Spuren, Elfen und andere Erscheinungen
Conan Doyle und die Photographie
Was haben Sherlock Holmes und Spiritismus gemeinsam?
Conan Doyle kennt man vor allem als Autor der Sherlock Holmes-Geschichten. Sein Werk ist allerdings weitaus umfangreicher und verzweigter: Es umfasst historische Romane, politische Pamphlete,...
Conan Doyle kennt man vor allem als Autor der Sherlock Holmes-Geschichten. Sein Werk ist allerdings weitaus umfangreicher und verzweigter: Es umfasst historische Romane, politische Pamphlete,...
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Produktinformationen zu „Spuren, Elfen und andere Erscheinungen “
Klappentext zu „Spuren, Elfen und andere Erscheinungen “
Was haben Sherlock Holmes und Spiritismus gemeinsam? Conan Doyle kennt man vor allem als Autor der Sherlock Holmes-Geschichten. Sein Werk ist allerdings weitaus umfangreicher und verzweigter: Es umfasst historische Romane, politische Pamphlete, historische Studien, Science-Fiction-Romane und nicht zuletzt zahlreiche Publikationen zum Spiritismus. Die Photographie spielt dabei eine zentrale Rolle und lässt eine höchst eigentümliche Vorstellungswelt erstehen. Sie erlaubt es zugleich, die Welt um 1900 mit all ihren Merkwürdigkeiten in den Blick zu nehmen: Für die Zeitgenossen war Sherlock Holmes eine real existierende Figur, für seinen Autor aber bezeugten Photographien von Elfen, Verstorbenen und Geistern deren Existenz. Ihre Photos und die anderer merkwürdiger Wesen sammelt dieses Buch mitsamt dem Imaginarium, das sich um sie rankt.
»Stiegler holt [...] sein eigenes Fach aus dem Elfenbeinturm hermetischer Textanalysen und demonstriert, was Literaturwissenschaft zu leisten vermag.«
Deutschlandfunk
Lese-Probe zu „Spuren, Elfen und andere Erscheinungen “
Elfen und andere Erscheinungen - Conan Doyle und die Photographie von Bernd Stiegler... mehr
Einleitung Im Sommer 1927, drei Jahre vor seinem Tod, tritt Sir Arthur Conan Doyle für „Fox Newsreal" vor die Kamera und spricht einzig über zwei Dinge, nach denen man ihn nach eigener Aussage auch ansonsten fortwährend befragt: die Erfindung von Sherlock Holmes und sein Engagement für den Spiritismus. Das ist heute durchaus überraschend: Als Autor der Sherlock-Holmes-Texte kennt man ihn, aber als Verfechter des Geisterglaubens? Schließen sich nicht, so würde man denken, detektivischer Scharfsinn und spiritistischer Unsinn aus? Nicht für Conan Doyle, muss die Antwort lauten. Diese zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, und einige andere ebenso merkwürdige noch dazu. Die Verwunderung über diese befremdliche Koexistenz von etwas, was offenkundig nicht zusammenzugehören scheint, stand auch am Anfang dieses Buches. Sie wurde nicht kleiner, als immer neue Bereiche hinzukamen: der Glaube an die Authentizität von Elfenphotos, aber auch Conan Doyles Engagement für die Aufklärung der Kongo-Greuel, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Kolonialpolitik des belgischen Königs Leopold II., und der Abenteuer-Roman The Lost World mit photographischen Illustrationen einer Reise in die Welt der Dinosaurier. Detektivische wie politische Aufklärungsarbeit und jahrelanges Predigen für die vermeintlich frohe Botschaft des Spiritismus stehen nebeneinander. Ihre eigentümliche Logik zu erkunden und zu erklären ist Aufgabe dieses Buchs. Hat vielleicht nicht, so wäre zu fragen, Sherlock 8 Holmes doch etwas mit dem Spiritismus zu tun, und umgekehrt dieser etwas mit dem Meisterdetektiv? Und was bedeutet es, wenn wir bis heute seine Wohnung in der Baker Street 221B, die es niemals gab, besuchen oder mit der neuen Serie „Sherlock" staunend den Wundern der Aufklärung dunkler Fälle folgen? Hat das nicht auch etwas Magisches? Conan Doyle machte sich über den durchaus verbreiteten Glauben, Sherlock Holmes sei eine real existierende Gestalt, lustig und ist doch stolz, die besondere Gestalt, die wir bis heute alle kennen, erfunden zu haben.
Hören wir noch ein wenig zu, was er seinen Lesern vor fast einem Jahrhundert zu sagen hatte, denn dieses einzige von ihm erhaltene Filmdokument ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Conan Doyle inszeniert sich mit seinem schottischen Dialekt und seinem Walross-Bart als verlässlicher Zeuge seiner eigenen Geschichte ohne jede Starallüren. Er verlässt sein Haus mit einem Buch in der Hand und in Begleitung seines Hundes. Das Buch legt er mitsamt seinem Hut, den er, als er zu reden beginnt, abnimmt, auf einen Gartentisch, und weist dem Hund daneben seinen Platz zu, um ihn dann während seines zehnminütigen Monologs hin und wieder zu streicheln. Am Ende verabschiedet er sich, nimmt das Buch wieder in die Hand und geht mit dem Hund zurück ins Haus. Nach ihm das Nachleben. Jenes nach dem Tode sei gewiss. Und das Verschwinden Sherlock Holmes' ebenso. Das ist seine Botschaft. In dem kurzen Film gibt es keine Fragen, sondern nur Auskunft. Diese nimmt für beide Themen in etwa die gleiche Zeit in Anspruch. Das bedeutet jedoch nicht, dass Conan Doyle Sherlock Holmes ebenso wichtig wäre wie seine spiritistische Botschaft. Letztere liegt ihm nach eigener Auskunft weit mehr am Herzen und soll ihn auch in Zukunft beschäftigen, während die Tage des Detektivs vorüber sind, denn auf neue Sherlock-Holmes-Geschichten werden die Zuschauer vergeblich warten müssen. Für diese finde er angesichts der besonderen Bedeutung der „Neuen Offenbarung", so der Titel eines seiner Bücher, keine Zeit mehr. Sie habe er zu verkünden. Sherlock-Holmes und der Spiritismus - und das ist das eigentlich Befremdliche seiner Botschaft - werden von Conan Doyle nacheinander und zugleich als miteinander korrespondierend vorgestellt. Allerdings ist es keineswegs so, dass Sherlock Holmes etwas mit dem Spiritismus zu tun hätte; er ist hier vor allem Mittel der rhetorischen Überzeugungsarbeit, der Spiritismus ist ihm gänzlich fremd. Dieser erscheint im „Kanon", so nennen die Anhänger voller Verehrung das Ensemble der Sherlock-Holmes-Romane und Erzählungen, allenfalls als zu bekämpfender und auszuschließender Fremdkörper. Sherlock Holmes konnte, bemerkenswert genug, mit der Spiritismusbegeisterung seines Schöpfers wenig anfangen und distanziert sich explizit von übernatürlichen Erscheinungen. Hier gibt es keine Geister, nur den scharfsinnigen des Detektivs. So heißt es etwa in „Der Vampir von Sussex": „Die Agentur hier steht mit beiden Füßen fest auf der Erde, und da muss sie auch bleiben. Uns reicht die Welt schon so, wie sie ist; für Geister haben wir keine Verwendung" Conan Doyle respektiert diese selbstgesetzten Vorgaben und nimmt dabei sogar in Kauf, dass seine Schriften Bereiche mit unterschiedlichen Regeln haben, die sich wechselseitig ausschließen. Der „Kanon" und die Publikationen zum Spiritismus sind dabei nur zwei von zahlreichen weiteren Feldern. Bereits Conan Doyles erster mehr als nur spiritismusaffiner Biograph John Lamond konstatiert: „Es waren mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Wesen in Arthur Conan Doyle verkörpert" Sein Werk ist eine eigene Welt, in der in eigentümlicher Weise höchst unterschiedliche und höchst heterogene Diskurs-Kontinente mit eigenen Klimaten und Biotopen koexistieren: Der „Kanon „ steht neben zahlreichen historischen Romanen, die Conan Doyle ohnehin für literarisch bedeutsamer als seine Sherlock-Holmes-Texte hielt, und spiritistische Manifeste, wie eine umfangreiche Geschichte des Spiritismus, finden sich neben politischen Interventionen, historische Schriften neben einer Verteidigung der Existenz von Elfen und literarische Essays neben Aufsätzen zur Amateurphotographie und Abenteuerromanen. Das alles und noch viel mehr ist zu erkunden. Und das ist merkwürdig genug, zumal sich die Felder nicht trennscharf in unterschiedliche Phasen seines Werks einteilen lassen.5 Den Widerstreit, den wir hier ausmachen, scheint es für ihn nicht gegeben zu haben. Es scheint sich vielmehr um harmonische Paralleluniversen zu handeln. Im postmodernen Jargon der 1970er Jahre wurde die Pluralität des Ich als Entdeckung verkündet. „Wir sind viele", heißt es programmatisch in Rhizom von Deleuze und Guattari, wo diese rhizomatische Vielheit zugleich als eine neue Art des Denkens ausgegeben wird.6 Doch bereits bei Conan Doyle, der in Habitus und ästhetischer Gestalt eher ein Autor des 19. Jahrhunderts ist und mit den Avantgarden schlicht nichts zu tun hat, ist diese Pluralität Programm. Conan Doyle, der „letzte britische Nationalschriftsteller", ist gerade in seiner für ihn typischen Existenz als Inkarnation des grundsoliden gesunden Menschenverstands, des common sense, ein Abbild der Widersprüchlichkeiten seiner Zeit. Seine offenkundig absurde und abwegige Begeisterung für die spiritistische Photographie und die Elfenbilder wirkt daher wie eine Provokation. Doch auch wenn uns heute Conan Doyle in seiner Verteidigung des Spiritismus gelinde gesagt merkwürdig vorkommt, teilte er seine Überzeugungen mit mehr als 10 Millionen Amerikanern und erreichte bei seinen Vorträgen, die ihn um die ganze Welt führten, etwa eine halbe Million Zuhörer, die zumeist für den Eintritt bezahlt hatten. Selbst dann, wenn er aus heutigen Augen Extrempositionen einzunehmen scheint, ist Conan Doyle recht gewöhnlich. Wenn wir daher über Conan Doyle sprechen, so sprechen wir eben auch über die Zeit zwischen 1880 und 1930 im allgemeinen, über ein halbes Jahrhundert, das zwischen Indizienparadigma und Spiritismusbegeisterung, der Zeichendeutung im Diesseits und im Jenseits pendelt. Conan Doyle ist wie ein Seismograph dieser Ausschläge; sein Werk zeichnet sie wie eine Fieberkurve nach. Wenn wir seine Texte lesen, so durchstreifen wir das Imaginarium dieser Zeit, das hier üppig wuchert: Darwin, Dinosaurier und Detektive bevölkern es ebenso wie Phantome, Photographien und Phantasien des „schwarzen Kontinents". Diese wuchernde Vielfalt zeichnet sein Werk wie auch seine Zeit aus. Im Fox-Film aus dem Sommer 1927 beschränkt sich Conan Doyle hingegen einzig auf Sherlock Holmes und den Spiritismus und beschreibt damit nur einen Teil seines OEuvres. Gleichwohl legt er die Matrix offen, die es gestattet, die konfligierende Heterogenität der Felder in eine friedliche Koexistenz zu überführen. Wie charakterisiert nun Conan Doyle diese beiden Bereiche? Sherlock Holmes verschreibt sich einzig und allein der wissenschaftlich genauen Beobachtung, den Fakten und setzt sich dezidiert vom Spiritismus ab. Dieser wiederum ist, so Conan Doyle über seine eigenen „übersinnlichen Erfahrungen", ebenfalls auf Fakten gegründet - auch wenn wir heute diese Überzeugung nicht mehr teilen. Hier geht es nicht um Glauben, sondern um Wissen. Das ist Conan Doyles Strategie der Gegenüberstellung: Auf der einen Seite ein fiktiver Detektiv, der auf Fakten setzt, auf der anderen eine auf Fakten gegründete Bewegung, die nicht selten für reine Fiktion gehalten wird. In Conan Doyles Filminterview regiert daher eine inverse Logik: der „Kanon" der Sherlock-Holmes-Texte auf der einen Seite und der noch zu kanonisierende Spiritismus auf der anderen. Beide sind, so Conan Doyle vor der Kamera, in seinem Leben gleich ursprünglich. Erste spiritistische Erfahrungen habe er bereits 1886/87 gemacht, also just zu der Zeit, als er auch die Figur des Sherlock Holmes erfunden habe. Dabei verschweigt er allerdings, dass er seinerzeit den Séancen, die er besucht hatte, kritisch gegenüberstand. Zudem hatte er damals eine polemische Ablehnung von Reichenbachs Od-Licht publiziert, der Vorstellung, es gebe eine dem Magnetismus verwandte Lebenskraft, die, so wurde behauptet, mittels der Photographie eingefangen werden könne. Gleichwohl erblickt er in den Séancen im Rückblick den Anfang seiner persönlichen Überzeugung. Er decodiert seine Geschichte und die nun mit aller Macht einsetzende Bewegung als Parallelgeschichten: Wenn auch sein Leben im Schatten von dieser stehe, so habe diese doch eine welthistorische Bedeutung. Und so wiederum zeichnen seine Lebenslinien welthistorisch bedeutsame Entwicklungen nach. Die Geschichte von Sherlock Holmes sei hingegen abgeschlossen. Die eine Geschichte, die des Spiritismus, deren Historie er ja zudem in einem zweibändigen Buch rekonstruiert hat, weist voraus in die Zukunft, die andere, die des Sherlock Holmes, ist beendet und somit historischer Altbestand. Diese Einschätzung sollte sich bekanntlich nicht bewahrheiten, da Sherlock Holmes fortlebt, jünger und jünger zu werden scheint und proteusartig immer neue Gestalten annimmt, wie nicht zuletzt jene der famosen britischen Fernsehserie Sherlock. Conan Doyles spiritistisches Werk ist dagegen in Vergessenheit geraten und der Spiritismus zugunsten zahlloser weiterer esoterischer Strömungen weitgehend verschwunden. Heute erwecken wir Sherlock Holmes fortwährend zum Leben und haben die „dunkle Seite" Conan Doyles vergessen. Doch wenn wir die inverse Logik von Doyles Filmrede betrachten, so müssen wir noch einen Schritt weiter gehen: Conan Doyle sieht eine besondere Ordnung der Dinge vor. Auf der einen Seite steht der Detektiv, der nach Auskunft und Überzeugung seines Erfinders als erster für sich in Anspruch nehmen kann, bei der Lösung seiner Fälle wissenschaftlich vorgegangen zu sein. Nicht das Glück oder der Zufall haben hier wie bei den vorherigen literarischen Kriminalgeschichten regiert, sondern die Logik und die wissenschaftliche Deduktion. Ihm, Conan Doyle, sei es als erstem gelungen, wissenschaftliche Methoden auf die Arbeit der kriminalistischen Detektion anzuwenden. Darauf ist er mächtig stolz. Als Vorbild habe ihm dabei sein ehemaliger Dozent Joseph Bell gedient, der in der Lage gewesen sei, bereits bei der Anamnese durch die reine Beobachtung eines Patienten wichtige Informationen über dessen Herkunft und Geschichte zu erhalten: Der Mensch ist ein Zeichenträger und ein Gewohnheitstier. Er verrät unwillentlich vieles über sich, weil er dieses immer wieder tut. Das Leben ist in der Vorstellung Conan Doyles vor allem eines: Wiederholung. Die Methode wanderte nun von der Krankheit zum Verbrechen, der Krankheit des modernen Sozialkörpers, ohne ihre Gestalt wesentlich zu verändern. Auf der anderen Seite steht der Spiritismus, der sich, so Conan Doyle, ebenfalls keineswegs dem Glauben, dem Glück oder dem Zufall verdanke, sondern dem Wissen. Beide - Sherlock Holmes und der Spiritismus - sind konstitutive Teile des Indizienparadigmas, das der italienische Historiker Carlo Ginzburg mit Sherlock Holmes als wichtiger Referenz vor über 30 Jahren ausgerufen hat. Beide beruhen gemäß der Logik dieser Überlegungen auf Fakten und Wissenschaft. Anders als bei Sherlock Holmes sei er jedoch weder Erfinder der Bewegung noch ihr wichtigster Vertreter, sondern einzig ihr „Grammophon". Er zeichne auf, was er mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen habe. Er ist, mit anderen Worten, ein Watson der spiritistischen Bewegung. Dieser verfügt nicht über die besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten des Meisterdetektivs und ist daher zur Rolle des beteiligten Beobachters und Chronisten verdammt. So auch Conan Doyle, der nach eigener Aussage über keine eigenen übersinnlichen Kräfte verfügt, wohl aber über die Fähigkeit, den Erscheinungen eine sprachliche Gestalt zu geben. Wenn die Leser schon Watson Glauben schenken und Sherlock Holmes für real halten, dann sollten sie das nach ihrem Autor in spiritistischen Dingen schon lange tun. Das ist die Botschaft des langen filmischen Monologs. Die Tatsache, daß Conan Doyle die Figur des Sherlock Holmes erfunden hatte, sollte häufig von ihm und auch den Berichterstattern eingesetzt werden, um mittels eines Transfers von der fiktiven Gestalt auf ihren Autor Glaubwürdigkeit zu erlangen oder auch um der Verwunderung angesichts seines Falls in den Obskurantismus der Elfen, Gnome und Phantome rhetorisch Ausdruck zu verleihen. „Doyle hätte Sherlock Holmes nicht erfinden können", so heißt es etwa in dem dann keineswegs kritischen Artikel mit dem suggestiven Titel „Ist Conan Doyle verrückt?", „wenn er nicht sehr intensiv mit den Gesetzen der Beweisführung vertraut gewesen wäre." Und auch die Selbstcharakterisierung „Grammophon „ kommt nicht von ungefähr. Conan Doyle musste bei den Séancen, denen er beiwohnte, vor allem seinen Ohren vertrauen, spielte sich doch notorisch vieles im Dunkeln ab. Der Spiritismus beginnt nicht zuletzt mit Klopfzeichen im Hause der Fox-Schwestern in Hydesville. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Die Augen tendieren hingegen zum skeptischen Zweifel. Der gänzlich unspiritistische Sherlock Holmes vertraut daher vor allem seiner visuellen Wahrnehmung und hat diese perfektioniert. Wer Augen hat zu sehen, der sehe - und Sherlock Holmes sieht nicht nur, er beobachtet und zieht daraus seine Schlüsse. Die besondere Pointe von Conan Doyles Antwort auf bekannte Fragen ist in ihrer bemerkenswerten rhetorischen Evidenz die folgende: Conan Doyle tritt so vor die Kamera, wie er auch von seinen Kritikern beschrieben wird: als ehrlicher, aufrichtiger und glaubwürdiger Mann. Und er wundert sich darüber, daß man Sherlock Holmes für eine reale Figur gehalten habe. Dies konstatiert er im Film wie auch in einem späteren Radio-Interview aus seinem letzten Lebensjahr. „Vielen schien er eine reale Gestalt zu sein, und ich habe viele Briefe gelesen, die von Zeit zu Zeit aus allen Erdteilen an ihn gerichtet waren" Sherlock Holmes ist eine irdische Berühmtheit, mehr noch: eine globale Gestalt. Der Welt ist er nicht fremd, und sie ist ihm nicht fremd. Er habe - ein wenig indiskreterweise - die Briefe an Sherlock Holmes und auch an Watson gelesen. Darunter seien auch Angebote, als Haushälterin tätig zu werden, und sogar ein Heiratsantrag gewesen. Sherlock Holmes ist jedoch, so betont er süffisant, eine fiktive Gestalt, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Umgekehrt sei jedoch der Spiritismus, den viele für fiktiv, für eine Ausgeburt der Imagination, der Einbildungskraft phantasiebegabter Leute oder sogar für eine bewusste Irreführung halten, höchst real. Er gründe auf Wissen und auf Fakten. Auch als Verfechter dieser Sache habe er viele Briefe erhalten, gar so viele, dass er ein ganzes Zimmer seines Hauses damit füllen könne, und sie zeugen vom Trost, den die Botschaft des Spiritismus gebracht habe. Hüben wie drüben Briefe, hüben wie drüben vermeintlich wissenschaftliche Methoden und Wissen, nicht Glauben, Zufall oder Glück. Das ist die Pointe der inversen Logik von Conan Doyles Intervention, der dabei aber auch eine Logik der Überbietung entwickelt: Das Fiktive wird für wahr gehalten, das vermeintlich Fiktive ist jedoch wahr. Einige Briefe an Sherlock Holmes werden zu einem Zimmer voller Briefe über den Trost der neuen frohen Botschaft. Aus Fiktion wird Realität und aus der Brücke zwischen Fiktion und Realität schließlich eine zwischen Diesseits und Jenseits. Strategischer Realismus Diese eigentümliche Strategie, fortwährend zwischen zwei eigentlich strikt geschiedenen Bereichen, Welten oder Ordnungen übersetzen zu können, ist charakteristisch für Conan Doyles OEuvre. Es ist eine Art Pendelfähre auf dem Acheron, bei der die Einbildungskraft zwischen Faktizität und Fiktion, den Lebenden und den Toten, der Gegenwart und der Vergangenheit die Überfahrt bewerkstelligt. Ich möchte sie als strategischen Realismus bezeichnen. Darunter verstehe ich eine alles in allem manichäische Ordnung der Welt in Oppositionen, die einerseits eine klare Trennung von Wertungen und Bedeutungen (gut und böse, wahr und falsch, Diesseits und Jenseits etc.) ermöglicht, auf der anderen aber eben strategisch durchlässig ist und das Wandern zwischen den Welten gestattet. Fiktion kann und soll sich aus Fakten speisen, umgekehrt aber auch das Reich der Fakten sich der Mittel der Fiktion bedienen. Romane werden zu regelrechten Pamphleten, und vermeintlich wissenschaftlich grundierte Schriften folgen nicht nur Narrativen, sondern sind durchsetzt mit Schichten der Fiktion. „Ich möchte, dass diese Leute glauben, dass es Kommunikation gibt" Das ist die spiritistische Botschaft, die Conan Doyle den Tausenden und Abertausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern während seinen diversen Vortragsreisen überbringt. Aber das ist auch die Botschaft der anderen Texte: Es gibt kommunizierende Räume. Sein strategischer Realismus ermöglicht ihm die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Welten seines OEuvres. Aus der multiplen (schriftstellerischen) Persönlichkeit wird ein Wanderer zwischen den Welten. Mit Siebenmeilenstiefeln durchmisst Conan Doyle seine Welt und springt dabei von Kontinent zu Kontinent. Mit Sherlock Holmes verbringt er den Morgen, mit seinem spiritistischen Führer Pheneas den Nachmittag, und mit Professor Challenger reist er abends in die „Verlorene Welt" der Dinosaurier. Überall ist er zu Hause. Conan Doyle konstruiert fortwährend solche Räume, die genau dies leisten: Sie ermöglichen Übergänge zwischen den Welten und lassen dabei dennoch die Evidenz der wertenden Setzungen unangetastet. Er operiert mit vermeintlich strikten Unterscheidungen, die die Welt ordnen, um diese zugleich dann wieder durchlässig zu machen, ohne dass die Ordnung tangiert würde. Diese Ordnungen sind zugleich - und das ist entscheidend - narrative Räume eines Wirklichkeitsversprechens. Sherlock Holmes ist fraglos keine realexistierende Person, soll aber einen „effet de réel", einen Wirklichkeitseffekt, bei der Leserschaft haben. Und der Spiritismus ist zwar in den Augen Conan Doyles nicht nur eine neue Wissenschaft, sondern eben auch eine „Neue Offenbarung „, die in Erzählungen zu bringen und in dieser Gestalt zu kommunizieren ist. Und Ähnliches gilt auch für die anderen Bereiche. Die Photographie, die im Mittelpunkt dieses Buchs stehen wird, spielt dabei, auch wenn sie im Filmporträt Conan Doyles, der sich jedoch fraglos der filmisch-photographischen Performanz seiner Präsentation bewusst gewesen sein dürfte, nicht erwähnt wird, eine entscheidende Rolle. Der Behauptung, dass, „obwohl es gelegentliche Verweise auf die Photographie in Doyles Arbeit gibt, diese keine besondere Bedeutung" hat, ist zu widersprechen. Es gibt weltweit kein OEuvre eines Schriftstellers dieser Zeit, das in ähnlich breitgefächerter wie komplexer Weise auf die Photographie zurückgreifen würde. Die Photographie ist vielmehr ein Schlüssel, der uns sein Werk und mit ihm seine Epoche aufschließt wie eine Wunderkammer der Zeit um 1900. Sie ist ein Medium, das diese Bezeichnung im doppelten Wortsinn wirklich verdient. Bei spiritistischen Séancen kann sie mitunter an die Stelle des ansonsten unersetzlichen menschlichen Mediums treten und die Erscheinungen aus dem Jenseits in Bilder bringen. In Romanen wird sie ebenso eingesetzt wie bei politischen Interventionen. Sie ist ein zentrales Mittel der visuellen Kommunikation. Sie ist das Medium des Transfers zwischen den Welten. Wenn Conan Doyle vor Augen führen will, dass es „Kommunikation" gibt, dann ist die Photographie hierfür das privilegierte Medium. Daher hat sie in seinem Werk eine nicht zu überschätzende strategische Funktion, setzt in anderer Weise diese eigentümliche inverse Logik fort und folgt auch der Matrix des strategischen Realismus. Die Welten der Photographie Eine geraffte Übersicht, eine panoramatische Aussicht auf die Welten Conan Doyles vorab: In den Sherlock-Holmes- Texten (Kap. 2) taucht die Photographie durchaus überraschenderweise nicht oder nur am Rande auf. Sie wird durch den Protagonisten verdrängt, der - vom Kokainkonsum über dramatische Wissenslücken bis zu eigentümlichen Charakterzügen - zwar allerlei Schwächen hat, sich aber vor allem anderen durch seine besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten auszeichnet. „Er war", so heißt es programmatisch in der Erzählung „Skandal in Böhmen", der ersten Sherlock-Holmes- Kurzgeschichte im Strand Magazine überhaupt, „die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat." Da braucht es keine Photographien mehr: Sherlock Holmes ist bereits ein Photoapparat und ein Photolabor noch dazu. Dieser schlichte Befund ist jedoch erläuterungsbedürftig und erweist sich als komplexer, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Auch im heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Werk Conan Doyles jenseits des Kanons findet sich ein bemerkenswerter Einsatz der Photographie als Kommunikationsmedium. Während in diesem Zusammenhang die historischen Romane von nachgeordneter Bedeutung sind, da sie durchweg in fernen und somit dunklen präphotographischen Jahrhunderten spielen, gilt das für andere Werkgruppen nicht. Anzuführen sind erstens historisch-politische Berichte - etwa über den Burenkrieg oder den Ersten Weltkrieg - und Interventionen, wie etwa eine scharfe Kritik der belgischen Kolonialpolitik im Kongo. In seinem Buch Das Kongo-Verbrechen greift Conan Doyle dabei auf regelrechte Schockphotos zurück, die, photographiehistorisch betrachtet, zu den frühesten überhaupt gehören (Kap. 3). Die Lichtbilder sollten hier eine photographische Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten. Weiterhin hat er eine Serie von literarischen Texten einem Protagonisten gewidmet, der den - peinlich-grandiosen - sprechenden Namen Professor Challenger trägt. In ihnen wird die Photographie gezielt eingesetzt, so etwa als Illustration eines Abenteuer- oder Science-Fiction-Romans mit dem Titel The Lost World, der uns die Existenz von Dinosauriern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen führen will. (Kap. 4) Der gleiche Professor Challenger wird einige Jahre später dann im Roman The Land of Mist für die Entdeckung eines weiteren Reiches eintreten: dem des Spiritismus - mitsamt einigen photographischen Belegen. Conan Doyle erlaubte ihm, was Sherlock Holmes versagt bleiben musste: eine Konversion zum Spiritismus. Damit sind wir bei dem Bereich, von dem im Film-Interview bereits die Rede war: Conan Doyle hat ein außerordentlich umfangreiches OEuvre mit Büchern, Pamphleten, Erzählungen und zahlreichen Kleinpublikationen vom Leserbrief bis hin zur Artikelserie zum großen weiten Feld des Spiritismus hinterlassen (Kap. 5). Conan Doyle unternahm zudem seit Ende der 1910er Jahre bis hin zu seinem Tod einen regelrechten spiritistischen Feldzug mit Vortragsreisen in Europa, den Vereinigten Staaten und selbst Australien und Neuseeland, um die Welt von der Wahrheit des seiner Auffassung nach wichtigsten Ereignisses seit dem Tod Jesu vor fast zwei tausend Jahren zu überzeugen. Conan Doyle gründete einen okkultistischen Buchladen in der Nähe der Westminster Abbey, den er, da dieser extrem defizitär war, mit den Erlösen seiner Bücher und nicht zuletzt den Sherlock-Holmes- Texten finanzierte. Weiterhin schrieb er ein Buch über Elfenphotographien. Elfen sind nach Conan Doyles Überzeugung Wesen ganz von dieser Welt, deren Existenz die Photographien nun bezeugt hätten (Kap. 6). Und schließlich war Conan Doyle nicht nur Augenarzt - und wollte sich als solcher sogar selbständig machen -, sondern auch ein begeisterter Amateurphotograph, der in dem anerkannten British Journal of Photography in den 1880er Jahren gleich eine ganze Serie von Texten veröffentlichte (Kap. 1). Mit diesen heute vergessenen Essays begann seine literarische Karriere. Sie setzt mit der Photographie ein und wird auch mit ihr enden. Wir haben es also mit einer Fülle von unterschiedlichen Texten und Bildern, Diskursen und Seh- und Wahrnehmungsordnungen zu tun, die sich um die Photographie als Gegenstand herumgruppieren. Bereisen wir also Conan Doyles Welt. Mitunter schlüpft er selber in die Rolle des Cicerone und weist uns auf die Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte hin. So etwa bei seinen frühen Texten, die Reiseempfehlungen für den Amateurphotographen geben, aber auch in seinen Lichtbildvorträgen zur spiritistischen Photographie. Ansonsten müssen wir die Lichtbilder erst suchen, um diese dann als Indizes einer zu entziffernden Ordnung der Dinge zu nutzen. Photographien sind jedenfalls in Conan Doyles Welt keine kontingenten Bilder, die zufällig aufgenommene Dinge zeigen, sondern Zeichen einer geordneten Welt. Mitunter ist es dabei allerdings ihre Aufgabe, eine solche Ordnung zu suggerieren oder überhaupt erst herzustellen. Das ist die Funktion der Photographie im Sinne eines strategischen Realismus. Die sechs Kapitel folgen weitgehend einer Chronologie, auch wenn sich einige Bereiche zeitlich überschneiden. Daher ist aus der Chronologie auch keine Entwicklungslogik oder gar Teleologie abzuleiten. Conan Doyles Werk zeichnet sich nicht durch eine logische oder biographische Abfolge, sondern durch ein denkwürdiges wie fröhliches Nebeneinander aus. Gleichwohl ist es eben auch kein unübersichtliches, wucherndes Rhizom, sondern ein buntes Photoalbum mit vorgegebenen Mustern und vorgestanzten Schlitzen, in die dann passgenau die Photographien gesteckt werden können. Die Bilder stellen eine geordnete Welt dar und mitunter überhaupt erst her. Die bemerkenswerten Geschichten, die diese Bilder wie auch die Ordnungen der Texte erzählen, sollen im Folgenden nach- und aufgezeichnet werden. Diese Geschichten erweisen sich dabei zugleich als Entzifferungsversuche der Geschichte. Ein halbes Jahrhundert ist in diesem Album versammelt.
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Einleitung Im Sommer 1927, drei Jahre vor seinem Tod, tritt Sir Arthur Conan Doyle für „Fox Newsreal" vor die Kamera und spricht einzig über zwei Dinge, nach denen man ihn nach eigener Aussage auch ansonsten fortwährend befragt: die Erfindung von Sherlock Holmes und sein Engagement für den Spiritismus. Das ist heute durchaus überraschend: Als Autor der Sherlock-Holmes-Texte kennt man ihn, aber als Verfechter des Geisterglaubens? Schließen sich nicht, so würde man denken, detektivischer Scharfsinn und spiritistischer Unsinn aus? Nicht für Conan Doyle, muss die Antwort lauten. Diese zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, und einige andere ebenso merkwürdige noch dazu. Die Verwunderung über diese befremdliche Koexistenz von etwas, was offenkundig nicht zusammenzugehören scheint, stand auch am Anfang dieses Buches. Sie wurde nicht kleiner, als immer neue Bereiche hinzukamen: der Glaube an die Authentizität von Elfenphotos, aber auch Conan Doyles Engagement für die Aufklärung der Kongo-Greuel, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Kolonialpolitik des belgischen Königs Leopold II., und der Abenteuer-Roman The Lost World mit photographischen Illustrationen einer Reise in die Welt der Dinosaurier. Detektivische wie politische Aufklärungsarbeit und jahrelanges Predigen für die vermeintlich frohe Botschaft des Spiritismus stehen nebeneinander. Ihre eigentümliche Logik zu erkunden und zu erklären ist Aufgabe dieses Buchs. Hat vielleicht nicht, so wäre zu fragen, Sherlock 8 Holmes doch etwas mit dem Spiritismus zu tun, und umgekehrt dieser etwas mit dem Meisterdetektiv? Und was bedeutet es, wenn wir bis heute seine Wohnung in der Baker Street 221B, die es niemals gab, besuchen oder mit der neuen Serie „Sherlock" staunend den Wundern der Aufklärung dunkler Fälle folgen? Hat das nicht auch etwas Magisches? Conan Doyle machte sich über den durchaus verbreiteten Glauben, Sherlock Holmes sei eine real existierende Gestalt, lustig und ist doch stolz, die besondere Gestalt, die wir bis heute alle kennen, erfunden zu haben.
Hören wir noch ein wenig zu, was er seinen Lesern vor fast einem Jahrhundert zu sagen hatte, denn dieses einzige von ihm erhaltene Filmdokument ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Conan Doyle inszeniert sich mit seinem schottischen Dialekt und seinem Walross-Bart als verlässlicher Zeuge seiner eigenen Geschichte ohne jede Starallüren. Er verlässt sein Haus mit einem Buch in der Hand und in Begleitung seines Hundes. Das Buch legt er mitsamt seinem Hut, den er, als er zu reden beginnt, abnimmt, auf einen Gartentisch, und weist dem Hund daneben seinen Platz zu, um ihn dann während seines zehnminütigen Monologs hin und wieder zu streicheln. Am Ende verabschiedet er sich, nimmt das Buch wieder in die Hand und geht mit dem Hund zurück ins Haus. Nach ihm das Nachleben. Jenes nach dem Tode sei gewiss. Und das Verschwinden Sherlock Holmes' ebenso. Das ist seine Botschaft. In dem kurzen Film gibt es keine Fragen, sondern nur Auskunft. Diese nimmt für beide Themen in etwa die gleiche Zeit in Anspruch. Das bedeutet jedoch nicht, dass Conan Doyle Sherlock Holmes ebenso wichtig wäre wie seine spiritistische Botschaft. Letztere liegt ihm nach eigener Auskunft weit mehr am Herzen und soll ihn auch in Zukunft beschäftigen, während die Tage des Detektivs vorüber sind, denn auf neue Sherlock-Holmes-Geschichten werden die Zuschauer vergeblich warten müssen. Für diese finde er angesichts der besonderen Bedeutung der „Neuen Offenbarung", so der Titel eines seiner Bücher, keine Zeit mehr. Sie habe er zu verkünden. Sherlock-Holmes und der Spiritismus - und das ist das eigentlich Befremdliche seiner Botschaft - werden von Conan Doyle nacheinander und zugleich als miteinander korrespondierend vorgestellt. Allerdings ist es keineswegs so, dass Sherlock Holmes etwas mit dem Spiritismus zu tun hätte; er ist hier vor allem Mittel der rhetorischen Überzeugungsarbeit, der Spiritismus ist ihm gänzlich fremd. Dieser erscheint im „Kanon", so nennen die Anhänger voller Verehrung das Ensemble der Sherlock-Holmes-Romane und Erzählungen, allenfalls als zu bekämpfender und auszuschließender Fremdkörper. Sherlock Holmes konnte, bemerkenswert genug, mit der Spiritismusbegeisterung seines Schöpfers wenig anfangen und distanziert sich explizit von übernatürlichen Erscheinungen. Hier gibt es keine Geister, nur den scharfsinnigen des Detektivs. So heißt es etwa in „Der Vampir von Sussex": „Die Agentur hier steht mit beiden Füßen fest auf der Erde, und da muss sie auch bleiben. Uns reicht die Welt schon so, wie sie ist; für Geister haben wir keine Verwendung" Conan Doyle respektiert diese selbstgesetzten Vorgaben und nimmt dabei sogar in Kauf, dass seine Schriften Bereiche mit unterschiedlichen Regeln haben, die sich wechselseitig ausschließen. Der „Kanon" und die Publikationen zum Spiritismus sind dabei nur zwei von zahlreichen weiteren Feldern. Bereits Conan Doyles erster mehr als nur spiritismusaffiner Biograph John Lamond konstatiert: „Es waren mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Wesen in Arthur Conan Doyle verkörpert" Sein Werk ist eine eigene Welt, in der in eigentümlicher Weise höchst unterschiedliche und höchst heterogene Diskurs-Kontinente mit eigenen Klimaten und Biotopen koexistieren: Der „Kanon „ steht neben zahlreichen historischen Romanen, die Conan Doyle ohnehin für literarisch bedeutsamer als seine Sherlock-Holmes-Texte hielt, und spiritistische Manifeste, wie eine umfangreiche Geschichte des Spiritismus, finden sich neben politischen Interventionen, historische Schriften neben einer Verteidigung der Existenz von Elfen und literarische Essays neben Aufsätzen zur Amateurphotographie und Abenteuerromanen. Das alles und noch viel mehr ist zu erkunden. Und das ist merkwürdig genug, zumal sich die Felder nicht trennscharf in unterschiedliche Phasen seines Werks einteilen lassen.5 Den Widerstreit, den wir hier ausmachen, scheint es für ihn nicht gegeben zu haben. Es scheint sich vielmehr um harmonische Paralleluniversen zu handeln. Im postmodernen Jargon der 1970er Jahre wurde die Pluralität des Ich als Entdeckung verkündet. „Wir sind viele", heißt es programmatisch in Rhizom von Deleuze und Guattari, wo diese rhizomatische Vielheit zugleich als eine neue Art des Denkens ausgegeben wird.6 Doch bereits bei Conan Doyle, der in Habitus und ästhetischer Gestalt eher ein Autor des 19. Jahrhunderts ist und mit den Avantgarden schlicht nichts zu tun hat, ist diese Pluralität Programm. Conan Doyle, der „letzte britische Nationalschriftsteller", ist gerade in seiner für ihn typischen Existenz als Inkarnation des grundsoliden gesunden Menschenverstands, des common sense, ein Abbild der Widersprüchlichkeiten seiner Zeit. Seine offenkundig absurde und abwegige Begeisterung für die spiritistische Photographie und die Elfenbilder wirkt daher wie eine Provokation. Doch auch wenn uns heute Conan Doyle in seiner Verteidigung des Spiritismus gelinde gesagt merkwürdig vorkommt, teilte er seine Überzeugungen mit mehr als 10 Millionen Amerikanern und erreichte bei seinen Vorträgen, die ihn um die ganze Welt führten, etwa eine halbe Million Zuhörer, die zumeist für den Eintritt bezahlt hatten. Selbst dann, wenn er aus heutigen Augen Extrempositionen einzunehmen scheint, ist Conan Doyle recht gewöhnlich. Wenn wir daher über Conan Doyle sprechen, so sprechen wir eben auch über die Zeit zwischen 1880 und 1930 im allgemeinen, über ein halbes Jahrhundert, das zwischen Indizienparadigma und Spiritismusbegeisterung, der Zeichendeutung im Diesseits und im Jenseits pendelt. Conan Doyle ist wie ein Seismograph dieser Ausschläge; sein Werk zeichnet sie wie eine Fieberkurve nach. Wenn wir seine Texte lesen, so durchstreifen wir das Imaginarium dieser Zeit, das hier üppig wuchert: Darwin, Dinosaurier und Detektive bevölkern es ebenso wie Phantome, Photographien und Phantasien des „schwarzen Kontinents". Diese wuchernde Vielfalt zeichnet sein Werk wie auch seine Zeit aus. Im Fox-Film aus dem Sommer 1927 beschränkt sich Conan Doyle hingegen einzig auf Sherlock Holmes und den Spiritismus und beschreibt damit nur einen Teil seines OEuvres. Gleichwohl legt er die Matrix offen, die es gestattet, die konfligierende Heterogenität der Felder in eine friedliche Koexistenz zu überführen. Wie charakterisiert nun Conan Doyle diese beiden Bereiche? Sherlock Holmes verschreibt sich einzig und allein der wissenschaftlich genauen Beobachtung, den Fakten und setzt sich dezidiert vom Spiritismus ab. Dieser wiederum ist, so Conan Doyle über seine eigenen „übersinnlichen Erfahrungen", ebenfalls auf Fakten gegründet - auch wenn wir heute diese Überzeugung nicht mehr teilen. Hier geht es nicht um Glauben, sondern um Wissen. Das ist Conan Doyles Strategie der Gegenüberstellung: Auf der einen Seite ein fiktiver Detektiv, der auf Fakten setzt, auf der anderen eine auf Fakten gegründete Bewegung, die nicht selten für reine Fiktion gehalten wird. In Conan Doyles Filminterview regiert daher eine inverse Logik: der „Kanon" der Sherlock-Holmes-Texte auf der einen Seite und der noch zu kanonisierende Spiritismus auf der anderen. Beide sind, so Conan Doyle vor der Kamera, in seinem Leben gleich ursprünglich. Erste spiritistische Erfahrungen habe er bereits 1886/87 gemacht, also just zu der Zeit, als er auch die Figur des Sherlock Holmes erfunden habe. Dabei verschweigt er allerdings, dass er seinerzeit den Séancen, die er besucht hatte, kritisch gegenüberstand. Zudem hatte er damals eine polemische Ablehnung von Reichenbachs Od-Licht publiziert, der Vorstellung, es gebe eine dem Magnetismus verwandte Lebenskraft, die, so wurde behauptet, mittels der Photographie eingefangen werden könne. Gleichwohl erblickt er in den Séancen im Rückblick den Anfang seiner persönlichen Überzeugung. Er decodiert seine Geschichte und die nun mit aller Macht einsetzende Bewegung als Parallelgeschichten: Wenn auch sein Leben im Schatten von dieser stehe, so habe diese doch eine welthistorische Bedeutung. Und so wiederum zeichnen seine Lebenslinien welthistorisch bedeutsame Entwicklungen nach. Die Geschichte von Sherlock Holmes sei hingegen abgeschlossen. Die eine Geschichte, die des Spiritismus, deren Historie er ja zudem in einem zweibändigen Buch rekonstruiert hat, weist voraus in die Zukunft, die andere, die des Sherlock Holmes, ist beendet und somit historischer Altbestand. Diese Einschätzung sollte sich bekanntlich nicht bewahrheiten, da Sherlock Holmes fortlebt, jünger und jünger zu werden scheint und proteusartig immer neue Gestalten annimmt, wie nicht zuletzt jene der famosen britischen Fernsehserie Sherlock. Conan Doyles spiritistisches Werk ist dagegen in Vergessenheit geraten und der Spiritismus zugunsten zahlloser weiterer esoterischer Strömungen weitgehend verschwunden. Heute erwecken wir Sherlock Holmes fortwährend zum Leben und haben die „dunkle Seite" Conan Doyles vergessen. Doch wenn wir die inverse Logik von Doyles Filmrede betrachten, so müssen wir noch einen Schritt weiter gehen: Conan Doyle sieht eine besondere Ordnung der Dinge vor. Auf der einen Seite steht der Detektiv, der nach Auskunft und Überzeugung seines Erfinders als erster für sich in Anspruch nehmen kann, bei der Lösung seiner Fälle wissenschaftlich vorgegangen zu sein. Nicht das Glück oder der Zufall haben hier wie bei den vorherigen literarischen Kriminalgeschichten regiert, sondern die Logik und die wissenschaftliche Deduktion. Ihm, Conan Doyle, sei es als erstem gelungen, wissenschaftliche Methoden auf die Arbeit der kriminalistischen Detektion anzuwenden. Darauf ist er mächtig stolz. Als Vorbild habe ihm dabei sein ehemaliger Dozent Joseph Bell gedient, der in der Lage gewesen sei, bereits bei der Anamnese durch die reine Beobachtung eines Patienten wichtige Informationen über dessen Herkunft und Geschichte zu erhalten: Der Mensch ist ein Zeichenträger und ein Gewohnheitstier. Er verrät unwillentlich vieles über sich, weil er dieses immer wieder tut. Das Leben ist in der Vorstellung Conan Doyles vor allem eines: Wiederholung. Die Methode wanderte nun von der Krankheit zum Verbrechen, der Krankheit des modernen Sozialkörpers, ohne ihre Gestalt wesentlich zu verändern. Auf der anderen Seite steht der Spiritismus, der sich, so Conan Doyle, ebenfalls keineswegs dem Glauben, dem Glück oder dem Zufall verdanke, sondern dem Wissen. Beide - Sherlock Holmes und der Spiritismus - sind konstitutive Teile des Indizienparadigmas, das der italienische Historiker Carlo Ginzburg mit Sherlock Holmes als wichtiger Referenz vor über 30 Jahren ausgerufen hat. Beide beruhen gemäß der Logik dieser Überlegungen auf Fakten und Wissenschaft. Anders als bei Sherlock Holmes sei er jedoch weder Erfinder der Bewegung noch ihr wichtigster Vertreter, sondern einzig ihr „Grammophon". Er zeichne auf, was er mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen habe. Er ist, mit anderen Worten, ein Watson der spiritistischen Bewegung. Dieser verfügt nicht über die besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten des Meisterdetektivs und ist daher zur Rolle des beteiligten Beobachters und Chronisten verdammt. So auch Conan Doyle, der nach eigener Aussage über keine eigenen übersinnlichen Kräfte verfügt, wohl aber über die Fähigkeit, den Erscheinungen eine sprachliche Gestalt zu geben. Wenn die Leser schon Watson Glauben schenken und Sherlock Holmes für real halten, dann sollten sie das nach ihrem Autor in spiritistischen Dingen schon lange tun. Das ist die Botschaft des langen filmischen Monologs. Die Tatsache, daß Conan Doyle die Figur des Sherlock Holmes erfunden hatte, sollte häufig von ihm und auch den Berichterstattern eingesetzt werden, um mittels eines Transfers von der fiktiven Gestalt auf ihren Autor Glaubwürdigkeit zu erlangen oder auch um der Verwunderung angesichts seines Falls in den Obskurantismus der Elfen, Gnome und Phantome rhetorisch Ausdruck zu verleihen. „Doyle hätte Sherlock Holmes nicht erfinden können", so heißt es etwa in dem dann keineswegs kritischen Artikel mit dem suggestiven Titel „Ist Conan Doyle verrückt?", „wenn er nicht sehr intensiv mit den Gesetzen der Beweisführung vertraut gewesen wäre." Und auch die Selbstcharakterisierung „Grammophon „ kommt nicht von ungefähr. Conan Doyle musste bei den Séancen, denen er beiwohnte, vor allem seinen Ohren vertrauen, spielte sich doch notorisch vieles im Dunkeln ab. Der Spiritismus beginnt nicht zuletzt mit Klopfzeichen im Hause der Fox-Schwestern in Hydesville. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Die Augen tendieren hingegen zum skeptischen Zweifel. Der gänzlich unspiritistische Sherlock Holmes vertraut daher vor allem seiner visuellen Wahrnehmung und hat diese perfektioniert. Wer Augen hat zu sehen, der sehe - und Sherlock Holmes sieht nicht nur, er beobachtet und zieht daraus seine Schlüsse. Die besondere Pointe von Conan Doyles Antwort auf bekannte Fragen ist in ihrer bemerkenswerten rhetorischen Evidenz die folgende: Conan Doyle tritt so vor die Kamera, wie er auch von seinen Kritikern beschrieben wird: als ehrlicher, aufrichtiger und glaubwürdiger Mann. Und er wundert sich darüber, daß man Sherlock Holmes für eine reale Figur gehalten habe. Dies konstatiert er im Film wie auch in einem späteren Radio-Interview aus seinem letzten Lebensjahr. „Vielen schien er eine reale Gestalt zu sein, und ich habe viele Briefe gelesen, die von Zeit zu Zeit aus allen Erdteilen an ihn gerichtet waren" Sherlock Holmes ist eine irdische Berühmtheit, mehr noch: eine globale Gestalt. Der Welt ist er nicht fremd, und sie ist ihm nicht fremd. Er habe - ein wenig indiskreterweise - die Briefe an Sherlock Holmes und auch an Watson gelesen. Darunter seien auch Angebote, als Haushälterin tätig zu werden, und sogar ein Heiratsantrag gewesen. Sherlock Holmes ist jedoch, so betont er süffisant, eine fiktive Gestalt, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Umgekehrt sei jedoch der Spiritismus, den viele für fiktiv, für eine Ausgeburt der Imagination, der Einbildungskraft phantasiebegabter Leute oder sogar für eine bewusste Irreführung halten, höchst real. Er gründe auf Wissen und auf Fakten. Auch als Verfechter dieser Sache habe er viele Briefe erhalten, gar so viele, dass er ein ganzes Zimmer seines Hauses damit füllen könne, und sie zeugen vom Trost, den die Botschaft des Spiritismus gebracht habe. Hüben wie drüben Briefe, hüben wie drüben vermeintlich wissenschaftliche Methoden und Wissen, nicht Glauben, Zufall oder Glück. Das ist die Pointe der inversen Logik von Conan Doyles Intervention, der dabei aber auch eine Logik der Überbietung entwickelt: Das Fiktive wird für wahr gehalten, das vermeintlich Fiktive ist jedoch wahr. Einige Briefe an Sherlock Holmes werden zu einem Zimmer voller Briefe über den Trost der neuen frohen Botschaft. Aus Fiktion wird Realität und aus der Brücke zwischen Fiktion und Realität schließlich eine zwischen Diesseits und Jenseits. Strategischer Realismus Diese eigentümliche Strategie, fortwährend zwischen zwei eigentlich strikt geschiedenen Bereichen, Welten oder Ordnungen übersetzen zu können, ist charakteristisch für Conan Doyles OEuvre. Es ist eine Art Pendelfähre auf dem Acheron, bei der die Einbildungskraft zwischen Faktizität und Fiktion, den Lebenden und den Toten, der Gegenwart und der Vergangenheit die Überfahrt bewerkstelligt. Ich möchte sie als strategischen Realismus bezeichnen. Darunter verstehe ich eine alles in allem manichäische Ordnung der Welt in Oppositionen, die einerseits eine klare Trennung von Wertungen und Bedeutungen (gut und böse, wahr und falsch, Diesseits und Jenseits etc.) ermöglicht, auf der anderen aber eben strategisch durchlässig ist und das Wandern zwischen den Welten gestattet. Fiktion kann und soll sich aus Fakten speisen, umgekehrt aber auch das Reich der Fakten sich der Mittel der Fiktion bedienen. Romane werden zu regelrechten Pamphleten, und vermeintlich wissenschaftlich grundierte Schriften folgen nicht nur Narrativen, sondern sind durchsetzt mit Schichten der Fiktion. „Ich möchte, dass diese Leute glauben, dass es Kommunikation gibt" Das ist die spiritistische Botschaft, die Conan Doyle den Tausenden und Abertausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern während seinen diversen Vortragsreisen überbringt. Aber das ist auch die Botschaft der anderen Texte: Es gibt kommunizierende Räume. Sein strategischer Realismus ermöglicht ihm die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Welten seines OEuvres. Aus der multiplen (schriftstellerischen) Persönlichkeit wird ein Wanderer zwischen den Welten. Mit Siebenmeilenstiefeln durchmisst Conan Doyle seine Welt und springt dabei von Kontinent zu Kontinent. Mit Sherlock Holmes verbringt er den Morgen, mit seinem spiritistischen Führer Pheneas den Nachmittag, und mit Professor Challenger reist er abends in die „Verlorene Welt" der Dinosaurier. Überall ist er zu Hause. Conan Doyle konstruiert fortwährend solche Räume, die genau dies leisten: Sie ermöglichen Übergänge zwischen den Welten und lassen dabei dennoch die Evidenz der wertenden Setzungen unangetastet. Er operiert mit vermeintlich strikten Unterscheidungen, die die Welt ordnen, um diese zugleich dann wieder durchlässig zu machen, ohne dass die Ordnung tangiert würde. Diese Ordnungen sind zugleich - und das ist entscheidend - narrative Räume eines Wirklichkeitsversprechens. Sherlock Holmes ist fraglos keine realexistierende Person, soll aber einen „effet de réel", einen Wirklichkeitseffekt, bei der Leserschaft haben. Und der Spiritismus ist zwar in den Augen Conan Doyles nicht nur eine neue Wissenschaft, sondern eben auch eine „Neue Offenbarung „, die in Erzählungen zu bringen und in dieser Gestalt zu kommunizieren ist. Und Ähnliches gilt auch für die anderen Bereiche. Die Photographie, die im Mittelpunkt dieses Buchs stehen wird, spielt dabei, auch wenn sie im Filmporträt Conan Doyles, der sich jedoch fraglos der filmisch-photographischen Performanz seiner Präsentation bewusst gewesen sein dürfte, nicht erwähnt wird, eine entscheidende Rolle. Der Behauptung, dass, „obwohl es gelegentliche Verweise auf die Photographie in Doyles Arbeit gibt, diese keine besondere Bedeutung" hat, ist zu widersprechen. Es gibt weltweit kein OEuvre eines Schriftstellers dieser Zeit, das in ähnlich breitgefächerter wie komplexer Weise auf die Photographie zurückgreifen würde. Die Photographie ist vielmehr ein Schlüssel, der uns sein Werk und mit ihm seine Epoche aufschließt wie eine Wunderkammer der Zeit um 1900. Sie ist ein Medium, das diese Bezeichnung im doppelten Wortsinn wirklich verdient. Bei spiritistischen Séancen kann sie mitunter an die Stelle des ansonsten unersetzlichen menschlichen Mediums treten und die Erscheinungen aus dem Jenseits in Bilder bringen. In Romanen wird sie ebenso eingesetzt wie bei politischen Interventionen. Sie ist ein zentrales Mittel der visuellen Kommunikation. Sie ist das Medium des Transfers zwischen den Welten. Wenn Conan Doyle vor Augen führen will, dass es „Kommunikation" gibt, dann ist die Photographie hierfür das privilegierte Medium. Daher hat sie in seinem Werk eine nicht zu überschätzende strategische Funktion, setzt in anderer Weise diese eigentümliche inverse Logik fort und folgt auch der Matrix des strategischen Realismus. Die Welten der Photographie Eine geraffte Übersicht, eine panoramatische Aussicht auf die Welten Conan Doyles vorab: In den Sherlock-Holmes- Texten (Kap. 2) taucht die Photographie durchaus überraschenderweise nicht oder nur am Rande auf. Sie wird durch den Protagonisten verdrängt, der - vom Kokainkonsum über dramatische Wissenslücken bis zu eigentümlichen Charakterzügen - zwar allerlei Schwächen hat, sich aber vor allem anderen durch seine besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten auszeichnet. „Er war", so heißt es programmatisch in der Erzählung „Skandal in Böhmen", der ersten Sherlock-Holmes- Kurzgeschichte im Strand Magazine überhaupt, „die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat." Da braucht es keine Photographien mehr: Sherlock Holmes ist bereits ein Photoapparat und ein Photolabor noch dazu. Dieser schlichte Befund ist jedoch erläuterungsbedürftig und erweist sich als komplexer, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Auch im heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Werk Conan Doyles jenseits des Kanons findet sich ein bemerkenswerter Einsatz der Photographie als Kommunikationsmedium. Während in diesem Zusammenhang die historischen Romane von nachgeordneter Bedeutung sind, da sie durchweg in fernen und somit dunklen präphotographischen Jahrhunderten spielen, gilt das für andere Werkgruppen nicht. Anzuführen sind erstens historisch-politische Berichte - etwa über den Burenkrieg oder den Ersten Weltkrieg - und Interventionen, wie etwa eine scharfe Kritik der belgischen Kolonialpolitik im Kongo. In seinem Buch Das Kongo-Verbrechen greift Conan Doyle dabei auf regelrechte Schockphotos zurück, die, photographiehistorisch betrachtet, zu den frühesten überhaupt gehören (Kap. 3). Die Lichtbilder sollten hier eine photographische Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten. Weiterhin hat er eine Serie von literarischen Texten einem Protagonisten gewidmet, der den - peinlich-grandiosen - sprechenden Namen Professor Challenger trägt. In ihnen wird die Photographie gezielt eingesetzt, so etwa als Illustration eines Abenteuer- oder Science-Fiction-Romans mit dem Titel The Lost World, der uns die Existenz von Dinosauriern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen führen will. (Kap. 4) Der gleiche Professor Challenger wird einige Jahre später dann im Roman The Land of Mist für die Entdeckung eines weiteren Reiches eintreten: dem des Spiritismus - mitsamt einigen photographischen Belegen. Conan Doyle erlaubte ihm, was Sherlock Holmes versagt bleiben musste: eine Konversion zum Spiritismus. Damit sind wir bei dem Bereich, von dem im Film-Interview bereits die Rede war: Conan Doyle hat ein außerordentlich umfangreiches OEuvre mit Büchern, Pamphleten, Erzählungen und zahlreichen Kleinpublikationen vom Leserbrief bis hin zur Artikelserie zum großen weiten Feld des Spiritismus hinterlassen (Kap. 5). Conan Doyle unternahm zudem seit Ende der 1910er Jahre bis hin zu seinem Tod einen regelrechten spiritistischen Feldzug mit Vortragsreisen in Europa, den Vereinigten Staaten und selbst Australien und Neuseeland, um die Welt von der Wahrheit des seiner Auffassung nach wichtigsten Ereignisses seit dem Tod Jesu vor fast zwei tausend Jahren zu überzeugen. Conan Doyle gründete einen okkultistischen Buchladen in der Nähe der Westminster Abbey, den er, da dieser extrem defizitär war, mit den Erlösen seiner Bücher und nicht zuletzt den Sherlock-Holmes- Texten finanzierte. Weiterhin schrieb er ein Buch über Elfenphotographien. Elfen sind nach Conan Doyles Überzeugung Wesen ganz von dieser Welt, deren Existenz die Photographien nun bezeugt hätten (Kap. 6). Und schließlich war Conan Doyle nicht nur Augenarzt - und wollte sich als solcher sogar selbständig machen -, sondern auch ein begeisterter Amateurphotograph, der in dem anerkannten British Journal of Photography in den 1880er Jahren gleich eine ganze Serie von Texten veröffentlichte (Kap. 1). Mit diesen heute vergessenen Essays begann seine literarische Karriere. Sie setzt mit der Photographie ein und wird auch mit ihr enden. Wir haben es also mit einer Fülle von unterschiedlichen Texten und Bildern, Diskursen und Seh- und Wahrnehmungsordnungen zu tun, die sich um die Photographie als Gegenstand herumgruppieren. Bereisen wir also Conan Doyles Welt. Mitunter schlüpft er selber in die Rolle des Cicerone und weist uns auf die Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte hin. So etwa bei seinen frühen Texten, die Reiseempfehlungen für den Amateurphotographen geben, aber auch in seinen Lichtbildvorträgen zur spiritistischen Photographie. Ansonsten müssen wir die Lichtbilder erst suchen, um diese dann als Indizes einer zu entziffernden Ordnung der Dinge zu nutzen. Photographien sind jedenfalls in Conan Doyles Welt keine kontingenten Bilder, die zufällig aufgenommene Dinge zeigen, sondern Zeichen einer geordneten Welt. Mitunter ist es dabei allerdings ihre Aufgabe, eine solche Ordnung zu suggerieren oder überhaupt erst herzustellen. Das ist die Funktion der Photographie im Sinne eines strategischen Realismus. Die sechs Kapitel folgen weitgehend einer Chronologie, auch wenn sich einige Bereiche zeitlich überschneiden. Daher ist aus der Chronologie auch keine Entwicklungslogik oder gar Teleologie abzuleiten. Conan Doyles Werk zeichnet sich nicht durch eine logische oder biographische Abfolge, sondern durch ein denkwürdiges wie fröhliches Nebeneinander aus. Gleichwohl ist es eben auch kein unübersichtliches, wucherndes Rhizom, sondern ein buntes Photoalbum mit vorgegebenen Mustern und vorgestanzten Schlitzen, in die dann passgenau die Photographien gesteckt werden können. Die Bilder stellen eine geordnete Welt dar und mitunter überhaupt erst her. Die bemerkenswerten Geschichten, die diese Bilder wie auch die Ordnungen der Texte erzählen, sollen im Folgenden nach- und aufgezeichnet werden. Diese Geschichten erweisen sich dabei zugleich als Entzifferungsversuche der Geschichte. Ein halbes Jahrhundert ist in diesem Album versammelt.
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Autoren-Porträt von Bernd Stiegler
Bernd Stiegler,geboren 1964, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München, Paris, Berlin, Freiburg und Mannheim. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Seit Herbst 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20.¿Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Zuletzt sind von ihm im S.Fischer Verlag erschienen 'Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum' (2010) sowie 'Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina' (2012).
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernd Stiegler
- 2014, 1. Auflage, 368 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,4 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100751450
- ISBN-13: 9783100751454
- Erscheinungsdatum: 24.06.2014
Pressezitat
Ein spannendes kulturgeschichtliches Porträt des Arztes Sir Arthur Conan Doyle Katrin Hillgruber Der Tagesspiegel 20141206
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