Spuren des Todes
Für eine Rechtsmedizinerin ist der Umgang mit dem Tod alltäglich. Doch was passiert, wenn sich Beruf und Privatleben auf einmal nicht mehr trennen lassen?
Judith O'Higgins schneidet Körper auf, untersucht sie, entnimmt Gewebeproben. Sie hat das schon oft...
Judith O'Higgins schneidet Körper auf, untersucht sie, entnimmt Gewebeproben. Sie hat das schon oft...
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Produktinformationen zu „Spuren des Todes “
Klappentext zu „Spuren des Todes “
Für eine Rechtsmedizinerin ist der Umgang mit dem Tod alltäglich. Doch was passiert, wenn sich Beruf und Privatleben auf einmal nicht mehr trennen lassen? Judith O'Higgins schneidet Körper auf, untersucht sie, entnimmt Gewebeproben. Sie hat das schon oft gemacht, hunderte, tausende Male. Doch eines Tages hat sie es mit einem dramatischen Todesfall zu tun, der ihr Leben verändern wird - weil er ihre Arbeit und ihren persönlichen Rückzugsort unwiderruflich miteinander verbindet.
Jetzt gewährt sie erstmals einen tiefen und persönlichen Einblick in ihre Arbeit mit dem Tod. Und geht der Frage nach: Welche Spuren hinterlässt der Tod in mir?
Lese-Probe zu „Spuren des Todes “
Spuren des Todes von Judith O'Higgins und Fred SellinI. Mein erster Tatort
Ich arbeitete noch nicht lange am Institut für Rechtsmedizin, keinen Monat. Es war an einem Donnerstag, kurz vor Mitternacht. Ich lag zu Hause im Bett und musste gerade eingeschlafen sein, als mich der Klingelton meines Handys aufschreckte. Dr. Jan Sperhake, ein Kollege, der schon einige Jahre Rechtsmediziner war und in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte, rief an.
»Ich weiß, es ist spät, aber wenn du mitkommen willst ...?«
Sofort war ich hellwach.
Ich wusste, dass es an einem echten Tatort nicht so zugeht, wie es in den meisten Krimis dargestellt wird. Das eine war Realität, das andere Fiktion - wie oft hatte ich mir das während des Studiums anhören dürfen! Trotzdem hatte ich, seit ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut beschäftigt war, den Tag, an dem ich das erste Mal einen Tatort sehen würde, insgeheim regelrecht herbeigesehnt. Den Ort eines Verbrechens stellte ich mir spannend vor.
»Klar, gerne ...«, antwortete ich schnell, darum bemüht, möglichst munter zu klingen. Und einen Wimpernschlag später hatte ich mich bereits unter meiner Decke hervorgeschwungen und stand neben dem Bett.
»Gut, dann hole ich dich ab«, sagte er. »Bin spätestens in zwanzig Minuten da.«
Genau genommen war es zwar der erste Tatort, zu dem ich mich aufmachte, aber nicht »meiner«. Wenn ich Dienst gehabt hätte und von der Polizei dorthin gerufen worden wäre - so fuhr ich lediglich als Begleitung mit, ohne selbst eine Aufgabe zu haben. Aber das war fürs erste Mal vielleicht sogar die bessere Variante.
... mehr
Und noch einen Punkt sollte ich korrekterweise relativieren: Ob der Kollege und ich eine knappe halbe Stunde später tatsächlich zu einem Tatort unterwegs waren, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht mit letzter Sicherheit wissen. Es hätte auch nur der Platz sein können, an dem der Täter sein Opfer abgelegt, nicht aber getötet hatte. Es kommt häufig genug vor, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind; was die Aufklärung eines Falls für gewöhnlich nicht einfacher macht. Die Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen nicht dort beginnen zu können, wo die Tat geschah - und vermutlich auch die meisten Spuren zu finden wären -, kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde man versuchen, ein Buch zu lesen, von dem die ersten fünfzig Seiten fehlen. Da kommt man auch schlecht in die Handlung rein - falls es einem überhaupt gelingt.
Wir verließen Hamburg, fuhren nach Schleswig-Holstein. Unser Ziel war ein Dorf, von dem ich bis zu dieser Nacht nicht einmal wusste, dass es überhaupt existierte. Ich glaube nicht, dass man es mir anmerkte, aber mir war ganz schön mulmig zumute. Ich hatte schon eine stattliche Zahl an Leichen gesehen, darunter verweste und auch schlimm zugerichtete. Aber die lagen dann immer auf einem Sektionstisch, in steriler Umgebung, herausgerissen aus dem Kontext der Tat. Und das, nahm ich an, sei etwas völlig anderes. Man hatte zwar trotzdem die Leiche eines Menschen vor sich, aber irgendwie depersonifiziert, reduziert auf den Körper, den es zu obduzieren galt. Das machte es auf eine bestimmte Weise abstrakt und half einem, die andere Seite auszublenden, das Emotionale, das Schicksal, das sich hinter dem Todesfall verbarg.
Diesen Spagat, eins vom anderen zu trennen, sollte man in unserem Beruf unbedingt hinbekommen, zum eigenen Schutz. Ich wüsste nicht, wie man es sonst auf Dauer ertragen könnte. Vielleicht hatte ich Glück gehabt, bei mir funktionierte es von Anfang an, ohne dass ich mir irgendwelche Psychotricks antrainieren musste. Zumindest so lange, bis die Sache mit Chris passierte. Aber das lag damals noch weit in der Zukunft.
Das Haus, das wir in dem Dorf ansteuerten, schien das letzte zu sein in einer Straße, die jetzt verlassen dalag und mit einer Wendeschleife endete, direkt vor einem Waldstück. Die Bäume dahinter standen so dicht, dass sie wie eine dunkle Mauer wirkten, die in die Höhe ragte. Weit und breit keine Straßenlaterne.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Frontscheibe. Ich spürte, wie mein Herz pochte. Eine Mischung aus Aufregung und Anspannung. Was erwartete mich in dem Haus? Die Ungewissheit setzte mir zu, obwohl ich mir das am liebsten nicht eingestanden hätte. Ich war noch nie wegen einer Leiche aus den Latschen gekippt, und einige hatten wirklich keinen schönen Anblick geboten. Warum machte ich mir Sorgen, dass es diesmal anders sein könnte?
Dann erkannten wir vor uns zwei Streifenwagen, die links am Fahrbahnrand parkten. Hier musste es sein. Jan, mein Kollege, stellte den Motor ab. Ich öffnete die Beifahrertür, lehnte mich noch einmal im Sitz zurück, atmete tief durch, dann stieg ich aus.
Das Haus stand mit der Giebelseite zur Straße. Um den Eingang zu finden, mussten wir einmal halb um das Gebäude herum. Erst da erkannten wir, dass es ein Reihenhaus war. Trotz seiner zwei Geschosse wirkte es neben den hohen Bäumen wie geduckt. Ich zählte fünf Eingänge, am zweiten erwartete uns ein Schutzpolizist.
Auf dem Fliesenboden im Flur die ersten Blutspuren. Wir balancierten um sie herum, erreichten die nächste Tür. Dahinter befand sich eine offene Küche, die linkerhand ins Wohnzimmer überging. Auch hier Blutantragungen auf dem Boden. Wie Wegmarkierungen führten sie uns direkt zur Leiche. Eine junge Frau, sie lag rücklings auf der Couch - vollkommen nackt. Ihr Körper war so zierlich, dass man ihn fast für den eines magersüchtigen Teenagers hätte halten können.
Der Kopf der Frau war nach links gedreht, das Gesicht zeigte zur Wand. Von ihren Armen sah man kaum etwas, sie waren an den Handgelenken hinter dem Rücken gefesselt. Das linke Bein lag ausgestreckt auf der Couch, das rechte war leicht abgewinkelt, der Unterschenkel hing herunter, so dass der Fuß den Boden berührte.
Ich blieb in einer Ecke des Zimmers stehen und beobachtete, was Jan machte. Dabei war ich so konzentriert, dass ich gar nicht dazu kam, darüber nachzudenken, wie die ganze Situation auf mich wirkte. Ob es mich belastete, eine Leiche in ihrem privaten Umfeld zu sehen? Zumal inmitten all der Spuren, die unmissverständlich darauf hindeuteten, dass die Frau gewaltsam zu Tode gekommen war?
Es war wie eine Lehrstunde, nur viel intensiver. Gebannt und mit allen Sinnen sog ich auf, was sich vor meinen Augen abspielte. Womit waren die Kriminalbeamten beschäftigt? Worüber tauschten sie sich aus, untereinander, aber auch mit meinem Kollegen? Wie verhielt man sich als Rechtsmediziner an einem Tatort? Was hatte man zu tun, und in welcher Reihenfolge erledigte man diese Aufgaben sinnvollerweise? Und so weiter. Natürlich wusste ich, wie es in den Lehrbüchern stand. Die Frage war, ob es sich vor Ort genauso umsetzen ließ.
Selbst scheinbare Nebensächlichkeiten prägte ich mir ein. Etwa dass Jan die Erkenntnisse, die er bei der Leichenbesichtigung gewann, nicht in ein Diktiergerät sprach, sondern auf einer Kladde notierte. Ebenso die Ergebnisse der ersten Untersuchungen, die er anstellte, um etwas zum möglichen Todeszeitpunkt zu erfahren. So habe ich es mir dann auch angewöhnt. Dagegen benutze ich im Sektionssaal ein Diktiergerät, allerdings nur bei der äußeren Leichenschau. Bei der inneren, der eigentlichen Obduktion, macht sich das schlecht, da hat man - im wahrsten Sinne - beide Hände voll zu tun. Zwischendurch notiere ich mir einiges, aber das meiste merke ich mir auch so. Erst hinterher greife ich dann wieder zum Diktiergerät.
Dass wir es hier mit einem Tatort zu tun hatten, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Das gesamte Haus galt als Tatort. Wie es im Obergeschoss aussah, weiß ich nicht, da kamen wir nicht hin. Aber in der Küche war ein Stuhl umgestürzt, und auf dem Boden im Wohnzimmer lagen wild verstreut mehrere Kleidungsstücke. Der Größe nach dürften sie dem Opfer gehört haben, was angesichts der Tatsache, dass es unbekleidet gefunden wurde, nahelag - und sich später auch bestätigen sollte.
Mitten in der Unordnung fand sich ein Slip, zerrissen in mehrere Stücke. Offenbar hatte sich die Wut des Täters daran besonders entladen. Ob vor der Tat oder danach - das würde man wohl nur erfahren, wenn es der Täter verriet.
Die Kriminalbeamten hatten bereits einiges über den Tathergang in Erfahrung gebracht. Vor allem dank eines Rentners, der mit seiner Frau und zwei Katzen einen Eingang weiter wohnte. Er hatte gegen zwanzig Uhr die Polizei alarmiert. Dass sich die jungen Leute nebenan gestritten hatten, war für das Ehepaar nichts Ungewöhnliches gewesen. Das sei häufiger vorgekommen, meinte der Mann, zuletzt beinahe täglich. Die junge Frau habe ihnen leidgetan, anscheinend wurde sie von diesem Unhold - so nannte er ihn - manchmal sogar verprügelt. Erst letztens hätten sie sie beim Einkaufen im Supermarkt gesehen, furchtbar zugerichtet sei ihr Gesicht gewesen, wie nach einem schlimmen Boxkampf: die Lippe dick geschwollen, die Wange unter ihrem linken Auge blutunterlaufen und dunkelviolett verfärbt. Und sie habe die ganze Zeit zu Boden geschaut, als wollte sie verhindern, dass jemand sie erkennt und anspricht.
Das junge Paar hatte erst wenige Monate in dem Haus gewohnt und zu den Nachbarn bisher immer Distanz gehalten. Man wusste kaum etwas über die zwei. Irgendjemand habe mal erzählt, sie sei Rumänin und er Russe, aber das stimmte nur zur Hälfte. In Wirklichkeit stammten die Eltern von beiden aus Rumänien. Sie waren Banater Schwaben, also Rumänien- Deutsche, und Anfang der neunziger Jahre aus Temeswar, einer recht großen Stadt im Westen des Landes, in die Bundesrepublik gekommen.
Das wusste die Polizei so genau, weil es über den jungen Mann eine Akte gab. Genauer gesagt gab es mehrere Akten, einen ganzen Stapel, verteilt auf verschiedene Kommissariate bei mehreren Polizeibehörden. Er war in den letzten Jahren wiederholt straffällig geworden und hatte deswegen auch einige Zeit im Gefängnis zugebracht. Einbruch, Drogenhandel, Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung - eine beachtliche Liste, vor allem dafür, dass er gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt war.
Auch der Tod der jungen Frau schien auf sein Konto zu gehen. Der Streit sei diesmal lauter gewesen als üblich, gab der Nachbar zu Protokoll. Doch gerade als er die Polizei verständigen wollte, sei nebenan Stille eingekehrt, urplötzlich, von einem Zeigerschlag auf den nächsten. Seine Frau und er hätten noch kurz überlegt: Vielleicht hatten sie sich ja geirrt, und das Geschrei war aus einem Fernseher gekommen, den jemand zu laut aufgedreht und dann auf einmal ausgestellt hatte. Daraufhin hatte der Rentner den Hörer wieder weggelegt und war vors Haus gegangen, um nebenan durchs Fenster zu spähen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sei der junge Mann durchs Wohnzimmer getapert, immer hin und her, als hätte er nicht gewusst, wohin mit sich. Ob die Frau da schon auf der Couch lag, in dem Zustand wie jetzt, konnte er nicht sagen. Dieser Teil des Zimmers war von seiner Position aus nicht einzusehen gewesen.
Der Rentner war in seine Wohnung zurückgegangen, und fast hätte er es dabei belassen. Doch kurz darauf hörte er, wie nebenan eine Tür krachend ins Schloss fiel. Und dann huschte eine Gestalt hastig an seinem Küchenfenster vorbei - offenbar der junge Nachbar. Irgendwie habe ihm die Sache keine Ruhe gelassen, meinte der Zeuge, also habe er doch zum Telefon gegriffen und die 110 gewählt.
Die Polizisten, die dann die Leiche der jungen Frau fanden, schienen in Sachen Tötungsdelikte nicht sonderlich erfahren. Nachdem sie am Tatort eingetroffen waren, hatte eine ihrer ersten Handlungen darin bestanden, das Fenster zu schließen, das im Wohnzimmer offenstand. Es sei sehr zugig gewesen, rechtfertigten sich die Beamten hinterher. Dass sie dadurch die Raumtemperatur veränderten, die rasch um fünf, sechs Grad anstieg, und damit auch den Abkühlungsprozess der Leiche beeinflusste, der für die Ermittlung des Todeszeitpunkts nicht unerheblich war, scheint ihnen nicht in den Sinn gekommen zu sein. Dabei dürfte das so ziemlich in jedem Handbuch stehen, das es zum Thema Todesermittlungen gibt.
Fast zwei Stunden nahmen die Leichenbesichtigung und die Untersuchungen zur Feststellung des Todeszeitpunkts in Anspruch. Es gab kaum eine Stelle am Körper der jungen Frau, die keine Zeichen von stumpfer, äußerer Gewalteinwirkung aufwies. Am Oberkörper, auf dem Rücken, an den Armen und Beinen - überall Schürfwunden und Hautunterblutungen, einige frisch, andere schon älter. Der linke Oberarm war dazu noch auf unnatürliche Weise verbogen - ein offener Bruch. Die zwei Teile des geborstenen Knochens standen fast im rechten Winkel zueinander. Einige der Knochenspitzen hatten sich durch die Haut gebohrt.
Das Gesicht hatte ebenfalls böse etwas abbekommen, es war regelrecht entstellt. Die linke Gesichtspartie war stark angeschwollen und ums Auge herum zusätzlich von einem kräftigen Monokelhämatom gezeichnet. Dieser ringförmige Bluterguss, der wie ein blaues Auge aussah, nur schlimmer, konnte ein Hinweis für einen Schädelbasisbruch sein. Ob der hier vorlag, würde man allerdings erst bei der Obduktion herausfinden.
Unklar war auch, wie man die Spuren im Genitalbereich des Opfers zu deuten hatte. Am Anus haftete Blut, und er wirkte gedehnt, als sei er penetriert worden. Wobei das nur eine Möglichkeit war, die man in Betracht ziehen musste. Der Spannungszustand der Muskulatur kann nach dem Tod auch so erschlaffen. Ein klaffender Anus hat somit nicht zwangsläufig etwas zu bedeuten. Das Blut am Anus schien nicht aus einer Wunde in diesem Bereich zu stammen. Es sah eher aus wie eine Kontaktspur. So nennt man es, wenn Blut von woanders an eine bestimmte Stelle gelangt, beispielsweise indem eine blutende Wunde mit der Hand berührt wird, ein Teil des Blutes daran haften bleibt und an die Stelle übertragen wird, die man mit der Hand als Nächstes anfasst. Das mochte auch in diesem Fall so gewesen sein. Allerdings musste man sich fragen, ob die anderen Befunde nicht dennoch dafür sprachen, dass eine anale Vergewaltigung stattgefunden hatte.
Den Beamten der Spurensicherung war ungefähr einen Meter neben der Couch ein silbrig glänzender Fleck auf dem Boden aufgefallen. Das konnte gut Sperma sein. Doch die Flüssigkeit war bereits eingetrocknet. Sprach das für oder gegen die Vergewaltigungstheorie? Wie lange dauerte es, bis ein paar Tropfen Sperma eingetrocknet waren? Konnte der Fleck auch schon einige Tage alt sein? Und war es überhaupt Sperma?
Aber noch wichtiger war, festzustellen, ob sich in der Scheide und im After Spermaspuren befanden. Dafür nahm Jan Abstriche, auch aus der Mundhöhle, das gehört zum Standardprogramm. Die Wattetupfer, die er dafür verwendete, würden später im Labor untersucht werden.
Und noch ein Rätsel gab uns die Leiche auf: Obwohl gefesselt, fanden sich zwischen den Fingern beider Hände Haare, die farblich mit dem Kopfhaar der Frau identisch waren: blond, mit einem leicht orangefarbenen Ton. Auch die Länge stimmte überein. Sollte sie sich die Haare selbst ausgerissen haben? Doch warum? Und vor allem wann? Das wäre nur möglich gewesen, bevor sie gefesselt worden war. Vielleicht hatte sie sich gegen Schläge schützen wollen, dabei die Unterarme in Abwehrhaltung vors Gesicht genommen und die Hände ins Haare gekrallt. Oder hatte sie einfach nur versucht, sich auf diese Weise der Fesselung zu entziehen?
Fragen über Fragen, und das sollten längst nicht die letzten bleiben. Doch zunächst hatte ich selbst ein kleines Problem zu lösen. Unser Einsatz am Tatort näherte sich gerade dem Ende, als ich auf einmal ein zutiefst menschliches Bedürfnis verspürte. Offenbar hatte ich es schon eine ganze Weile unterdrückt, unbewusst, weil ich nichts verpassen wollte. Aber nun duldete es keinen Aufschub mehr. Auf jeden Fall hätte die Rückfahrt nach Hamburg viel zu lange gedauert. Die Toilette im Badezimmer konnte ich aber auch nicht benutzen, galt ja alles als Tatort, und damit war es erst mal Hoheitsgebiet der Spurensicherung.
Da fiel mir ein, dass es neben dem Haus eine Wiese gab. Erst dahinter fing der Wald an. Und falls ich es bei unserer Ankunft in der Dunkelheit richtig erkannt hatte, standen auf dieser Wiese einige Büsche. Das war die Lösung. Dachte ich.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass die Polizei inzwischen mit Hochdruck nach dem jungen Mann fahndete. Aufgrund der Schilderungen des Nachbarn galt er als dringend tatverdächtig. Da er kein eigenes Auto besaß und auch schlecht eins auf der Straße hätte anhalten können - um diese Zeit schien sich ohnehin niemand in diese Gegend zu verirren -, war es gut möglich, dass er sich noch irgendwo in der Nähe versteckt hielt.
Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich das Motorengeräusch des Hubschraubers gleich wahrnahm, oder zu sehr damit beschäftigt war, möglichst schnell ein geeignetes Plätzchen zu finden, wo ich mich hinhocken konnte. Spätestens aber in dem Moment, als der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers wie ein riesiger illuminierter Finger von oben über das Areal streifte, hoffte ich nur noch, dass das Blätterdach über mir dicht genug sein würde. Aber da hatte er mich schon erwischt.
Es mag höchstens vier oder fünf Sekunden gedauert haben, bis der »Finger« weiterschwenkte. Doch in der verräterischen Pose, die ich so schnell ja nicht verändern konnte, kam es mir vor, als sei ich eine Stunde intensivster Festbeleuchtung ausgesetzt gewesen. Wenigstens schien der Hubschrauberbesatzung die Zeit - und wohl auch die Intensität des Lichts, das so grell war, dass ich automatisch meine Augen schloss - genügt zu haben, um zweifelsfrei zu erkennen, dass ich nicht derjenige war, nach dem sie suchten.
Als der Spuk vorüber war und sich um mich herum wieder Dunkelheit ausgebreitet hatte, schoss mir ein anderer Gedanke in den Kopf, der nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug: Was, wenn der junge Mann unter einem der anderen Büsche hockte, vielleicht direkt hinter mir, nur besser getarnt? Und wie würde er regieren, wenn er sich durch die Suchmannschaften in die Enge getrieben fühlte? Aber da ging meine Phantasie wohl ein bisschen mit mir durch. Wie sich später herausstellte, war er zu diesem Zeitpunkt längst über alle Berge.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Und noch einen Punkt sollte ich korrekterweise relativieren: Ob der Kollege und ich eine knappe halbe Stunde später tatsächlich zu einem Tatort unterwegs waren, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht mit letzter Sicherheit wissen. Es hätte auch nur der Platz sein können, an dem der Täter sein Opfer abgelegt, nicht aber getötet hatte. Es kommt häufig genug vor, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind; was die Aufklärung eines Falls für gewöhnlich nicht einfacher macht. Die Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen nicht dort beginnen zu können, wo die Tat geschah - und vermutlich auch die meisten Spuren zu finden wären -, kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde man versuchen, ein Buch zu lesen, von dem die ersten fünfzig Seiten fehlen. Da kommt man auch schlecht in die Handlung rein - falls es einem überhaupt gelingt.
Wir verließen Hamburg, fuhren nach Schleswig-Holstein. Unser Ziel war ein Dorf, von dem ich bis zu dieser Nacht nicht einmal wusste, dass es überhaupt existierte. Ich glaube nicht, dass man es mir anmerkte, aber mir war ganz schön mulmig zumute. Ich hatte schon eine stattliche Zahl an Leichen gesehen, darunter verweste und auch schlimm zugerichtete. Aber die lagen dann immer auf einem Sektionstisch, in steriler Umgebung, herausgerissen aus dem Kontext der Tat. Und das, nahm ich an, sei etwas völlig anderes. Man hatte zwar trotzdem die Leiche eines Menschen vor sich, aber irgendwie depersonifiziert, reduziert auf den Körper, den es zu obduzieren galt. Das machte es auf eine bestimmte Weise abstrakt und half einem, die andere Seite auszublenden, das Emotionale, das Schicksal, das sich hinter dem Todesfall verbarg.
Diesen Spagat, eins vom anderen zu trennen, sollte man in unserem Beruf unbedingt hinbekommen, zum eigenen Schutz. Ich wüsste nicht, wie man es sonst auf Dauer ertragen könnte. Vielleicht hatte ich Glück gehabt, bei mir funktionierte es von Anfang an, ohne dass ich mir irgendwelche Psychotricks antrainieren musste. Zumindest so lange, bis die Sache mit Chris passierte. Aber das lag damals noch weit in der Zukunft.
Das Haus, das wir in dem Dorf ansteuerten, schien das letzte zu sein in einer Straße, die jetzt verlassen dalag und mit einer Wendeschleife endete, direkt vor einem Waldstück. Die Bäume dahinter standen so dicht, dass sie wie eine dunkle Mauer wirkten, die in die Höhe ragte. Weit und breit keine Straßenlaterne.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Frontscheibe. Ich spürte, wie mein Herz pochte. Eine Mischung aus Aufregung und Anspannung. Was erwartete mich in dem Haus? Die Ungewissheit setzte mir zu, obwohl ich mir das am liebsten nicht eingestanden hätte. Ich war noch nie wegen einer Leiche aus den Latschen gekippt, und einige hatten wirklich keinen schönen Anblick geboten. Warum machte ich mir Sorgen, dass es diesmal anders sein könnte?
Dann erkannten wir vor uns zwei Streifenwagen, die links am Fahrbahnrand parkten. Hier musste es sein. Jan, mein Kollege, stellte den Motor ab. Ich öffnete die Beifahrertür, lehnte mich noch einmal im Sitz zurück, atmete tief durch, dann stieg ich aus.
Das Haus stand mit der Giebelseite zur Straße. Um den Eingang zu finden, mussten wir einmal halb um das Gebäude herum. Erst da erkannten wir, dass es ein Reihenhaus war. Trotz seiner zwei Geschosse wirkte es neben den hohen Bäumen wie geduckt. Ich zählte fünf Eingänge, am zweiten erwartete uns ein Schutzpolizist.
Auf dem Fliesenboden im Flur die ersten Blutspuren. Wir balancierten um sie herum, erreichten die nächste Tür. Dahinter befand sich eine offene Küche, die linkerhand ins Wohnzimmer überging. Auch hier Blutantragungen auf dem Boden. Wie Wegmarkierungen führten sie uns direkt zur Leiche. Eine junge Frau, sie lag rücklings auf der Couch - vollkommen nackt. Ihr Körper war so zierlich, dass man ihn fast für den eines magersüchtigen Teenagers hätte halten können.
Der Kopf der Frau war nach links gedreht, das Gesicht zeigte zur Wand. Von ihren Armen sah man kaum etwas, sie waren an den Handgelenken hinter dem Rücken gefesselt. Das linke Bein lag ausgestreckt auf der Couch, das rechte war leicht abgewinkelt, der Unterschenkel hing herunter, so dass der Fuß den Boden berührte.
Ich blieb in einer Ecke des Zimmers stehen und beobachtete, was Jan machte. Dabei war ich so konzentriert, dass ich gar nicht dazu kam, darüber nachzudenken, wie die ganze Situation auf mich wirkte. Ob es mich belastete, eine Leiche in ihrem privaten Umfeld zu sehen? Zumal inmitten all der Spuren, die unmissverständlich darauf hindeuteten, dass die Frau gewaltsam zu Tode gekommen war?
Es war wie eine Lehrstunde, nur viel intensiver. Gebannt und mit allen Sinnen sog ich auf, was sich vor meinen Augen abspielte. Womit waren die Kriminalbeamten beschäftigt? Worüber tauschten sie sich aus, untereinander, aber auch mit meinem Kollegen? Wie verhielt man sich als Rechtsmediziner an einem Tatort? Was hatte man zu tun, und in welcher Reihenfolge erledigte man diese Aufgaben sinnvollerweise? Und so weiter. Natürlich wusste ich, wie es in den Lehrbüchern stand. Die Frage war, ob es sich vor Ort genauso umsetzen ließ.
Selbst scheinbare Nebensächlichkeiten prägte ich mir ein. Etwa dass Jan die Erkenntnisse, die er bei der Leichenbesichtigung gewann, nicht in ein Diktiergerät sprach, sondern auf einer Kladde notierte. Ebenso die Ergebnisse der ersten Untersuchungen, die er anstellte, um etwas zum möglichen Todeszeitpunkt zu erfahren. So habe ich es mir dann auch angewöhnt. Dagegen benutze ich im Sektionssaal ein Diktiergerät, allerdings nur bei der äußeren Leichenschau. Bei der inneren, der eigentlichen Obduktion, macht sich das schlecht, da hat man - im wahrsten Sinne - beide Hände voll zu tun. Zwischendurch notiere ich mir einiges, aber das meiste merke ich mir auch so. Erst hinterher greife ich dann wieder zum Diktiergerät.
Dass wir es hier mit einem Tatort zu tun hatten, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Das gesamte Haus galt als Tatort. Wie es im Obergeschoss aussah, weiß ich nicht, da kamen wir nicht hin. Aber in der Küche war ein Stuhl umgestürzt, und auf dem Boden im Wohnzimmer lagen wild verstreut mehrere Kleidungsstücke. Der Größe nach dürften sie dem Opfer gehört haben, was angesichts der Tatsache, dass es unbekleidet gefunden wurde, nahelag - und sich später auch bestätigen sollte.
Mitten in der Unordnung fand sich ein Slip, zerrissen in mehrere Stücke. Offenbar hatte sich die Wut des Täters daran besonders entladen. Ob vor der Tat oder danach - das würde man wohl nur erfahren, wenn es der Täter verriet.
Die Kriminalbeamten hatten bereits einiges über den Tathergang in Erfahrung gebracht. Vor allem dank eines Rentners, der mit seiner Frau und zwei Katzen einen Eingang weiter wohnte. Er hatte gegen zwanzig Uhr die Polizei alarmiert. Dass sich die jungen Leute nebenan gestritten hatten, war für das Ehepaar nichts Ungewöhnliches gewesen. Das sei häufiger vorgekommen, meinte der Mann, zuletzt beinahe täglich. Die junge Frau habe ihnen leidgetan, anscheinend wurde sie von diesem Unhold - so nannte er ihn - manchmal sogar verprügelt. Erst letztens hätten sie sie beim Einkaufen im Supermarkt gesehen, furchtbar zugerichtet sei ihr Gesicht gewesen, wie nach einem schlimmen Boxkampf: die Lippe dick geschwollen, die Wange unter ihrem linken Auge blutunterlaufen und dunkelviolett verfärbt. Und sie habe die ganze Zeit zu Boden geschaut, als wollte sie verhindern, dass jemand sie erkennt und anspricht.
Das junge Paar hatte erst wenige Monate in dem Haus gewohnt und zu den Nachbarn bisher immer Distanz gehalten. Man wusste kaum etwas über die zwei. Irgendjemand habe mal erzählt, sie sei Rumänin und er Russe, aber das stimmte nur zur Hälfte. In Wirklichkeit stammten die Eltern von beiden aus Rumänien. Sie waren Banater Schwaben, also Rumänien- Deutsche, und Anfang der neunziger Jahre aus Temeswar, einer recht großen Stadt im Westen des Landes, in die Bundesrepublik gekommen.
Das wusste die Polizei so genau, weil es über den jungen Mann eine Akte gab. Genauer gesagt gab es mehrere Akten, einen ganzen Stapel, verteilt auf verschiedene Kommissariate bei mehreren Polizeibehörden. Er war in den letzten Jahren wiederholt straffällig geworden und hatte deswegen auch einige Zeit im Gefängnis zugebracht. Einbruch, Drogenhandel, Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung - eine beachtliche Liste, vor allem dafür, dass er gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt war.
Auch der Tod der jungen Frau schien auf sein Konto zu gehen. Der Streit sei diesmal lauter gewesen als üblich, gab der Nachbar zu Protokoll. Doch gerade als er die Polizei verständigen wollte, sei nebenan Stille eingekehrt, urplötzlich, von einem Zeigerschlag auf den nächsten. Seine Frau und er hätten noch kurz überlegt: Vielleicht hatten sie sich ja geirrt, und das Geschrei war aus einem Fernseher gekommen, den jemand zu laut aufgedreht und dann auf einmal ausgestellt hatte. Daraufhin hatte der Rentner den Hörer wieder weggelegt und war vors Haus gegangen, um nebenan durchs Fenster zu spähen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sei der junge Mann durchs Wohnzimmer getapert, immer hin und her, als hätte er nicht gewusst, wohin mit sich. Ob die Frau da schon auf der Couch lag, in dem Zustand wie jetzt, konnte er nicht sagen. Dieser Teil des Zimmers war von seiner Position aus nicht einzusehen gewesen.
Der Rentner war in seine Wohnung zurückgegangen, und fast hätte er es dabei belassen. Doch kurz darauf hörte er, wie nebenan eine Tür krachend ins Schloss fiel. Und dann huschte eine Gestalt hastig an seinem Küchenfenster vorbei - offenbar der junge Nachbar. Irgendwie habe ihm die Sache keine Ruhe gelassen, meinte der Zeuge, also habe er doch zum Telefon gegriffen und die 110 gewählt.
Die Polizisten, die dann die Leiche der jungen Frau fanden, schienen in Sachen Tötungsdelikte nicht sonderlich erfahren. Nachdem sie am Tatort eingetroffen waren, hatte eine ihrer ersten Handlungen darin bestanden, das Fenster zu schließen, das im Wohnzimmer offenstand. Es sei sehr zugig gewesen, rechtfertigten sich die Beamten hinterher. Dass sie dadurch die Raumtemperatur veränderten, die rasch um fünf, sechs Grad anstieg, und damit auch den Abkühlungsprozess der Leiche beeinflusste, der für die Ermittlung des Todeszeitpunkts nicht unerheblich war, scheint ihnen nicht in den Sinn gekommen zu sein. Dabei dürfte das so ziemlich in jedem Handbuch stehen, das es zum Thema Todesermittlungen gibt.
Fast zwei Stunden nahmen die Leichenbesichtigung und die Untersuchungen zur Feststellung des Todeszeitpunkts in Anspruch. Es gab kaum eine Stelle am Körper der jungen Frau, die keine Zeichen von stumpfer, äußerer Gewalteinwirkung aufwies. Am Oberkörper, auf dem Rücken, an den Armen und Beinen - überall Schürfwunden und Hautunterblutungen, einige frisch, andere schon älter. Der linke Oberarm war dazu noch auf unnatürliche Weise verbogen - ein offener Bruch. Die zwei Teile des geborstenen Knochens standen fast im rechten Winkel zueinander. Einige der Knochenspitzen hatten sich durch die Haut gebohrt.
Das Gesicht hatte ebenfalls böse etwas abbekommen, es war regelrecht entstellt. Die linke Gesichtspartie war stark angeschwollen und ums Auge herum zusätzlich von einem kräftigen Monokelhämatom gezeichnet. Dieser ringförmige Bluterguss, der wie ein blaues Auge aussah, nur schlimmer, konnte ein Hinweis für einen Schädelbasisbruch sein. Ob der hier vorlag, würde man allerdings erst bei der Obduktion herausfinden.
Unklar war auch, wie man die Spuren im Genitalbereich des Opfers zu deuten hatte. Am Anus haftete Blut, und er wirkte gedehnt, als sei er penetriert worden. Wobei das nur eine Möglichkeit war, die man in Betracht ziehen musste. Der Spannungszustand der Muskulatur kann nach dem Tod auch so erschlaffen. Ein klaffender Anus hat somit nicht zwangsläufig etwas zu bedeuten. Das Blut am Anus schien nicht aus einer Wunde in diesem Bereich zu stammen. Es sah eher aus wie eine Kontaktspur. So nennt man es, wenn Blut von woanders an eine bestimmte Stelle gelangt, beispielsweise indem eine blutende Wunde mit der Hand berührt wird, ein Teil des Blutes daran haften bleibt und an die Stelle übertragen wird, die man mit der Hand als Nächstes anfasst. Das mochte auch in diesem Fall so gewesen sein. Allerdings musste man sich fragen, ob die anderen Befunde nicht dennoch dafür sprachen, dass eine anale Vergewaltigung stattgefunden hatte.
Den Beamten der Spurensicherung war ungefähr einen Meter neben der Couch ein silbrig glänzender Fleck auf dem Boden aufgefallen. Das konnte gut Sperma sein. Doch die Flüssigkeit war bereits eingetrocknet. Sprach das für oder gegen die Vergewaltigungstheorie? Wie lange dauerte es, bis ein paar Tropfen Sperma eingetrocknet waren? Konnte der Fleck auch schon einige Tage alt sein? Und war es überhaupt Sperma?
Aber noch wichtiger war, festzustellen, ob sich in der Scheide und im After Spermaspuren befanden. Dafür nahm Jan Abstriche, auch aus der Mundhöhle, das gehört zum Standardprogramm. Die Wattetupfer, die er dafür verwendete, würden später im Labor untersucht werden.
Und noch ein Rätsel gab uns die Leiche auf: Obwohl gefesselt, fanden sich zwischen den Fingern beider Hände Haare, die farblich mit dem Kopfhaar der Frau identisch waren: blond, mit einem leicht orangefarbenen Ton. Auch die Länge stimmte überein. Sollte sie sich die Haare selbst ausgerissen haben? Doch warum? Und vor allem wann? Das wäre nur möglich gewesen, bevor sie gefesselt worden war. Vielleicht hatte sie sich gegen Schläge schützen wollen, dabei die Unterarme in Abwehrhaltung vors Gesicht genommen und die Hände ins Haare gekrallt. Oder hatte sie einfach nur versucht, sich auf diese Weise der Fesselung zu entziehen?
Fragen über Fragen, und das sollten längst nicht die letzten bleiben. Doch zunächst hatte ich selbst ein kleines Problem zu lösen. Unser Einsatz am Tatort näherte sich gerade dem Ende, als ich auf einmal ein zutiefst menschliches Bedürfnis verspürte. Offenbar hatte ich es schon eine ganze Weile unterdrückt, unbewusst, weil ich nichts verpassen wollte. Aber nun duldete es keinen Aufschub mehr. Auf jeden Fall hätte die Rückfahrt nach Hamburg viel zu lange gedauert. Die Toilette im Badezimmer konnte ich aber auch nicht benutzen, galt ja alles als Tatort, und damit war es erst mal Hoheitsgebiet der Spurensicherung.
Da fiel mir ein, dass es neben dem Haus eine Wiese gab. Erst dahinter fing der Wald an. Und falls ich es bei unserer Ankunft in der Dunkelheit richtig erkannt hatte, standen auf dieser Wiese einige Büsche. Das war die Lösung. Dachte ich.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass die Polizei inzwischen mit Hochdruck nach dem jungen Mann fahndete. Aufgrund der Schilderungen des Nachbarn galt er als dringend tatverdächtig. Da er kein eigenes Auto besaß und auch schlecht eins auf der Straße hätte anhalten können - um diese Zeit schien sich ohnehin niemand in diese Gegend zu verirren -, war es gut möglich, dass er sich noch irgendwo in der Nähe versteckt hielt.
Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich das Motorengeräusch des Hubschraubers gleich wahrnahm, oder zu sehr damit beschäftigt war, möglichst schnell ein geeignetes Plätzchen zu finden, wo ich mich hinhocken konnte. Spätestens aber in dem Moment, als der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers wie ein riesiger illuminierter Finger von oben über das Areal streifte, hoffte ich nur noch, dass das Blätterdach über mir dicht genug sein würde. Aber da hatte er mich schon erwischt.
Es mag höchstens vier oder fünf Sekunden gedauert haben, bis der »Finger« weiterschwenkte. Doch in der verräterischen Pose, die ich so schnell ja nicht verändern konnte, kam es mir vor, als sei ich eine Stunde intensivster Festbeleuchtung ausgesetzt gewesen. Wenigstens schien der Hubschrauberbesatzung die Zeit - und wohl auch die Intensität des Lichts, das so grell war, dass ich automatisch meine Augen schloss - genügt zu haben, um zweifelsfrei zu erkennen, dass ich nicht derjenige war, nach dem sie suchten.
Als der Spuk vorüber war und sich um mich herum wieder Dunkelheit ausgebreitet hatte, schoss mir ein anderer Gedanke in den Kopf, der nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug: Was, wenn der junge Mann unter einem der anderen Büsche hockte, vielleicht direkt hinter mir, nur besser getarnt? Und wie würde er regieren, wenn er sich durch die Suchmannschaften in die Enge getrieben fühlte? Aber da ging meine Phantasie wohl ein bisschen mit mir durch. Wie sich später herausstellte, war er zu diesem Zeitpunkt längst über alle Berge.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Judith O'Higgins, Fred Sellin
Judith O'Higgins wurde 1971 in Hilden geboren. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und Musikpädagogik in Münster, bevor sie nach Hamburg wechselte, ihr Studium beendete und Rechtsmedizinerin wurde. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann, einem Engländer, in London und ist auch dort in ihrem Beruf tätig, obduziert rund 500 Leichen pro Jahr.Sellin, FredFred Sellin arbeitete als Reporter bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Heute lebt er als Journalist und Buchautor in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
- 2013, 2. Aufl., 240 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810513210
- ISBN-13: 9783810513212
- Erscheinungsdatum: 23.10.2013
Rezension zu „Spuren des Todes “
Einen tiefen und persönlichen Einblick in ihren Arbeitsalltag gibt Rechtsmedizinerin Judith O'Higgins in ihrem Buch 'Spuren des Todes'. Freizeit Heute, 2/2014
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