Spätzleblues / Pipeline Praetorius Bd.3
Roman
Pipeline Praetorius lebt in Stuttgart. Sie kämpft gegen die schwäbische Spießigkeit und wo immer sie hinkommt, gibt es Katastrophen. Ihr Freund schafft neuerdings in China und ihr neuer Job entpuppt sich als Flop. Das Einzige, was da noch hilft, ist Tante Dorles Käsekuchen.
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Produktinformationen zu „Spätzleblues / Pipeline Praetorius Bd.3 “
Pipeline Praetorius lebt in Stuttgart. Sie kämpft gegen die schwäbische Spießigkeit und wo immer sie hinkommt, gibt es Katastrophen. Ihr Freund schafft neuerdings in China und ihr neuer Job entpuppt sich als Flop. Das Einzige, was da noch hilft, ist Tante Dorles Käsekuchen.
Klappentext zu „Spätzleblues / Pipeline Praetorius Bd.3 “
Pipeline Praetorius lebt in Stuttgart, der wildesten Stadt Deutschlands. Sie zieht Katastrophen vollautomatisch an und kämpft gegen die schwäbische Spießigkeit. Mit ihrem Freund Leon aus Hamburg hat sie sich versöhnt, doch der schafft jetzt bei Bosch in China. Und auch ihr neuer, vielversprechender Job in einer Werbeagentur entpuppt sich als die absolute Katastrophe. Da hilft nur noch Tante Dorles unübertroffener Käsekuchen ...
Lese-Probe zu „Spätzleblues / Pipeline Praetorius Bd.3 “
Spätzleblues von Elisabeth Kabatek 1. Kapitel
The moment I wake up before I put on my make-up I say a little prayer for you while combing my hair now and wondering what dress to wear now I say a little prayer for you Wutzky! Du bisch so an Vollidiot! Du hosch's echt druff , dich dodal unbeliebt zu macha!« *
... mehr
Ich saß auf meinem Hintern und schnappte nach Luft . Keine gute Idee. Das Riesenvieh stank wie ein Mülleimer. Es war aus der Haustüre geschossen wie eine Rakete, hatte seine Schnauze in meinen Magen gebohrt und mich auf mein Hinterteil katapultiert. Nun hing es mit heraushängender Zunge über mir, sah irgendwie begeistert aus und blies mir seinen Atem ins Gesicht. Das Tier war nicht furchterregend. Nur ziemlich eklig. Offensichtlich hatte es sich schon ziemlich lange nicht mehr die Zähne geputzt. »Hosch dr wehdoo?« Harald packte das Viech am Halsband und zog es mit aller Kraft zurück. Mit der anderen Hand half er mir auf die Beine. An meinem Po klebten feuchte Blätter. Ich war zum Glück in einem modrigen Laubhaufen gelandet. Wie gut, dass Lila und ich es nicht so mit der Kehrwoche hatten! »Nix passiert«, sagte ich atemlos.
»Dud mr echt leid, Line. Off asichdlich hot dr Wutzky dich glei ens Herz gschlossa.«
»Ist das etwa dein Hund?«, fragte ich. War das überhaupt ein Hund? Das Vieh war etwa so groß wie ein Kalb, nur deutlich hässlicher. Es hatte kurze, struppige Haare, einen zu kurzen Schwanz und viel zu große Schlappohren. Es sah ein bisschen aus wie eine missratene Kinderzeichnung. Okay, die Farbe des Fells war ganz hübsch. Verschiedene Brauntöne, die ineinanderliefen wie Strähnchen vom Friseur. Das war aber auch das Einzige, was mir positiv auffiel. »Lila erklärd dir älläs«, sagte Harald hastig. »Mir gangad derweil oms Viereck. Komm, Wutzky.« Ohne Jacke und Leine zischten Harald
und Wutzy ab. Ich pflückte die feuchten Blätter von meiner Jeans, ließ im Flur Jacke, Schal und Umhängetasche fallen, zog die Stiefel aus und ging in die Küche. Lila, meine Mitbewohnerin und beste Freundin, stand am Herd und rührte in einem Topf.
»Was ist das für ein Hund?«, fragte ich. »Und auch dir einen schönen Abend, Line. Das ist Haralds Scheidungshund«, sagte Lila. »Seine Frau - Ex-Frau - streikt. Sie hat einen neuen Freund und keine Lust mehr, sich ständig um den Hund zu kümmern. Sie haben ausgehandelt, dass Wutzky unter der Woche in Schorndorf ist und das Wochenende bei Harald verbringt.« »Soll das heißen, wir haben jetzt jedes Wochenende diesen stinkenden Köter am Hals?«, fragte ich.
»Ich fürchte, ja. Ich bin auch nicht gerade begeistert, aber was soll ich machen. Der Hund gehört nun mal zu Harald.« »Ich bin allergisch gegen Hundehaare!«
»Quatsch.« »Doch! Es juckt mich schon am ganzen Körper!« Ich fing an, mich wie wild zu kratzen.
»Das bildest du dir ein.« »Außerdem hatte ich erst vor ein paar Monaten eine traumatische Erfahrung mit einem Hund. Erinnerst du dich? Darüber bin ich noch nicht hinweg. Seither war ich nie mehr Joggen.« Ein zotteliges Monster namens Klaus-Peter, nicht ganz so groß wie Wutzky, hatte mich auf dem Blauen Weg umgenietet und abgeschleckt. »Du hast das Joggen nicht des Hundes wegen gelassen, sondern weil du deinen Arsch danach nicht mehr hochgekriegt hast. Und Wutzky ist so ein lieber Hund, er wird dir helfen, dein Trauma zu verarbeiten. Wenn er dich stört, verbringen wir in Zukunft eben jedes Wochenende bei Harald in der Landhausstraße. Wenn dir das lieber ist, gib Bescheid.«
»Das ist Erpressung! Ich will nicht, dass du jedes Wochenende weg bist!« Vor allem jetzt nicht, wo mein eigener Freund Tausende von Kilometern entfernt war. Im Moment hatten wir nicht mal eine Wochenendbeziehung. Mehr so eine Fernbeziehung. Eine Sehr-weit-weg- Beziehung. Oder eine Skype-Beziehung. Knutschen am Bildschirm war allerdings auf Dauer ziemlich unbefriedigend. Dann doch lieber Lila plus Harald plus Riesenköter, als ganz alleine rumzusitzen. Ich seufzte, ließ mich auf einen unserer wackeligen Stühle fallen und schenkte mir eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die Haustüre öffnete sich, und Harald und Wutzky kamen zurück. Wutzky trabte zu Lila, die gerade Gemüse schnippelte, drückte seine Schnauze an ihr Bein und sah sie bittend an. Als Lila nicht reagierte, schaltete sein Blick - klick - auf flehend um, und als auch das nichts fruchtete - klick - auf leidend. »Verschwinde«, knurrte Lila. »Das fangen wir gar nicht erst an. Außerdem schmeckt dir Biogemüse sowieso nicht.« Wutzky trollte sich unter den Tisch. Er schien zu wissen, wann er
verloren hatte. »Wow«, sagte ich. »Gibt's da eine Fernbedienung, mit der man den Gesichtsausdruck umschalten kann?« »Mei Ex-Frau hot emmr gsagt: Wenn es einen Oscar für Hunde gäbe, hätte Wutzky ihn schon längst bekommen. Er ischt der geborene Schauspieler.«
Harald war in etwas verfallen, das so klang, wie wenn schwäbische Politiker vorgaben, Hochdeutsch zu reden. »Dud mir echt leid, dass i eich mit dem Hond nerv. Mei Ex-Frau sagt: Ich brauche Zeit für meinen neien Freund, da will ich nicht von einem Hund geschdört werden«, sagte Harald. Seine Stimme klang bitter. »Machd's dr ebbes aus, Line?« Ich ächzte. »Ich hab's nicht so mit Hunden. Aber wenn's nicht anders geht ... ich fände es auch schade, wenn ihr jetzt wegen Wutzky nicht mehr hier aufk reuzt. Er ist nur ein bisschen groß.« »Du muscht jetzt Verantwortung für den Hund übernehmen, sagt mei Ex-Frau. Schließlich kümmere ich mich om unsere Töchter. Ond soll der arme Hond jetz ens Dierhoim, bloß weil mei Frau an Neia hot?«
In Haralds Augen standen Tränen. Auweia. Lila zerkleinerte mit großer Energie Karotten und schwieg. Wutzky streckte seinen Kopf unter dem Tisch vor und sah Harald mit einem Blick an, der eindeutig sagte: »Ich weiß, was du durchgemacht hast, Cowboy.« In diesem Augenblick gab es einen lauten, geräuschvollen Knall wie aus einer Kinderpistole. Kurz darauf durchzog ein ekelhaft er Gestank die Küche. Harald rannte zum Fenster und riss es weit auf. »Des isch leider au so a Gewohnheid vom Wutzky. Wenn er glicklich isch, noo lässt er oin fahra.« Wutzky sah von einem zum anderen. Sein lächerlich kurzer Schwanz schlug heft ig auf den Boden. Er sah in der Tat sehr glücklich aus und schien sich bei uns ausgesprochen wohl zu fühlen. Besonders sensibel schien er nicht zu sein. Sonst hätten ihn meine negativen Schwingungen vom Glücklichsein abgehalten. »Kann i dir ebbes helfa, Lila?«, fragte Harald. »Ist ja nett, dass mal einer fragt«, sagte Lila. »Tut mir leid«, sagte ich schuldbewusst. »Ich bin nur vollkommen platt. Ich muss mich erst wieder an diese langen Arbeitstage
gewöhnen.« »Sozialpädagoginnen haben auch lange Arbeitstage. Trotzdem lassen sie nicht ihren ganzen Kram einfach im Flur fallen. Sie kochen sogar noch.«
»Ich räum's ja gleich weg«, sagte ich. »Wie laufd's denn so?«, fragte Harald. »Im Moment eigentlich ganz okay. Es ist nur so wahnsinnig viel, das ist eigentlich nicht zu schaff en. Da hat sich ein Riesenberg angestaut, weil die Frau, die ich vertrete, fehlt ja jetzt schon länger. Und ich merke eben, dass ich ziemlich lang aus dem Job raus war. Außerdem haben die so eine komische Verwaltungs-EDV, an die muss ich mich erst gewöhnen. Aber was soll's, ich bin froh, dass ich wieder arbeiten darf.« »Mach uns doch mal ein Fläschchen Wein auf, Harald«, sagte Lila. »Dann läuten wir das Wochenende ein.« Vor drei Wochen hatte ich einen neuen Job angefangen. Fast ein Jahr lang war ich arbeitslos gewesen. Dann hatte ich durch Zufall wieder eine Stelle als Texterin bei der Werbeagentur Friends and Foes gefunden. Im Moment war ich in der Probezeit. Die sollte zwei Monate dauern, und deswegen musste ich ranklotzen. Außerdem war es erst mal nur eine Schwangerschaft svertretung. Aber nach der langen, deprimierenden Zeit ohne Arbeit war es großartig, morgens wieder aus dem Haus gehen zu können. Außerdem lenkte es mich davon ab, dass mein Freund in China saß. Ich räumte meine Sachen im Flur auf und lief die Treppe hinauf in mein Zimmer. Auf meinem Bett lag Suff ragette, Lilas Katze, und beantragte off ensichtlich Asyl. Ich streichelte sie und sagte: »Na, Suff ragette, jetzt gibt es hier schon zwei, die den Köter nicht mögen, oder?« Suff ragette sprang auf, fauchte, machte einen Katzenbuckel und schoss zur Tür hinaus. Bestimmt roch ich nach Wutzky. Jetzt gehörte ich auch zu den Verrätern. Ich tauschte meine Klamotten gegen einen schlabbrigen verfärbten Jogginganzug. Hurra, Wochenend-Look! Nicht, dass man bei einer Agentur im gebügelten Blüschen auftauchen oder schick sein musste. Aber man durft e zumindest keine Flecken auf den T-Shirts haben. Oder Löcher. Löcher in den Jeans, das ging durch, aber nur, wenn es vom Hersteller gewollte Löcher waren. Meine Hosen hatten oft ungewollte Löcher und meine T-Shirts ungewollte Flecken. Mir war aber schon aufgefallen, dass auch mein neuer Kollege Micha morgens mit einem sauberen T-Shirt kam und abends mit einem fleckigen T-Shirt ging. Das hatte etwas Beruhigendes. Ich ging zurück nach unten in die Küche. Lila goss gerade die Spaghetti ab. »Wie stellst du dir das mit Suff ragette vor?«, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. »Sie wird sich eben dran gewöhnen müssen. Wutzky jagt keine Katzen. Und er darf nicht nach oben. Unten Hund, oben Katze, wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Außerdem ist es ja nur am Wochenende. Und wenn Harald seine Töchter hat, ist er sowieso mit Hund und Töchtern in der Wohnung über der Zahnarztpraxis.«
Auf dem Tisch standen drei riesige Weingläser, in denen Rotwein schimmerte. Sie sahen nicht aus wie die Senfgläser, die wir normalerweise benutzten. Harald hatte sich hinter den Gläsern aufgebaut und platzte schier vor Stolz.
»I han denkd, i spendier eich an ordentlicha Bordeaux ond die Gläser drzu, weil i so oft bei eich ben. Den Wei brengd mr a Patient emmr aus Frankreich mit, direkt vom Weigut.« Lila ließ die Spaghetti stehen, küsste Harald auf die Wange und nahm ein Glas. Wir prosteten uns zu, und Harald sah uns erwartungsvoll an. Ich nahm einen tiefen Schluck von dem offensichtlich edlen Tropfen. Leider schmeckte mir der Wein kein bisschen besser als der, den Lila normalerweise von ihren Eltern mitbrachte, »Cannstatter Zuckerle« mit Schraubverschluss, aber um Harald eine Freude zu machen, nahm ich einen zweiten Schluck, gurgelte, schloss die Augen, spülte den Wein im Mund hin und her, nickte mehrmals anerkennend und sagte: »Tolles Bukett. Und so total animalisch im Abgang! Auf
das Wochenende. Und von meinem ersten Gehalt zahle ich dir meine Schulden zurück.«
»Des reichd au no noch Weihnachda. Du brauchsch doch des Geld jetz sicher für Gschenkle on so.« »Ich hasse es aber, Schulden zu haben.« Kurz bevor ich meinen neuen Job angefangen hatte, war mein Freund Leon nach China abgezwitschert. Na ja, eigentlich war er zu diesem Zeitpunkt mein Ex-Freund gewesen. Ich hatte erst kurz vor seinem Abfl ug erfahren, dass er sich von seinem Arbeitgeber Bosch ins Ausland hatte versetzen lassen, nach Wuxi in China. Da war mir klargeworden, dass ich ihn immer noch liebte. Reichlich spät, zugegebenermaßen. Harald hatte einen Patienten auf dem Stuhl sitzen lassen, dem er für eine Wurzelbehandlung gerade eine Spritze in den Kiefer gejagt hatte, hatte mich mit seinem Porsche im Affenzahn zum Flughafen gebracht, und ich hatte Leon gerade noch in
der Abflughalle erwischt. Dafür hatte ich ein Ticket gebraucht. Jetzt schuldete ich Harald dreihundertzwanzig Euro. Da ich über keinerlei Ersparnisse verfügte, das Arbeitsamt sofort die Bezüge eingestellt hatte und das Gehalt bei Friends and Foes mehr als bescheiden
war, war das für mich ziemlich viel Geld. Unterm Strich war es aber eigentlich ein Schnäppchen gewesen, dafür, dass es mit der Versöhnung im buchstäblich allerletzten Moment noch geklappt hatte, bevor Leons Flieger nach Wuxi abhob. Leider war uns nach langen Wochen der Trennung nicht viel mehr vergönnt gewesen als eine Umarmung und ein paar Küsse. Manchmal malte ich mir aus, Herr Tellerle und Frau Müller-Th urgau, meine früheren Nachbarn aus der Reinsburgstraße, ohne die ich nie erfahren hätte, dass Leon im Begriff war, das Land zu verlassen, wären eine halbe Stunde früher bei Lila aufgetaucht. Dann hätte es vielleicht noch für einen Quickie auf dem Flughafenklo ...
Natürlich liebte ich Leon. Aber ich vermisste ihn so schrecklich, und es war so schwierig, jemanden zu lieben, der so unendlich weit weg war! Den man nicht anfassen, nicht riechen konnte. Er war so unwirklich. Wie ein Phantom. Oder wie ein von der Polizei weltweit gesuchter Juwelendieb, der im Dschungel von Südamerika untergetaucht war und nur heimlich mit seiner Liebsten kommunizieren durft e. Ich sah ihn auf dem Bildschirm meines Laptops, ich hörte seine Stimme, ich sah sein Grinsen, das ich so liebte, und küsste seine virtuellen Lippen am Ende des Gesprächs. Es war Leon, und es war doch nicht Leon. Ein bisschen so, als würde ich jeden Tag eine riesige Tafel Schokolade essen, nichts schmecken und trotzdem immer dicker werden. Wenn er auf dem Mond gewesen wäre, wäre es mir nicht weiter weg vorgekommen! China. Gab es einen Ort, der noch weiter weg war von Stuttgart als Wuxi? Selber schuld, Line, dachte ich wütend. Du hast Schluss gemacht, remember? Wegen dir ist Leon nach China gegangen. Wenn du dich nicht getrennt hättest, würde er nach wie vor im Stuttgarter Westen in der Reinsburgstraße wohnen. Nicht ganz so weit weg wie China!
True love waits. Was sind schon zwei Jährchen in deinem hoffentlich langen Leben? Dann kommt Leon wieder, hat sich im Ausland seine Sporen verdient, wird bei Bosch befördert, ihr sucht euch eine gemeinsame Wohnung, Bingo. Bis dahin kannst du dich hervorragend auf deine Karriere konzentrieren. Kannst bis in die Puppen im Büro bleiben, weil es eh kein Schwein interessiert. O Gott. Wie sollte ich diese zwei Jahre überstehen, ohne an Sehnsucht und Langeweile zu sterben? Da gab es nur eins: Ich würde es als Prüfung ansehen. Wie im Märchen! Es würde meinen Charakter stählen, meine Langmut, meine Geduld. Am Ende würden wir beide so abgehärtet sein, dass nichts unsere Liebe jemals wieder gefährden konnte. Keine intriganten Rivalinnen, keine noch so weite
Distanz, kein Katastrophen-Gen ... Auch der Zeitunterschied war ein riesiges Problem. China war uns schließlich sieben Stunden voraus. Wenn ich abends nach Hause kam, war es in Wuxi mitten in der Nacht. Oft stand Leon morgens um fünf statt um sechs auf, um mit mir zu reden, bevor er zur Arbeit ging. Manchmal raste ich in der Mittagspause mit dem Rad nach Hause, um wenigstens eine Viertelstunde mit Leon zu skypen. Insgesamt war das alles ganz schön anstrengend, weil man die Beziehung jeden Tag generalstabsmäßig unter dem Aspekt »Zeitverschiebung« planen musste. Ich war eigentlich mehr fürs Spontane, aber das ging nun wirklich gar nicht mehr. Wenn ich abends unterwegs war, sah ich immer nervös auf die Uhr, damit ich auch ja rechtzeitig zu Hause war. Ich zählte die Tage bis Weihnachten. Dann würde Leon zu Besuch kommen, hurra, und wir würden alles nachholen! Die ersten zwei Tage würden wir komplett im Bett verbringen ... mmmh ...
»Line, wo bischn du grad? En Wuschi beim Leon?« Harald fuchtelte mit einem Schöpfl öff el vor meiner Nase herum. »Ehrlich gesagt - ja«, sagte ich und blickte erstaunt auf die Riesenportion Spaghetti mit Gemüse, die Harald mir auf den Teller geschaufelt hatte, weil ich nicht rechtzeitig »Stopp« gebrüllt hatte. »Es schadet dir nichts, wenn du eine ordentliche Portion isst«, sagte Lila und lächelte verliebt ihre Spaghettiportion an. »Du bist schon wieder klapperdürr.«
»Keine Sorge. Ich sitze eben nicht mehr heulend auf dem Sofa und futtere mir wegen der Trennung von Leon Pfunde an.« »Ich sitze auch nicht auf dem Sofa und bin trotzdem dick. Es ist einfach zu ungerecht!«, seufzte Lila. »Mir gfallsch, wie d'bisch, Schätzle. Schnauze, Wutzky«, sagte
Harald. Der Hund lag vor ihm auf dem Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und gab wimmernde Laute von sich. »Jetzt verzehl amol von deim G'schäft * , Line.« »Hmm, ich bin ja noch nicht lange da, deswegen kenne ich die anderen noch nicht so richtig. Aber weil wir im Großraumbüro arbeiten,
kriegt man doch ziemlich viel voneinander mit. Wir sind insgesamt sechs Leute. Philipp, das ist unser Online-Mann, hat wohl grad Beziehungsstress. Er wohnt mit seiner Freundin im Westen.
Wenn er morgens kommt, hat er sauschlechte Laune. Im Laufe des Tages wird sie immer besser, und kurz bevor er abends geht, wird sie wieder schlecht. Ab und zu ruft die Freundin an, dann verdreht er jedes Mal die Augen und versucht, ganz leise zu reden, aber alle wissen, dass sie sich zoffen.
Arminia, die Chefi n, sitzt im gleichen Raum, wenn auch ein bisschen abgetrennt hinter einem Paravent. Ich hab irgendwie das Gefühl, alle haben Schiss vor ihr. Ich komme bisher ganz gut mit ihr klar. Einmal die Woche gehen wir zusammen essen, da besteht sie drauf, wegen der Teambildung und so, und damit man sich informell austauschen kann. Die beiden Male, wo ich dabei war, hat aber nur sie geredet, und sie hat es gar nicht gemerkt. Am nettesten ist Micha, der ist Grafi ker und sitzt schräg vor mir. Er ist ein bisschen schüchtern, aber irgendwie auch knuffig. Dann gibt's noch eine Praktikantin. Die steht den ganzen Tag am Kopierer oder wimmelt Telefonate ab, auf die Arminia keinen Bock hat. Was Praktikantinnen eben so machen. War bei mir früher auch nicht anders. Arminia hat auf die meisten Telefonate keinen Bock, so dass die Praktikantin ausgelastet ist.«
»Auf jeden Fall bist du viel besser gelaunt, seit du wieder arbeitest«, sagte Lila. »Kein Wunder, ich hab ja nicht nur einen neuen Job, sondern auch keinen Liebeskummer mehr.« Lila holte den leckeren Schokopudding mit Sahne aus dem Kühlschrank, wir nippten andächtig an dem teuren Bordeaux und verplauderten und verlachten den Rest des Abends. Es war herrlich, wieder zur arbeitenden Bevölkerung zu gehören und sich aufs Wochenende zu freuen! Ich bemühte mich großmütig, Lila und Harald das Paarglück zu gönnen und nicht eifersüchtig zu sein. Es gelang mir beinahe. Leider wurde der Frieden ab und zu empfindlich von Wutzkys Glücksfürzen gestört. »I gang nomol mitem Wutzky naus«, sagte Harald schließlich, als die Abstände zwischen den Fürzen immer kürzer wurden.
Ich sah auf die Uhr. »Oje, es ist ja schon nach zehn. Ich bin mit Leon verabredet, er wartet sicher schon. Lasst alles stehen, ich räume nachher die Küche auf.«
Ich sauste ins Bad, wusch mir den Schokopudding aus den Mundwinkeln, kniff mir in die Wangen, legte mein kurzes Haar vorteilhaft , lief die Treppe hinauf und startete Skype. Nach ein paar Minuten erschien ein wackeliger, verschlafen aussehender Leon auf dem Bildschirm. Wir küssten uns. Es war praktisch unmöglich, die Lippen des anderen zu treffen. Und besonders erotisch war es auch nicht gerade. »Guten Morgen, meine Süße«, sagte Leon zärtlich. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. »Die Nacht war lang ohne dich. Wie war dein Tag?«
»Anstrengend«, sagte ich. »Tut aber auch irgendwie gut.« Mit Grauen dachte ich an die Zeit zurück, als sich die Tage wie Kaugummi gezogen hatten, weil ich arbeitslos war. Ich erzählte Leon haarklein,
was ich am Tag alles erlebt hatte. Auch wenn er so unendlich weit weg war, es war einfach schön, alles mit ihm zu teilen, den Stress in der Agentur, den WG-Alltag und Wutzky, unseren neuen
Mitbewohner. Es gab nichts, was ich nicht mit Leon besprechen konnte. Er lachte immer an den richtigen Stellen, hakte ein, wenn es nötig war, oder lauschte konzentriert. Eines stand fest: Ein Freund in China war unpraktisch, aber besser als gar kein Freund! Und schon bald würden wir uns wiedersehen! »Du musst mir unbedingt ein Foto von Wutzky mailen«, sagte Leon. »Ich will wissen, wie das Vieh aussieht.« »Klar, mach ich. Und du, wie war's bei dir?«
»Ich war gestern Abend mal wieder mit den Kollegen essen«, sagte er. »Ist ein bisschen öd, wenn man tagsüber sowieso miteinander arbeitet, aber die Kontaktmöglichkeiten sind hier eben sehr begrenzt.« Leon hatte meist nicht so viel zu berichten. Seine Arbeitstage in Wuxi waren lang und verliefen ziemlich eintönig. Er wohnte im vierzehnten Stock eines Hochhauses mit dreißig Stockwerken, in einem Appartment, das seinem Arbeitgeber Bosch gehörte. Er war mit dem Notebook durch die Wohnung gelaufen, um sie mir mit der Webcam vorzuführen. Sie war ziemlich steril eingerichtet. Natürlich hatte er von dort eine großartige Aussicht, allerdings hing
eine dauernde Smogwolke über der Stadt, und Wuxi schien ziemlich hässlich zu sein. Zumindest sah es auf den Fotos so aus, die Leon gemailt hatte.
»Die anderen haben dann noch angefangen, Maotai zu trinken. Aber ich wollte nach Hause, damit ich früh aufstehen kann, um mit dir zu reden.« »Leon, wie blöd. Nun hast du sowieso kaum Gelegenheit, etwas zu unternehmen, und dann gehst du auch noch früher weg, wegen mir! Und das noch am Wochenende!« »Mach dir keine Gedanken. Außerdem konnte ich mir vorstellen, wie der Abend endet. Maotai und noch mehr Maotai und am nächsten Tag ein dicker Kopf. Ich bin sowieso kein großer Schnapstrinker, und das Zeug ist echt heft ig. Das Bier hier ist auch nicht so mein Fall. Was gäbe ich für ein ordentliches Flens, ein Tannenzäpfle oder ein Stuttgarter Hofbräu!«
»Ich stell dir an Weihnachten zur Begrüßung von jeder Sorte eines kalt«, sagte ich vergnügt. Leon schlug die Augen zu Boden und schwieg. »Was ist los?«, fragte ich schließlich alarmiert, nachdem Leon keine Anstalten machte, etwas zu sagen. »Line ... ich muss dir etwas sagen.« Er klang plötzlich sehr ernst. »Ja?«, sagte ich und unterdrückte die aufkommende Panik. Leon war doch gerade mal ein paar Wochen weg. Er hatte sich doch nicht etwa in der kurzen Zeit in jemand anderen verliebt? »Ich ... ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll«, murmelte er.
© 2012 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th . Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ich saß auf meinem Hintern und schnappte nach Luft . Keine gute Idee. Das Riesenvieh stank wie ein Mülleimer. Es war aus der Haustüre geschossen wie eine Rakete, hatte seine Schnauze in meinen Magen gebohrt und mich auf mein Hinterteil katapultiert. Nun hing es mit heraushängender Zunge über mir, sah irgendwie begeistert aus und blies mir seinen Atem ins Gesicht. Das Tier war nicht furchterregend. Nur ziemlich eklig. Offensichtlich hatte es sich schon ziemlich lange nicht mehr die Zähne geputzt. »Hosch dr wehdoo?« Harald packte das Viech am Halsband und zog es mit aller Kraft zurück. Mit der anderen Hand half er mir auf die Beine. An meinem Po klebten feuchte Blätter. Ich war zum Glück in einem modrigen Laubhaufen gelandet. Wie gut, dass Lila und ich es nicht so mit der Kehrwoche hatten! »Nix passiert«, sagte ich atemlos.
»Dud mr echt leid, Line. Off asichdlich hot dr Wutzky dich glei ens Herz gschlossa.«
»Ist das etwa dein Hund?«, fragte ich. War das überhaupt ein Hund? Das Vieh war etwa so groß wie ein Kalb, nur deutlich hässlicher. Es hatte kurze, struppige Haare, einen zu kurzen Schwanz und viel zu große Schlappohren. Es sah ein bisschen aus wie eine missratene Kinderzeichnung. Okay, die Farbe des Fells war ganz hübsch. Verschiedene Brauntöne, die ineinanderliefen wie Strähnchen vom Friseur. Das war aber auch das Einzige, was mir positiv auffiel. »Lila erklärd dir älläs«, sagte Harald hastig. »Mir gangad derweil oms Viereck. Komm, Wutzky.« Ohne Jacke und Leine zischten Harald
und Wutzy ab. Ich pflückte die feuchten Blätter von meiner Jeans, ließ im Flur Jacke, Schal und Umhängetasche fallen, zog die Stiefel aus und ging in die Küche. Lila, meine Mitbewohnerin und beste Freundin, stand am Herd und rührte in einem Topf.
»Was ist das für ein Hund?«, fragte ich. »Und auch dir einen schönen Abend, Line. Das ist Haralds Scheidungshund«, sagte Lila. »Seine Frau - Ex-Frau - streikt. Sie hat einen neuen Freund und keine Lust mehr, sich ständig um den Hund zu kümmern. Sie haben ausgehandelt, dass Wutzky unter der Woche in Schorndorf ist und das Wochenende bei Harald verbringt.« »Soll das heißen, wir haben jetzt jedes Wochenende diesen stinkenden Köter am Hals?«, fragte ich.
»Ich fürchte, ja. Ich bin auch nicht gerade begeistert, aber was soll ich machen. Der Hund gehört nun mal zu Harald.« »Ich bin allergisch gegen Hundehaare!«
»Quatsch.« »Doch! Es juckt mich schon am ganzen Körper!« Ich fing an, mich wie wild zu kratzen.
»Das bildest du dir ein.« »Außerdem hatte ich erst vor ein paar Monaten eine traumatische Erfahrung mit einem Hund. Erinnerst du dich? Darüber bin ich noch nicht hinweg. Seither war ich nie mehr Joggen.« Ein zotteliges Monster namens Klaus-Peter, nicht ganz so groß wie Wutzky, hatte mich auf dem Blauen Weg umgenietet und abgeschleckt. »Du hast das Joggen nicht des Hundes wegen gelassen, sondern weil du deinen Arsch danach nicht mehr hochgekriegt hast. Und Wutzky ist so ein lieber Hund, er wird dir helfen, dein Trauma zu verarbeiten. Wenn er dich stört, verbringen wir in Zukunft eben jedes Wochenende bei Harald in der Landhausstraße. Wenn dir das lieber ist, gib Bescheid.«
»Das ist Erpressung! Ich will nicht, dass du jedes Wochenende weg bist!« Vor allem jetzt nicht, wo mein eigener Freund Tausende von Kilometern entfernt war. Im Moment hatten wir nicht mal eine Wochenendbeziehung. Mehr so eine Fernbeziehung. Eine Sehr-weit-weg- Beziehung. Oder eine Skype-Beziehung. Knutschen am Bildschirm war allerdings auf Dauer ziemlich unbefriedigend. Dann doch lieber Lila plus Harald plus Riesenköter, als ganz alleine rumzusitzen. Ich seufzte, ließ mich auf einen unserer wackeligen Stühle fallen und schenkte mir eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die Haustüre öffnete sich, und Harald und Wutzky kamen zurück. Wutzky trabte zu Lila, die gerade Gemüse schnippelte, drückte seine Schnauze an ihr Bein und sah sie bittend an. Als Lila nicht reagierte, schaltete sein Blick - klick - auf flehend um, und als auch das nichts fruchtete - klick - auf leidend. »Verschwinde«, knurrte Lila. »Das fangen wir gar nicht erst an. Außerdem schmeckt dir Biogemüse sowieso nicht.« Wutzky trollte sich unter den Tisch. Er schien zu wissen, wann er
verloren hatte. »Wow«, sagte ich. »Gibt's da eine Fernbedienung, mit der man den Gesichtsausdruck umschalten kann?« »Mei Ex-Frau hot emmr gsagt: Wenn es einen Oscar für Hunde gäbe, hätte Wutzky ihn schon längst bekommen. Er ischt der geborene Schauspieler.«
Harald war in etwas verfallen, das so klang, wie wenn schwäbische Politiker vorgaben, Hochdeutsch zu reden. »Dud mir echt leid, dass i eich mit dem Hond nerv. Mei Ex-Frau sagt: Ich brauche Zeit für meinen neien Freund, da will ich nicht von einem Hund geschdört werden«, sagte Harald. Seine Stimme klang bitter. »Machd's dr ebbes aus, Line?« Ich ächzte. »Ich hab's nicht so mit Hunden. Aber wenn's nicht anders geht ... ich fände es auch schade, wenn ihr jetzt wegen Wutzky nicht mehr hier aufk reuzt. Er ist nur ein bisschen groß.« »Du muscht jetzt Verantwortung für den Hund übernehmen, sagt mei Ex-Frau. Schließlich kümmere ich mich om unsere Töchter. Ond soll der arme Hond jetz ens Dierhoim, bloß weil mei Frau an Neia hot?«
In Haralds Augen standen Tränen. Auweia. Lila zerkleinerte mit großer Energie Karotten und schwieg. Wutzky streckte seinen Kopf unter dem Tisch vor und sah Harald mit einem Blick an, der eindeutig sagte: »Ich weiß, was du durchgemacht hast, Cowboy.« In diesem Augenblick gab es einen lauten, geräuschvollen Knall wie aus einer Kinderpistole. Kurz darauf durchzog ein ekelhaft er Gestank die Küche. Harald rannte zum Fenster und riss es weit auf. »Des isch leider au so a Gewohnheid vom Wutzky. Wenn er glicklich isch, noo lässt er oin fahra.« Wutzky sah von einem zum anderen. Sein lächerlich kurzer Schwanz schlug heft ig auf den Boden. Er sah in der Tat sehr glücklich aus und schien sich bei uns ausgesprochen wohl zu fühlen. Besonders sensibel schien er nicht zu sein. Sonst hätten ihn meine negativen Schwingungen vom Glücklichsein abgehalten. »Kann i dir ebbes helfa, Lila?«, fragte Harald. »Ist ja nett, dass mal einer fragt«, sagte Lila. »Tut mir leid«, sagte ich schuldbewusst. »Ich bin nur vollkommen platt. Ich muss mich erst wieder an diese langen Arbeitstage
gewöhnen.« »Sozialpädagoginnen haben auch lange Arbeitstage. Trotzdem lassen sie nicht ihren ganzen Kram einfach im Flur fallen. Sie kochen sogar noch.«
»Ich räum's ja gleich weg«, sagte ich. »Wie laufd's denn so?«, fragte Harald. »Im Moment eigentlich ganz okay. Es ist nur so wahnsinnig viel, das ist eigentlich nicht zu schaff en. Da hat sich ein Riesenberg angestaut, weil die Frau, die ich vertrete, fehlt ja jetzt schon länger. Und ich merke eben, dass ich ziemlich lang aus dem Job raus war. Außerdem haben die so eine komische Verwaltungs-EDV, an die muss ich mich erst gewöhnen. Aber was soll's, ich bin froh, dass ich wieder arbeiten darf.« »Mach uns doch mal ein Fläschchen Wein auf, Harald«, sagte Lila. »Dann läuten wir das Wochenende ein.« Vor drei Wochen hatte ich einen neuen Job angefangen. Fast ein Jahr lang war ich arbeitslos gewesen. Dann hatte ich durch Zufall wieder eine Stelle als Texterin bei der Werbeagentur Friends and Foes gefunden. Im Moment war ich in der Probezeit. Die sollte zwei Monate dauern, und deswegen musste ich ranklotzen. Außerdem war es erst mal nur eine Schwangerschaft svertretung. Aber nach der langen, deprimierenden Zeit ohne Arbeit war es großartig, morgens wieder aus dem Haus gehen zu können. Außerdem lenkte es mich davon ab, dass mein Freund in China saß. Ich räumte meine Sachen im Flur auf und lief die Treppe hinauf in mein Zimmer. Auf meinem Bett lag Suff ragette, Lilas Katze, und beantragte off ensichtlich Asyl. Ich streichelte sie und sagte: »Na, Suff ragette, jetzt gibt es hier schon zwei, die den Köter nicht mögen, oder?« Suff ragette sprang auf, fauchte, machte einen Katzenbuckel und schoss zur Tür hinaus. Bestimmt roch ich nach Wutzky. Jetzt gehörte ich auch zu den Verrätern. Ich tauschte meine Klamotten gegen einen schlabbrigen verfärbten Jogginganzug. Hurra, Wochenend-Look! Nicht, dass man bei einer Agentur im gebügelten Blüschen auftauchen oder schick sein musste. Aber man durft e zumindest keine Flecken auf den T-Shirts haben. Oder Löcher. Löcher in den Jeans, das ging durch, aber nur, wenn es vom Hersteller gewollte Löcher waren. Meine Hosen hatten oft ungewollte Löcher und meine T-Shirts ungewollte Flecken. Mir war aber schon aufgefallen, dass auch mein neuer Kollege Micha morgens mit einem sauberen T-Shirt kam und abends mit einem fleckigen T-Shirt ging. Das hatte etwas Beruhigendes. Ich ging zurück nach unten in die Küche. Lila goss gerade die Spaghetti ab. »Wie stellst du dir das mit Suff ragette vor?«, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. »Sie wird sich eben dran gewöhnen müssen. Wutzky jagt keine Katzen. Und er darf nicht nach oben. Unten Hund, oben Katze, wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Außerdem ist es ja nur am Wochenende. Und wenn Harald seine Töchter hat, ist er sowieso mit Hund und Töchtern in der Wohnung über der Zahnarztpraxis.«
Auf dem Tisch standen drei riesige Weingläser, in denen Rotwein schimmerte. Sie sahen nicht aus wie die Senfgläser, die wir normalerweise benutzten. Harald hatte sich hinter den Gläsern aufgebaut und platzte schier vor Stolz.
»I han denkd, i spendier eich an ordentlicha Bordeaux ond die Gläser drzu, weil i so oft bei eich ben. Den Wei brengd mr a Patient emmr aus Frankreich mit, direkt vom Weigut.« Lila ließ die Spaghetti stehen, küsste Harald auf die Wange und nahm ein Glas. Wir prosteten uns zu, und Harald sah uns erwartungsvoll an. Ich nahm einen tiefen Schluck von dem offensichtlich edlen Tropfen. Leider schmeckte mir der Wein kein bisschen besser als der, den Lila normalerweise von ihren Eltern mitbrachte, »Cannstatter Zuckerle« mit Schraubverschluss, aber um Harald eine Freude zu machen, nahm ich einen zweiten Schluck, gurgelte, schloss die Augen, spülte den Wein im Mund hin und her, nickte mehrmals anerkennend und sagte: »Tolles Bukett. Und so total animalisch im Abgang! Auf
das Wochenende. Und von meinem ersten Gehalt zahle ich dir meine Schulden zurück.«
»Des reichd au no noch Weihnachda. Du brauchsch doch des Geld jetz sicher für Gschenkle on so.« »Ich hasse es aber, Schulden zu haben.« Kurz bevor ich meinen neuen Job angefangen hatte, war mein Freund Leon nach China abgezwitschert. Na ja, eigentlich war er zu diesem Zeitpunkt mein Ex-Freund gewesen. Ich hatte erst kurz vor seinem Abfl ug erfahren, dass er sich von seinem Arbeitgeber Bosch ins Ausland hatte versetzen lassen, nach Wuxi in China. Da war mir klargeworden, dass ich ihn immer noch liebte. Reichlich spät, zugegebenermaßen. Harald hatte einen Patienten auf dem Stuhl sitzen lassen, dem er für eine Wurzelbehandlung gerade eine Spritze in den Kiefer gejagt hatte, hatte mich mit seinem Porsche im Affenzahn zum Flughafen gebracht, und ich hatte Leon gerade noch in
der Abflughalle erwischt. Dafür hatte ich ein Ticket gebraucht. Jetzt schuldete ich Harald dreihundertzwanzig Euro. Da ich über keinerlei Ersparnisse verfügte, das Arbeitsamt sofort die Bezüge eingestellt hatte und das Gehalt bei Friends and Foes mehr als bescheiden
war, war das für mich ziemlich viel Geld. Unterm Strich war es aber eigentlich ein Schnäppchen gewesen, dafür, dass es mit der Versöhnung im buchstäblich allerletzten Moment noch geklappt hatte, bevor Leons Flieger nach Wuxi abhob. Leider war uns nach langen Wochen der Trennung nicht viel mehr vergönnt gewesen als eine Umarmung und ein paar Küsse. Manchmal malte ich mir aus, Herr Tellerle und Frau Müller-Th urgau, meine früheren Nachbarn aus der Reinsburgstraße, ohne die ich nie erfahren hätte, dass Leon im Begriff war, das Land zu verlassen, wären eine halbe Stunde früher bei Lila aufgetaucht. Dann hätte es vielleicht noch für einen Quickie auf dem Flughafenklo ...
Natürlich liebte ich Leon. Aber ich vermisste ihn so schrecklich, und es war so schwierig, jemanden zu lieben, der so unendlich weit weg war! Den man nicht anfassen, nicht riechen konnte. Er war so unwirklich. Wie ein Phantom. Oder wie ein von der Polizei weltweit gesuchter Juwelendieb, der im Dschungel von Südamerika untergetaucht war und nur heimlich mit seiner Liebsten kommunizieren durft e. Ich sah ihn auf dem Bildschirm meines Laptops, ich hörte seine Stimme, ich sah sein Grinsen, das ich so liebte, und küsste seine virtuellen Lippen am Ende des Gesprächs. Es war Leon, und es war doch nicht Leon. Ein bisschen so, als würde ich jeden Tag eine riesige Tafel Schokolade essen, nichts schmecken und trotzdem immer dicker werden. Wenn er auf dem Mond gewesen wäre, wäre es mir nicht weiter weg vorgekommen! China. Gab es einen Ort, der noch weiter weg war von Stuttgart als Wuxi? Selber schuld, Line, dachte ich wütend. Du hast Schluss gemacht, remember? Wegen dir ist Leon nach China gegangen. Wenn du dich nicht getrennt hättest, würde er nach wie vor im Stuttgarter Westen in der Reinsburgstraße wohnen. Nicht ganz so weit weg wie China!
True love waits. Was sind schon zwei Jährchen in deinem hoffentlich langen Leben? Dann kommt Leon wieder, hat sich im Ausland seine Sporen verdient, wird bei Bosch befördert, ihr sucht euch eine gemeinsame Wohnung, Bingo. Bis dahin kannst du dich hervorragend auf deine Karriere konzentrieren. Kannst bis in die Puppen im Büro bleiben, weil es eh kein Schwein interessiert. O Gott. Wie sollte ich diese zwei Jahre überstehen, ohne an Sehnsucht und Langeweile zu sterben? Da gab es nur eins: Ich würde es als Prüfung ansehen. Wie im Märchen! Es würde meinen Charakter stählen, meine Langmut, meine Geduld. Am Ende würden wir beide so abgehärtet sein, dass nichts unsere Liebe jemals wieder gefährden konnte. Keine intriganten Rivalinnen, keine noch so weite
Distanz, kein Katastrophen-Gen ... Auch der Zeitunterschied war ein riesiges Problem. China war uns schließlich sieben Stunden voraus. Wenn ich abends nach Hause kam, war es in Wuxi mitten in der Nacht. Oft stand Leon morgens um fünf statt um sechs auf, um mit mir zu reden, bevor er zur Arbeit ging. Manchmal raste ich in der Mittagspause mit dem Rad nach Hause, um wenigstens eine Viertelstunde mit Leon zu skypen. Insgesamt war das alles ganz schön anstrengend, weil man die Beziehung jeden Tag generalstabsmäßig unter dem Aspekt »Zeitverschiebung« planen musste. Ich war eigentlich mehr fürs Spontane, aber das ging nun wirklich gar nicht mehr. Wenn ich abends unterwegs war, sah ich immer nervös auf die Uhr, damit ich auch ja rechtzeitig zu Hause war. Ich zählte die Tage bis Weihnachten. Dann würde Leon zu Besuch kommen, hurra, und wir würden alles nachholen! Die ersten zwei Tage würden wir komplett im Bett verbringen ... mmmh ...
»Line, wo bischn du grad? En Wuschi beim Leon?« Harald fuchtelte mit einem Schöpfl öff el vor meiner Nase herum. »Ehrlich gesagt - ja«, sagte ich und blickte erstaunt auf die Riesenportion Spaghetti mit Gemüse, die Harald mir auf den Teller geschaufelt hatte, weil ich nicht rechtzeitig »Stopp« gebrüllt hatte. »Es schadet dir nichts, wenn du eine ordentliche Portion isst«, sagte Lila und lächelte verliebt ihre Spaghettiportion an. »Du bist schon wieder klapperdürr.«
»Keine Sorge. Ich sitze eben nicht mehr heulend auf dem Sofa und futtere mir wegen der Trennung von Leon Pfunde an.« »Ich sitze auch nicht auf dem Sofa und bin trotzdem dick. Es ist einfach zu ungerecht!«, seufzte Lila. »Mir gfallsch, wie d'bisch, Schätzle. Schnauze, Wutzky«, sagte
Harald. Der Hund lag vor ihm auf dem Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und gab wimmernde Laute von sich. »Jetzt verzehl amol von deim G'schäft * , Line.« »Hmm, ich bin ja noch nicht lange da, deswegen kenne ich die anderen noch nicht so richtig. Aber weil wir im Großraumbüro arbeiten,
kriegt man doch ziemlich viel voneinander mit. Wir sind insgesamt sechs Leute. Philipp, das ist unser Online-Mann, hat wohl grad Beziehungsstress. Er wohnt mit seiner Freundin im Westen.
Wenn er morgens kommt, hat er sauschlechte Laune. Im Laufe des Tages wird sie immer besser, und kurz bevor er abends geht, wird sie wieder schlecht. Ab und zu ruft die Freundin an, dann verdreht er jedes Mal die Augen und versucht, ganz leise zu reden, aber alle wissen, dass sie sich zoffen.
Arminia, die Chefi n, sitzt im gleichen Raum, wenn auch ein bisschen abgetrennt hinter einem Paravent. Ich hab irgendwie das Gefühl, alle haben Schiss vor ihr. Ich komme bisher ganz gut mit ihr klar. Einmal die Woche gehen wir zusammen essen, da besteht sie drauf, wegen der Teambildung und so, und damit man sich informell austauschen kann. Die beiden Male, wo ich dabei war, hat aber nur sie geredet, und sie hat es gar nicht gemerkt. Am nettesten ist Micha, der ist Grafi ker und sitzt schräg vor mir. Er ist ein bisschen schüchtern, aber irgendwie auch knuffig. Dann gibt's noch eine Praktikantin. Die steht den ganzen Tag am Kopierer oder wimmelt Telefonate ab, auf die Arminia keinen Bock hat. Was Praktikantinnen eben so machen. War bei mir früher auch nicht anders. Arminia hat auf die meisten Telefonate keinen Bock, so dass die Praktikantin ausgelastet ist.«
»Auf jeden Fall bist du viel besser gelaunt, seit du wieder arbeitest«, sagte Lila. »Kein Wunder, ich hab ja nicht nur einen neuen Job, sondern auch keinen Liebeskummer mehr.« Lila holte den leckeren Schokopudding mit Sahne aus dem Kühlschrank, wir nippten andächtig an dem teuren Bordeaux und verplauderten und verlachten den Rest des Abends. Es war herrlich, wieder zur arbeitenden Bevölkerung zu gehören und sich aufs Wochenende zu freuen! Ich bemühte mich großmütig, Lila und Harald das Paarglück zu gönnen und nicht eifersüchtig zu sein. Es gelang mir beinahe. Leider wurde der Frieden ab und zu empfindlich von Wutzkys Glücksfürzen gestört. »I gang nomol mitem Wutzky naus«, sagte Harald schließlich, als die Abstände zwischen den Fürzen immer kürzer wurden.
Ich sah auf die Uhr. »Oje, es ist ja schon nach zehn. Ich bin mit Leon verabredet, er wartet sicher schon. Lasst alles stehen, ich räume nachher die Küche auf.«
Ich sauste ins Bad, wusch mir den Schokopudding aus den Mundwinkeln, kniff mir in die Wangen, legte mein kurzes Haar vorteilhaft , lief die Treppe hinauf und startete Skype. Nach ein paar Minuten erschien ein wackeliger, verschlafen aussehender Leon auf dem Bildschirm. Wir küssten uns. Es war praktisch unmöglich, die Lippen des anderen zu treffen. Und besonders erotisch war es auch nicht gerade. »Guten Morgen, meine Süße«, sagte Leon zärtlich. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. »Die Nacht war lang ohne dich. Wie war dein Tag?«
»Anstrengend«, sagte ich. »Tut aber auch irgendwie gut.« Mit Grauen dachte ich an die Zeit zurück, als sich die Tage wie Kaugummi gezogen hatten, weil ich arbeitslos war. Ich erzählte Leon haarklein,
was ich am Tag alles erlebt hatte. Auch wenn er so unendlich weit weg war, es war einfach schön, alles mit ihm zu teilen, den Stress in der Agentur, den WG-Alltag und Wutzky, unseren neuen
Mitbewohner. Es gab nichts, was ich nicht mit Leon besprechen konnte. Er lachte immer an den richtigen Stellen, hakte ein, wenn es nötig war, oder lauschte konzentriert. Eines stand fest: Ein Freund in China war unpraktisch, aber besser als gar kein Freund! Und schon bald würden wir uns wiedersehen! »Du musst mir unbedingt ein Foto von Wutzky mailen«, sagte Leon. »Ich will wissen, wie das Vieh aussieht.« »Klar, mach ich. Und du, wie war's bei dir?«
»Ich war gestern Abend mal wieder mit den Kollegen essen«, sagte er. »Ist ein bisschen öd, wenn man tagsüber sowieso miteinander arbeitet, aber die Kontaktmöglichkeiten sind hier eben sehr begrenzt.« Leon hatte meist nicht so viel zu berichten. Seine Arbeitstage in Wuxi waren lang und verliefen ziemlich eintönig. Er wohnte im vierzehnten Stock eines Hochhauses mit dreißig Stockwerken, in einem Appartment, das seinem Arbeitgeber Bosch gehörte. Er war mit dem Notebook durch die Wohnung gelaufen, um sie mir mit der Webcam vorzuführen. Sie war ziemlich steril eingerichtet. Natürlich hatte er von dort eine großartige Aussicht, allerdings hing
eine dauernde Smogwolke über der Stadt, und Wuxi schien ziemlich hässlich zu sein. Zumindest sah es auf den Fotos so aus, die Leon gemailt hatte.
»Die anderen haben dann noch angefangen, Maotai zu trinken. Aber ich wollte nach Hause, damit ich früh aufstehen kann, um mit dir zu reden.« »Leon, wie blöd. Nun hast du sowieso kaum Gelegenheit, etwas zu unternehmen, und dann gehst du auch noch früher weg, wegen mir! Und das noch am Wochenende!« »Mach dir keine Gedanken. Außerdem konnte ich mir vorstellen, wie der Abend endet. Maotai und noch mehr Maotai und am nächsten Tag ein dicker Kopf. Ich bin sowieso kein großer Schnapstrinker, und das Zeug ist echt heft ig. Das Bier hier ist auch nicht so mein Fall. Was gäbe ich für ein ordentliches Flens, ein Tannenzäpfle oder ein Stuttgarter Hofbräu!«
»Ich stell dir an Weihnachten zur Begrüßung von jeder Sorte eines kalt«, sagte ich vergnügt. Leon schlug die Augen zu Boden und schwieg. »Was ist los?«, fragte ich schließlich alarmiert, nachdem Leon keine Anstalten machte, etwas zu sagen. »Line ... ich muss dir etwas sagen.« Er klang plötzlich sehr ernst. »Ja?«, sagte ich und unterdrückte die aufkommende Panik. Leon war doch gerade mal ein paar Wochen weg. Er hatte sich doch nicht etwa in der kurzen Zeit in jemand anderen verliebt? »Ich ... ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll«, murmelte er.
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Autoren-Porträt von Elisabeth Kabatek
Kabatek, ElisabethElisabeth Kabatek, gebürtige Schwäbin, lebt als Autorin, Kolumnistin und Übersetzerin in Stuttgart. Ihre Romane »Laugenweckle zum Frühstück«, »Brezeltango«, »Spätzleblues«, »Ein Häusle in Cornwall« und »Zur Sache, Schätzle!« wurden auf Anhieb zu Bestsellern. »Schätzle allein zu Haus« und "Chaos in Cornwall" sind ihre jüngsten Romane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elisabeth Kabatek
- 2012, 5. Aufl., 349 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426226138
- ISBN-13: 9783426226131
- Erscheinungsdatum: 01.06.2012
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