Sklavenkind
Verkauft, verschleppt, vergessen - Mein Kampf für Nepals Töchter
Das Schicksal eines nepalesischen Sklavenmädchens. Mit einem Vorwort von Senta Berger.
Nepal: Urmila Chaudhary war erst sechs Jahre alt, als sie als Kamalari in die Sklaverei verkauft wurde. Und damit beginnen für sie elf...
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Produktinformationen zu „Sklavenkind “
Das Schicksal eines nepalesischen Sklavenmädchens. Mit einem Vorwort von Senta Berger.
Nepal: Urmila Chaudhary war erst sechs Jahre alt, als sie als Kamalari in die Sklaverei verkauft wurde. Und damit beginnen für sie elf Jahre voller Entbehrungen, in denen sie geschlagen und gedemütigt wurde, Hunger und Schikanen erleiden musste. Aber Urmila kämpft und kommt schließlich frei. In ihrer neuen Freiheit hat sie nur ein Ziel: Sie will für die Rechte des Sklavenmädchen kämpfen und ist so zur Hoffnungsträgerin der Kamalari geworden. Ein eindrucksvolles Buch, das auf eindringliche Weise auf das Schicksal der nepalesischen Mädchen aufmerksam macht.
Lese-Probe zu „Sklavenkind “
Sklavenkind von Urmila ChaudharyDas Ende der Kindheit
»Ein Mädchen großzuziehen ist wie den Garten des Nachbarn zu gießen.«
NEPALESISCHES SPRICHWORT
Maghi
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Klirrende Kälte. Sie lag knisternd auf den braunen Reisfeldern an diesem Maghi-Tag in Raptizone, dem fruchtbaren Tiefland von Nepal. Dicker, weißer Nebel breitete sich über der Ebene aus, wie fast jeden Morgen im Winter. Die Feuchtigkeit sammelte sich auf meinen Wimpern, kleine Tropfen liefen mir in die Augen und an meiner Nase hinunter. Ich zog meinen Schal, so fest es ging, um mich, aber trotzdem zitterte ich.
Nur schemenhaft erkannte ich die Umrisse um mich herum: Frauen, verhüllt in Saris und Schals, mit großen Bündeln auf dem Kopf. Eine Herde Wasserbüffel, Männer auf Fahrrädern, Kühe, Schafe, Ziegen, ein paar Motorräder, die sich in Schlangenlinien den Weg bahnten. Nur gedämpft drangen Geräusche durch die Dunstschwaden bis zu mir durch: Das Krähen der Hähne und das Quietschen der Wasserpumpen mischten sich mit Klappern von Metalltellern, mit Hundegebell und lauten Stimmen.
Meine Schwester Mithila und ich waren im Morgengrauen aufgebrochen, um nach Manpur zum Haus unserer Eltern zu laufen. Denn heute war Maghi. Seit Wochen schon freute ich mich darauf. Maghi ist das größte Fest der Tharu, es ist unser Neujahr. An diesem Tag machen wir rituelle Bäder im Fluss und reinigen uns. Die ganze Familie kommt zusammen, die Großeltern, Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel. Die Älteren segnen die Jüngeren, die Jungen ehren die Alten. Es wird getanzt, gegessen, gesungen und auf der Straße Theater gespielt. Die Frauen tragen ihre traditionellen Kleider, die bunte Tharu-Tracht, und ihren schweren Silberschmuck. Der Reiswein fließt in Strömen, die Leute im Dorf wandern von Haus zu Haus, besuchen Nachbarn und Freunde.
Aber ich freute mich am meisten, dass ich endlich mein Zuhause wiedersehen würde. Seit einer Weile lebte ich nämlich bei einer meiner älteren Schwestern. Bei meinen Eltern gab es oft nicht genug zu essen für uns alle, denn mein Vater und meine Mutter waren Kamaya - Leibeigene. Sie arbeiteten auf den Feldern und im Haus des Landlords, dem die Reis-, Kartoffel- und Rapsfelder in unserer Gegend gehören. Manchmal brachte meine Mutter Reis mit nach Hause, dann teilte sie ihn unter uns Kindern auf, meistens aber kam sie mit leeren Händen zurück, und es gab nichts zu essen. Dann gingen wir hungrig ins Bett.
Deshalb hatte sie mich zu meiner Schwester geschickt, die mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in einem anderen Dorf lebte, eine Stunde Fußmarsch entfernt. Der Mann meiner Schwester verdiente etwas Geld, deshalb konnten sie mich mit durchfüttern. Ich kümmerte mich dafür um meine kleinen Nichten und Neffen, obwohl ich selbst erst sechs Jahre alt war. Aber auch wenn es bei meiner Schwester genug Reis gab, wollte ich zurück, weil ich meine Mutter und Manpur vermisste. Nach einer Weile tauchte endlich die Lehmhütte meiner Eltern auf. Sie war sehr klein, und fast schien es, als duckte sie sich zwischen den anderen Hütten. Um sie herum stand ein Zaun aus Stöcken. Auf dem Strohdach wucherten die Ranken einer Kürbispflanze. Ein dicker gelber Kürbis hing direkt über der Eingangstür. Neben der Hütte flatterte die Wäsche auf einer Leine.
Es roch nach Feuer und nach den Schweinen des Nachbarn, die in einem Stall gleich nebenan grunzten. Auf dem kleinen Vorplatz vor unserer Hütte sah ich meine Mutter. Sie fegte gerade mit einem Büschel Äste den Boden.
Ich lief schnell zu ihr. »Dai, Dai, Dai!«, begrüßte ich sie. Das heißt auf Tharu »Mama«.
Sie stand vor dem Haus, ich senkte den Kopf, und sie legte ihre Hand auf mein Haar und segnete mich. So begrüßen wir unsere Eltern und ältere Respektspersonen. Ich war sehr glücklich, sie zu sehen, dennoch fiel ich ihr nicht in die Arme. Denn bei uns ist es nicht üblich, dass man sich umarmt oder küsst. Meine Mutter trug anlässlich des Maghi-Festes die traditionelle Tharu-Kleidung: den weiten, bunten Wickelrock mit breiter roter Borte, ein grün-rotes, bauchfreies Oberteil mit kurzen Ärmeln, viele grüne, gelbe und rote Perlenketten und den typischen, silbernen Kopfschmuck.
Ein Kind der Tharu
Wir Tharu leben vor allem im Terai, der riesigen, grünen Ebene im Südwesten Nepals, einem Ausläufer des Ganges-Tieflandes, das sich über die indische Grenze bis nach Nepal hineinzieht. Wir haben eine eigene Sprache, traditionelle Feste, eigene Naturgötter und wir tragen alle denselben Nachnamen: Chaudhary. So wie ich auch.
Als meine Eltern noch Kinder waren, war die Ebene noch Malariagebiet. Nur die Volksgruppe der Tharu hatte über Jahrhunderte eine Resistenz entwickelt und besiedelte das fruchtbare Land. Daher leben in Dang und den anderen vier Bezirken im Terai bis heute die meisten Tharu. Seit Generationen bestellen sie das Land. Wo früher nur Elefantengras wucherte und Dschungel war, bauten sie Reis und Gemüse an.
Nachdem in den Fünfzigerjahren viele Hektar Wald auf Anordnung der Regierung gerodet wurden, ging auch die Malaria zurück, und es kamen zahlreiche Zuwanderer von den Hügeln in unsere Ebene. Damals wurden viele Tharu als Kamaya - als Leibeigene - unterworfen, darunter auch meine Großeltern und Eltern. Die Zuwanderer vertrieben die Tharu von den Feldern oder beuteten sie fortan als Landarbeiter aus. Viele sind von ihrem Land verjagt worden - teilweise sogar mit Waffengewalt -, oder aber sie wurden erpresst: »Gib mir deine Tochter, sonst gebe ich dir kein Land«, drohten die Landlords. So blieb vielen Familien nichts anderes übrig, als ihre Töchter wegzuschicken, und die Zahl der Kamalari explodierte.
Diese traurige Tradition hält bis heute an, obwohl im Jahr 2000 die Leibeigenschaft in Nepal offiziell abgeschafft worden ist. Viele Menschen sind auch noch immer landlos. An die Stelle von Kamaya trat Adhiya, das heißt, dass die Bauern das Land für den Landlord bestellen und als Lohn für ihre Arbeit die Hälfte der Ernte erhalten. In den Dörfern sind die Leute bis heute eher einfach und erdverbunden. Das Wasser, der Dschungel, der Boden - das sind ihre Lebensgrundlagen und die drei Dinge, die für Tharu seit Generationen am wichtigsten sind. Neben der Familie natürlich. In der Familie wird alles geteilt. Das hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich hat der Einzelne dadurch immer viel Unterstützung, denn Tharu halten zusammen und lösen Probleme gemeinsam. Andererseits aber kommt so auch niemand auf einen grünen Zweig. Denn die Familien sind oft sehr groß, und wenn einer etwas verdient, erwarten die anderen, dass sie davon etwas abbekommen. Wenn zum Beispiel ein Huhn geschlachtet wird, wird es auf manchmal siebzehn, manchmal zwanzig, bei sehr großen Familien sogar auf vierzig Teller verteilt. Da bleibt für den Einzelnen gerade mal ein Bissen übrig.
Das Leben im Terai ist noch sehr traditionell, man könnte auch sagen etwas rückständig. Die anderen Kasten in Nepal werfen uns daher oft Faulheit und Naivität vor, aber das ist ungerecht.
Was jedoch leider stimmt, ist, dass in Dang noch über die Hälfte der Menschen - die meisten davon Frauen - weder schreiben noch lesen kann. Bis heute geht jedes dritte Kind noch nicht zur Schule.
Durch ihre Gutgläubigkeit, aber auch fehlende Bildung waren Tharu schon immer leichte Opfer. Opfer von Ausbeutung durch Landlords, Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit, wie zuletzt während des Bürgerkrieges zwischen den Maoisten und der Armee, der Nepal von 1996 bis 2006 ins Chaos stürzte. Tausende wurden damals verschleppt, getötet und gezwungen, für die Maoisten zu kämpfen. Dörfer wurden verwüstet, Frauen und Mädchen missbraucht und zum Arbeiten gezwungen. Frauen und Kinder - und vor allem die Mädchen - sind immer das schwächste Glied in der Kette.
Ein guter Preis
Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Sonne schien nun und wärmte die Erde und meine Haut. Mit ihr waren auch die Farben zurückgekehrt: Hellgelb leuchteten die Rapsfelder zwischen den Häusern. Rot, orange, lila und rosa waren die Saris der Frauen, die mit großen Bündeln auf dem Kopf aus dem Dschungel kamen. Sie hatten Grünfutter für die Tiere geschnitten. Leuchtend blau war eine Murmel, die ich vor ein paar Wochen von einem der älteren Jungs in der Nachbarschaft gewonnen hatte. Sie war mein größter Schatz. Ich spielte mit ein paar Kindern vor der Hütte meiner Eltern. Vor ein paar Wochen hatte ich meinen sechsten Geburtstag gefeiert. Aber ich sah aus wie vier. Ich war schmal, hatte eine kurze Hose und ein dünnes, altes Hemdchen an.
Plötzlich entdeckte ich drei Männer, die den Weg entlang zu unserer Hütte kamen. Ich hatte noch nie Männer in solcher Kleidung gesehen. Sie trugen schwarze Sonnenbrillen und Anzüge, einer sogar eine Krawatte. Der Stoff der Anzüge war so glänzend, dass ich mich fast darin spiegeln konnte. Und auch in ihren Sonnenbrillen sah ich mich selbst. Ein kleines dünnes Mädchen in einem hellblauen Kittel mit einem ernsten Gesicht.
Die Männer fragten meine Mutter, ob ich ihre Tochter sei, und als sie nickte, kamen sie zu mir: »Namaste Bahini - guten Tag, kleines Mädchen. Gehst du zur Schule? «, wollte der ältere von ihnen wissen. Ich hätte gern den Stoff seines Hosenbeins angefasst, aber das traute ich mich nicht.
»Ja«, log ich, denn ich wusste, was diese Frage zu bedeuten hatte. Maghi ist nicht nur ein Fest, sondern auch traditionell der Tag, an dem der Kamalari-Handel stattfindet. Meine Großmutter, meine Mutter, meine Tanten, meine Schwester - sie alle waren früher Kamalari gewesen. Kamalari bedeutet übersetzt »Frau, die hart arbeitet«. Viele Tausend Tharu-Mädchen werden jedes Jahr als Dienstmägde an fremde Familien, Landlords oder Hotelbesitzer verkauft. So will es unsere Tradition.
Meine Schwester Mithila hat mir davon erzählt, wie hart sie in dem Hotel in der Stadt arbeiten musste. »Bis in die Nacht habe ich gekocht, geputzt und abgewaschen. Ich schlief in der Küche auf dem Boden, bekam nur die Reste von den Tellern der Gäste zu essen und wurde oft geschlagen«, hatte sie berichtet.
Ich ahnte, dass mich, wenn ich zugeben würde, dass ich gar nicht zur Schule ging, womöglich das gleiche Schicksal treffen würde und mich die fremden Männer mitnähmen.
»Aber was ist mit deiner Tante? Sie scheint krank zu sein«, sagte der Mann nun.
Bisrami, die Frau meines ältesten Bruders Amar, litt seit Wochen an Bauchkrämpfen und Erbrechen. Sie lag mit geschlossenen Augen auf einer Bastmatte neben dem Haus.
»Wenn du mitkommst, könnte dein Bruder Medizin für sie kaufen«, erklärte der Mann
Alle sahen mich an, mein Bruder, meine Mutter und die fremden Männer in Anzügen. Ich schaute an mir herab zu meinen Sandalen. Sie waren aus harten Bohnenschalen, die man im Dschungel findet. Darum war ein Strick gebunden, damit sie an den Füßen hielten. Mein Blick wanderte von meinen Füßen zu den schwarz polierten Lederschuhen der Männer. Ob es wohl bequem war, die Füße in solch geschlossene Schuhe zu zwängen, fragte ich mich.
»Ich habe noch nicht einmal richtige Sandalen«, sagte ich, »und heute ist Maghi, ein Festtag, den wir feiern sollten.«
Da nahm einer der jüngeren Männer ein Bündel Geld aus seiner Hosentasche und hielt mir einen 50-RupienSchein* hin. Viel zu viel für Gummischlappen - die kosteten damals gerade mal 35 Rupien**.
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, ich will das Geld nicht.« Denn ich wusste sehr gut, dass die Fremden versuchten, mich damit für sich zu gewinnen. »Mein Bruder soll mir Schuhe kaufen«, sagte ich.
Also gab er den Schein Amar. Mein Bruder drehte das Geld einen Moment in seinen Händen. Auf einmal sagte er: » Sir, wenn Sie mir 4000 Rupien*** geben, dann geht sie mit euch.« Er sah mich dabei nicht an.
Ich erschrak. Vor ein paar Monaten war mein Vater krank geworden, und mein Bruder musste sich 4000 Rupien für den Arzt und die Medizin leihen. Seitdem war der Landlord fast jeden Tag gekommen, um das Geld einzufordern. Oft drohte er: »Gebt mir das Geld, sonst werfe ich euch von meinem Land.«
Amar drehte sich zu mir und sagte: »Mit den 4000 können wir die Schulden beim Landlord bezahlen. Du wirst nur ein bisschen dafür arbeiten müssen und kannst in Kathmandu zur Schule gehen.«
Ich schaute meine Mutter an, aber die sagte nur: »Ich kann das nicht entscheiden, du wirst das machen, was dein Bruder sagt.«
Seitdem ich denken kann, habe ich große Angst vor Wasser. Ich habe mal mitansehen müssen, wie in der Regenzeit ein Mann vom Fluss mitgerissen wurde. Ein Bauer, der im Dschungel Holz geholt hatte. Er verlor das Gleichgewicht, die Strömung zog ihm die Füße unter den Beinen weg. Eine Weile noch hielt er sich an den Ästen fest und kämpfte gegen die braunen Wassermassen an, die ihn mit großer Geschwindigkeit forttrugen. Irgendwann tauchte sein Kopf nicht mehr auf, und das Holzbündel trieb allein flussabwärts. Später hörte ich die Leute im Dorf erzählen, dass er ein paar Kilometer weiter gefunden worden war. Tot.
Seit diesem Erlebnis habe ich panische Angst, sobald mir das Wasser höher als bis zum Knöchel reicht. »Aber dann muss ich den Fluss durchqueren«, sagte ich nun entsetzt zu Amar. »Ich kann nicht mitgehen«, weinte ich zitternd.
Meine Mutter verteidigte mich: »Ja, Amar, du weißt doch, wie sehr sie sich vor dem Wasser fürchtet, lass sie uns nicht auf die andere Seite des Flusses schicken.«
Amar wurde böse. »Du verhätschelst sie nur, so will sie gar nicht arbeiten gehen. Nur zu Hause bleiben und nichts tun. Wenn das so ist, dann kannst du demnächst zusehen, wer dir hilft, ich werde nichts mehr machen, dir kein Geld mehr geben, und die ganze Arbeit und die Schulden werden an dir hängen bleiben.« Und zu mir sagte er: »Urmila, wenn du gehst, hilfst du uns allen damit. Es wäre gut, wenn alle Familienmitglieder arbeiten würden und auch du deinen Teil dazu beitragen würdest. «
Als die Männer gegangen waren, verschwand auch Amar. Eine Stunde später kam er zurück, mit einem Paar kleiner, schwarzer Gummi-Flipflops. Sie waren ganz neu und ganz allein für mich! Sie rochen wunderbar nach Plastik, und ihre Sohle war so weich, als ob man auf Schaffellen laufen würde, fand ich. Sie waren noch etwas zu groß, ich musste erst üben, darin zu gehen. Wenn ich hüpfte oder rannte, verlor ich sie immer. Aber ich freute mich so sehr und platzte fast vor Stolz. Nach einer Weile fand ich auch heraus, wie ich mich mit den Zehen und dem Ballen festkrallen musste, damit sie mir nicht immer vom Fuß rutschten.
Den Rest des Abends tanzte und sprang ich in meinen neuen Latschen durch die Gegend und zeigte sie jedem im Dorf.
Nur zum Essen zog ich sie kurz aus. Zur Feier des Tages gab es süßen Mais, den ich liebe. Aber ich hatte keinen großen Hunger. Ich war viel zu aufgewühlt.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Klirrende Kälte. Sie lag knisternd auf den braunen Reisfeldern an diesem Maghi-Tag in Raptizone, dem fruchtbaren Tiefland von Nepal. Dicker, weißer Nebel breitete sich über der Ebene aus, wie fast jeden Morgen im Winter. Die Feuchtigkeit sammelte sich auf meinen Wimpern, kleine Tropfen liefen mir in die Augen und an meiner Nase hinunter. Ich zog meinen Schal, so fest es ging, um mich, aber trotzdem zitterte ich.
Nur schemenhaft erkannte ich die Umrisse um mich herum: Frauen, verhüllt in Saris und Schals, mit großen Bündeln auf dem Kopf. Eine Herde Wasserbüffel, Männer auf Fahrrädern, Kühe, Schafe, Ziegen, ein paar Motorräder, die sich in Schlangenlinien den Weg bahnten. Nur gedämpft drangen Geräusche durch die Dunstschwaden bis zu mir durch: Das Krähen der Hähne und das Quietschen der Wasserpumpen mischten sich mit Klappern von Metalltellern, mit Hundegebell und lauten Stimmen.
Meine Schwester Mithila und ich waren im Morgengrauen aufgebrochen, um nach Manpur zum Haus unserer Eltern zu laufen. Denn heute war Maghi. Seit Wochen schon freute ich mich darauf. Maghi ist das größte Fest der Tharu, es ist unser Neujahr. An diesem Tag machen wir rituelle Bäder im Fluss und reinigen uns. Die ganze Familie kommt zusammen, die Großeltern, Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel. Die Älteren segnen die Jüngeren, die Jungen ehren die Alten. Es wird getanzt, gegessen, gesungen und auf der Straße Theater gespielt. Die Frauen tragen ihre traditionellen Kleider, die bunte Tharu-Tracht, und ihren schweren Silberschmuck. Der Reiswein fließt in Strömen, die Leute im Dorf wandern von Haus zu Haus, besuchen Nachbarn und Freunde.
Aber ich freute mich am meisten, dass ich endlich mein Zuhause wiedersehen würde. Seit einer Weile lebte ich nämlich bei einer meiner älteren Schwestern. Bei meinen Eltern gab es oft nicht genug zu essen für uns alle, denn mein Vater und meine Mutter waren Kamaya - Leibeigene. Sie arbeiteten auf den Feldern und im Haus des Landlords, dem die Reis-, Kartoffel- und Rapsfelder in unserer Gegend gehören. Manchmal brachte meine Mutter Reis mit nach Hause, dann teilte sie ihn unter uns Kindern auf, meistens aber kam sie mit leeren Händen zurück, und es gab nichts zu essen. Dann gingen wir hungrig ins Bett.
Deshalb hatte sie mich zu meiner Schwester geschickt, die mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in einem anderen Dorf lebte, eine Stunde Fußmarsch entfernt. Der Mann meiner Schwester verdiente etwas Geld, deshalb konnten sie mich mit durchfüttern. Ich kümmerte mich dafür um meine kleinen Nichten und Neffen, obwohl ich selbst erst sechs Jahre alt war. Aber auch wenn es bei meiner Schwester genug Reis gab, wollte ich zurück, weil ich meine Mutter und Manpur vermisste. Nach einer Weile tauchte endlich die Lehmhütte meiner Eltern auf. Sie war sehr klein, und fast schien es, als duckte sie sich zwischen den anderen Hütten. Um sie herum stand ein Zaun aus Stöcken. Auf dem Strohdach wucherten die Ranken einer Kürbispflanze. Ein dicker gelber Kürbis hing direkt über der Eingangstür. Neben der Hütte flatterte die Wäsche auf einer Leine.
Es roch nach Feuer und nach den Schweinen des Nachbarn, die in einem Stall gleich nebenan grunzten. Auf dem kleinen Vorplatz vor unserer Hütte sah ich meine Mutter. Sie fegte gerade mit einem Büschel Äste den Boden.
Ich lief schnell zu ihr. »Dai, Dai, Dai!«, begrüßte ich sie. Das heißt auf Tharu »Mama«.
Sie stand vor dem Haus, ich senkte den Kopf, und sie legte ihre Hand auf mein Haar und segnete mich. So begrüßen wir unsere Eltern und ältere Respektspersonen. Ich war sehr glücklich, sie zu sehen, dennoch fiel ich ihr nicht in die Arme. Denn bei uns ist es nicht üblich, dass man sich umarmt oder küsst. Meine Mutter trug anlässlich des Maghi-Festes die traditionelle Tharu-Kleidung: den weiten, bunten Wickelrock mit breiter roter Borte, ein grün-rotes, bauchfreies Oberteil mit kurzen Ärmeln, viele grüne, gelbe und rote Perlenketten und den typischen, silbernen Kopfschmuck.
Ein Kind der Tharu
Wir Tharu leben vor allem im Terai, der riesigen, grünen Ebene im Südwesten Nepals, einem Ausläufer des Ganges-Tieflandes, das sich über die indische Grenze bis nach Nepal hineinzieht. Wir haben eine eigene Sprache, traditionelle Feste, eigene Naturgötter und wir tragen alle denselben Nachnamen: Chaudhary. So wie ich auch.
Als meine Eltern noch Kinder waren, war die Ebene noch Malariagebiet. Nur die Volksgruppe der Tharu hatte über Jahrhunderte eine Resistenz entwickelt und besiedelte das fruchtbare Land. Daher leben in Dang und den anderen vier Bezirken im Terai bis heute die meisten Tharu. Seit Generationen bestellen sie das Land. Wo früher nur Elefantengras wucherte und Dschungel war, bauten sie Reis und Gemüse an.
Nachdem in den Fünfzigerjahren viele Hektar Wald auf Anordnung der Regierung gerodet wurden, ging auch die Malaria zurück, und es kamen zahlreiche Zuwanderer von den Hügeln in unsere Ebene. Damals wurden viele Tharu als Kamaya - als Leibeigene - unterworfen, darunter auch meine Großeltern und Eltern. Die Zuwanderer vertrieben die Tharu von den Feldern oder beuteten sie fortan als Landarbeiter aus. Viele sind von ihrem Land verjagt worden - teilweise sogar mit Waffengewalt -, oder aber sie wurden erpresst: »Gib mir deine Tochter, sonst gebe ich dir kein Land«, drohten die Landlords. So blieb vielen Familien nichts anderes übrig, als ihre Töchter wegzuschicken, und die Zahl der Kamalari explodierte.
Diese traurige Tradition hält bis heute an, obwohl im Jahr 2000 die Leibeigenschaft in Nepal offiziell abgeschafft worden ist. Viele Menschen sind auch noch immer landlos. An die Stelle von Kamaya trat Adhiya, das heißt, dass die Bauern das Land für den Landlord bestellen und als Lohn für ihre Arbeit die Hälfte der Ernte erhalten. In den Dörfern sind die Leute bis heute eher einfach und erdverbunden. Das Wasser, der Dschungel, der Boden - das sind ihre Lebensgrundlagen und die drei Dinge, die für Tharu seit Generationen am wichtigsten sind. Neben der Familie natürlich. In der Familie wird alles geteilt. Das hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich hat der Einzelne dadurch immer viel Unterstützung, denn Tharu halten zusammen und lösen Probleme gemeinsam. Andererseits aber kommt so auch niemand auf einen grünen Zweig. Denn die Familien sind oft sehr groß, und wenn einer etwas verdient, erwarten die anderen, dass sie davon etwas abbekommen. Wenn zum Beispiel ein Huhn geschlachtet wird, wird es auf manchmal siebzehn, manchmal zwanzig, bei sehr großen Familien sogar auf vierzig Teller verteilt. Da bleibt für den Einzelnen gerade mal ein Bissen übrig.
Das Leben im Terai ist noch sehr traditionell, man könnte auch sagen etwas rückständig. Die anderen Kasten in Nepal werfen uns daher oft Faulheit und Naivität vor, aber das ist ungerecht.
Was jedoch leider stimmt, ist, dass in Dang noch über die Hälfte der Menschen - die meisten davon Frauen - weder schreiben noch lesen kann. Bis heute geht jedes dritte Kind noch nicht zur Schule.
Durch ihre Gutgläubigkeit, aber auch fehlende Bildung waren Tharu schon immer leichte Opfer. Opfer von Ausbeutung durch Landlords, Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit, wie zuletzt während des Bürgerkrieges zwischen den Maoisten und der Armee, der Nepal von 1996 bis 2006 ins Chaos stürzte. Tausende wurden damals verschleppt, getötet und gezwungen, für die Maoisten zu kämpfen. Dörfer wurden verwüstet, Frauen und Mädchen missbraucht und zum Arbeiten gezwungen. Frauen und Kinder - und vor allem die Mädchen - sind immer das schwächste Glied in der Kette.
Ein guter Preis
Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Sonne schien nun und wärmte die Erde und meine Haut. Mit ihr waren auch die Farben zurückgekehrt: Hellgelb leuchteten die Rapsfelder zwischen den Häusern. Rot, orange, lila und rosa waren die Saris der Frauen, die mit großen Bündeln auf dem Kopf aus dem Dschungel kamen. Sie hatten Grünfutter für die Tiere geschnitten. Leuchtend blau war eine Murmel, die ich vor ein paar Wochen von einem der älteren Jungs in der Nachbarschaft gewonnen hatte. Sie war mein größter Schatz. Ich spielte mit ein paar Kindern vor der Hütte meiner Eltern. Vor ein paar Wochen hatte ich meinen sechsten Geburtstag gefeiert. Aber ich sah aus wie vier. Ich war schmal, hatte eine kurze Hose und ein dünnes, altes Hemdchen an.
Plötzlich entdeckte ich drei Männer, die den Weg entlang zu unserer Hütte kamen. Ich hatte noch nie Männer in solcher Kleidung gesehen. Sie trugen schwarze Sonnenbrillen und Anzüge, einer sogar eine Krawatte. Der Stoff der Anzüge war so glänzend, dass ich mich fast darin spiegeln konnte. Und auch in ihren Sonnenbrillen sah ich mich selbst. Ein kleines dünnes Mädchen in einem hellblauen Kittel mit einem ernsten Gesicht.
Die Männer fragten meine Mutter, ob ich ihre Tochter sei, und als sie nickte, kamen sie zu mir: »Namaste Bahini - guten Tag, kleines Mädchen. Gehst du zur Schule? «, wollte der ältere von ihnen wissen. Ich hätte gern den Stoff seines Hosenbeins angefasst, aber das traute ich mich nicht.
»Ja«, log ich, denn ich wusste, was diese Frage zu bedeuten hatte. Maghi ist nicht nur ein Fest, sondern auch traditionell der Tag, an dem der Kamalari-Handel stattfindet. Meine Großmutter, meine Mutter, meine Tanten, meine Schwester - sie alle waren früher Kamalari gewesen. Kamalari bedeutet übersetzt »Frau, die hart arbeitet«. Viele Tausend Tharu-Mädchen werden jedes Jahr als Dienstmägde an fremde Familien, Landlords oder Hotelbesitzer verkauft. So will es unsere Tradition.
Meine Schwester Mithila hat mir davon erzählt, wie hart sie in dem Hotel in der Stadt arbeiten musste. »Bis in die Nacht habe ich gekocht, geputzt und abgewaschen. Ich schlief in der Küche auf dem Boden, bekam nur die Reste von den Tellern der Gäste zu essen und wurde oft geschlagen«, hatte sie berichtet.
Ich ahnte, dass mich, wenn ich zugeben würde, dass ich gar nicht zur Schule ging, womöglich das gleiche Schicksal treffen würde und mich die fremden Männer mitnähmen.
»Aber was ist mit deiner Tante? Sie scheint krank zu sein«, sagte der Mann nun.
Bisrami, die Frau meines ältesten Bruders Amar, litt seit Wochen an Bauchkrämpfen und Erbrechen. Sie lag mit geschlossenen Augen auf einer Bastmatte neben dem Haus.
»Wenn du mitkommst, könnte dein Bruder Medizin für sie kaufen«, erklärte der Mann
Alle sahen mich an, mein Bruder, meine Mutter und die fremden Männer in Anzügen. Ich schaute an mir herab zu meinen Sandalen. Sie waren aus harten Bohnenschalen, die man im Dschungel findet. Darum war ein Strick gebunden, damit sie an den Füßen hielten. Mein Blick wanderte von meinen Füßen zu den schwarz polierten Lederschuhen der Männer. Ob es wohl bequem war, die Füße in solch geschlossene Schuhe zu zwängen, fragte ich mich.
»Ich habe noch nicht einmal richtige Sandalen«, sagte ich, »und heute ist Maghi, ein Festtag, den wir feiern sollten.«
Da nahm einer der jüngeren Männer ein Bündel Geld aus seiner Hosentasche und hielt mir einen 50-RupienSchein* hin. Viel zu viel für Gummischlappen - die kosteten damals gerade mal 35 Rupien**.
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, ich will das Geld nicht.« Denn ich wusste sehr gut, dass die Fremden versuchten, mich damit für sich zu gewinnen. »Mein Bruder soll mir Schuhe kaufen«, sagte ich.
Also gab er den Schein Amar. Mein Bruder drehte das Geld einen Moment in seinen Händen. Auf einmal sagte er: » Sir, wenn Sie mir 4000 Rupien*** geben, dann geht sie mit euch.« Er sah mich dabei nicht an.
Ich erschrak. Vor ein paar Monaten war mein Vater krank geworden, und mein Bruder musste sich 4000 Rupien für den Arzt und die Medizin leihen. Seitdem war der Landlord fast jeden Tag gekommen, um das Geld einzufordern. Oft drohte er: »Gebt mir das Geld, sonst werfe ich euch von meinem Land.«
Amar drehte sich zu mir und sagte: »Mit den 4000 können wir die Schulden beim Landlord bezahlen. Du wirst nur ein bisschen dafür arbeiten müssen und kannst in Kathmandu zur Schule gehen.«
Ich schaute meine Mutter an, aber die sagte nur: »Ich kann das nicht entscheiden, du wirst das machen, was dein Bruder sagt.«
Seitdem ich denken kann, habe ich große Angst vor Wasser. Ich habe mal mitansehen müssen, wie in der Regenzeit ein Mann vom Fluss mitgerissen wurde. Ein Bauer, der im Dschungel Holz geholt hatte. Er verlor das Gleichgewicht, die Strömung zog ihm die Füße unter den Beinen weg. Eine Weile noch hielt er sich an den Ästen fest und kämpfte gegen die braunen Wassermassen an, die ihn mit großer Geschwindigkeit forttrugen. Irgendwann tauchte sein Kopf nicht mehr auf, und das Holzbündel trieb allein flussabwärts. Später hörte ich die Leute im Dorf erzählen, dass er ein paar Kilometer weiter gefunden worden war. Tot.
Seit diesem Erlebnis habe ich panische Angst, sobald mir das Wasser höher als bis zum Knöchel reicht. »Aber dann muss ich den Fluss durchqueren«, sagte ich nun entsetzt zu Amar. »Ich kann nicht mitgehen«, weinte ich zitternd.
Meine Mutter verteidigte mich: »Ja, Amar, du weißt doch, wie sehr sie sich vor dem Wasser fürchtet, lass sie uns nicht auf die andere Seite des Flusses schicken.«
Amar wurde böse. »Du verhätschelst sie nur, so will sie gar nicht arbeiten gehen. Nur zu Hause bleiben und nichts tun. Wenn das so ist, dann kannst du demnächst zusehen, wer dir hilft, ich werde nichts mehr machen, dir kein Geld mehr geben, und die ganze Arbeit und die Schulden werden an dir hängen bleiben.« Und zu mir sagte er: »Urmila, wenn du gehst, hilfst du uns allen damit. Es wäre gut, wenn alle Familienmitglieder arbeiten würden und auch du deinen Teil dazu beitragen würdest. «
Als die Männer gegangen waren, verschwand auch Amar. Eine Stunde später kam er zurück, mit einem Paar kleiner, schwarzer Gummi-Flipflops. Sie waren ganz neu und ganz allein für mich! Sie rochen wunderbar nach Plastik, und ihre Sohle war so weich, als ob man auf Schaffellen laufen würde, fand ich. Sie waren noch etwas zu groß, ich musste erst üben, darin zu gehen. Wenn ich hüpfte oder rannte, verlor ich sie immer. Aber ich freute mich so sehr und platzte fast vor Stolz. Nach einer Weile fand ich auch heraus, wie ich mich mit den Zehen und dem Ballen festkrallen musste, damit sie mir nicht immer vom Fuß rutschten.
Den Rest des Abends tanzte und sprang ich in meinen neuen Latschen durch die Gegend und zeigte sie jedem im Dorf.
Nur zum Essen zog ich sie kurz aus. Zur Feier des Tages gab es süßen Mais, den ich liebe. Aber ich hatte keinen großen Hunger. Ich war viel zu aufgewühlt.
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Urmila Chaudhary
Urmila Chaudhary konnte sich nach ihrer Freilassung aus der Sklaverei ihren Traum erfüllen und endlich zur Schule gehen. Nach ihrem Abschluss möchte sie Anwältin werden, um sich für die Rechte der Kamalari einzusetzen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Urmila Chaudhary
- 320 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009337
- ISBN-13: 9783868009330
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