Sterben in Deutschland
Der Tod wird zunehmend institutionalisiert, medikalisiert und ökonomisiert - mit der Konsequenz, dass sich immer komplexere ethische Fragen stellen: Was bedeutet uns "Sterben in Würde"? Darf man das Leben künstlich verlängern? Oder andersherum: Darf man das Sterben beschleunigen?
Reimer Gronemeyer versucht, mögliche Antworten auf diese komplexen Fragen zu geben. Indem er uns damit vertraut macht, was an den verschiedenen Orten des Sterbens passiert und welche Veränderungen heute das Sterben prägen, nimmt er dem Tod auch einen Teil des Schreckens, den er für jeden von uns hat.
Sterben in Deutschland von Reimer Gronemeyer
LESEPROBE
Früher istman gesund gestorben
Derflexible Mensch und sein brüchiges Lebensende Meine Großmutter hatte dasPrivileg, zu Hause sterben zu können. Ich nehme jedenfalls an, dass es einPrivileg war. Ich weiß genau, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie insKrankenhaus zu bringen. Sie hatte bei uns, bei ihrer Tochter mit deren Mann unddrei Söhnen, ihren Enkeln, gewohnt. Sie war Eisenbahnerwitwe und hatte einenweißgrauen Knoten im Nacken, ein schwarzes Kleid mit einer kleinen weißengestärkten Schleife. Eine neue Schleife, das war ihr immer wiederkehrenderGeburtstagswunsch, sonst nichts. Außerdem wünschte sie sich von Zeit zu ZeitGummiringe für ihr Brillenetui, das nicht mehr schloss. Diese Gummiringe schnittenwir Kinder dann aus alten Fahrradschläuchen. Sonst strickte sie in der Sofaeckeund war bescheiden, aber selbstbewusst. Irgendwann begann sie unterSchwindelanfällen zu leiden, sie fiel manchmal um. Eines Tages erlitt sie einenSchlaganfall. Sie konnte nicht mehr richtig sprechen, nur noch lallen und sichkaum noch bewegen. Ihr weißes, metallenes Bettgestell stand an der Wand undich, zwölf Jahre alt, bekam die Aufgabe, über sie hinwegzusteigen,damit wir gemeinsam ihren Kopf hochhalten konnten, um ihr etwas zu trinkeneinzuflößen, was nicht richtig gelang. Wir entnahmen ihrem Stammeln den Wunsch,man möge ihre eigene Tasse holen, eine sehr einfache, blassgelbe, dicke Porzellantassemit breiter Öffnung. Ich meine, sie hätte schließlich etwas getrunken. Inunmittelbarer Nachbarschaft gab es ein Heim für so genannte »gefalleneMädchen«, junge Prostituierte. Man hörte sie am Abend singen - 1953 sass man offenbar abends noch im Kreis und sang Lieder! -und sie sangen: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. « In derNacht hörte ich plötzlich lautes Weinen, die Großmutter war gestorben. DasZimmer, in dem sie gestorben war, fand ich am Morgen verschlossen. Späterkonnte ich in den Raum sehen, als eine Ärztin kam, die der Verstorbenen einenkleinen runden Taschenspiegel vor den Mund hielt, um den Atemstillstand zuprüfen (der Spiegel wäre sonst beschlagen). Das Fenster war geöffnet, »damitdie Seele den Raum verlassen konnte«, sagte meine Mutter. Und die große alteStanduhr war angehalten worden. Die Ärztin wickelte der weißhaarigenGroßmutter, im weißen, linnenen Nachthemd, im weißen Bett, eine weiße Mullbindeum den Kopf, die den Mund schließen sollte. Die Zahnprothese wurde eingesetztund dann kam irgendwann im Laufe des Tages der Beerdigungsunternehmer und nahmsie im Sarg mit. Aus dem Fenster sahen wir, wie die Großmutter für immer weggefahrenwurde.
Heute würdeman sie nach dem Schlaganfall wohl sofort ins Krankenhaus bringen. Sie würdeeinen Tropf bekommen, vielleicht eine PEG-Sonde fürdie künstliche Ernährung. Möglicherweise würde sie sich sogar etwas erholen.Aber würde sie es wieder bis in einen Rollstuhl schaffen? Nach einer gewissenZeit jedenfalls hätte man sie in ein Pflegeheim verlegt, um dort noch eine Zeitzu leben: ernährt, gepflegt, gewindelt, gewaschen. Sie, die nie viel für sichbeansprucht hatte, wäre ein teurer Sozialfall geworden.
DieSituation der fünfziger Jahre ist nicht wieder herstellbar. Für die Großmuttergab es keine professionelle Pflege, keine medizinische Versorgung, keineInstitution, in die man sie hätte bringen können. Vermutlich wäre ihr diemoderne Variante des Lebensendes zuwider gewesen. Aber wir stehen heute voreinem Dilemma: Da es nun einmal die professionelle Pflege gibt, die Ambulanz,die Sonde, die Rehabilitation, das Pflegeheim und die Windeln, besteht garnicht die Möglichkeit, »nein« zu sagen, weil das im Grunde unterlassene Hilfeleistungwäre. Kann man sich das noch vorstellen, dass ein Zwölfjähriger über diesterbende Großmutter klettert, ihren Kopf hält, damit ihr Tee eingeflößt werdenkann? Wenn erst einmal die Wahlmöglichkeit da ist, führt nichts an derProfessionalisierung vorbei. Und auf diesem Wege verschwimmen natürlich auchdie Grenzen zwischen dem Sterben zu Hause und dem Sterben in der Institution: DerTrend geht dahin, die Menschen zwar möglichst zu Hause sterben zu lassen, wenndas der Wunsch ist - aber um den Preis, dass das Krankenhaus in die Familiekommt: Das Sterbezimmer wird personell und technisch so aufgerüstet, dass derUnterschied zwischen Krankenhaus und Zuhause fast verschwindet.
MeineGroßmutter war als junge Frau von einer nordfriesischen Insel nach Hamburggekommen. Der Beruf des Ehemannes brachte das mit sich. Sie war von einerrauen, störrischen Frömmigkeit, die im Abendgebet und im sonntäglichen Kirchgangzum Ausdruck kam. Daneben war sie aber auch offen für heidnische Bräuche: Sielas die Zukunft aus Teeblättern und bei Krankheiten kam jemand zum »Besprechen «.Zu diesen Anlässen wurde die Tür geschlossen und wir Kinder hörten eingeheimnisvolles Gemurmel. Die Warzen verschwanden dann bald von der Hand,ebenso wie andere kleinere Gebrechen. Und wenn man von Zähnen träumte, so hießes, fürchtete man, dass jemand sterben würde. Das Leben und den Tod betrachtetedie Großmutter als etwas, das aus Gottes Hand kommt. Sie hatte von ihrer Rente dasBeerdigungsgeld auf die Seite gelegt, mehr Vorsorge konnte es nicht geben. Dassdas Grab neben ihrem schon lange verstorbenen Mann für sie bestimmt war, daswar ohnehin selbstverständlich. Dieses Grab hat sie in ihrer Witwen- zeit sehrhäufig besucht, sorgfältig gepflegt und mit Blumenschmuck versehen.
Was vor undwas nach dem Tod geschieht, hat sich in dem halben Jahrhundert seit dem Todmeiner Großmutter in den fünfziger Jahren radikal umgekehrt. Aus demunspektakulären, irgendwie selbstverständlichen Sterben ist heute einmedizinisch kontrolliertes Sterben geworden, das meist im Krankenhaus oder imAltenpflegeheim stattfindet: 80 Prozent der Deutschen sterben in einerInstitution, obwohl 80 Prozent der Deutschen sagen, dass sie zu Hause sterben möchten.Außerdem ist Sterben der teuerste Lebensabschnitt geworden: Krankenversicherersagen, dass zwei Drittel der Krankenhauskosten heute im Durchschnitt in denletzten Lebenswochen und -monaten anfallen. Teure Therapien, teure Schmerzmittel,teure Pflegeeinrichtungen oder äußerst kostspielige Intensivstationen. DasLebensende ist oft noch einmal durch eine bisweilen absurde Mobilität gekennzeichnet,als würde die Beschleunigung, die unser Leben heute kennzeichnet, auch am Endenoch einmal triumphieren: Viele Sterbende werden mit der Ambulanz im letzten Augenblicknoch aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus gebracht, vom Pflegeheim insKrankenhaus, vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder vom Krankenhaus ins Hospiz,immer auf der Suche nach Rettung in letzter Sekunde oder nach Verbesserung derSituation durch Beatmungsgeräte, Morphium, Ernährungssonden. Es wäre imSterbezimmer meiner Großmutter niemand auf die Idee gekommen, eine Ambulanz zurufen: Erstens gab es überhaupt kein Telefon in der Wohnung und zweitens warendie Ambulanzen noch Krankenwagen, die keineswegs kurzfristig zur Verfügung standen.
DieVeränderung der Situation, die Menschen heute, im Vergleich zu meinerGroßmutter, am Ende des Lebens erfahren, ist für mich greifbar in derGeschichte eines alten Ehepaars, die sich so oder ähnlich vielfach ereignet:
FriedrichH. ist 1903 geboren. Kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag erleidet er 1993einen heftigen Herzanfall. Seine Frau ruft den Notarzt und die Ambulanz kommt,um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Er fleht seine Frau an, ihn zu Hause zulassen. Die verzweifelt, weil sie nicht weiß, was sie tun soll. Sie fügt sichder Autorität der Ambulanzbesatzung und Friedrich H. wird mit Blaulicht insKrankenhaus gefahren. Er stirbt im davonrasenden Wagen. Als sein Sohn am anderenMorgen ins Krankenhaus geht, wird ihm das Ableben des Vaters mitgeteilt, undgleichzeitig, dass es nicht mehr möglich sei, den Vater noch einmal zu sehen.Erst im kommenden Monat werde es möglich sein, gegen eine Gebühr von 80 Markeine kurze Aufbahrung zu veranlassen. Er bekommt eine Plastiktüte in die Hand,in der sich die Kleidungsstücke, der Ehering und das Gebiss des Vatersbefinden. Die Beerdigung findet im Familiengrab statt, wo bereits die Elterndes alten Mannes, seine Geschwister und deren Ehepartner beerdigt sind. Dieohnehin ängstliche Frau hatte es nicht vermocht, dem Wunsch des Ehemanns zuentsprechen, weil die Resthoffnung, er könne doch noch gerettet werden, stärkerwar. Er, der in seinem Bett zu Hause sterben wollte, stirbt den medikalisierten Tod in der Ambulanz. Seine Frau, 1909geboren, lebt noch acht Jahre länger. Im letzten Jahr ihres Lebens wiederholtsie immer häufiger den Satz: »Ich möchte nicht mehr leben.«Am Grab ihres Mannes sagt sie: »Ich komme bald zu dir«. Sie lebt nun allein,ist durch ein Alarmsystem mit der Pflegezentrale verbunden. Trotzdem findet mansie eines Tages bewusstlos auf dem Boden in ihrer Wohnung. Sie hat die Zentralenicht mehr alarmieren können, obwohl sie den Alarmknopf am Arm trug. Niemandweiß, wie lange sie dort gelegen hat. Sie wird in die KZP gebracht, in dieKurzzeitpflege, sehr teuer, sehr gut ausgestattet. Sie ist ein wenig verwirrt,aber sie erkennt ihre Kinder und ahnt, dass sie nicht mehr in ihre Wohnungzurückkehren wird. Die Frau war, wie gesagt, immer ein eher ängstlicher Mensch.Nun verweigert sie entschlossen die Nahrungsaufnahme. Sie presst die Lippenzusammen und öffnet sie nur noch, um zu sagen, dass sie nicht essen und nichttrinken will. Der Arzt bespricht mit den Söhnen die Frage, ob sie künstlich,das heißt in diesem Falle mit Zwang, ernährt werden soll. Die gemeinsameEntscheidung lautet: nein. Frau H. stirbt nach wenigen Tagen. Der Sohn, der ausdem Süden Deutschlands anreisen muss, erfährt, dass der Sarg vomBeerdigungsunternehmer schon verschlossen wurde, ein Abschied von der Mutterist nicht mehr möglich. Das Familiengrab bietet keinen Platz mehr für einenSarg. Sie wird verbrannt und ihre Asche neben dem Sarg ihres Mannes begraben.Die Pflege des Grabes übernimmt gegen eine Gebühr die Friedhofsverwaltung.
Innerhalbeiner Generation, so kann man sagen, hat sich der Umgang mit Sterben und Todradikal verändert:
. Sterbenhat sich aus der Familie und dem Zuhause in Krankenhäuser und Altenpflegeheimeverlagert;
. Sterbenist zu einer medizinisch begleiteten Angelegenheit geworden;
. Sterbenist, weil in Institutionen verlagert, sehr kostspielig geworden;
. DerUmgang mit den Toten dagegen wird »sparsamer«: Die Feuerbestattung und dieanonyme Beerdigung werden immer selbstverständlicher - weniger Kosten, weniger Nachsorge.
Hinterdiesen Entwicklungen verbergen sich tiefgreifende Veränderungen.Vor allem machen sie die allmähliche Erosion der Familie erkennbar: Die schicktihre Sterbenden in Einrichtungen, weil sie sich die Begleitung nicht zutraut,keine Zeit hat, oder weil überhaupt keine Familie mehr vorhanden ist. JederZweite über 85-Jährige in Deutschland lebt allein und eine wachsende Zahlverfügt allenfalls über locker-distanzierte Verbindungenzu dem, was an Familie noch da ist.
Mit derVerlagerung des Sterbens in Einrichtungen ist der Tod aus dem Alltagslebenverdrängt worden. Wenn ich in meinen Veranstaltungen in der Universität frage,wer von den Studierenden schon einmal einen toten Körper gesehen oder garangefasst hat, dann melden sich wenige. Dieses Tabu, das sich allmählich überden Tod gelegt hat, wird auf merkwürdige Weise dadurch konterkariert, dassunsere Medien - insbesondere das Fernsehen - den Tod zum Zentrum derNachrichten und der Unterhaltung gemacht haben: Ein 15-jähriger Deutscher hatim Durchschnitt schon einige hunderttausend Menschen sterben sehen, auf demBildschirm nämlich. Aber seine Großmutter ist im Pflegeheim aus dem Leben geschieden,ohne dass er sie noch gesehen hätte.
© Fischer Verlag
- Autor: Reimer Gronemeyer
- 2007, 1, 294 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100287126
- ISBN-13: 9783100287120
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