Siebeneisen Band 1: Donnerstags im Fetten Hecht
Der abgedrehteste Roadtrip aller Zeiten!
Der Donnerstag ist der Höhepunkt in Siebeneisens eintöniger Woche - dann trifft er sich zum Tipp-Kick im Fetten Hecht. Eines Abends kommt sein Kumpel Schatten mit Neuigkeiten in die Stammkneipe: Er hat...
Der Donnerstag ist der Höhepunkt in Siebeneisens eintöniger Woche - dann trifft er sich zum Tipp-Kick im Fetten Hecht. Eines Abends kommt sein Kumpel Schatten mit Neuigkeiten in die Stammkneipe: Er hat...
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Produktinformationen zu „Siebeneisen Band 1: Donnerstags im Fetten Hecht “
Der abgedrehteste Roadtrip aller Zeiten!
Der Donnerstag ist der Höhepunkt in Siebeneisens eintöniger Woche - dann trifft er sich zum Tipp-Kick im Fetten Hecht. Eines Abends kommt sein Kumpel Schatten mit Neuigkeiten in die Stammkneipe: Er hat geerbt. Zumindest fast. Denn die fünfzig Millionen werden ihm nur ausgezahlt, wenn er seine sieben Miterben auftreibt. Die allerdings sind in alle Welt verstreut. Siebeneisen macht sich auf die Suche, die im australischen Outback beginnt - aber das ist bloß die erste Station einer haarsträubenden Weltreise ...
Urkomisch und voller skurriler Anekdoten über Länder und Sitten.
Der Donnerstag ist der Höhepunkt in Siebeneisens eintöniger Woche - dann trifft er sich zum Tipp-Kick im Fetten Hecht. Eines Abends kommt sein Kumpel Schatten mit Neuigkeiten in die Stammkneipe: Er hat geerbt. Zumindest fast. Denn die fünfzig Millionen werden ihm nur ausgezahlt, wenn er seine sieben Miterben auftreibt. Die allerdings sind in alle Welt verstreut. Siebeneisen macht sich auf die Suche, die im australischen Outback beginnt - aber das ist bloß die erste Station einer haarsträubenden Weltreise ...
Urkomisch und voller skurriler Anekdoten über Länder und Sitten.
Klappentext zu „Siebeneisen Band 1: Donnerstags im Fetten Hecht “
Der abgedrehteste Roadtrip aller Zeiten!Der Donnerstag ist der Höhepunkt in Siebeneisens eintöniger Woche - dann trifft er sich zum Tipp-Kick im Fetten Hecht. Eines Abends kommt sein Kumpel Schatten mit Neuigkeiten in die Stammkneipe: Er hat geerbt. Zumindest fast. Denn die fünfzig Millionen werden ihm nur ausgezahlt, wenn er seine sieben Miterben auftreibt. Die allerdings sind in alle Welt verstreut. Siebeneisen macht sich auf die Suche, die im australischen Outback beginnt - aber das ist bloß die erste Station einer haarsträubenden Weltreise ...
Urkomisch und voller skurriler Anekdoten über Länder und Sitten.
Lese-Probe zu „Siebeneisen Band 1: Donnerstags im Fetten Hecht “
Donnerstags im Fetten Hecht von Stefan NinkDer Arzt hielt die Feder noch einmal unter die Nasenlöcher und wartete. Nichts. Er schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah den Weisen O ein letztes Mal an. Der große Lehrer war nicht mehr unter ihnen. Er sah zu den Tempeldienern hinunter und schüttelte langsam den Kopf. Die Diener nickten. Gemeinsam schritten sie zur Tür, nacheinander traten sie ins Freie. Das Wehklagen, das kurz darauf auf dem Platz vor dem Heiligtum begann, drang wie dumpfes Geheul durch die Mauern.
Drinnen stieg der Arzt von dem Podest mit dem aufgebahrten Körper herunter. Als er sich unten den Staub von den Händen wischte, glaubte er, ein leises, erleichtertes Seufzen zu hören. Er schüttelte erneut den Kopf, dieses Mal über sich selbst. Dann verließ er den Tempel durch eine Hintertür. Zu Hause wartete seine Frau. Und das Okra-Curry, das es sonntags immer gab.
0
... mehr
(Qingdao, im August.)
Aha, da kam die Nächste, Nummer 43. Siebeneisen las die Zahl auf dem kleinen Plastikschild, das sie vorne an ihre Uniform gesteckt hatte. Ihr Name stand in Chinesisch darunter, für alle, die es lesen konnten. Siebeneisen hatte selbst mit der Zahl seine Probleme. Natürlich wusste er nicht, was 43 auf Chinesisch hieß, und natürlich machte das die Konversation nicht wirklich einfacher.
»Fortythree?«
Nummer 43 lächelte und blieb an seinem Stuhl stehen. Siebeneisen wusste genau, dass dies nichts zu bedeuten hatte. Gelächelt wurde in diesem Land immer und überall. Zuerst lächeln sie, dachte er, und dann schicken sie dich geradewegs ins Verderben, weil sie die Frage überhaupt nicht verstanden haben. Auf diese Weise war er in den vergangenen Tagen bereits in einem Tanzkurs für Schwangere gelandet, im Büro der Städtischen Grünanlagenverwaltung und in etwas, das mit Sicherheit eine Fälscherwerkstatt für Mobiltelefone war - jedes Mal hatte er zuvor nach dem Weg zu seinem Hotel gefragt. Siebeneisen schaute in Nummer 43s Lächeln.
»May? I? Order? Something? To eat?« Er gab sich Mühe, jedes Wort mit einer kleinen Geste zu kombinieren.
Nummer 43 lächelte weiter. Siebeneisen glaubte allerdings, die Andeutung eines Nickens zu erkennen. Einen kurzen Moment lang verspürte er etwas in sich regen, keimen, wachsen, aber dann hatte er das zarte Pflänzchen Hoffnung auch schon mit dem Gartenspaten der Vernunft zerdeppert. Nichts verstand Nummer 43, kein Wort verstand sie. Sie lächelte bloß immerzu weiter. Aus reinem Trotz orderte er ein Wiener Schnitzel mit Pommes. Nummer 43 nickte eifrig und gab Silben von sich, die wie eine Bestätigung klangen. Sie notierte die Bestellung auf ihrem Block oder tat zumindest so, lächelte ihr schönstes Nummer- 43-Lächeln und eilte davon. Siebeneisen war sich sicher, dass sie eine weitere Fuhre Bier holen ging. Nie hatte er sich auf seiner langen Reise derart unverstanden gefühlt, das stand fest. Möglicherweise war es sicherer, einfach nichts mehr zu sagen.
Sie saßen seit dem Morgen um diesen Tisch in der Halle des Bieres auf Qingdaos Oktoberfest. Im Grand Palace Hotel hatte man Siebeneisen geraten, ziemlich früh zum Festivalgelände zu fahren, um noch einen Sitzplatz zu bekommen, es werde sehr voll sein an diesem Sonntag. Und am Abend gebe es ja auch noch das Feuerwerk, das größte in China! In diesem Jahr, hatte ihm der Mann an der Rezeption erzählt, würde es sogar spektakulärer ausfallen als das berühmte Neujahrsfeuerwerk von Hongkong, auf keinen Fall dürfe er das verpassen. Also war Siebeneisen um halb sechs aufgestanden, hatte sich unter die Dusche gequält und anschließend hinunter in die Lobby des Grand Palace. Sein Fahrer wartete bereits. Er saß auf einem Sofa, kontrollierte gerade den Sitz seine Manschettenknöpfe und war wie immer die Höflichkeit in Person. Als er Siebeneisen entdeckte, sprang er auf. Für einen Moment sah es aus, als wollte er salutieren. Stattdessen verbeugte er sich formvollendet.
»Guten Morgen! Möchten Sie für heute wirklich keinen Dolmetscher haben? Er könnte schnell hier sein.«
»Ach nein, lassen Sie es gut sein. Das wird auch ohne gehen. Kein Problem.« Siebeneisen sah, wie sich die Augenbrauen seines Fahrers für einen Moment nach oben wölbten, was er aber ignorierte. Dann gingen sie nach draußen, wo die Limousine wartete und die Hitze.
Der August ist ein Monat, in dem die Menschenrechtskommission der UN den Nordosten Chinas eigentlich sperren müsste. Schon frühmorgens pappt die Luft wie ein Prittstift; nachmittags hat sie sich dann derart verdichtet, dass sich die Welt nur noch mit halber Geschwindigkeit zu drehen scheint. Obwohl Qingdao am Meer liegt und die Werbebroschüren potenziellen Touristen in tollkühn konstruierten Sätzen »eine ewig lebenden Brise von Ozean frischer!« versprechen, herrschte an diesem Morgen absolute Windstille, und über der Stadt hing ein Geruch von faulendem Seetang. Vor allem aber war es heiß, furchtbar heiß. Wenn man die Straße hinuntersah, schien der Asphalt in der Luft zu wabern. Wie in Afrika, dachte Siebeneisen, als sie auf dem Parkplatz vor dem Oktoberfestgelände hielten. Bloß viel heißer.
Beim Verlassen der klimatisierten Limousine beschlug seine Brille. Innerhalb von zwei Sekunden war die Welt in Nebel gehüllt, und er stolperte mehr oder weniger orientierungslos in jene Richtung, in der eben noch der Eingang gewesen war - jetzt aber hockte dort ein haushoher aufblasbarer Tiger, mit dem er prompt kollidierte. Für einen kurzen Moment gab der gestreifte Gummibauch des Tieres nach, dann beulte er sich in seine ursprüngliche Form zurück, wobei es Siebeneisen beinahe von den Füßen riss. Er lugte über den Rand seiner Brille (eine Maßnahme, die wegen seiner minus acht Dioptrien die Lage nicht wirklich entscheidend verbesserte) und verbeugte sich vor den drei Familien, die ihn fotografieren wollten. Dann ging er rasch durch das Eingangstor, das sich etwa fünf Meter neben dem Tiger befand.
Obwohl es noch keine acht Uhr am Morgen war, schallte Siebeneisen bereits eine dissonante Version des Bayerischen Defiliermarschs entgegen. Hinter dem langsam lichter werdenden Nebel seiner Brille entdeckte er eine chinesische Blasmusikkapelle, komplett in Krachledernen und Filzhüten, angeführt von einem Mann, der sie mit einer Art Wanderstock dirigierte. Die Kapelle marschierte an fähnchenschwingenden Oktoberfestbesuchern vorbei geradewegs auf ihn zu. Siebeneisen hatte zwar noch immer Sichtprobleme, konnte aber erkennen, dass der Mann mit dem Wanderstock über das ganze Gesicht strahlte als er ihn entdeckte. Instinktiv wich er ein paar Schritte zurück und ging dann zügig nach rechts zwischen einigen Imbissbuden hindurch. Als er einen Blick über die Schulter warf, war ihm die Kapelle allerdings noch immer auf den Fersen. Sie spielte nun den Tölzer Schützenmarsch. Siebeneisen befiel leichte Panik. Er sah sich um. Gleich neben ihm befand sich der Eingang zu einer der Ausstellungshallen, die auf dem Festivalgelände aufgebaut worden waren. Siebeneisen konnte sich nicht vorstellen, was man in solchen Hallen auf einem Bierfest präsentierte, die Blasmusikkapelle würde ihm aber bestimmt nicht folgen, wenn er sich das schnell ansähe. Er öffnete die Tür zu einer Art Vorraum, zahlte drei Yuan Eintritt und bekam im Gegenzug einen roten Wintermantel ausgehändigt. Und eine Pelzmütze. Die Frau an der Kasse bedeutete ihm, den Mantel anzuziehen. Sie öffnete eine schwere Eisentür und schob ihn in die eigentliche Halle. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.
Siebeneisen schaute in eine Welt aus Eis. Da standen Paläste und Tempel, Wachtürme, Gartenpavillons und Getreidespeicher, Pagoden, Brücken und Bauernhäuser, zusammengesetzt aus gewaltigen Eisquadern und anschließend ausgearbeitet bis ins kleinste Detail. Offenbar war den Künstlern die chinesische Welt aber nicht genug gewesen, sie hatten auch ein Colosseum aus Eis errichtet und den Berliner Reichstag und die Cheopspyramide, und weiter hinten stand tatsächlich der Eiffelturm. All das war wunderschön, bloß war es leider auch ziemlich kalt. Eiskalt, sozusagen. Das Leihmäntelchen war eher für eine chinesische Elfe geschneidert und passte vorne und hinten nicht; Siebeneisen vermutete, dass er darin aussah wie ein Gnom kurz vor einem Herzinfarkt. Die Pelzmütze hatte er an der Kasse liegen lassen, und der Eingang hinter ihm war - ja, doch: verschlossen. Siebeneisen hämmerte gegen die Tür. Er zitterte heftig. Nach seinem hektischen Spaziergang über das Gelände war er schweißnass, und hier drinnen war es kälter als in der Antarktis, und wenn er nicht bald rauskäme, würde sein durchgeschwitztes Hemd an ihm festfrieren. Er hämmerte erneut gegen die Tür. Die Tür blieb verschlossen. Siebeneisen machte sich auf die Suche nach einem Ausgang.
Dummerweise hatten die Architekten der Eiswelt ihre Attraktion als Labyrinth angelegt. Die nächsten Minuten rutschte und schlitterte Siebeneisen zwischen Tempeln, Burgen und Palästen hin und her, schaute über Mauerzinnen auf Akropolis und Freiheitsstatue und stolperte durch eine Großfamilie maßstabsgetreuer Kaiserpinguine. Er folgte einem Hinweisschild, das er nicht lesen konnte, gelangte auf diesem Weg aber nur in einen Garten mit geschnitzten Obstbäumen aus Eis. In einem Festungsturm entdeckte er große Stapel Raketen und Böller, wohl für das geplante Feuerwerk am Abend, aber leider keine Tür zur Außenwelt. Obwohl er in Bewegung blieb, wurde ihm immer kälter, und als er sich durch die Haare fahren wollte, waren da keine Haare mehr auf seinem Kopf, sondern nur vereiste Zipfel. Siebeneisen fluchte. Er verfluchte die Erbauer der Eiswelt, er verfluchte dieses Oktoberfest, vor allem aber verfluchte er sich selbst: Wie konnte er nur so dumm sein und einfach in diese Halle hineinlaufen! Nach allem, was schon passiert war auf dieser Reise! Er stapfte weiter, über den Platz des Himmlischen Friedens und an einem Teilstück der Chinesischen Mauer vorbei. Den Ausgang sah er dann endlich auf der anderen Seite eines zugefrorenen Seerosenteiches, über den eine filigran geschwungene Brücke führte. Schlotternd lief er hinaus ins Freie.
Durch die schon wieder beschlagenen Gläser seiner Brille nahm Siebeneisen ein pompöses Gebäude direkt vor ihm wahr, das aussah wie ein schlecht designtes Ufo. Aus seinem Innern drang eine malmende Geräuschkulisse. Das musste die Halle des Bieres sein, dachte er. Und die Halle des Bieres, das hatten sie ihm im Hotel erzählt, war das Zentrum des Oktoberfestes von Qingdao. Der Ort, an dem er die Person finden würde, nach der er suchte.
Also war er hineingegangen in dieses Monstrum kommunistischer Architekturkunst, in dem mindestens 5 000 Chinesen dabei waren, sich die Kante zu geben. Hatte sich am ersten Tisch vorbeimogeln können und am zweiten ebenfalls noch, aber nach dreißig oder vierzig Metern zerrten und zogen so viele Menschen an ihm, dass er sich auf einen freien Plastikstuhl fallen ließ. Siebeneisen musste sich gar nicht vergewissern - er wusste auch so, dass er der einzige Nicht-Chinese in der Halle des Bieres war. Qingdao lag fernab jeglichen touristischen Interesses, hier fuhr niemand hin, daran änderten auch die »Ozean frischer!«-Broschüren nichts. Und wenn doch, besuchte niemand in aller Herrgottsfrühe ein Bierfest. Nein, Siebeneisen war allein und obendrein aus Deutschland, ein Abgesandter jener Nation, die hier in Qingdao das Bierbrauen eingeführt hatte. Anders gesagt: Er war ein gefundenes Fressen für jeden trinkseligen Besucher.
Das alles war jetzt sechs Stunden her. Oder auch acht. Siebeneisen konnte sich nicht daran erinnern, an irgendeinem anderen Ort auf seiner langen Reise jemals so sprachlos gewesen zu sein. Niemand verstand ihn, und er verstand ebenfalls niemanden. Er hatte schon vor geraumer Zeit aufgehört, mit anderen Besuchern reden zu wollen - er wollte nur noch, dass der Mann, auf den er wartete, endlich kam. Bislang allerdings waren ausschließlich Trachtenkapellen aufgetaucht. Sie hatten auf der Bühne in der Mitte des Ufos alles intoniert, was die bayerische, steirische und böhmische Musikgeschichte an Schenkelklopfern und Gassenhauern hergab, und Siebeneisen war sich sicher, auch eine pentatonisch angehauchte Version von »Fest soll mein Taufbund immer stehen« erkannt zu haben, aber was wusste er denn schon. Außerdem war er mit Lobpreisen beschäftigt.
»Yüllgengloohb!«, rief jetzt einer weiter links am Tisch, »Yüllgengloohb!! «
Siebeneisen hob einen der 134 vollen, halb vollen und halb leeren Plastikbecher vom Tisch und erwiderte den Trinkspruch.
»Yüllgengloohb! Good! Very good!« Er kippte die laue Plörre hinunter.
Natürlich wusste er inzwischen, auf wessen Wohl er da eben getrunken hatte. Im Laufe des Nachmittages und mit zunehmendem Alkoholspiegel war es ihm gelungen, die Trinksprüche und Toasts seiner Gastgeber zu verstehen, und das ganz ohne Kenntnisse der Landessprache. Als das Drama sich entfaltet hatte, war das noch unmöglich gewesen, genauso gut hätte er altbabylonische Erntedankgesänge dechiffrieren können, aber jetzt wusste er, dass es sich bei Yüllgengloohb! um Deutschlands berühmtesten Fußballtrainer handelte. Zuvor hatte er schon auf das ewige Wohl von Menschen wie Pudolllskyh und Meeemuttözzil angestoßen, Swoinnstoigggl hatte er mehrmals rühmen müssen, und es musste gegen Mittag gewesen sein, als er begonnen hatte, nicht nur die Bundesliga, sondern auch und vor allem die Satellitenschüsselindustrie sowie sämtliche Fußballspartensender dieser Welt zur Hölle zu wünschen. Beziehungsweise in die Halle des Bieres, was so ziemlich das Gleiche sein musste.
Wie konnte man ein Oktoberfest überhaupt mitten im Hochsommer ausrichten? Draußen waren es 43 Grad, mindestens, und hier drinnen höchstens zwei weniger, und Siebeneisen hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, er befinde sich im Zentrum eines Raum-Zeit-Vakuums, in dem die Minuten nicht verrinnen wollten und jede Veränderung der physischen Position unmöglich war. Er konnte nur auf seinem weißen Plastikstuhl sitzen und versuchen, den enormen Flüssigkeitsverlust auszugleichen, indem er auf jeden neuen Fußballspieler hocherfreut einen Becher Plörrebier Richtung Decke hob. Und anschließend auf einen Zug leerte.
Die Menschen um ihn herum waren nicht betrunken - sie waren sterngranatenvoll. Sie schrien durcheinander, sie spuckten sich beim Reden ins Gesicht, sie rülpsten und grölten immer neue Fußballernamen, und anschließend musste natürlich immer angestoßen werden. Mehrere Gäste waren über dem Tisch zusammengebrochen und schnarchten hemmungslos. Andere starrten teilnahmslos vor sich hin. Am Nachbartisch war es zu einer Prügelei gekommen, bei der sich die Trinker zuerst das Plörrebier ins Gesicht kippten und anschließend mit den weißen Plastikstühlen bearbeiteten, bis die Saal-Security sie nach draußen zerrte. Die Kapelle auf der Bühne spielte jetzt eine Version von »Hoch auf dem gelben Wagen«, die sich anhörte, als habe sich ein Free-Jazz-Bandleader sehr viel Mühe beim Bearbeiten des Originalarrangements gegeben. Siebeneisen rann der Schweiß über die Stirn. Die Männer an den Tischen um ihn herum hatten ihre T-Shirts und Unterhemden bis auf die Brust hinaufgerollt und kühlten sich die Bäuche mit Eiswürfeln, die sie bei Nummer 57 und Nummer 18 bestellten und die 57 und 18 bestimmt in der Eisstadt nebenan klauten. Die Frauen am Tisch lallten nur noch.
Siebeneisen war sich mittlerweile sicher, dass sein Mann nicht mehr auftauchen würde. Der Hinweis, ihn hier in Qingdao zu treffen, hatte vielversprechend geklungen, aber welcher Hinweis tat das nicht, wenn man ihn am Ende einer langen Reise erhielt und man eigentlich nur noch nach Hause wollte? Siebeneisen seufzte innerlich. Ihm war jetzt etwas übel. Als er sich aufrappelte, drehte sich das Bierzelt um ihn herum. In seinen Ohren summte es seltsam. Wahrscheinlich ein drohender Hörsturz, dachte Siebeneisen. Er knallte den halb leeren Becher zurück auf den Tisch, stützte sich kurz ab und schob mit dem Hintern seinen Plastikstuhl aus dem Weg. Beim Umdrehen stieß er mit Nummer 43 zusammen, die ihm gerade seine Bestellung bringen wollte, ein Tablett mit kleinen Knabbereien - gegrillte Skorpione, Schalen mit merkwürdigem Schleim und etwas, das nach frittierten Unken aussah. Siebeneisen stürzte Richtung Ausgang. Knallte gegen Tische, quetschte sich an Bedienungen vorbei, stapfte durch Berge aus Plastikbechern, kämpfte und drängelte und stieß sich durch die Halle. Als er die Hitze des Augusttages bereits spürte, ein fauchender Drachen, der darauf wartete, ihn zu verbrutzeln, spielte die Kapelle einen besonders lauten Tusch. Der Ansager sprach natürlich Chinesisch, oder besser: Er schrie Chinesisch. Deswegen merkte Siebeneisen erst im allerletzten Moment, weshalb sich die Stimme des Mannes da hinter ihm auf der Bühne fast überschlug. Er war einen Schritt vor dem Ausgang, als er den Namen O'Shady hörte.
1
(Donnerstags im Fetten Hecht, Oer-Erkenschwick.
Etwa ein halbes Jahr zuvor.)
Der Erdnusskrümel steckte oben links hinten zwischen den Zähnen, und er versuchte jetzt seit Minuten, ihn mit der Zunge herauszubekommen. Warum aß er dieses Zeugs auch ständig? Wollte er so fett wie Schatten werden? Wipperfürth machte das doch auch nicht. Wipperfürth knabberte überhaupt nichts an ihren Abenden, alles, was Walburga an Nüssen und Salzstangen und Chips von der Theke an ihren Tisch schleppte, schien für ihn nicht zu existieren. Stattdessen nippte er an seinem Bier, kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich - und führte schon wieder mit 6:2. Nein: mit 7:2. Siebeneisen schnippte den Ball aus dem Netz. Den hätte er haben können. Den davor auch. Alle haltbar. Er durfte sich eben bloß nicht ständig von seinen Gedanken ablenken lassen. Konzentrieren. Hellwach sein. Seine Torwartknöpfe jene Zehntelsekunde schneller drücken, die nötig war, um den Ball abzuwehren. Und anschließend den eigenen Konter einnetzen. Wipperfürth notierte seinen Treffer auf der kleinen Kreidetafel an der Wand neben ihrem Spieltisch. Er verzog keine Miene. Siebeneisen vermutete, dass er noch nicht einmal innerlich jubilierte, das entsprach bestimmt nicht diesen Zen-Grundsätzen, von denen Wipperfürth andauernd schwadronierte. Vor drei oder vier Monaten hatte er bei einem ihrer Tipp-Kick-Abende offenbart, dass er jetzt Zen-Buddhist sei. Das heißt: eigentlich nicht erst jetzt, sondern schon immer und ewig, bloß habe er das eben erst erkannt. Wipperfürth hatte damals einen VHS-Kurs besucht, in dem er autogenes Training lernen sollte, aber offensichtlich war der Kursleiter ein wenig über sein Ziel hinausgeschossen. Und jetzt war Wipperfürth also Zen-Buddhist. An jenem Abend hatte er ihnen die Grundgesetze seines neuen Lebens dargelegt, und wenn Schatten ihn damals nicht zurückgehalten hätte, wäre Wipperfürth nach seiner zweiten Flasche Bier wahrscheinlich auf den Tipp-Kick-Tisch gestiegen, um ihnen die Kunst des yogischen Fliegens zu zeigen. So blieb es bei »Achte den Moment!«-Mahnungen und wirren Anekdoten über japanische Zen-Meister, die auf der Suche nach Vollendung 37 Jahre an einem Gartenbusch herumstutzten und all so was.
Siebeneisen hatte das Allermeiste von diesem furchtbaren Gefasel zum Glück augenblicklich wieder vergessen. Leider brachte Wipperfürth zu jedem ihrer Treffen neue Erkenntnisse aus der Welt der Shaolin, Samurai und wer weiß wem noch mit. Walburga hörte sich das Ganze jedes Mal mit stoischer Miene an, aber Walburga war Wirtin, bei solchen Leuten hinterlassen solche Schilderungen keine bleibenden Schäden. Siebeneisen aber machten diese angeblichen Fernostweisheiten nach zehn Stunden Redaktionsdienst nervös. Vor allem, wenn Wipperfürth sie vortrug, als seien sie ihm eben auf dem Weg in den Fetten Hecht zugeflogen, als hätten sie sich urplötzlich in der Luft vor ihm materialisiert, Om Mani Padme Om, hier ist deine tägliche Portion Weisheit, lieber Wipperfürth, greif zu. Siebeneisen krampfte es bei so etwas innerlich. Vor allem, wenn er sich tagsüber mit Anzeigenkunden und Pressemitteilungen herumgeschlagen und am späten Nachmittag noch in einer Kreistagssitzung gehockt hatte, um anschließend schnell 120 Zeilen über die Pläne zur »Schnakenbekämpfung in den Oer-Erkenschwicker- Auen« zu schreiben. Siebeneisen hoffte auf das VHS Programm für das kommende Semester. Er war sich sicher, dass sich dort verlockende Alternativangebote für Wipperfürth finden lassen würden, »Modellbaustrecken für Maisonettewohnungen « zum Beispiel oder »Mit dem Meerschwein auf Du und Du«. Alles war besser als dieser Zen-Tick. Alles. Selbst die gefalteten Papierbrontosaurier, die Wipperfürth letzten Winter aus seinem Origamikurs angeschleppt hatte.
8:2. Zum Glück gab es jetzt richtige Netze an den Tipp-Kick- Toren. Schatten hatte die organisiert. Früher, bei diesen Plastiktornetzen, wusste man nie, ob der Ball auch tatsächlich drin war, weil er bei festen Schüssen regelmäßig wieder rausflog aus dem Tor. Und natürlich hatte es jedes Mal Gezeter gegeben, war doch Latte, war doch gehalten, was hast du denn da gesehen, all so was, als ob Wembley 66 niemals enden würde. Seit es die richtigen Netze gab, passierte das nicht mehr: Der Ball blieb jetzt im Tor liegen. Und Siebeneisen konnte ihn anschließend wieder herausholen und ihn im Mittelkreis positionieren, so war das. Die ersten beiden Partien hatte er haushoch verloren. Die dritte würde er gleich verloren haben. Die zwei übrigen der maximal fünf Runden mussten sie dann nicht mehr spielen - der erste Euro war futsch. Und drei Punkte in der ewigen Zum-Fetten- Hecht-Tabelle auch. Siebeneisen hätte jetzt gerne eine Runde ausgesetzt und einen Schnaps getrunken, aber so lange Schatten nicht da war, musste er weitermachen: Wipperfürth musste beschäftigt werden. Sonst würde er wieder mit diesem Zen-Zeugs anfangen. Sie spielten seit vier Jahren zusammen. Immer donnerstags im Fetten Hecht. Immer um acht. Anfangs hatten sie sich mittwochs getroffen, dann aber beschlossen, dass man an einem Wochentag, an dem es fast das ganze Jahr über Livefußball im Fernsehen gab, unmöglich Tischfußball spielen konnte. Also hatten sie den Donnerstag genommen, da kam außer ihnen eh niemand in den Fetten Hecht. Nicht, dass an den anderen Tagen mehr los gewesen wäre - ihr Treffpunkt war nicht gerade das, was man eine Oer-Erkenschwicker-Szenekneipe nennen würde. Im Branchenverzeichnis firmierte der Fette Hecht unter »Gaststätten«, war aber in dieser Rubrik mit Sicherheit nur gelistet, weil man ihn schließlich irgendwo unterbringen musste. Als Walburga die »Gaststätte« 1982 von ihrem Vater übernommen hatte, war seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden, und Siebeneisen schätzte, dass Walburga seitdem penibel darauf geachtet hatte, den zeitlupenhaften Verfall des Etablissements bloß nicht aufzuhalten. Ein Foto der Gaststube mit ihrem Interieur hätte problemlos in einen Bildband Erinnerungen an die DDR gepasst. Es gab acht Tische, die auf pflegeleichten erdbraunen Bodenfliesen standen, eine so bizarre wie verspinnwebte Sammlung an Geweihen und ausgestopften Rebhühnern an den Wänden sowie eine Theke mit kopfüber hängenden Schnapsflaschen, aber ohne Zapfhähne - im Fetten Hecht wurde ausschließlich Flaschenbier getrunken. Eine Küche gab es übrigens auch nicht, die hatte Walburga vor Jahren geschlossen. Seitdem versorgte sie ihre Gäste mit Knabberzeugs. Auf Kosten des Hauses, die einzige Attraktion des Fetten Hechts. Neben dem Tipp-Kick-Tisch hinten in der Ecke.
Es stand 13:3 als Schatten endlich eintraf. Schatten war Ire und hieß eigentlich Seamus Brothaigh Donnchadh O'Shady, aber das war für den durchschnittlichen Oer-Erkenschwicker sprachlich nun wirklich nicht zu bewältigen. Deswegen nannte ihn jeder nur Schatten. Bis auf Schatten selbst, der sich natürlich weiterhin Seamus Brothaigh Donnchadh O'Shady nannte. Wipperfürth nickte ihm zur Begrüßung zenmäßig karg zu, bevor er den Ball mit der Emotionslosigkeit eines Kendo-Meisters an Siebeneisens Torhüter vorbei links oben in den Winkel zimmerte. Schatten war völlig außer Atem und schwitzte fürchterlich, kleine Rinnsale suchten sich aus den Haaren heraus eine passende Bahn über die Stirn. Die zweihundertfünfzig Meter von seiner Wohnung bis zum Fetten Hecht und vor allem die vier Treppenstufen hinauf zur Eingangstür setzten ihn immer kurzzeitig außer Gefecht, aber dieses Mal schien es schlimmer als sonst zu sein. Schatten sah aus, als sei er unterwegs wiederbelebt worden. Er japste kurz auf und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der dabei verdächtig ächzte. Hinter ihrem Tresen zog Walburga die Stirn kraus. Siebeneisen steckte seinen fingergroßen Tipp-Kick-Spieler in die Hosentasche und warf Wipperfürth den gewonnenen Euro zu.
»Und? Wie war's in der Heimat? Hattest du 'ne schöne Beerdigung? «
In der Woche zuvor hatte Schatten erfahren, dass eine seiner Verwandten verstorben war, die seit prähistorischen Zeiten in einem alten Bauernhof irgendwo an der irischen Küste hauste. Seine Trauer hielt sich in Grenzen, die gute Frau war beinahe hundert geworden und genealogisch nur über äußerst verschlungene Pfade mit ihm verwandt. Gesehen hatte Schatten Großgroßtante Claire zuletzt in den Sechzigern, als er ungefähr fünf gewesen war. Aber, wie das bei Iren nun mal so ist, Familie ist Familie, da fuhr man zur Beerdigung. Und sei es nur, um die 78 Cousins und Cousinen wiederzusehen, die man ebenfalls nicht mehr getroffen hatte, seit man ungefähr fünf gewesen war. Also war Schatten vor drei Tagen nach Irland geflogen. Und so wie er heute aussah, war er vom Friedhof sofort in den Pub, aus dem Pub direkt in den Flieger und aus dem Flieger direkt hierhergekommen. Irgendwie waren die Iren zu beneiden, dachte Siebeneisen: Wenn es zu Ende ging, machten sie selbst aus Beerdigungen hochprozentige Spektakel. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese Trauerfeier abgelaufen war, er sah sie gewissermaßen vor sich, die 78 Cousins und Cousinen, wie sie zuerst auf die Himmelfahrt der verstorbenen Tante angestoßen hatten und anschließend auf jeden einzelnen O'Shady bis zurück in die Zeit der großen Kartoffelmissernte. Mindestens.
»Es gibt News«, sagte Schatten unvermittelt.
Siebeneisen ließ den Gedanken an Cromwells randalierende Soldateska und klamme Katen voller ängstlich schreiender Gören irgendwo im Kleinhirn weitermäandern. Er sah Schatten an. Wipperfürth sah Schatten an. Schatten sah sie an. »Ich habe geerbt.«
© 2012 by Verlagsgruppe Random House GmbH
(Qingdao, im August.)
Aha, da kam die Nächste, Nummer 43. Siebeneisen las die Zahl auf dem kleinen Plastikschild, das sie vorne an ihre Uniform gesteckt hatte. Ihr Name stand in Chinesisch darunter, für alle, die es lesen konnten. Siebeneisen hatte selbst mit der Zahl seine Probleme. Natürlich wusste er nicht, was 43 auf Chinesisch hieß, und natürlich machte das die Konversation nicht wirklich einfacher.
»Fortythree?«
Nummer 43 lächelte und blieb an seinem Stuhl stehen. Siebeneisen wusste genau, dass dies nichts zu bedeuten hatte. Gelächelt wurde in diesem Land immer und überall. Zuerst lächeln sie, dachte er, und dann schicken sie dich geradewegs ins Verderben, weil sie die Frage überhaupt nicht verstanden haben. Auf diese Weise war er in den vergangenen Tagen bereits in einem Tanzkurs für Schwangere gelandet, im Büro der Städtischen Grünanlagenverwaltung und in etwas, das mit Sicherheit eine Fälscherwerkstatt für Mobiltelefone war - jedes Mal hatte er zuvor nach dem Weg zu seinem Hotel gefragt. Siebeneisen schaute in Nummer 43s Lächeln.
»May? I? Order? Something? To eat?« Er gab sich Mühe, jedes Wort mit einer kleinen Geste zu kombinieren.
Nummer 43 lächelte weiter. Siebeneisen glaubte allerdings, die Andeutung eines Nickens zu erkennen. Einen kurzen Moment lang verspürte er etwas in sich regen, keimen, wachsen, aber dann hatte er das zarte Pflänzchen Hoffnung auch schon mit dem Gartenspaten der Vernunft zerdeppert. Nichts verstand Nummer 43, kein Wort verstand sie. Sie lächelte bloß immerzu weiter. Aus reinem Trotz orderte er ein Wiener Schnitzel mit Pommes. Nummer 43 nickte eifrig und gab Silben von sich, die wie eine Bestätigung klangen. Sie notierte die Bestellung auf ihrem Block oder tat zumindest so, lächelte ihr schönstes Nummer- 43-Lächeln und eilte davon. Siebeneisen war sich sicher, dass sie eine weitere Fuhre Bier holen ging. Nie hatte er sich auf seiner langen Reise derart unverstanden gefühlt, das stand fest. Möglicherweise war es sicherer, einfach nichts mehr zu sagen.
Sie saßen seit dem Morgen um diesen Tisch in der Halle des Bieres auf Qingdaos Oktoberfest. Im Grand Palace Hotel hatte man Siebeneisen geraten, ziemlich früh zum Festivalgelände zu fahren, um noch einen Sitzplatz zu bekommen, es werde sehr voll sein an diesem Sonntag. Und am Abend gebe es ja auch noch das Feuerwerk, das größte in China! In diesem Jahr, hatte ihm der Mann an der Rezeption erzählt, würde es sogar spektakulärer ausfallen als das berühmte Neujahrsfeuerwerk von Hongkong, auf keinen Fall dürfe er das verpassen. Also war Siebeneisen um halb sechs aufgestanden, hatte sich unter die Dusche gequält und anschließend hinunter in die Lobby des Grand Palace. Sein Fahrer wartete bereits. Er saß auf einem Sofa, kontrollierte gerade den Sitz seine Manschettenknöpfe und war wie immer die Höflichkeit in Person. Als er Siebeneisen entdeckte, sprang er auf. Für einen Moment sah es aus, als wollte er salutieren. Stattdessen verbeugte er sich formvollendet.
»Guten Morgen! Möchten Sie für heute wirklich keinen Dolmetscher haben? Er könnte schnell hier sein.«
»Ach nein, lassen Sie es gut sein. Das wird auch ohne gehen. Kein Problem.« Siebeneisen sah, wie sich die Augenbrauen seines Fahrers für einen Moment nach oben wölbten, was er aber ignorierte. Dann gingen sie nach draußen, wo die Limousine wartete und die Hitze.
Der August ist ein Monat, in dem die Menschenrechtskommission der UN den Nordosten Chinas eigentlich sperren müsste. Schon frühmorgens pappt die Luft wie ein Prittstift; nachmittags hat sie sich dann derart verdichtet, dass sich die Welt nur noch mit halber Geschwindigkeit zu drehen scheint. Obwohl Qingdao am Meer liegt und die Werbebroschüren potenziellen Touristen in tollkühn konstruierten Sätzen »eine ewig lebenden Brise von Ozean frischer!« versprechen, herrschte an diesem Morgen absolute Windstille, und über der Stadt hing ein Geruch von faulendem Seetang. Vor allem aber war es heiß, furchtbar heiß. Wenn man die Straße hinuntersah, schien der Asphalt in der Luft zu wabern. Wie in Afrika, dachte Siebeneisen, als sie auf dem Parkplatz vor dem Oktoberfestgelände hielten. Bloß viel heißer.
Beim Verlassen der klimatisierten Limousine beschlug seine Brille. Innerhalb von zwei Sekunden war die Welt in Nebel gehüllt, und er stolperte mehr oder weniger orientierungslos in jene Richtung, in der eben noch der Eingang gewesen war - jetzt aber hockte dort ein haushoher aufblasbarer Tiger, mit dem er prompt kollidierte. Für einen kurzen Moment gab der gestreifte Gummibauch des Tieres nach, dann beulte er sich in seine ursprüngliche Form zurück, wobei es Siebeneisen beinahe von den Füßen riss. Er lugte über den Rand seiner Brille (eine Maßnahme, die wegen seiner minus acht Dioptrien die Lage nicht wirklich entscheidend verbesserte) und verbeugte sich vor den drei Familien, die ihn fotografieren wollten. Dann ging er rasch durch das Eingangstor, das sich etwa fünf Meter neben dem Tiger befand.
Obwohl es noch keine acht Uhr am Morgen war, schallte Siebeneisen bereits eine dissonante Version des Bayerischen Defiliermarschs entgegen. Hinter dem langsam lichter werdenden Nebel seiner Brille entdeckte er eine chinesische Blasmusikkapelle, komplett in Krachledernen und Filzhüten, angeführt von einem Mann, der sie mit einer Art Wanderstock dirigierte. Die Kapelle marschierte an fähnchenschwingenden Oktoberfestbesuchern vorbei geradewegs auf ihn zu. Siebeneisen hatte zwar noch immer Sichtprobleme, konnte aber erkennen, dass der Mann mit dem Wanderstock über das ganze Gesicht strahlte als er ihn entdeckte. Instinktiv wich er ein paar Schritte zurück und ging dann zügig nach rechts zwischen einigen Imbissbuden hindurch. Als er einen Blick über die Schulter warf, war ihm die Kapelle allerdings noch immer auf den Fersen. Sie spielte nun den Tölzer Schützenmarsch. Siebeneisen befiel leichte Panik. Er sah sich um. Gleich neben ihm befand sich der Eingang zu einer der Ausstellungshallen, die auf dem Festivalgelände aufgebaut worden waren. Siebeneisen konnte sich nicht vorstellen, was man in solchen Hallen auf einem Bierfest präsentierte, die Blasmusikkapelle würde ihm aber bestimmt nicht folgen, wenn er sich das schnell ansähe. Er öffnete die Tür zu einer Art Vorraum, zahlte drei Yuan Eintritt und bekam im Gegenzug einen roten Wintermantel ausgehändigt. Und eine Pelzmütze. Die Frau an der Kasse bedeutete ihm, den Mantel anzuziehen. Sie öffnete eine schwere Eisentür und schob ihn in die eigentliche Halle. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.
Siebeneisen schaute in eine Welt aus Eis. Da standen Paläste und Tempel, Wachtürme, Gartenpavillons und Getreidespeicher, Pagoden, Brücken und Bauernhäuser, zusammengesetzt aus gewaltigen Eisquadern und anschließend ausgearbeitet bis ins kleinste Detail. Offenbar war den Künstlern die chinesische Welt aber nicht genug gewesen, sie hatten auch ein Colosseum aus Eis errichtet und den Berliner Reichstag und die Cheopspyramide, und weiter hinten stand tatsächlich der Eiffelturm. All das war wunderschön, bloß war es leider auch ziemlich kalt. Eiskalt, sozusagen. Das Leihmäntelchen war eher für eine chinesische Elfe geschneidert und passte vorne und hinten nicht; Siebeneisen vermutete, dass er darin aussah wie ein Gnom kurz vor einem Herzinfarkt. Die Pelzmütze hatte er an der Kasse liegen lassen, und der Eingang hinter ihm war - ja, doch: verschlossen. Siebeneisen hämmerte gegen die Tür. Er zitterte heftig. Nach seinem hektischen Spaziergang über das Gelände war er schweißnass, und hier drinnen war es kälter als in der Antarktis, und wenn er nicht bald rauskäme, würde sein durchgeschwitztes Hemd an ihm festfrieren. Er hämmerte erneut gegen die Tür. Die Tür blieb verschlossen. Siebeneisen machte sich auf die Suche nach einem Ausgang.
Dummerweise hatten die Architekten der Eiswelt ihre Attraktion als Labyrinth angelegt. Die nächsten Minuten rutschte und schlitterte Siebeneisen zwischen Tempeln, Burgen und Palästen hin und her, schaute über Mauerzinnen auf Akropolis und Freiheitsstatue und stolperte durch eine Großfamilie maßstabsgetreuer Kaiserpinguine. Er folgte einem Hinweisschild, das er nicht lesen konnte, gelangte auf diesem Weg aber nur in einen Garten mit geschnitzten Obstbäumen aus Eis. In einem Festungsturm entdeckte er große Stapel Raketen und Böller, wohl für das geplante Feuerwerk am Abend, aber leider keine Tür zur Außenwelt. Obwohl er in Bewegung blieb, wurde ihm immer kälter, und als er sich durch die Haare fahren wollte, waren da keine Haare mehr auf seinem Kopf, sondern nur vereiste Zipfel. Siebeneisen fluchte. Er verfluchte die Erbauer der Eiswelt, er verfluchte dieses Oktoberfest, vor allem aber verfluchte er sich selbst: Wie konnte er nur so dumm sein und einfach in diese Halle hineinlaufen! Nach allem, was schon passiert war auf dieser Reise! Er stapfte weiter, über den Platz des Himmlischen Friedens und an einem Teilstück der Chinesischen Mauer vorbei. Den Ausgang sah er dann endlich auf der anderen Seite eines zugefrorenen Seerosenteiches, über den eine filigran geschwungene Brücke führte. Schlotternd lief er hinaus ins Freie.
Durch die schon wieder beschlagenen Gläser seiner Brille nahm Siebeneisen ein pompöses Gebäude direkt vor ihm wahr, das aussah wie ein schlecht designtes Ufo. Aus seinem Innern drang eine malmende Geräuschkulisse. Das musste die Halle des Bieres sein, dachte er. Und die Halle des Bieres, das hatten sie ihm im Hotel erzählt, war das Zentrum des Oktoberfestes von Qingdao. Der Ort, an dem er die Person finden würde, nach der er suchte.
Also war er hineingegangen in dieses Monstrum kommunistischer Architekturkunst, in dem mindestens 5 000 Chinesen dabei waren, sich die Kante zu geben. Hatte sich am ersten Tisch vorbeimogeln können und am zweiten ebenfalls noch, aber nach dreißig oder vierzig Metern zerrten und zogen so viele Menschen an ihm, dass er sich auf einen freien Plastikstuhl fallen ließ. Siebeneisen musste sich gar nicht vergewissern - er wusste auch so, dass er der einzige Nicht-Chinese in der Halle des Bieres war. Qingdao lag fernab jeglichen touristischen Interesses, hier fuhr niemand hin, daran änderten auch die »Ozean frischer!«-Broschüren nichts. Und wenn doch, besuchte niemand in aller Herrgottsfrühe ein Bierfest. Nein, Siebeneisen war allein und obendrein aus Deutschland, ein Abgesandter jener Nation, die hier in Qingdao das Bierbrauen eingeführt hatte. Anders gesagt: Er war ein gefundenes Fressen für jeden trinkseligen Besucher.
Das alles war jetzt sechs Stunden her. Oder auch acht. Siebeneisen konnte sich nicht daran erinnern, an irgendeinem anderen Ort auf seiner langen Reise jemals so sprachlos gewesen zu sein. Niemand verstand ihn, und er verstand ebenfalls niemanden. Er hatte schon vor geraumer Zeit aufgehört, mit anderen Besuchern reden zu wollen - er wollte nur noch, dass der Mann, auf den er wartete, endlich kam. Bislang allerdings waren ausschließlich Trachtenkapellen aufgetaucht. Sie hatten auf der Bühne in der Mitte des Ufos alles intoniert, was die bayerische, steirische und böhmische Musikgeschichte an Schenkelklopfern und Gassenhauern hergab, und Siebeneisen war sich sicher, auch eine pentatonisch angehauchte Version von »Fest soll mein Taufbund immer stehen« erkannt zu haben, aber was wusste er denn schon. Außerdem war er mit Lobpreisen beschäftigt.
»Yüllgengloohb!«, rief jetzt einer weiter links am Tisch, »Yüllgengloohb!! «
Siebeneisen hob einen der 134 vollen, halb vollen und halb leeren Plastikbecher vom Tisch und erwiderte den Trinkspruch.
»Yüllgengloohb! Good! Very good!« Er kippte die laue Plörre hinunter.
Natürlich wusste er inzwischen, auf wessen Wohl er da eben getrunken hatte. Im Laufe des Nachmittages und mit zunehmendem Alkoholspiegel war es ihm gelungen, die Trinksprüche und Toasts seiner Gastgeber zu verstehen, und das ganz ohne Kenntnisse der Landessprache. Als das Drama sich entfaltet hatte, war das noch unmöglich gewesen, genauso gut hätte er altbabylonische Erntedankgesänge dechiffrieren können, aber jetzt wusste er, dass es sich bei Yüllgengloohb! um Deutschlands berühmtesten Fußballtrainer handelte. Zuvor hatte er schon auf das ewige Wohl von Menschen wie Pudolllskyh und Meeemuttözzil angestoßen, Swoinnstoigggl hatte er mehrmals rühmen müssen, und es musste gegen Mittag gewesen sein, als er begonnen hatte, nicht nur die Bundesliga, sondern auch und vor allem die Satellitenschüsselindustrie sowie sämtliche Fußballspartensender dieser Welt zur Hölle zu wünschen. Beziehungsweise in die Halle des Bieres, was so ziemlich das Gleiche sein musste.
Wie konnte man ein Oktoberfest überhaupt mitten im Hochsommer ausrichten? Draußen waren es 43 Grad, mindestens, und hier drinnen höchstens zwei weniger, und Siebeneisen hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, er befinde sich im Zentrum eines Raum-Zeit-Vakuums, in dem die Minuten nicht verrinnen wollten und jede Veränderung der physischen Position unmöglich war. Er konnte nur auf seinem weißen Plastikstuhl sitzen und versuchen, den enormen Flüssigkeitsverlust auszugleichen, indem er auf jeden neuen Fußballspieler hocherfreut einen Becher Plörrebier Richtung Decke hob. Und anschließend auf einen Zug leerte.
Die Menschen um ihn herum waren nicht betrunken - sie waren sterngranatenvoll. Sie schrien durcheinander, sie spuckten sich beim Reden ins Gesicht, sie rülpsten und grölten immer neue Fußballernamen, und anschließend musste natürlich immer angestoßen werden. Mehrere Gäste waren über dem Tisch zusammengebrochen und schnarchten hemmungslos. Andere starrten teilnahmslos vor sich hin. Am Nachbartisch war es zu einer Prügelei gekommen, bei der sich die Trinker zuerst das Plörrebier ins Gesicht kippten und anschließend mit den weißen Plastikstühlen bearbeiteten, bis die Saal-Security sie nach draußen zerrte. Die Kapelle auf der Bühne spielte jetzt eine Version von »Hoch auf dem gelben Wagen«, die sich anhörte, als habe sich ein Free-Jazz-Bandleader sehr viel Mühe beim Bearbeiten des Originalarrangements gegeben. Siebeneisen rann der Schweiß über die Stirn. Die Männer an den Tischen um ihn herum hatten ihre T-Shirts und Unterhemden bis auf die Brust hinaufgerollt und kühlten sich die Bäuche mit Eiswürfeln, die sie bei Nummer 57 und Nummer 18 bestellten und die 57 und 18 bestimmt in der Eisstadt nebenan klauten. Die Frauen am Tisch lallten nur noch.
Siebeneisen war sich mittlerweile sicher, dass sein Mann nicht mehr auftauchen würde. Der Hinweis, ihn hier in Qingdao zu treffen, hatte vielversprechend geklungen, aber welcher Hinweis tat das nicht, wenn man ihn am Ende einer langen Reise erhielt und man eigentlich nur noch nach Hause wollte? Siebeneisen seufzte innerlich. Ihm war jetzt etwas übel. Als er sich aufrappelte, drehte sich das Bierzelt um ihn herum. In seinen Ohren summte es seltsam. Wahrscheinlich ein drohender Hörsturz, dachte Siebeneisen. Er knallte den halb leeren Becher zurück auf den Tisch, stützte sich kurz ab und schob mit dem Hintern seinen Plastikstuhl aus dem Weg. Beim Umdrehen stieß er mit Nummer 43 zusammen, die ihm gerade seine Bestellung bringen wollte, ein Tablett mit kleinen Knabbereien - gegrillte Skorpione, Schalen mit merkwürdigem Schleim und etwas, das nach frittierten Unken aussah. Siebeneisen stürzte Richtung Ausgang. Knallte gegen Tische, quetschte sich an Bedienungen vorbei, stapfte durch Berge aus Plastikbechern, kämpfte und drängelte und stieß sich durch die Halle. Als er die Hitze des Augusttages bereits spürte, ein fauchender Drachen, der darauf wartete, ihn zu verbrutzeln, spielte die Kapelle einen besonders lauten Tusch. Der Ansager sprach natürlich Chinesisch, oder besser: Er schrie Chinesisch. Deswegen merkte Siebeneisen erst im allerletzten Moment, weshalb sich die Stimme des Mannes da hinter ihm auf der Bühne fast überschlug. Er war einen Schritt vor dem Ausgang, als er den Namen O'Shady hörte.
1
(Donnerstags im Fetten Hecht, Oer-Erkenschwick.
Etwa ein halbes Jahr zuvor.)
Der Erdnusskrümel steckte oben links hinten zwischen den Zähnen, und er versuchte jetzt seit Minuten, ihn mit der Zunge herauszubekommen. Warum aß er dieses Zeugs auch ständig? Wollte er so fett wie Schatten werden? Wipperfürth machte das doch auch nicht. Wipperfürth knabberte überhaupt nichts an ihren Abenden, alles, was Walburga an Nüssen und Salzstangen und Chips von der Theke an ihren Tisch schleppte, schien für ihn nicht zu existieren. Stattdessen nippte er an seinem Bier, kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich - und führte schon wieder mit 6:2. Nein: mit 7:2. Siebeneisen schnippte den Ball aus dem Netz. Den hätte er haben können. Den davor auch. Alle haltbar. Er durfte sich eben bloß nicht ständig von seinen Gedanken ablenken lassen. Konzentrieren. Hellwach sein. Seine Torwartknöpfe jene Zehntelsekunde schneller drücken, die nötig war, um den Ball abzuwehren. Und anschließend den eigenen Konter einnetzen. Wipperfürth notierte seinen Treffer auf der kleinen Kreidetafel an der Wand neben ihrem Spieltisch. Er verzog keine Miene. Siebeneisen vermutete, dass er noch nicht einmal innerlich jubilierte, das entsprach bestimmt nicht diesen Zen-Grundsätzen, von denen Wipperfürth andauernd schwadronierte. Vor drei oder vier Monaten hatte er bei einem ihrer Tipp-Kick-Abende offenbart, dass er jetzt Zen-Buddhist sei. Das heißt: eigentlich nicht erst jetzt, sondern schon immer und ewig, bloß habe er das eben erst erkannt. Wipperfürth hatte damals einen VHS-Kurs besucht, in dem er autogenes Training lernen sollte, aber offensichtlich war der Kursleiter ein wenig über sein Ziel hinausgeschossen. Und jetzt war Wipperfürth also Zen-Buddhist. An jenem Abend hatte er ihnen die Grundgesetze seines neuen Lebens dargelegt, und wenn Schatten ihn damals nicht zurückgehalten hätte, wäre Wipperfürth nach seiner zweiten Flasche Bier wahrscheinlich auf den Tipp-Kick-Tisch gestiegen, um ihnen die Kunst des yogischen Fliegens zu zeigen. So blieb es bei »Achte den Moment!«-Mahnungen und wirren Anekdoten über japanische Zen-Meister, die auf der Suche nach Vollendung 37 Jahre an einem Gartenbusch herumstutzten und all so was.
Siebeneisen hatte das Allermeiste von diesem furchtbaren Gefasel zum Glück augenblicklich wieder vergessen. Leider brachte Wipperfürth zu jedem ihrer Treffen neue Erkenntnisse aus der Welt der Shaolin, Samurai und wer weiß wem noch mit. Walburga hörte sich das Ganze jedes Mal mit stoischer Miene an, aber Walburga war Wirtin, bei solchen Leuten hinterlassen solche Schilderungen keine bleibenden Schäden. Siebeneisen aber machten diese angeblichen Fernostweisheiten nach zehn Stunden Redaktionsdienst nervös. Vor allem, wenn Wipperfürth sie vortrug, als seien sie ihm eben auf dem Weg in den Fetten Hecht zugeflogen, als hätten sie sich urplötzlich in der Luft vor ihm materialisiert, Om Mani Padme Om, hier ist deine tägliche Portion Weisheit, lieber Wipperfürth, greif zu. Siebeneisen krampfte es bei so etwas innerlich. Vor allem, wenn er sich tagsüber mit Anzeigenkunden und Pressemitteilungen herumgeschlagen und am späten Nachmittag noch in einer Kreistagssitzung gehockt hatte, um anschließend schnell 120 Zeilen über die Pläne zur »Schnakenbekämpfung in den Oer-Erkenschwicker- Auen« zu schreiben. Siebeneisen hoffte auf das VHS Programm für das kommende Semester. Er war sich sicher, dass sich dort verlockende Alternativangebote für Wipperfürth finden lassen würden, »Modellbaustrecken für Maisonettewohnungen « zum Beispiel oder »Mit dem Meerschwein auf Du und Du«. Alles war besser als dieser Zen-Tick. Alles. Selbst die gefalteten Papierbrontosaurier, die Wipperfürth letzten Winter aus seinem Origamikurs angeschleppt hatte.
8:2. Zum Glück gab es jetzt richtige Netze an den Tipp-Kick- Toren. Schatten hatte die organisiert. Früher, bei diesen Plastiktornetzen, wusste man nie, ob der Ball auch tatsächlich drin war, weil er bei festen Schüssen regelmäßig wieder rausflog aus dem Tor. Und natürlich hatte es jedes Mal Gezeter gegeben, war doch Latte, war doch gehalten, was hast du denn da gesehen, all so was, als ob Wembley 66 niemals enden würde. Seit es die richtigen Netze gab, passierte das nicht mehr: Der Ball blieb jetzt im Tor liegen. Und Siebeneisen konnte ihn anschließend wieder herausholen und ihn im Mittelkreis positionieren, so war das. Die ersten beiden Partien hatte er haushoch verloren. Die dritte würde er gleich verloren haben. Die zwei übrigen der maximal fünf Runden mussten sie dann nicht mehr spielen - der erste Euro war futsch. Und drei Punkte in der ewigen Zum-Fetten- Hecht-Tabelle auch. Siebeneisen hätte jetzt gerne eine Runde ausgesetzt und einen Schnaps getrunken, aber so lange Schatten nicht da war, musste er weitermachen: Wipperfürth musste beschäftigt werden. Sonst würde er wieder mit diesem Zen-Zeugs anfangen. Sie spielten seit vier Jahren zusammen. Immer donnerstags im Fetten Hecht. Immer um acht. Anfangs hatten sie sich mittwochs getroffen, dann aber beschlossen, dass man an einem Wochentag, an dem es fast das ganze Jahr über Livefußball im Fernsehen gab, unmöglich Tischfußball spielen konnte. Also hatten sie den Donnerstag genommen, da kam außer ihnen eh niemand in den Fetten Hecht. Nicht, dass an den anderen Tagen mehr los gewesen wäre - ihr Treffpunkt war nicht gerade das, was man eine Oer-Erkenschwicker-Szenekneipe nennen würde. Im Branchenverzeichnis firmierte der Fette Hecht unter »Gaststätten«, war aber in dieser Rubrik mit Sicherheit nur gelistet, weil man ihn schließlich irgendwo unterbringen musste. Als Walburga die »Gaststätte« 1982 von ihrem Vater übernommen hatte, war seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden, und Siebeneisen schätzte, dass Walburga seitdem penibel darauf geachtet hatte, den zeitlupenhaften Verfall des Etablissements bloß nicht aufzuhalten. Ein Foto der Gaststube mit ihrem Interieur hätte problemlos in einen Bildband Erinnerungen an die DDR gepasst. Es gab acht Tische, die auf pflegeleichten erdbraunen Bodenfliesen standen, eine so bizarre wie verspinnwebte Sammlung an Geweihen und ausgestopften Rebhühnern an den Wänden sowie eine Theke mit kopfüber hängenden Schnapsflaschen, aber ohne Zapfhähne - im Fetten Hecht wurde ausschließlich Flaschenbier getrunken. Eine Küche gab es übrigens auch nicht, die hatte Walburga vor Jahren geschlossen. Seitdem versorgte sie ihre Gäste mit Knabberzeugs. Auf Kosten des Hauses, die einzige Attraktion des Fetten Hechts. Neben dem Tipp-Kick-Tisch hinten in der Ecke.
Es stand 13:3 als Schatten endlich eintraf. Schatten war Ire und hieß eigentlich Seamus Brothaigh Donnchadh O'Shady, aber das war für den durchschnittlichen Oer-Erkenschwicker sprachlich nun wirklich nicht zu bewältigen. Deswegen nannte ihn jeder nur Schatten. Bis auf Schatten selbst, der sich natürlich weiterhin Seamus Brothaigh Donnchadh O'Shady nannte. Wipperfürth nickte ihm zur Begrüßung zenmäßig karg zu, bevor er den Ball mit der Emotionslosigkeit eines Kendo-Meisters an Siebeneisens Torhüter vorbei links oben in den Winkel zimmerte. Schatten war völlig außer Atem und schwitzte fürchterlich, kleine Rinnsale suchten sich aus den Haaren heraus eine passende Bahn über die Stirn. Die zweihundertfünfzig Meter von seiner Wohnung bis zum Fetten Hecht und vor allem die vier Treppenstufen hinauf zur Eingangstür setzten ihn immer kurzzeitig außer Gefecht, aber dieses Mal schien es schlimmer als sonst zu sein. Schatten sah aus, als sei er unterwegs wiederbelebt worden. Er japste kurz auf und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der dabei verdächtig ächzte. Hinter ihrem Tresen zog Walburga die Stirn kraus. Siebeneisen steckte seinen fingergroßen Tipp-Kick-Spieler in die Hosentasche und warf Wipperfürth den gewonnenen Euro zu.
»Und? Wie war's in der Heimat? Hattest du 'ne schöne Beerdigung? «
In der Woche zuvor hatte Schatten erfahren, dass eine seiner Verwandten verstorben war, die seit prähistorischen Zeiten in einem alten Bauernhof irgendwo an der irischen Küste hauste. Seine Trauer hielt sich in Grenzen, die gute Frau war beinahe hundert geworden und genealogisch nur über äußerst verschlungene Pfade mit ihm verwandt. Gesehen hatte Schatten Großgroßtante Claire zuletzt in den Sechzigern, als er ungefähr fünf gewesen war. Aber, wie das bei Iren nun mal so ist, Familie ist Familie, da fuhr man zur Beerdigung. Und sei es nur, um die 78 Cousins und Cousinen wiederzusehen, die man ebenfalls nicht mehr getroffen hatte, seit man ungefähr fünf gewesen war. Also war Schatten vor drei Tagen nach Irland geflogen. Und so wie er heute aussah, war er vom Friedhof sofort in den Pub, aus dem Pub direkt in den Flieger und aus dem Flieger direkt hierhergekommen. Irgendwie waren die Iren zu beneiden, dachte Siebeneisen: Wenn es zu Ende ging, machten sie selbst aus Beerdigungen hochprozentige Spektakel. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese Trauerfeier abgelaufen war, er sah sie gewissermaßen vor sich, die 78 Cousins und Cousinen, wie sie zuerst auf die Himmelfahrt der verstorbenen Tante angestoßen hatten und anschließend auf jeden einzelnen O'Shady bis zurück in die Zeit der großen Kartoffelmissernte. Mindestens.
»Es gibt News«, sagte Schatten unvermittelt.
Siebeneisen ließ den Gedanken an Cromwells randalierende Soldateska und klamme Katen voller ängstlich schreiender Gören irgendwo im Kleinhirn weitermäandern. Er sah Schatten an. Wipperfürth sah Schatten an. Schatten sah sie an. »Ich habe geerbt.«
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Autoren-Porträt von Stefan Nink
Stefan Nink fliegt, fährt und läuft für Magazine, Radiostationen und Verlage über den Planeten. Seine Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet. Er hat zahlreiche Reisebücher und Romane veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Nink
- 2012, 412 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 3809026220
- ISBN-13: 9783809026228
Rezension zu „Siebeneisen Band 1: Donnerstags im Fetten Hecht “
"Das Buch ist urkomisch, kurios und zeigt dem Leser die Länder und Sitten aus einem besonderen Blickwinkel."
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