Tadellöser & Wolff
''Tadellöser und Wolff'' nannte Walter Kempowskis Vater, Reeder in Rostock und guter Kunde der Tabakwarenhandlung ''Loeser und Wolff'', so ziemlich alles, was nicht gerade ''Miesnitzdörfer und Jansen'' war.
Und als ''Miesnitzdörfer'' ließ sich in der...
''Tadellöser und Wolff'' nannte Walter Kempowskis Vater, Reeder in Rostock und guter Kunde der Tabakwarenhandlung ''Loeser und Wolff'', so ziemlich alles, was nicht gerade ''Miesnitzdörfer und Jansen'' war.
Und als ''Miesnitzdörfer'' ließ sich in der Zeit von 1938 bis 1945, im sogenannten Tausendjährigen Reich, von dem dieser Roman erzählt, wahrhaftig vieles bezeichnen.
Immerhin, trotz Verdunkelungspflicht, SA-Eintritt und Schließdienst ging es den Kempowskis ganz gut, wenigstens eine Zeitlang.
Tadellöser & Wolff von Walter Kempowski
LESEPROBE
Alles frei erfunden!
1
Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauenPackerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?).Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie derdamals explodierte.
Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.
Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde mannicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelthatte. Den gelben Onkel nahm man mit, mit dem gab es ab und zu »hau-hau«! Schönwürde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft.Vom Balkon eine Aussicht wonnig. Und keine Öfen zu heizen, das war auch waswert.
Als ich aus der Schule kam, sah ich schon von weitem denausgepolsterten Möbelwagen, die Pferde mit rostroten Planen über dem Rücken undMessingschildern am Zaum.
Wir waren selbstverständlich bei Bohrmann. Der Flügel standnoch drinnen, ich hatte also nichts verpaßt. Die Träger mit Gurten um den Leib,Haken unten dran. Sie schraubten die Beine ab; in einem Schlitten hievten sieihn die Treppen hinauf. Sieben Zentner schwer. Die Adern quollen ihnen raus.
»Kinder«, sagte meine Mutter, »wie isses nun bloß möglich...«
Ob in der Nachbarschaft nicht'n paar kräftige Männeraufzutreiben wären, wurde gefragt.
Ein dicker Herr schob sich an den Trägern vorbei, er sahversonnen das Treppenhaus hinauf. Da oben kam Licht aus einemRubbelglasfenster. Dieser Mann hieß Quade, der hatte das Haus gebaut.
Es war eine geräumige Wohnung, allerdings: 2. Stock, wieTante Silbi von Anfang an bemerkte. Die Garderobe ganz in Rot. Über derEichentruhe schon die Schießscheiben und der Säbel meines Vaters. (»Der wirddann angeschliffen, Junge.«)
Rechts der offne Schrank mit den WolffschenTelegraphenberichten und »Giftfische und Fischgifte« zahllosen Kosmosbändchen.
Mein Bruder reckte sich vor dem Spiegel.
Die Wohnung sei Gutmannsdörfer. Ob ich das nicht auch fände?
»Ja.«
»Na, denn sei froh.«
Für sämtliche Zimmer waren neue Lampen gekauft worden.
Im Wohnzimmer hielten Adlerkrallen die Leuchtschalen. In denSchlafzimmern floß das Licht durch Alabaster. Im Eßzimmer hing eine Klingel vomausufernden Papierschirm herab, damit sollte das Mädchen dann gerufen werden.
Für die Küche wurde keine Lampe gekauft, da war schon einedrin.
Kröhl, ein pensionierter Finanzbeamter, brachte die Lampenan. Er spielte im Quartett die Bratsche (Geiger gab's wie Sand am Meer), dermachte sich gern nützlich. »Würdest du bitte mal knipsen? Den unteren Schalter?
»Danke.« Als er noch im Amt war, hatte er mal zu meinemVater gesagt: »Das ist natürlich wieder alles falsch.«
»Wieso >natürlich<?« hatte mein Vater geschrien. »Undwieso: >wieder< und >alles<?«
Daß die Küche nicht gefliest war, komme ihr grade recht,sagte meine Mutter. Fliesen seien so kalt von unten.
In den Waschbecken sprang das Wasser wie ein Quell aus einemLoch. Der Schließer war durch Druckknopf zu betätigen. »Fabelhaft.«
Die Fenster der Wohnung gingen leider alle nach innen auf.
»Das werden wir schon kriegen«, sagte meine Mutter. Aber dieBlumentöpfe, die mußte sie doch jedesmal rücken.
Genau gegenüber der Schlachter mit einem aus Talg geformtenAdler im Fenster und Rosen aus Speck. Daneben der Drogist. Alles in der Nähe,fein. Um die Ecke »Wiener Moden«.
Auf der Kreuzung brachten sie grade ein neuesVerkehrszeichen an, »STOP« stand da drauf.
Ein geräumiger Balkon mit Glasdach und Mauervorsprüngen zumAufstellen von Judenbart und Schlangenkaktus.
Noch waren die Bäume unbelaubt, aber es würde ein schönerBlick sein, über die blühenden Gärten hin zum grünen Turm von St. Jakobi.
»Kinder, wie isses schön«, sagte meine Mutter, »nein, wieisses schön«, und drückte die Geranien fest.
Linker Hand, neben einem gelb gestrichenen Etagenhaus, andessen zerklüfteter Rückseite eine Anzahl Eisenbalkons mit Margarinekisten vollSchnittlauch hingen, konnte man sogar den kleinen Turm der katholischen Kircheausmachen, mit dem so kräftigen Geläut.
Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbockerin Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der rotenGarderobenhaken.
Wie sosanft ruhn, alle die Toten...
Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte. »Ichwerd's Ihnen lohnen im späteren Leben«, sagte er zu Kröhl und gab ihm die Hand,»einstweilen besten Dank.« Er betrachtete die Lampen: »Das ist natürlich wiederalles falsch...«
Dann setzte er sich an den Flügel, lehnte sich zurück undspielte:
Singt demgroßen Bassa Lieder...
Pink-pink! ja, es ging.
Über dem Instrument hing das Hafenbild mit dem dickenGoldrahmen, ein Hochzeitsgeschenk von Konsul Discher. Es sei nicht billiggewesen, hieß es.
Meine Schwester Ulla (»Was hast du nur für schöne Zöpfe,mein Kind«), sieben Jahre älter als ich, bekam die Dachkammer.
»Wahrschau!« rief sie und brachte Vasen nach oben. Sie trugein rostfarbenes Wollkleid mit quer eingestickten Blumengirlanden.
Ich teilte mit meinem Bruder Robert das Zimmer. Sechs Jahreälter als ich. Das blonde Haar stark gewellt, wie die Wogen des SeesGenezareth, in der Bilderbibel, auf denen Jesus wandelt. Er behauptete, von mirgehe ein »pestilenzialischer Gestank« aus.
Er schnurkste ständig, so als zöge er von Zeit zu Zeit seinUhrwerk auf. Meine Mutter sagte dann: »Prost! Wisstu'n Stück Brot?« Gern truger Querbinder. Die band er mit Geduld. Hinterher reckte er sich noch einWeilchen, als wollte er sagen: »Ich bin doch eigentlich recht staatsch.« »Na,du Schleef?« sagte er, wenn wir uns auf dem Korridor begegneten.
Meine Mutter stammte, wie sie behauptete, aus einem altenHugenottengeschlecht, de Bonsac. Im 16. Jahrhundert geadelt. Der Vorfahr habeals Mundschenk guten von schlechtem Wein rasch unterscheiden können. Es warnoch ein Wappen auf die Familie überkommen, das hing jetzt in Wandsbek, in daswar eingeschnitzt
Bonum bono,dem Guten das Gute
Und auf dem Wappen Kelch und Traube.
Beim Gutenachtsagen legte sie mir die Hand auf die Stirn.(»Sieht sie nicht aus wie eine Gräfin?«) Dann sprach sie lange Gebete, beidenen sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten.
»Oh, lieber Gott, sieh an, wie wir ohnmächtig sind vor Dir,sei barmherzig, hilf uns in allen Nöten des Leibes und Lebens, daß das Gute inuns aufkomme, und mach uns zu Deinen Kindern. Hilf allen Menschen durch Deineallmächtige, alles ver-, ver-, ver- veranlassende, verordnende Güte...« und soweiter.
Das dauerte oft recht lange, und ich suchte durch Streckenund Dehnen anzudeuten, daß es nun genug sei. Dann sang sie
Müde binich, geh' zur Ruh'...
Alle vier Strophen. Sie hatte eine schöne Stimme. Zum Schlußbeugte sie sich auf mich herab, und ich durfte sie küssen. »Aber nicht auf denMund.«
Wenn mein Vater die Abendpost durchgesehen hatte-»Tadellöser & Wolff!« spielte er meist noch lange Klavier. Das konnteich bei offner Tür gut hören. Das »Frühlingsrauschen« von Sinding oder dieDavidsbündler Tänze. »Mit Humor und etwas hanbüchen.«
In die Tür unseres Zimmers waren geriefelte Glasscheibeneingesetzt. Wenn man von vorn in den Korridor einbog, sah man sofort, ob ichverbotenerweise noch las. (»Kai aus der Kiste.«) Den Finger hatte ich, inangespanntester Aufmerksamkeit, ständig auf dem Knipser. Die Mutter konnte michnie erwischen. »Auf Ehre?«
Mein Bruder Robert aber, der sich zeitweilig am Anschleichenbeteiligte, war gewiefter, der faßte die Glühbirne an. »Sag mal, schämst dudich nicht?«
Er selbst las bis zum frühen Morgen. Lok Myler: »Der Mann,der vom Himmel fiel.«
Morgens kam er schwer hoch. (»Uppstahneque!«)
Und er hatte doch Fensterwache! Für meinen abergläubischenVater mußte er nach jungen Mädchen Ausschau halten.
»Los, Vater, komm schnell!«
Der kam dann gebückt gelaufen, so als könne er sich nichtaufrichten, halb rasiert, mit hängender Hose und schlappenden Pantoffeln.
»Gut dem Dinge«, nun konnte ihm keine alte Frau mehr den Tagverderben.
Das Frühstück war immer sehr harmonisch. »Was macht meineHaut?« fragte mein Vater und hielt uns den Hals hin. Bei Ypern hatte er Gasabgekriegt. »Wunderbar«, mußten wir dann sagen, »keinerlei Druck- oderSchelberstellen«, sonst wäre der ganze Tag im Eimer gewesen.
Dem zuletzt Kommenden wurde: »Ah! Die Sonne geht auf!«zugerufen. Der mußte dann lange nach seinen Brötchen suchen, die »heiß!kalt!« irgendwo versteckt waren (meistens auf dem Schoß meiner Mutter).
»Wer nichtkommt zur rechten Zeit,
dem gehtseine Mahlzeit queit.«
Neben dem Teller meines Vaters lag das Kalenderblatt.»Meyers historisch geographischer Kalender«, mit den Nationalen Gedenktagen.
1916 Erstürmung von Fort Douaumont.
Für mich, der ich am Ende der Tafel saß, hatte er harmloseScherze bereit.
Was »Kohlöppvehnah« heiße, »ansage mir frisch!« »
Die Kuh läuft dem Vieh nach«, mußte ich dann antworten.Daraufhin wurde »gut dem Dinge« gesagt.
Mein Vater kaufte sich ein neues Rad. Das alte, mit Dorn zumHintenaufsteigen, war verrostet. Dazu einen Kleppermantel, dessen Schößehochknöpfbar waren. »Denn seh' ich ja aus wie ein Franzmann«, sagte er.
Meine Mutter ließ alle Sessel neu beziehen, die altenSamtbezüge könne sie nicht mehr sehn.
Für den Balkon »nein, diese Aussicht!« kaufte sie Stühleaus Peddigrohr.
Bei Tillich, den »Wiener Moden«, ließ sie sich ein Kleidmachen, ein hellblaues. Das Oberteil war wie eine Pelerine geschnitten, mit dreiKnöpfen auf der Brust. Von denen gingen Quetschfalten aus in alle Richtungen.
Ich kriegte einen sogenannten Hamburger Anzug, dessenOberteil an die Hose geknöpft wurde.
Meine beiden Geschwister durften in den Jachtklub eintreten,aber weißes Zeug wurde nicht genehmigt. In den Ruderklub hatten sie nicht gehenwollen. Sie seien doch keine Galeerensklaven.
Wenn Ulla ein Schifferklavier gehabt hätte, dann hätte sieuns sicher, wie Robert meinte, mit Schlagern geelendet. Auf der Mundharmonikaspielte sie
An der Saale hellem Strande
stehen Burgenstolz und kühn...
Sie stiftete meinen Bruder zu Untaten an. Wenn es rauskam,gab's Stubenarrest.
Er sei kein richtiger Junge, meinte sie. Richtige Jungenkämen mit zerschundenen Knien und Löchern in der Hose nach Hause. Die stiegenüber jeden Zaun.
»Würdest du mir mal bitte verraten, über welchen Zaun icheigentlich steigen soll?« fragte Robert.
Seitdem sie segelten, war mein Vater des öfteren genötigt,mit der Uhr in der Hand auf der Treppe zu stehen.
»Wo kommt ihr jetzt her?«
Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen.
Ulla kriegte außerdem eine Reitkarte. Im Tattersall durftesie für 5 Mark die Stunde um die Manege traben. In Trainingshosen, zu ihremKummer. Kati Rupp habe aber ein Reitkostüm, klagte sie.
»Denn mußt du dir 'n andern Vater aussuchen, ich kann mirdas Geld auch nicht aus 'n Rippen schneiden.«
Aus dem Schatten der Tribüne heraus beobachteten wir sie.Wenn das Pferd pupte, lachte mein Vater.
Auf einer Veranstaltung kniete sie im Sattel. Das sei eineziemliche Angstpartie gewesen, sagte sie hinterher, ihr sei ganz schwummeriggeworden.
Einmal kriegte sie einen Steigbügel vor die Stirn. »Kommt dadein Vogel raus?« fragte Robert, als sie mit dem Horn erschien.
Mit ihrer Agfa-Box machte sie Pferdeaufnahmen.
Die kamen ins Album.
»Der gute Kamerad«, wurde druntergeschrieben.
Die ganze Familie wurde fotografiert.
Die Mutter im Pelerinenkleid, Robert beim Segeln und ich imHamburger Anzug.
Vater sogar als SA-Mann unter einer Birke.
2
Unter uns, in der ersten Etage, wohnte Woldemann, einwohlhabender, beleibter Holzhändler. Er trug sein schwarzes Haar blank wieLackschuhe zu einem scharfen Mittelscheitel frisiert. Am kleinen Finger einenRing mit blauern Stein.
»Na, du Brite?« sagte er zu mir mit tiefer Stimme und langtesich eine der offnen Weinflaschen, die überall herumstanden. Ohne Glas trank erdaraus, in langen Zügen.
Im »Herrenzimmer« übergroße Sessel mit angenähten Kissen,komfortabler als bei uns, auch der Teppich größer, und die Bilder dazu passend.
Neben dem Rauchtisch ein schwarzes, kommodenartigesGrammophon. Vorn eine Art Tor zum Herauslassen der Musik.
Ist sie nichtsüß, ist sie nicht lieb,
ist sie nichtnett, das Fräulein Gerda ...
Auf dem Grammophon eine Wachspuppe unter Zelluloid.
Die trug ein Spitzenkleid.
»Filigran«, sagte meine Mutter.
An der Wand ein Hühnerhof in Öl: der schwarze Rahmen doppeltso breit wie das rosa Bildchen.
Morgens saß Woldemann im Hausmantel am Kaffeetisch. Er ließdie Drehscheibe rotieren, auf der Marmelade und Honig standen.
Das Ei aß er mit silbernem Löffel. (»Ei mit Silber? Dasbeschlägt doch!«)
Vom Milchkännchen leckte er die Tropfen schmatzend ab.
Jeder wär'froh, jeder wär' stolz,
wenn er siehätt', das Fräulein Gerda...
Das Brötchen aß er mit Messer und Gabel.
Die Frau war jung und unternehmungslustig. »Woldi«, sagtesie zu ihm.
Während das Grammophon dudelte, ging sie in der Wohnung aufund ab, von einem Pralinenkasten zum andern, drehte sich die Haare undpuschelte mit einem Flederwisch die Kopenhagener Figuren ab.
Mein Vater brülle ja immer so doll, wer denn mit»Rotzlöffel« gemeint sei?
Ihre Tochter Ute war 9 wie ich. Schwarzer Pagenkopf unddunkelblaue Augen. Abgesehen von wenigen Schmolltagen waren wir ständigzusammen. Meist lag ich auf dem Teppich, und sie saß mir auf dem Bauch. Schönwarm war das und gemütlich. Ich zog sogar die Beine an, damit sie sich anlehnenkonnte. Sie wiegte sich dann ein wenig und bohrte in der Nase.
(Beim ersten Mal hatte ich mich noch gewehrt. Das Oberteilmeines Hamburger Anzugs war dabei von der Hose gesprungen.)
Alle Möbel lernte ich auf diese Weise von unten kennen: denCouchtisch mit den vom Tischler nur grob befestigten Beinen, die Sessel mitGurten, denen der Möbelträger ähnlich, den Papierkorb, der immer faulig roch,weil man Apfelschalen hineingeworfen hatte.
Einmal hatten wir Streit: was bedeutender war, das männlicheoder das weibliche Geschlecht.
Der Vater würde übertroffen durch die Regierung, sagte sie,mit dem Finger herzählend; und der Kontinent durch die Erde.
Aber die Welt durch den Gott, antwortete ich, und der seimännlich.
Alle Leute bleiben plötzlich stehn,
um dem süßenMädel nachzusehn ...
Wenn die Mutter sich auf dem Flur hören ließ, spritzten wirauseinander.
»... sonst kriegt ihr eine geschwalbt«, sagte die.
Hinter dem Haus war eine Selterswasserfabrik, sie gehörteunserm Hauswirt.
Ob im Wald, obin der Klause,
Dr. KrausesSonnenbrause.
Wir setzten uns in Flaschenkisten und fuhren auf demRollenband hinein. Durch düstere Schuppen ging es, an Buchten mit leerenFlaschen vorüber. Gespensterbahn!
In einem gekachelten Werkraum sprangen wir ab. Hier wurdedie Sonnenbrause abgefüllt.
Arbeiter mit Gummischürzen standen am Band und sahen zu, wiedie Flaschen ruckend der Reihe nach aufmarschierten und von der Maschinevollgefüllt, zugekorkt, umgeworfen, etikettiert und in Kisten gerollt wurden.Der Hebel, der die Flaschen umwarf, war gepolstert. Von unten kam ihm einzweiter entgegen, der empfing sie sanft.
Ab und zu zerbarst eine Flasche mit dumpfem Knall. Dannregnete es Splitter.
Die vollen Kisten lagerten im Keller. Hier war es kühl. Utewußte, wo die Waldmeisterbrause stand. Auf einen Zug tranken wir sie aus »werzuerst fertig ist« und rülpsten.
Im Büro roch es nach Tabak und Pfefferminz. Hier zeichneteFräulein Reber, vom Skisport gebräunt, blitzschnell Belege ab. »Reber«, denNamen könne man auch von hinten lesen, sagte sie. Ihr Bruder, Flieger bei derLegion, der heiße sogar Otto!
Sie schenkte mir ein Liederbuch: »Von Jungen Trutz und Art«hieß das. Ob ich auch mal ein kräftiger Pimpf werden wollte? Ute kriegte»Spinnerin Lobunddank, ein neu Mädchenliederbuch«.
Der Morgen hatgeschlagen,
die dunkleNacht zerbricht.
Auf, Herz, zu neuen Tagen
ruft dich dasjunge Licht.
»Ich will einen Liter Korn«, sagte ein Besoffner, der gerade
hereinkam.
An der Wand hing Clausewitz.
Dr. Krause durftenwir nicht begegnen. Der schritt in Reithosen über den Hof. Hier stand eine Türoffen, dort lag Papier. Möglicherweise würde man beim Zimmern derFlaschenkisten Nägel einsparen können. Um die Güte seines Brunnens zudemonstrieren, ließ er einen Zinkeimer vollaufen. »Klar wie Kristall.«Rostocker Leitungswasser stellte er daneben. Verblüffend! Eine lehmige brauneBrühe. Im Leitungswasser schwimme direkt Kot, sagte er.
Witschorek, der BOB-Fahrer, war immer darauf aus, uns zuvertreiben. Er stammte aus dem Sudetenland.
»Egerländer halt' zusamma...« sang ich mal aus Quatsch. Dafing der Mann bald an zu weinen.
Immer gern gesehn waren wir bei Kutscher Boldt. Vergnügtpfeifend mischte er Hafer und Häcksel, goß auch etwas Apfelbrause hinein. 36Mark die Woche verdiente er.
Mein Vater gab mir angestoßene Zigarren für ihn.
Der Schimmel »Max« war ein »Kriegskamerad«. Dr. Krause hatteihn aus Galizien mitgebracht. Unter dem Schild »Kriegskamerad« hing einEisernes Kreuz aus
Pappe. Auch Schiffe hätten im Weltkrieg das Eiserne Kreuzverliehen bekommen, und Meldehunde.
Wir mieden Max, denn er war bissig.
Harmlos war die dicke Stute Nora.
Nore, amBrunnen vor dem Tore,
sagte Kutscher Boldt.
Sie zog etwas stärker als Max.
Gegen Abend, wenn wir genug getrunken hatten, gingen wirrein. Da spielten wir Versteck im Dunkeln, und bald lagen wir auch schon wiederauf dem Teppich. Die Lichter der vorüberfahrenden Autos schoben sich über dieDecke. Im Bauch gluckste es.
Ist sie nichtsüß, ist sie nicht lieb,
ist sie nichtnett...
Ute wiegte sich ein wenig hin und her. Horchen, ob dieEltern nicht kommen. »... sonst kriegt ihr eine geschwalbt.«
Ob ihr Vater »höher« sei als mein Vater, erörterten wir,oder Dr. Krause, ob der vielleicht höher sei.
»'tüllich«, sagte sie statt »natürlich«.
Beim Abendessen fragte meine Mutter: »Junge, wie siehst
du bloß aus? Wie Buttermilch und Spucke.«
Und Robert sagte kopfschüttelnd: »Wie haben sie dich,
Baum, verschnitten...«
Die Teewurst schmecke übrigens recht ordentlich.
Autoren-Porträtvon WalterKempowski
Walter Kempowski wurde 1929 in Rostock geboren, 1948 voneinem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denener acht Jahre in Bautzen verbüßte. Er lebt und arbeitet in Nartum bei Bremen.1971 erhielt er den Förderpreis des Lessing-Preises. Mit seiner neunbändigenDeutschen Chronik, zu der Romane wie "Tadellöser & Wolff" (1971),"Ein Kapitel für sich (1975), "Aus großer Zeit" (1978),"Herzlich willkommen" (1984) gehören, wurde Kempowski zumBestsellerautor und Chronisten des deutschen Bürgertums.
- Autor: Walter Kempowski
- 2004, 400 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Weltbild Lager
- ISBN-10: 3898971104
- ISBN-13: 9783898971102
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