Stille über dem Schnee
Stille über dem Schnee von AnitaShreve
LESEPROBE
Hinter dem Fenster der Werkstatt streiftWinterlicht den Schnee. Mein Vater steht auf und streckt den Rücken.
»Wie war s in der Schule?« fragt er.
»Gut«, sage ich.
Er legt den Hobel weg und nimmt seine Jacke vom Haken. Ichstreiche mit der Hand über die Tischplatte. Sie ist mit Holzmehl bestäubt,darunter jedoch reiner Satin.
»Fertig?« fragt er.
»Fertig«, sage ich.
Mein Vater und ich verlassen die Werkstatt in der Scheuneund treten in die Kälte hinaus. Die stille, kalte Luft brennt mir beim Atmen inder Nase. Wir schnüren unsere Schneeschuhe und setzen sie fest auf die gefroreneSchneekruste. Ein Rostton färbt die Baumrinde, und die Sonne bildet violetteSchatten hinter den Stämmen. Von Zeit zu Zeit steigt aus dem Licht ein Widerscheinwie von gesplittertem Glas auf.
Wir laufen flott, weichen ausladenden Zweigen aus, werdenhin und wieder im Nacken von einem Schneeschauer erwischt. Mein Vater sagt:»Ich fühle mich wie ein Hund, der abends endlich raus darf.«
Die Stille des Waldes überrascht immer wieder, eine Stillewie im Theater vor Beginn der Vorstellung. In dem tiefen Schweigen hört mandürres Laub rascheln, ein Ästchen knacken, den Bach unter der Eisdecke dahinströmen.Jenseits des Waldes ist das dumpfe Wummern eines Lastwagens auf der Route 89 zuhören, das Brummen eines Flugzeugs vor der Landung in Lebanon. Wir gehen einenWeg, den wir gut kennen, er endet an einer Steinmauer am Fuß der Anhöhe. Die Mauerhat früher einen Bauernhof eingegrenzt. Das Haus und der Stall stehen nichtmehr, nur die Fundamente sind noch da. Manchmal setzt sich mein Vater, wenn wirankommen, auf die Mauer und zündet sich eine Zigarette an.
Ich bin an diesem Nachmittag Mitte Dezember zwölf Jahre alt(heute bin ich dreißig) und weiß nicht, daß ich mich auf der Schwelle zurPubertät befinde, dieser gnadenlos narzißtischen Phase, in der Waldwanderungenmit meinem Vater so ziemlich das letzte sein werden, worauf ich nach der SchuleLust habe. Die gemeinsamen Wanderungen sind meinem Vater und mir mit der Zeitzur Gewohnheit geworden. Mein Vater steht jeden Tag viel zu lange über seinerArbeit, und ich weiß, daß er an die frische Luft muß.
Wenn der Tisch fertig ist, wird mein Vater ihn insVorderzimmer zu den anderen Möbeln stellen, die er gemacht hat. Vierzehn Stückein zwei Jahren, das ist keine große Ausbeute, aber er mußte sich alles ausBüchern selbst aneignen. Was er aus den Büchern nicht erfährt, erfragt er beieinem Mann namens Sweetser unten im Eisenwarenladen. Die Möbel von der Handmeines Vaters sind einfach und zweckmäßig, und so will er sie haben. DieProportionen stimmen, die Ausführung ist passabel, aber eigentlich spielt dasalles keine Rolle. Wichtig ist, daß er sich beschäftigt und daß es mit seinerfrüheren Tätigkeit möglichst wenig Ähnlichkeit hat.
Ein Zweig bricht und hinterläßt einen Kratzer auf meinerWange. Die Sonne geht langsam unter. Wir haben vielleicht noch zwanzig MinutenTageslicht. Der Rückweg zum Haus hinunter ist ohne Schwierigkeiten und läßtsich in zehn Minuten bewältigen. Wir haben noch Zeit, zur Mauer hinaufzugehen.
Da höre ich den ersten Schrei. Eine Katze, denke ich undbleibe lauschend unter Kiefernzweigen stehen. Da ist es wieder. Einrhythmisches Weinen, eine Klage.
»Dad«, sage ich.
Ich gehe einen Schritt in Richtung des Geräuschs, aber soplötzlich, wie es angefangen hat, hört es wieder auf. Hinter mir fällt einSchneeklumpen mit gedämpftem Aufprall auf die hartgefrorene Decke.
»Eine Katze«, sagt mein Vater.
Wir machen uns an den steilen Anstieg. Meine Füße hängen wieGewichte an meinen Beinen. Wenn wir den Gipfel erreichen, wird mein Vaterabschätzen, wie es mit dem Licht steht, und wenn wir noch Zeit haben, wird ersich auf die Steinmauer setzen und unser Haus suchen - ein gelber Schimmerzwischen den Bäumen. »Da«, wird er sagen und hügelabwärts zeigen. »Kannst du esjetzt erkennen?«
Er hat abgenommen, seit er bei der Arbeit nicht mehr denganzen Tag sitzt. Seine Jeans ist an den Oberschenkeln fadenscheinig und zeigtden rotbraunen Schimmer des Sägemehls. Er rasiert sich höchstens jeden zweitenTag. Sein beigefarbener Parka ist fleckig - Öl, Schmiere und Kiefernharz. DieHaare schneidet er sich selbst, und das Blau seiner Augen überrascht mich immerwieder.
Ich folge seiner Spur und bin stolz darauf, daß ich keineMühe mehr habe, mit ihm Schritt zu halten. Über die Schulter wirft er mir einWerther s Bonbon zu, und ich fange es im Flug. Ich ziehe meine Fausthandschuheaus, klemme sie unter den Arm und öffne die Zellophanverpackung. Im selbenMoment höre ich aus der Ferne einen Knall, als würde eine Autotür zugeschlagen.
Wir lauschen dem Geräusch eines auf Hochtouren laufendenMotors. Es scheint aus der Richtung eines Motels auf der Nordseite des Hügelszu kommen. Das Motel liegt jenseits der Straße, die vom Ort aus zu unserem Hausführt, und wir haben selten Anlaß, dort vorbeizufahren. Trotzdem weiß ich, daßes da ist, und manchmal kann ich es auf unseren Wanderungen zwischen den Bäumenerkennen - ein mit roten Schindeln gedecktes flaches Gebäude, das in derWintersportsaison ordentlich besucht ist.
Da höre ich es ein drittes Mal schreien - herzerweichend,flehentlich - und zitternd verwehen.
»Hey!« ruft mein Vater laut.
Mit den Schneeschuhen an den Füßen läuft er, so gut er kann,in Richtung des Schreiens. Alle zehn, zwölf Schritte hält er an, um sich vonder Stimme führen zu lassen. Ich folge ihm, und der Himmel verdunkelt sich,während wir voraneilen. Er nimmt eine Taschenlampe aus der Tasche seines Parkasund knipst sie an.
»Dad«, sage ich in aufsteigender Panik.
Der Lichtstrahl huscht unstet über den Schnee, während meinVater läuft. Er beginnt, die Lampe im Bogen schweifen zu lassen, vor undzurück, von einer Seite zur anderen. Am Horizont geht der Mond auf undbegleitet uns auf unserer Suche.
»Ist da jemand?« ruft mein Vater.
Die Taschenlampe geht flackernd aus, und mein Vaterschüttelt sie, um die Batterien wieder in Kontakt zu bringen. Sie rutscht ihmaus der behandschuhten Hand und fällt in eine weiche Mulde unter einem Baum,von wo aus sie die eisige Schneedecke gespenstisch erleuchtet. Er bückt sich,um sie aufzuheben, und als er sich aufrichtet, fällt das Licht zwischen denBäumen hindurch auf ein Zipfelchen eines blauen Stoffs.
»Hallo?« ruft er.
Im Wald bleibt alles still, wie zum Hohn, als wäre dies einSpiel.
Mein Vater schwenkt die Taschenlampe hin und her. Ichüberlege, ob wir nicht umkehren und zum Haus zurücklaufen sollten. Es istgefährlich nachts im Wald; man verirrt sich leicht. Mein Vater schickt nocheinmal den Strahl der Taschenlampe auf die Suche, dann noch einmal, und mirscheint, daß er an die zwanzig solcher Vorstöße unternehmen muß, bevor er dasblaue Zipfelchen wieder einfängt.
Im Schnee liegt ein Schlafsack, an dessen Öffnung ein StückStoff zurückgeschlagen ist.
»Warte hier«, sagt mein Vater.
Ich sehe ihm nach, wie er auf seinen Schneeschuhen vorwärtsstrebt, so wie man das manchmal in Träumen tut - unfähig, die Beine schnellerzu bewegen. Er läuft geduckt, um das Gleichgewicht besser zu halten, und nähertsich unbeirrt dem Schlafsack. Als er ihn erreicht, reißt er ihn auf, und ausseinem Mund kommt ein Laut, wie ich ihn noch nie gehört habe. Er fällt imSchnee auf die Knie.
»Dad!« rufe ich und laufe schon zu ihm.
Ich laufe mit wild wedelnden Armen, und mir ist, als preßtejemand gegen meine Brust. Die Mütze fällt mir vom Kopf, aber ich stapfe weiterdurch den Schnee. Schwer atmend komme ich endlich bei meinem Vater an, und ersagt nicht, daß ich weggehen soll. Ich schaue zu dem Schlafsack hinunter.
Ein kleines Gesicht blickt zu mir auf, mit großen Augentrotz der vielen Falten, in die sie eingebettet sind. Im kurzen schwarzen Haarkleben Blut und Schleim von der Geburt. Das Neugeborene ist in ein blutiges Handtuchgehüllt, und seine Lippen sind blau.
Mein Vater neigt seine Wange zum winzigen Mund hinunter. Ichweiß, was das zu bedeuten hat, und hüte mich, ein Geräusch zu machen.
Mit einer schnellen Bewegung hebt er den eisstarrenSchlafsack auf, drückt ihn fest an sich und steht auf. Aber es ist einbilliges, glitschiges Material, und er bekommt das Kind nicht richtig zufassen.
Ich strecke beide Arme aus, um es aufzufangen.
Er kniet wieder im Schnee. Er legt seine Tasche ab, ziehtden Reißverschluß seiner Jacke auf, zerrt so heftig, daß die Knöpfe abspringen,sein Flanellhemd auf. Er nimmt das Kind aus dem blutigen Handtuch. Von seinemNabel hängt etwas herab; die Nabelschnur, wie ich später lerne. Mein Vater legtdas Kind an seine bloße Haut und stützt das Köpfchen mit seiner offenen Hand.Ohne mir bewußt zu sein, daß ich darauf geachtet habe, weiß ich, daß das Kindein Mädchen ist.
Schwankend richtet mein Vater sich auf. Er legt seinFlanellhemd und den Parka über das Kind und drückt den Stoff mit seinen Armendicht zusammen, so daß er ein großes Bündel hält, zuoberst die Tasche.
»Nicky«, sagt er.
Ich sehe ihn an.
»Halt dich, wenn nötig, an meiner Jacke fest«, sagt er.»Aber bleib auf keinen Fall mehr als ein, zwei Schritte hinter mir zurück.«
Ich greife den Saum seines Parkas.
»Halte den Kopf gesenkt und schau auf meine Füße.«
Wir folgen Rauchgeruch. Manchmal nehmen wir ihn wahr, dannwieder nicht. Ich kann die Silhouetten der Bäume erkennen, aber nicht dieeinzelnen Äste.
»Halt durch«, sagt mein Vater, aber ich weiß nicht, ob ermich meint oder das Kind an seiner Brust.
Halb rutschend rennen wir den langen Hügel hinunter. MeineOberschenkel brennen von der Anstrengung. Mein Vater hat die Taschenlampeverloren, als er den Schlafsack im Schnee zurückgelassen hat, und wir habenjetzt keine Zeit, sie zu suchen. Zweige zerkratzen mir das Gesicht, als wirzwischen den Bäumen hindurcheilen. Meine Haare und mein Hals sind von geschmolzenemSchnee durchnäßt, der auf der Stirn erneut gefriert. Von Zeit zu Zeit überkommtmich eine wachsende Angst: Wir haben uns verlaufen und werden das Kind nicht rechtzeitigin Sicherheit bringen. Es wird in den Armen meines Vaters sterben. Nein, nein,rede ich mir zu, das werden wir nicht erlauben. Wenn wir das Haus wirklichverfehlen, stoßen wir früher oder später auf den Highway. Auf jeden Fall.
Ich sehe das Licht einer Lampe in der Werkstatt meinesVaters. »Dad! Schau!« sage ich.
Die letzten hundert Meter kommen mir vor wie die längstenmeines Lebens. Ich reiße die Tür für meinen Vater auf. Wir lassen unsereSchneeschuhe an den Füßen, Bambus und Darmriemen klatschen auf unserem Weg zumHerd auf den Boden. Mein Vater setzt sich auf einen Stuhl. Er öffnet die Jackeund schaut zu dem kleinen Gesicht hinunter. Die Augen des Kindes sindgeschlossen, die Lippen immer noch bläulich. Er hält seinen Handrücken dichtüber den Mund, und die Art, wie er die Augen schließt, verrät mir, daß dieKleine atmet. (...)
© Piper Verlag
Übersetzung: Mechtild Sandberg-Ciletti
- Autor: Anita Shreve
- 2005, 336 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Mechtild Sandberg
- Übersetzer: Mechthild Sandberg-Ciletti
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492047556
- ISBN-13: 9783492047555
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