Späte Familie
Eine Frau beschließt von einem Tag auf den anderen, ihre kriselnde Ehe zu beenden, sich von ihrem Mann zu trennen. Obwohl sie eine selbstständige, selbstbewusste Frau ist, sieht sie...
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Eine Frau beschließt von einem Tag auf den anderen, ihre kriselnde Ehe zu beenden, sich von ihrem Mann zu trennen. Obwohl sie eine selbstständige, selbstbewusste Frau ist, sieht sie sich in der von ihr herbeigesehnten Freiheit zunächst mit einer lähmenden Angst vor der Einsamkeit konfrontiert. Sie leidet unter Depressionen und dem furchtbaren Schuldgefühl ihrem Kind gegenüber, dem sie den Vater, die Sicherheit der Familie genommen hat. Dann kommt eine neue Liebe. Eine neue Familie mit Kindern aus einer ebenfalls geschiedenen Ehe entsteht, ein hoffnungsvoller Neuanfang, der Behutsamkeit, Mut und Geduld von allen Beteiligten erfordert.
Späte Familievon ZeruyaShalev
LESEPROBE
Erstes Kapitel
Ich bin tot, schreit er begeistert,sein kleiner Körper zappelt,
wirklich tot, vollkommen tot, totfür immer, sein Mund ist
aufgerissen, entblößt seine weißen,lockeren Milchzähne, die
nur noch an Fäden hängen. Ichträume, singt er, du träumst
die ganze Zeit, am Schluss findestdu heraus, dass du keinen
Sohn hast, für einen Moment schweigter und betrachtet mein
Gesicht mit tanzenden Augen, meinErschrecken vergrößert
sein Vergnügen, seine neueBoshaftigkeit, die an diesem Morgen
geboren wurde, sechs Jahre nach ihm,und ihn schon einhüllt
wie diese Gewänder, die er früher sogern getragen hat,
lose über die Schultern gehängt.
Ein Kreis von Teddybären umgibt ihn,mit glanzlosem Fell
und ewiger Hoffnung im Blick, und erhüpft zwischen ihnen
herum wie eine Seifenblase, aufseiner Brust baumelt ein
ausgeschnittenes Papierherz, darauf steht in großen Druckbuchstaben
sein Name, damit die neue Lehrerinihn weiß, damit sie
nicht durcheinander kommt, damit dieanderen Kinder ihn
wissen, und auch die Wände, die ihnumgeben werden und
jetzt noch nackt sind, in wenigenTagen werden sie mit Zeichnungen
von Tieren und Pflanzen bedecktsein, mit Szenen des
Heldenmuts und der Phantasie, inFarben der Erde, des Blutes
und der Kohle, wie in den Höhlenprähistorischer Menschen,
bevor die Schrift erfunden wurde.
Ich presse meine Lippen zusammen,sie haben den Geschmack
von trockenem, an den Rändernversengtem Gummi,
das ganze Haus scheint den Gerucheines Schwelbrandes zu
verströmen, als wäre in irgendeinerEcke ein brennender Reifen
versteckt und schickte trübe Zungenin unsere Richtung.
Mein Blick bleibt an denBücherregalen hängen. Gestern noch
waren sie übervoll, jetzt gähnenLöcher in ihnen, starren mich
mit den leeren Augen eines Skelettsstrafend an, wie wenig lassen
wir zurück, nur weißlicher Staub istvon den Büchern geblieben,
die uns in aller Stille Jahr um Jahrangeschaut haben.
Er hat das Gefühl, als habe er füralle Ewigkeit meine Aufmerksamkeit
verloren, er springt vor mir herum,er versucht es
wieder, steigert die Mitteilung, dubist tot, verkündet er laut
jubelnd, richtig tot, tot für immer,du träumst nur, dass du
lebst, das Haus hier ist nichtwirklich, der Stuhl da ist nicht
wirklich, und auch ich bin nichtwirklich, wiederholt er, du
träumst das nur, gleich wirst dusehen, dass alles ein Traum ist.
Seine kleinen, immer schmutzigenHände mit den kurz
geschnittenen Fingernägeln fuchtelnherum, suchen den Weg
zu mir, jetzt wirft er sich vor mirauf den Teppich, es scheint,
als wäre er besiegt, schon wird seinKopf von meinen Knien
angezogen, aber sofort richtet ersich auf, packt einen Teddybären
und wirft ihn mit aller Kraft inmeine Richtung, ich
fange den weichen, goldenen Teddy,drücke ihn fest an meine
Brust, wiege ihn hin und her, umseine Eifersucht zu erregen,
um mir und ihm auf diese Art denTrost seiner Unschuld zurückzugeben.
Gib ihn her, er gehört mir, verlangter, den hat mir Papa
aus Schottlag mitgebracht, aber ichverstecke den Teddy hinter
meinem Rücken, Schottland, sage ichund meine Stimme ist
heiser, als hätte ich seit Jahrennicht mehr gesprochen, sag
Schottland, und er kommt näher undich habe das Gefühl, als
wolle er von mir den Schatten eineruralten Umarmung, ich
reagiere sofort, strecke ihm dieArme entgegen, aber dann wirft
er sich auf mich, reißt mir dengefangenen Teddy mit einem
triumphierenden Gebrüll aus derHand, jetzt hab ich dich
reingelegt, schreit er, Schläueblitzt in seinen Augen auf, und
schon umkreist er denWohnzimmertisch, wie ein Tänzer mit
einer antiken Bibel, TeddySchottlag, trillert er, nur im Traum
gehörst du mir.
Erstaunt beobachte ich ihn, als säheich ihn zum ersten
Mal, seine unbeugsame, sichereExistenz verwirrt mich an diesem
Morgen mehr als sonst, ein richtigerJunge, so zeigt sich,
ist keine Phantasiegestalt, keineFigur aus einem vergilbten
Kinderbuch, keine Frucht der Liebe,in die man manchmal wegen
ihrer Süße beißt, kein wunderbaresSpielzeug, kein ermüdender
Tagtraum, als Junge geboren, betoneich, als sei seine
Geburt anders gewesen als die Geburtder anderen Jungen, die
er bald in dem Klassenzimmer treffenwürde, dessen Wände
noch kahl sind, ein Junge, der dieSchale der Realität mit lautem
Jubel durchbrochen hat, mitgeballten Fäusten, und ich
versuche, all das Wissen, das ich inden letzten sechs Jahren
über ihn zusammengetragen habe,auswendig zu lernen, sortiere
das Durcheinander von Dingen, überderen Bedeutung
man nicht lange nachdenken muss,beachte aber besonders
die Randgebiete, denn wie bei einerkomplizierten Ausgrabung
sind gerade sie es, die die Lösungbringen: Er weigert sich, seine
Haare schneiden zu lassen, im Schlafbedecken die Locken
sein Gesicht und hängen ihm bis inden Mund, er liebt es, beim
Gehen zu essen, er schwenkt dieArme, er isst mit der Begeisterung
eines wilden Tiers beimZerfleischen, und wenn es dunkel
wird, bekommt er Falten in dieStirn, sein Rücken wird krumm
vor Sorge, wie würde er die kommendeNacht mit all ihren
Gefahren bestehen, doch am Morgenist er fröhlich, als sei sein
Sieg endgültig und vollkommen. SeinHerz ist voller Liebe zu
seinen Dutzenden von Teddybären, erzieht ihnen seine Babysachen
an, er teilt sie in Familien auf,gibt jedem eine private
und komplizierte Familiengeschichte.Er verehrt den Schnee,
wartet schon im Herbst gespannt aufden Winter, hebt die
Augen zum Himmel, betet, dass erkommen möge, und ist bis
in seine tiefsten Tiefen verletzt,wenn in diesem Jahr keiner
fällt.
In unseren Fotoalben sucht er nursich selbst. Ein Bild, auf
dem er nicht zu sehen ist, treibtihm die Tränen in die Augen,
Ereignisse, an denen er nicht teilgenommenhat, machen ihn
wütend, alles, was vor seiner Geburtpassiert ist, macht ihn
rebellisch. Alle Kuchen, die ichgebacken habe, bevor er geboren
wurde und von denen er nichts essenkonnte, alle Schneetage,
die wir vor seiner Geburt erlebtenund die er nicht genießen
konnte, alle Ausflüge, die wir vorseiner Geburt gemacht
haben und an denen er nichtteilgenommen hat, vor allem
wenn wir mit dem Flugzeug geflogensind, ohne ihn. Wo war
ich damals?, fragt er missmutig, imBauch? Als hätte ihm seine
Anwesenheit im Bauch trotz allemermöglicht, an diesem tollen
Ausflug teilzunehmen, und wenn ichbekenne, nein, du warst
noch nicht im Bauch, dann sinkt ertiefer in seinen Schmerz,
wo war ich dann, geschlagen von derVorstellung seiner Nichtexistenz,
und ich beeile mich, ihn zuberuhigen, du warst in meinem Herzen,
vom Tag meiner Geburt an warst du inmeinem Herzen.
Er ist ein pedantischer und eifrigerHistoriker seines kurzen
Lebens, er hält seine Erinnerungenheilig, jedes Ereignis,
an dem er teilgenommen hat, bekommteine ungeheure Bedeutung,
wieder und wieder betont er dieDetails, um wie viel
Uhr bin ich geboren, wer hat michals Erster gesehen, das bin
ich, ruft er erfreut, wenn seinkleines Gesicht zum ersten Mal
im Album auftaucht, wer hat michfotografiert, wer hat mir
diese Mütze gekauft, und doch schämter sich bei seinen
Nachforschungen, ich erinnere michan alles, ich frage einfach, gibt
er zu, ich erinnere mich auch, waspassiert ist, bevor ich geboren
bin, in deinem Herz war ein kleinesFenster, er übertreibt
mit seiner Phantasie, vergrößertseine Anwesenheit, und
durch das Fenster habe ichhinausgeschaut und alles gesehen,
alles, betont er, fast drohend, alshätte er von seinem geheimen
Versteck aus auch Dinge beobachtet, dieman nicht tut.
Er schläft mit Licht, dreiNachtlampen stehen auf seiner
Fensterbank, sein Bett ist vollerTeddybären. Er wacht mit
Gebrüll auf, sein Blick gleichtihrem, glatt, klar, erwartungsvoll.
Er wacht pedantisch über seinEigentum, alte Schnuller, Babykleidung,
gestrickte Schühchen, er weigertsich, sich von diesen
Dingen zu trennen, als könne seinLeben in umgekehrter Richtung
weitergehen und er würde sie baldwieder brauchen. Er
hasst Veränderungen, hängt anRoutinen, und jedes einmalige
Ereignis verwandelt sich in eineverpflichtende Gewohnheit,
ein zufälliger Stopp imVergnügungspark, ein Gedächtnisspiel
beim Schlafengehen, alles, was wireinmal getan haben, sollen
wir bis ans Ende der Tagewiederholen. Er hasst es, wenn man
ihm beim Spielen zuschaut, er hasstes, wenn ihm die Sonne in
die Augen scheint, versucht, dasLicht zu verjagen wie eine lästige
Fliege, er kann nicht schwimmen, erkann seine Schnürsenkel
nicht binden, er hat Angst davor,Fahrrad zu fahren,
seine Eltern haben sich gesterngetrennt.
Komm zu mir, Gili, sage ich, meinKopf ist verwirrt von
den Umdrehungen, aber er hat sichschon von mir abgewandt,
sein Interesse gilt der Tür, dorthantiert jemand mit Schlüsseln,
Mama, ein Einbrecher, flüstert erängstlich, kontrolliert
mit einem schnellen Blick dieTeddys, die auf dem Teppich verstreut
herumliegen, welcher würdemitgenommen werden, von
welchem würde er sich trennenmüssen, plötzlich sind sie
unerträglich geliebt, und ich steheauf und gehe zur Tür, wo
habe ich den Schlüssel hingelegt,aber zu meiner Überraschung
geht die Tür mit einementschlossenen Knarren auf. Papa, ich
habe gedacht, du wärst einEinbrecher, jubelt Gili, die Angst,
die sich als falsch herausgestellthat, erlaubt ihm ein Gefühl des
Triumphs und der Erleichterung, alshabe er eigenhändig eine
Verbrecherbande besiegt. Amnon, wiebist du denn hereingekommen?,
frage ich schnell, versuche, dieFreude durch den
strengen Ton zu dämpfen, wir hattendoch abgemacht, dass du
deinen Schlüssel hier lässt. Erstellt sich unschuldig, er hat die
Antwort schon parat, was soll dasheißen, ich habe dir meinen
Schlüssel dagelassen, weil du nocheinen zweiten wolltest, aber
ich habe ihn vorher nachmachenlassen, und sofort beugt er
sich aus voller Höhe zu dem Jungen,seine Augen werfen mir
über Gilis schmalen Rücken hinwegeinen Blick zu, glaubst du
etwa, ich soll keinen Schlüssel zurWohnung meines Sohnes
haben? Und angenommen, ich geheabends unten vorbei und
höre ihn weinen und kann nicht zuihm hinaufgehen? Und
angenommen, ich sehe Rauch aus demFenster kommen und
kann nicht hinaufgehen, um das Feuerzu löschen? Gili unterstützt
ihn begeistert, stimmt, Mama, sonstwürden meine Bären
verbrennen, willst du, dass meinSchottlag-Bär verbrennt?
Ich seufze, darüber unterhalten wiruns später, du solltest
dich beeilen, sonst kommt er zu spätzur Schule, aber Amnon
richtet sich schwerfällig auf, zeigtmir ein gekränktes Gesicht,
einen Moment noch, was ist mit dirlos, du hast deinen Kaffee
schon getrunken, nicht wahr, aberich noch nicht. Er geht zum
Wasserkessel, füllt ihn bis zum Randmit Wasser, als wolle er
zehn Tassen Kaffee für viele Gästebereiten, die im Wohnzimmer
sitzen und warten. Frag nicht,knurrt er, ich habe keine
Sekunde geschlafen, der Kühlschrankdort macht einen Krach
wie eine Planierraupe, und ichschaue ihn überrascht an, es
fällt mir schwer, den Ton seinerStimme einzuordnen, hat er
etwa schon vergessen, dass ichverantwortlich bin für seine Leiden,
dass er mich jetzt so unschuldig anihnen teilnehmen
lässt, als hätte eine höhere Machtuns ein Urteil auferlegt.
Dann schlaf heute hier wie immer,Papa, unser Kühlschrank
macht überhaupt keinen Krach, Gilipostiert sich stolz
vor dem Kühlschrank, wie ein mitallen Wassern gewaschener
Verkäufer, er reißt die Tür so weitauf, dass der kühle Atem in
die Küche strömt. Unser Kühlschrankist leise, Papa, er legt
sein kleines Ohr daran, er wird dichnicht aufwecken, du wirst
schon sehen, und ich wecke dich auchnicht, und zögernd verspricht
er, ich wecke euch nie mehr auf,wenn du zurückkommst.
Ich gehe zum Wasserkessel, kippe ihnaus und lasse
nur wenig Wasser darin. Gili, wirhaben es dir doch erklärt, wir
haben endlos darüber geredet, unsereTrennung hat nichts mit
dir zu tun, ganz bestimmt nichtsdamit, dass du uns in der
Nacht aufweckst, Eltern trennen sichwegen ihrer eigenen Probleme,
nicht wegen der Kinder, imGegenteil, sie werden ihre
Kinder immer lieb haben, mehr alsalles andere auf der Welt.
Wie bequem ist es doch, sich hinterdiesem Wort zu verstecken,
diesem trügerischen, autoritären,verantwortungsbewussten
Wort Eltern, nicht Mama und Papa,nicht Papa und ich, nicht
wir, wir beide, Amnon und Ella.
© Berlin Verlag
Übersetzung: Mirjam Pressler
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Jerusalem. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe - «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» - wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zeruya Shalev gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.
Pressler, Mirjam
Mirjam Pressler, 1940 in Darmstadt geboren, war eine der beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands. Als Übersetzerin hat sie unter anderem Zeruya Shalev, Sayed Kashua und Aharon Appelfeld ins Deutsche übertragen. 2004 erhielt sie den Deutschen Bücherpreis für ihr Lebenswerk. Mirjam Pressler starb im Januar 2019 in Landshut.
- Autor: Zeruya Shalev
- 2005, 582 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pressler, Mirjam
- Übersetzer: Mirjam Pressler
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827004748
- ISBN-13: 9783827004741
- Erscheinungsdatum: 22.08.2005
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