich aus einem Versteck auftauchte und sich so benahm, als wäre nichts passiert. Schließlich konnten vierjährige Brüder nicht einfach verschwinden!
Im Unterricht musste Nin ständig an Toby denken und passte deshalb in Englisch nicht auf, obwohl das eigentlich ihr Lieblingsfach war. In Erdkunde wurde sie zweimal wegen Unaufmerksamkeit getadelt.
Nin begriff einfach nicht, was geschehen sein konnte. Erst hatte sie noch gedacht, Toby wäre oben im zweiten Stock in der Wohnung von Oma und Opa Covey, aber dann wäre er rechtzeitig zum Frühstück aufgetaucht. Er konnte auch nicht bei Oma Redstone sein, die in Sandybay am Meer wohnte. Toby blieb nie allein bei Oma Redstone. Außerdem hätte ihre Mutter dann gesagt: »Er ist doch bei Oma, Schatz, hast du das vergessen?«, statt sich zu wundern, von wem Nin redete. Und außerdem würde das auch nicht erklären, warum alle seine Sachen verschwunden waren. Sogar sein Müsli!
Bestimmt hat ihn der Kinderschreck geholt, dachte sie und lachte über diesen albernen Gedanken.
Es war ein grimmiges Lachen.
Im Laufe des Vormittags hörte es endlich auf zu regnen, und in der Pause zog LinetteNin in eine ruhige Ecke vom Schulhof.
Linette maulte wegen ihrem Vater, weil er ihr neuerdings jeden Spaß vermiesen würde. Sie erzählte, dass er sie eine Woche lang gezwungen hatte, Kartoffeln zu essen, weil sie ihr Geld nicht für das Schulessen, sondern für Chips ausgegeben hatte.
Doch Nin unterbrach sie.
»Das ist doch so was von egal«, sagte sie ungeduldig.
»Heute Morgen ist was total Verrücktes passiert.«
Linette sah sie wütend an.
»Hör mal!«, fauchte sie. »Ich war gerade am Erzählen!«
»Aber es ist wichtig«, beharrte Nin.
»Ach ja? Und dass ich mich zu Tode hungere ist nicht wichtig?«
Nin schüttelte den Kopf. »Jetzt hör mir doch mal zu! Toby ist verschwunden!«
Linette starrte Nin an, als ob sie verrückt geworden wäre.
Eine lange Pause entstand.
Und dann geschah es wieder.
»Wer?«, zischte Linette. »Von wem redest du da eigentlich? Kenne ich den?«
»Ja!«, jaulte Nin. »Das ist mein Bruder!«
Linette gab ein ungeduldiges Schnauben von sich.
»Also ehrlich, Ninevah Redstone«, schleuderte sie zurück, während sie davonstapfte, »manchmal glaube ich, du hast eine Totalmeise.«
Irgendwie schaffte Nin es durch den Nachmittag. Als schließlich die Schulglocke das Ende des Unterrichts verkündete, schnappte sie sich ihren Rucksack und rannte los. Aus dem Schulgebäude raus und vorbei an der Bushaltestelle. Immer weiter. Sie konnte jetzt nicht mit den anderen abhängen, sie wollte nur noch nach Hause. Und der kürzeste Weg nach Hause führte zu Fuß durch den Park und durch die Unterführung, das wusste sie.
Normalerweise hätte Nin die Unterführung gemieden wie die Pest. Aber heute würde sie das Risiko eingehen.
Jemand brüllte ihr etwas zu, als sie am Parkeingang durch eine Gruppe von älteren Schülern rannte, aber sie hörte gar nicht hin. Sie lief durch den Park, über die Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer, an den Enten und am Café Wacholder vorbei und um die Blumenrabatten herum.
Dann kam die Unterführung.
Sie ragte wie ein großes schwarzes Loch vor ihr auf, als wollte sie sie verschlingen. Urplötzlich blieb sie stehen und wäre fast gestürzt. Einen Augenblick lang befürchtete sie, sie müsste sich in die Geranien übergeben.
In tiefen Atemzügen sog sie frische Luft ein und betrachtete den Tunneleingang.
Ein tiefes, dunkles Loch, das grauenvolle Gespenster verbarg, so schrecklich, dass in ihren Augen Angsttränen pieksten.
Aber auch ein Tunnel unter der Straße, durch den sie rasch nach Hause käme.
»Okay, Toby Redstone«, sagte sie laut. »Wenn du nachher zu Hause bist und ich ganz umsonst hier durchgegangen bin, dann stecke ich dein blödes Äffchen in die Waschmaschine und du musst eine Woche lang dein Müsli ohne Zucker essen!«
Dadurch wurde die Unterführung zwar nicht weniger bedrohlich, aber der entschiedene Ton ihrer Stimme bewirkte, dass ihr nichtmehr so übel war. Sie ballte die Fäuste und betrat den Tunnel.
Es war so schlimm, wie sie gedacht hatte.
Drinnen war es nämlich viel dunkler und stank viel schlimmer, als sie sich hatte vorstellen können - ein tierischer Geruch, fast wie im Zoo. Und der Tunnel wirkte endlos, aber bestimmt kam ihr das nur so vor, weil sie solche Angst hatte. Das Echo ließ ihre Tritte widerhallen, als würden ihr Schritte folgen.
Ein paar Meter weiter machte die Unterführung einen scharfen Knick nach rechts, wodurch die nackte Betonwand wie eine Sackgasse wirkte. Man konnte nie wissen, was einen hinter der Kurve erwartete. Die meisten Leute störte das nicht, aber Nin störte es gewaltig, denn hinter dieser Kurve war ihr Vater gestorben.
Was ihm passiert war, war so mysteriös, dass es wahrscheinlich nie wieder jemandem passieren würde. Das wusste Nin. Deshalb war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr dasselbe widerfuhr, äußerst gering.
Sie wusste, nach der Kurve ging der Tunnel noch ein kleines Stück weiter, und dann führten einige Stufen hoch zur Straße. Nur in ihrer Phantasie wirkte die Strecke so besonders lang und besonders dunkel. Fast alles - wie zum Beispiel ein wilder Stier - konnte dort lauern.
Heute war da nur ein Junge, der aussah wie ein verwahrloster Penner, in einemzerlumpten schwarzen Mantel und einem löchrigen roten Schal. Er war ein paar Jahre älter als Nin, und sie hatte ihn in der letzten Zeit öfter in der Stadt herumlungern sehen. Sie lief an ihm vorbei und wich ganz bewusst seinem Blick aus.
Endlich erreichte sie die Treppe und dann stand sie auf der anderen Straßenseite. Ihre Lebensgeister erwachten erneut, und sie lief den Dunforth Hill so schnell hinauf wie sie konnte.
Das war nicht leicht. Der Dunforth Hill war schrecklich steil. Aber wenn man erstmal oben war, bot sich einemein unglaublicher Ausblick. Der Nachmittag war hell und sonnig, und wenn Nin in der Stimmung gewesen wäre, um die Aussicht zu genießen, hätte sie über eine Patchworkdecke aus Feldern und das glitzernde Flussband bis hin nach Midtown schauen können.
Jetzt tauchte das Haus vor ihr auf, im Schatten der großen Weihnachtstanne, die ihr Vater gepflanzt hatte, als Nin fünf gewesen war. Seither war die Tanne unglaublich hoch gewachsen. Alles wirkte ganz normal und friedlich. Für kurze Zeit hätte Nin fast vergessen, dass etwas nicht stimmte.
Sie schloss die Tür auf und stand ängstlich lauschend im Flur. Normalerweise wäre ihre Mutter mit Toby zu Hause gewesen. Heute war alles still. Sie waren bloß noch unterwegs, redete sie sich ein. Und dann rutschte ihr das Herz in die Hose, als die Wahrheit sie traf wie ein herabfallender Ziegelstein.
Ihre Mutter war nicht da, weil sie noch arbeitete. Und sie arbeitete noch, weil sie Toby nicht aus der Kita abholen musste. Und sie musste Toby nicht abholen, weil es Toby nicht mehr gab.
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Autoren-Porträt von Caro King
Caro King hat Kunst studiert und danach in den unterschiedlichsten Berufen gearbeitet. Während einer verregneten Mittagspause dachte sie sich das Reich der Drift aus und mit der Landschaft kamen die Figuren wie zum Beispiel Skerritsch dazu. Caro King lebt in London.Nina Schindler war viele Jahre Lehrerin, Literaturkritikerin, Übersetzerin und arbeitete für Zeitschriften und Rundfunk, bevor sie begann, selbst erfolgreich Bücher zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Caro King
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2013, 448 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schindler, Nina; Illustration: Basic, Zdenko
- Übersetzer: Nina Schindler
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596809533
- ISBN-13: 9783596809530
Rezension zu „Sieben Magier “
Ein spannendes, gut geschriebene Buch bis zum Schluss - auch wenn man abends nun vielleicht öfter unteres Bett schaut. Augsburger Allgemeine 20110820
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