Sieben verdammt lange Tage
Ein großartiger, lustiger und berührender Roman über eine Familie, die in sieben langen Tagen... ach, lesen Sie selbst!
Ein anderer Name für lautes Chaos? Ein Familientreffen bei den Foxmans. Wenn Judd und seine...
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Produktinformationen zu „Sieben verdammt lange Tage “
Ein großartiger, lustiger und berührender Roman über eine Familie, die in sieben langen Tagen... ach, lesen Sie selbst!
Ein anderer Name für lautes Chaos? Ein Familientreffen bei den Foxmans. Wenn Judd und seine Geschwister die Eltern besuchen, dann kracht es immer. Doch nun ist der Vater der Foxmans gestorben. Und er hatte einen verhängnisvollen letzten Wunsch: Seine Familie soll die Schiwa sitzen. Das bedeutet, sieben Tage lang die Totenwache halten. Alle zusammen. Alle in einem Raum. Für die Foxmans heißt das: Nicht weglaufen können voreinander. Sieben lange Tage lang.
Lese-Probe zu „Sieben verdammt lange Tage “
Sieben verdammt lange Tage von Jonathan Tropper1
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Dad ist tot«, bemerkt Wendy leichthin, als käme das öfter vor, oder tagtäglich. Es kann ganz schön nerven, dass sie immer so cool tut und selbst angesichts einer
solchen Tragödie die Unerschütterliche spielt. »Er ist vor zwei Stunden gestorben.«
»Wie geht es Mom?«
»Du weißt doch, wie Mom ist. Ihre größte Sorge war, wie viel Trinkgeld sie dem Leichenbeschauer geben soll.«
Ich muss lächeln, auch wenn ich mich wie immer über die für meine Familie so typische Unfähigkeit aufrege, in Krisensituationen Gefühle zu zeigen. Jeden Anlass, der eigentlich nach aufrichtig zum Ausdruck gebrachten Emotionen verlangt, schmälern oder pervertieren wir Foxmans umgehend durch unsere hauseigene, genmanipulierte Mischung aus ironischen und ausweichenden Kommentaren. Wir kämpfen uns durch Geburtstage, Feiertage, Hochzeiten und Krankheiten, indem wir uns gegenseitig aufziehen, auslachen oder beleidigen. Jetzt ist Dad tot, und Wendy redet dumm daher. Geschieht ihm recht, schließlich war er, wenn es ums Unterdrücken von Gefühlen ging, immer an vorderster Front dabei, sozusagen als Vorreiter.
»Es kommt noch besser«, erklärt Wendy.
»Besser? Lieber Himmel, Wendy, weißt du eigentlich, was du da sagst?«
»Du hast recht, das ist jetzt falsch rübergekommen.« »Ach, wirklich?«
»Er hat sich von uns gewünscht, dass wir für ihn Totenwache halten.«
»Wer?«
»Über wen sprechen wir gerade? Dad! Er wollte, dass wir für ihn Schiwa sitzen.«
»Dad ist tot.«
Wendy seufzt, als fände sie es extrem ermüdend, sich durch den dichten Dschungel meiner Dummheit kämpfen zu müssen. »Ja, und wie es aussieht, ist das der optimale Zeitpunkt für eine Totenwache.«
»Aber Dad ist doch Atheist.«
»Dad war Atheist.«
»Soll das heißen, er hat kurz vor seinem Tod noch zu Gott gefunden?«
»Nein, das soll heißen, dass er tot ist und du deine Verben im richtigen Tempus verwenden sollst.«
Wenn wir wie zwei herzlose Arschlöcher klingen, dann deswegen, weil wir so erzogen wurden. Zu unserer Ehrenrettung sei allerdings angemerkt, dass wir bereits seit geraumer Zeit um ihn trauern - mehr oder weniger, seit vor anderthalb Jahren die Krankheit bei ihm diagnostiziert wurde. Obwohl er schon länger unter Magenproblemen litt, hatte er die Bitten meiner Mutter, doch zum Arzt zu gehen, stets mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und es stattdessen vorgezogen, einfach die Dosis der Antazida zu erhöhen, die er bereits seit Jahren nahm. Er warf sich die magensäurebindenden Tabletten ein wie Bonbons, wobei er auf Schritt und Tritte kleine Fetzen Alufolie fallen ließ, so dass unsere Teppiche wie feuchter Asphalt glänzten. Dann verfärbte sich sein Stuhlgang plötzlich rot.
»Dein Vater fühlt sich nicht ganz wohl«, untertrieb meine Mutter am Telefon.
»Meine Kacke blutet«, jammerte er irgendwo im Hintergrund. In den fünfzehn Jahren seit meinem Auszug ist mein Vater kein einziges Mal selbst ans Telefon gekommen. Immer hatten wir Mom an der Strippe, und Dad machte im Hintergrund schräge Bemerkungen, wenn ihm danach war. Genauso verhielten sie sich, wenn man ihnen leibhaftig gegenüberstand. Mom beanspruchte für sich stets das Rampenlicht. Ihr Ehemann musste sich mit einem Platz im Chor begnügen.
Auf der Computertomographie-Aufnahme sah man die Tumore an der Schleimhaut seines Zwölffingerdarms fast wie Blüten sprießen. Als weiteres Beispiel für Dads ohnehin schon legendären Stoizismus kam nun also hinzu, dass er Magenkrebs, der bereits Metastasen bildete, ein Jahr lang mit Antazida behandelt hatte. Es folgten die üblichen Operationen, die Bestrahlung und dann die Rosenkranz-Runden der Chemo, welche die Tumore zum Schrumpfen bringen sollten, in Wirklichkeit aber bloß ihn selbst schrumpfen ließen, bis seine einst breiten Schultern nur noch knochige Knubbel waren, die unter den Falten seiner schlaffen Haut verschwanden. Der nächste Schritt war das Verkümmern der Muskeln und Sehnen und dann der traurige, bröckelnde Abstieg in die Extremschmerztherapie, die darin gipfelte, dass er in ein Koma fiel, aus welchem er, wie wir alle wussten, nicht mehr erwachen würde. Warum sollte er auch? Warum aufwachen, wenn einen nur noch der schmerzhafte, scheußliche Schlamassel von Magenkrebs im Endstadium erwartet? Er brauchte vier Monate, um zu sterben - drei Monate länger, als die Onkologen prophezeit hatten. »Ihr Dad ist ein Kämpfer«, erklärten sie, wenn wir ihn besuchten. Was absoluter Schwachsinn war, denn die Krankheit hatte ihn bereits klar geschlagen. Falls er überhaupt noch etwas mitbekam, dann war er bestimmt ziemlich sauer darüber, wie lange er für etwas so Einfaches wie das Sterben brauchte.
Dad glaubte nicht an Gott, folgte aber sein Leben lang dem Credo »Scheiß oder gib die Schüssel frei!«
Sein eigentlicher Tod war also kein großes Ereignis, sondern eher ein letztes trauriges Detail.
»Die Beerdigung ist morgen früh«, erklärt Wendy. »Ich fliege heute Abend mit den Kindern. Barry hat einen Geschäftstermin in San Francisco. Er wird den Nachtflug nehmen.«
Wendys Ehemann Barry arbeitet als Portfolio-Manager für einen großen Hedgefonds. Soweit ich es beurteilen kann, wird er dafür bezahlt, dass er mit Privatjets durch die Welt gondelt und beim Golf gegen andere, noch reichere Männer verliert, die unter Umständen das Geld seines Fonds gebrauchen könnten. Ein paar Jahre zuvor hat man ihn nach L.A. versetzt, was eine völlig widersinnige Aktion war, da er sowieso ständig auf Reisen ist und Wendy bestimmt lieber wieder an der Ostküste leben würde, wo sie mit ihren Knöchelproblemen und den Stimmungsschwankungen nach ihren Schwangerschaften besser zurechtkommt. Wenigstens wird sie für ihre Unannehmlichkeiten sehr gut entschädigt.
»Du bringst die Kids mit?«
»Anders wäre es mir lieber, das darfst du mir glauben. Aber sieben Tage sind einfach zu lang, um sie mit dem Kindermädchen allein zu lassen.«
Die Kids sind der sechsjährige Ryan und der dreijährige Cole, zwei flachsköpfige, pausbäckige Jungs, die mit ihrem Temperament bisher noch jeden Raum innerhalb von zwei Minuten verwüstet haben, sowie Serena, Wendys sieben Monate alte Tochter.
»Sieben Tage?«
»So lange dauert eine jüdische Totenwache nun mal.« »Wir werden das doch nicht wirklich durchziehen, oder?«
»Es war sein letzter Wunsch«, antwortet Wendy. In diesem einen kurzen Moment bilde ich mir ein, den brennenden Schmerz ganz weit hinten in ihrem Hals hören zu können. »Und Paul macht da mit?«
»Von ihm habe ich es überhaupt erst erfahren.«
»Was hat er gesagt?«
»Dad will, dass wir Schiwa für ihn sitzen.«
Paul ist mein Bruder und nur sechzehn Monate älter als ich. Mom hat immer darauf beharrt, dass ich kein Unfall war. Angeblich ist sie mit voller Absicht nur sieben Monate nach Pauls Geburt wieder schwanger geworden, aber das habe ich ihr nie so ganz abgenommen - erst recht nicht mehr, nachdem mein Vater, als er eines Freitagabends nach dem Essen besonders viel Pfirsichschnaps erwischt hatte, in feierlichem Ton einräumte, dass sie damals der Meinung waren, Mom könne während der Stillphase nicht wieder schwanger werden. Was Paul und mich betrifft, kommen wir gut miteinander aus, solange wir keine Zeit miteinander verbringen.
»Hat schon jemand mit Phillip gesprochen?«, frage ich.
»Ich habe sämtliche neueren Nummern angerufen, die wir von ihm haben, und überall eine Nachricht hinterlassen. Sollte er wider Erwarten eine davon abhören, und vorausgesetzt, er ist nicht gerade im Knast oder zugekifft oder liegt tot im Straßengraben, dann haben wir allen Grund zu der Annahme, dass er mit einer gewissen, wenn auch geringen Wahrscheinlichkeit auftauchen wird.«
Phillip, unser jüngster Bruder, ist neun Jahre nach mir zur Welt gekommen. Schwer zu sagen, welche fortpflanzungstechnische Logik meine Eltern damit verfolgten. Erst Wendy, Paul und ich, alle innerhalb von vier Jahren, und dann fast ein Jahrzehnt später Phillip, nachträglich draufgeklatscht wie ein peinlicher Anhang. Phillip ist der Paul McCartney unserer Familie: Er sieht besser aus als der Rest von uns, blickt auf Fotos immer in eine andere Richtung, und hin und wieder geht das Gerücht, er sei gestorben. Als Nesthäkchen der Familie wurde er abwechselnd verhätschelt und ignoriert - vielleicht ein entscheidender Faktor dafür, dass er sich zu einem letztendlich so verkorksten Erwachsenen entwickelt hat. Im Moment lebt er in Manhattan, wo man ziemlich früh aufstehen müsste, um eine Droge zu finden, mit der er noch nicht herumexperimentiert hat, oder auf ein Model zu treffen, das er noch nicht gevögelt hat. Er verschwindet jeweils für mehrere Monate vom Radar, um dann eines Tages unangekündigt zum Abendessen zu erscheinen und ganz nebenbei - oder auch nicht - zu erwähnen, dass er im Gefängnis war, oder in Tibet, oder soeben mit einer schauspielenden Beinahe-Berühmtheit Schluss gemacht hat. Mittlerweile ist es über ein Jahr her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
»Hoffentlich schafft er es«, sage ich, »denn wenn nicht, wird er am Boden zerstört sein.«
»Wenn wir schon gerade von missratenen kleinen Brüdern reden, wie steht's denn um deine eigene griechische Tragödie?«
Wendy kann in ihrer spitzzüngigen Taktlosigkeit recht witzig, ja fast charmant sein, aber dass es zwischen krass und grausam unter Umständen eine Grenze gibt, ist ihr definitiv noch nie aufgefallen. Normalerweise komme ich mit ihrer Art trotzdem gut klar, aber nach den letzten paar Monaten fühle ich mich völlig fertig, und mein Schutzpanzer liegt in Schutt und Asche.
»Ich muss jetzt aufhören«, sage ich und bemühe mich dabei nach Kräften, nicht so zu klingen, als bräche um mich herum immer noch alles zusammen.
»Lieber Himmel, Judd. Ich wollte damit doch nur andeuten, dass ich mir Sorgen um dich mache.«
»Ja, bestimmt.«
»Deswegen brauchst du nicht gleich so passiv aggressiv zu reagieren. Das reicht mir schon von Barry.«
»Wir sehen uns dann zu Hause.«
»Na schön, wenn du meinst«, antwortet sie angenervt. »Bis dann.«
Ich warte darauf, dass sie auflegt.
»Bist du noch da?«, fragt sie schließlich.
»Nein.« Ich lege auf und stelle mir vor, wie sie ihr Telefon in die Ecke wirft, während Schimpfwörter wie Maschinengewehrsalven von ihren Lippen spritzen.
Übersetzung: Birgit Moosmüller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dad ist tot«, bemerkt Wendy leichthin, als käme das öfter vor, oder tagtäglich. Es kann ganz schön nerven, dass sie immer so cool tut und selbst angesichts einer
solchen Tragödie die Unerschütterliche spielt. »Er ist vor zwei Stunden gestorben.«
»Wie geht es Mom?«
»Du weißt doch, wie Mom ist. Ihre größte Sorge war, wie viel Trinkgeld sie dem Leichenbeschauer geben soll.«
Ich muss lächeln, auch wenn ich mich wie immer über die für meine Familie so typische Unfähigkeit aufrege, in Krisensituationen Gefühle zu zeigen. Jeden Anlass, der eigentlich nach aufrichtig zum Ausdruck gebrachten Emotionen verlangt, schmälern oder pervertieren wir Foxmans umgehend durch unsere hauseigene, genmanipulierte Mischung aus ironischen und ausweichenden Kommentaren. Wir kämpfen uns durch Geburtstage, Feiertage, Hochzeiten und Krankheiten, indem wir uns gegenseitig aufziehen, auslachen oder beleidigen. Jetzt ist Dad tot, und Wendy redet dumm daher. Geschieht ihm recht, schließlich war er, wenn es ums Unterdrücken von Gefühlen ging, immer an vorderster Front dabei, sozusagen als Vorreiter.
»Es kommt noch besser«, erklärt Wendy.
»Besser? Lieber Himmel, Wendy, weißt du eigentlich, was du da sagst?«
»Du hast recht, das ist jetzt falsch rübergekommen.« »Ach, wirklich?«
»Er hat sich von uns gewünscht, dass wir für ihn Totenwache halten.«
»Wer?«
»Über wen sprechen wir gerade? Dad! Er wollte, dass wir für ihn Schiwa sitzen.«
»Dad ist tot.«
Wendy seufzt, als fände sie es extrem ermüdend, sich durch den dichten Dschungel meiner Dummheit kämpfen zu müssen. »Ja, und wie es aussieht, ist das der optimale Zeitpunkt für eine Totenwache.«
»Aber Dad ist doch Atheist.«
»Dad war Atheist.«
»Soll das heißen, er hat kurz vor seinem Tod noch zu Gott gefunden?«
»Nein, das soll heißen, dass er tot ist und du deine Verben im richtigen Tempus verwenden sollst.«
Wenn wir wie zwei herzlose Arschlöcher klingen, dann deswegen, weil wir so erzogen wurden. Zu unserer Ehrenrettung sei allerdings angemerkt, dass wir bereits seit geraumer Zeit um ihn trauern - mehr oder weniger, seit vor anderthalb Jahren die Krankheit bei ihm diagnostiziert wurde. Obwohl er schon länger unter Magenproblemen litt, hatte er die Bitten meiner Mutter, doch zum Arzt zu gehen, stets mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und es stattdessen vorgezogen, einfach die Dosis der Antazida zu erhöhen, die er bereits seit Jahren nahm. Er warf sich die magensäurebindenden Tabletten ein wie Bonbons, wobei er auf Schritt und Tritte kleine Fetzen Alufolie fallen ließ, so dass unsere Teppiche wie feuchter Asphalt glänzten. Dann verfärbte sich sein Stuhlgang plötzlich rot.
»Dein Vater fühlt sich nicht ganz wohl«, untertrieb meine Mutter am Telefon.
»Meine Kacke blutet«, jammerte er irgendwo im Hintergrund. In den fünfzehn Jahren seit meinem Auszug ist mein Vater kein einziges Mal selbst ans Telefon gekommen. Immer hatten wir Mom an der Strippe, und Dad machte im Hintergrund schräge Bemerkungen, wenn ihm danach war. Genauso verhielten sie sich, wenn man ihnen leibhaftig gegenüberstand. Mom beanspruchte für sich stets das Rampenlicht. Ihr Ehemann musste sich mit einem Platz im Chor begnügen.
Auf der Computertomographie-Aufnahme sah man die Tumore an der Schleimhaut seines Zwölffingerdarms fast wie Blüten sprießen. Als weiteres Beispiel für Dads ohnehin schon legendären Stoizismus kam nun also hinzu, dass er Magenkrebs, der bereits Metastasen bildete, ein Jahr lang mit Antazida behandelt hatte. Es folgten die üblichen Operationen, die Bestrahlung und dann die Rosenkranz-Runden der Chemo, welche die Tumore zum Schrumpfen bringen sollten, in Wirklichkeit aber bloß ihn selbst schrumpfen ließen, bis seine einst breiten Schultern nur noch knochige Knubbel waren, die unter den Falten seiner schlaffen Haut verschwanden. Der nächste Schritt war das Verkümmern der Muskeln und Sehnen und dann der traurige, bröckelnde Abstieg in die Extremschmerztherapie, die darin gipfelte, dass er in ein Koma fiel, aus welchem er, wie wir alle wussten, nicht mehr erwachen würde. Warum sollte er auch? Warum aufwachen, wenn einen nur noch der schmerzhafte, scheußliche Schlamassel von Magenkrebs im Endstadium erwartet? Er brauchte vier Monate, um zu sterben - drei Monate länger, als die Onkologen prophezeit hatten. »Ihr Dad ist ein Kämpfer«, erklärten sie, wenn wir ihn besuchten. Was absoluter Schwachsinn war, denn die Krankheit hatte ihn bereits klar geschlagen. Falls er überhaupt noch etwas mitbekam, dann war er bestimmt ziemlich sauer darüber, wie lange er für etwas so Einfaches wie das Sterben brauchte.
Dad glaubte nicht an Gott, folgte aber sein Leben lang dem Credo »Scheiß oder gib die Schüssel frei!«
Sein eigentlicher Tod war also kein großes Ereignis, sondern eher ein letztes trauriges Detail.
»Die Beerdigung ist morgen früh«, erklärt Wendy. »Ich fliege heute Abend mit den Kindern. Barry hat einen Geschäftstermin in San Francisco. Er wird den Nachtflug nehmen.«
Wendys Ehemann Barry arbeitet als Portfolio-Manager für einen großen Hedgefonds. Soweit ich es beurteilen kann, wird er dafür bezahlt, dass er mit Privatjets durch die Welt gondelt und beim Golf gegen andere, noch reichere Männer verliert, die unter Umständen das Geld seines Fonds gebrauchen könnten. Ein paar Jahre zuvor hat man ihn nach L.A. versetzt, was eine völlig widersinnige Aktion war, da er sowieso ständig auf Reisen ist und Wendy bestimmt lieber wieder an der Ostküste leben würde, wo sie mit ihren Knöchelproblemen und den Stimmungsschwankungen nach ihren Schwangerschaften besser zurechtkommt. Wenigstens wird sie für ihre Unannehmlichkeiten sehr gut entschädigt.
»Du bringst die Kids mit?«
»Anders wäre es mir lieber, das darfst du mir glauben. Aber sieben Tage sind einfach zu lang, um sie mit dem Kindermädchen allein zu lassen.«
Die Kids sind der sechsjährige Ryan und der dreijährige Cole, zwei flachsköpfige, pausbäckige Jungs, die mit ihrem Temperament bisher noch jeden Raum innerhalb von zwei Minuten verwüstet haben, sowie Serena, Wendys sieben Monate alte Tochter.
»Sieben Tage?«
»So lange dauert eine jüdische Totenwache nun mal.« »Wir werden das doch nicht wirklich durchziehen, oder?«
»Es war sein letzter Wunsch«, antwortet Wendy. In diesem einen kurzen Moment bilde ich mir ein, den brennenden Schmerz ganz weit hinten in ihrem Hals hören zu können. »Und Paul macht da mit?«
»Von ihm habe ich es überhaupt erst erfahren.«
»Was hat er gesagt?«
»Dad will, dass wir Schiwa für ihn sitzen.«
Paul ist mein Bruder und nur sechzehn Monate älter als ich. Mom hat immer darauf beharrt, dass ich kein Unfall war. Angeblich ist sie mit voller Absicht nur sieben Monate nach Pauls Geburt wieder schwanger geworden, aber das habe ich ihr nie so ganz abgenommen - erst recht nicht mehr, nachdem mein Vater, als er eines Freitagabends nach dem Essen besonders viel Pfirsichschnaps erwischt hatte, in feierlichem Ton einräumte, dass sie damals der Meinung waren, Mom könne während der Stillphase nicht wieder schwanger werden. Was Paul und mich betrifft, kommen wir gut miteinander aus, solange wir keine Zeit miteinander verbringen.
»Hat schon jemand mit Phillip gesprochen?«, frage ich.
»Ich habe sämtliche neueren Nummern angerufen, die wir von ihm haben, und überall eine Nachricht hinterlassen. Sollte er wider Erwarten eine davon abhören, und vorausgesetzt, er ist nicht gerade im Knast oder zugekifft oder liegt tot im Straßengraben, dann haben wir allen Grund zu der Annahme, dass er mit einer gewissen, wenn auch geringen Wahrscheinlichkeit auftauchen wird.«
Phillip, unser jüngster Bruder, ist neun Jahre nach mir zur Welt gekommen. Schwer zu sagen, welche fortpflanzungstechnische Logik meine Eltern damit verfolgten. Erst Wendy, Paul und ich, alle innerhalb von vier Jahren, und dann fast ein Jahrzehnt später Phillip, nachträglich draufgeklatscht wie ein peinlicher Anhang. Phillip ist der Paul McCartney unserer Familie: Er sieht besser aus als der Rest von uns, blickt auf Fotos immer in eine andere Richtung, und hin und wieder geht das Gerücht, er sei gestorben. Als Nesthäkchen der Familie wurde er abwechselnd verhätschelt und ignoriert - vielleicht ein entscheidender Faktor dafür, dass er sich zu einem letztendlich so verkorksten Erwachsenen entwickelt hat. Im Moment lebt er in Manhattan, wo man ziemlich früh aufstehen müsste, um eine Droge zu finden, mit der er noch nicht herumexperimentiert hat, oder auf ein Model zu treffen, das er noch nicht gevögelt hat. Er verschwindet jeweils für mehrere Monate vom Radar, um dann eines Tages unangekündigt zum Abendessen zu erscheinen und ganz nebenbei - oder auch nicht - zu erwähnen, dass er im Gefängnis war, oder in Tibet, oder soeben mit einer schauspielenden Beinahe-Berühmtheit Schluss gemacht hat. Mittlerweile ist es über ein Jahr her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
»Hoffentlich schafft er es«, sage ich, »denn wenn nicht, wird er am Boden zerstört sein.«
»Wenn wir schon gerade von missratenen kleinen Brüdern reden, wie steht's denn um deine eigene griechische Tragödie?«
Wendy kann in ihrer spitzzüngigen Taktlosigkeit recht witzig, ja fast charmant sein, aber dass es zwischen krass und grausam unter Umständen eine Grenze gibt, ist ihr definitiv noch nie aufgefallen. Normalerweise komme ich mit ihrer Art trotzdem gut klar, aber nach den letzten paar Monaten fühle ich mich völlig fertig, und mein Schutzpanzer liegt in Schutt und Asche.
»Ich muss jetzt aufhören«, sage ich und bemühe mich dabei nach Kräften, nicht so zu klingen, als bräche um mich herum immer noch alles zusammen.
»Lieber Himmel, Judd. Ich wollte damit doch nur andeuten, dass ich mir Sorgen um dich mache.«
»Ja, bestimmt.«
»Deswegen brauchst du nicht gleich so passiv aggressiv zu reagieren. Das reicht mir schon von Barry.«
»Wir sehen uns dann zu Hause.«
»Na schön, wenn du meinst«, antwortet sie angenervt. »Bis dann.«
Ich warte darauf, dass sie auflegt.
»Bist du noch da?«, fragt sie schließlich.
»Nein.« Ich lege auf und stelle mir vor, wie sie ihr Telefon in die Ecke wirft, während Schimpfwörter wie Maschinengewehrsalven von ihren Lippen spritzen.
Übersetzung: Birgit Moosmüller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
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Autoren-Porträt von Jonathan Tropper
Jonathan Tropper, geboren 1970 in New York City, studierte an der NYU Literatur und Literarisches Schreiben. Er lebt heute mit seiner Familie in New Rochelle (New York), arbeitet erfolgreich als Schriftsteller und gibt Schreibseminare an der Universität.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Tropper
- 2011, 1, 447 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006451
- ISBN-13: 9783868006452
Rezension zu „Sieben verdammt lange Tage “
"'Sieben verdammt lange Tage' ist der Leuchtturm im Meer des Bücherjahres 2010 und eine uneingeschränkte Empfehlung!" -- Lies-und-lausch.de, 25.08.2010"Jonathan Troppers Roman ist wie das Leben: todtraurig, urkomisch, überraschend." -- TV Spielfilm, 01.08.2010
"Das Protokoll der Familienfeier ist das Lustigste, was es in diesem Jahr zu lesen gibt: lauter schöne Gehässigkeiten." -- FHM, 01.11.2010
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