Tag der Befreiung?
Keine Frage, das Ende des verbrecherischen NS-Regimes war für Europa eine Befreiung. Aber die Hälfte Europas, und eben auch die Hälfte Deutschlands, kam vom Regen in die Traufe. Eine menschenverachtende Diktatur löste die...
Keine Frage, das Ende des verbrecherischen NS-Regimes war für Europa eine Befreiung. Aber die Hälfte Europas, und eben auch die Hälfte Deutschlands, kam vom Regen in die Traufe. Eine menschenverachtende Diktatur löste die andere ab. Es ist das große Verdienst von Hubertus Knabe, diese dunkle Seite des Kriegsendes und das damit verbundene Leid der deutschen Bevölkerung in Erinnerung zu rufen. Ein schonungsloser Bericht über das Kriegsende in Ostdeutschland.
Tag der Befreiung? von Hubertus Knabe
LESEPROBE
Vorwort
Am 8. Mai 1945 unterschrieb dasOberkommando der Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation des DeutschenReiches. Der Zweite Weltkrieg war beendet und damit einer der blutigstenAbschnitte der europäischen Geschichte. Vierzig Jahre später erklärte derdamalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag:»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von demmenschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«1Doch war der 8. Mai auch für den Osten Deutschlands ein Tag der Befreiung?
Als die Rote Armee die östlicheReichsgrenze überschritt, hatte sie nicht im Sinn, den Deutschen die Freiheitzu bringen. Ziel war es, einen gefährlichen Gegner zu zerschlagen, der dieSowjetmacht beinahe zum Einsturz gebracht hätte. Nach mehr als 1300 Kampftagenrief man die kriegsmüden sowjetischen Soldaten zu gnadenloser Rache auf.Zehntausende Zivilisten wurden beim Vormarsch der Truppen in Ostdeutschlandliquidiert, schätzungsweise zwei Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt, einGroßteil der Gebäude geplündert und verwüstet.
Gleich hinter den kämpfendenRotarmisten kamen die Einheiten der sowjetischen Geheimpolizei. Siebeschlagnahmten die nationalsozialistischen Gefängnisse und füllten sie mitneuen Häftlingen. Hunderttausende Deutsche, vor allem Frauen, Jugendliche undAlte, wurden in Viehwaggons zur Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert. Über dreiMillionen Kriegsgefangene kamen in sowjetische Arbeitslager, wo ein Drittel vonihnen starb. Auch in Deutschland verhungerten Zehntausende in den neuensowjetischen Konzentrationslagern, die - wie Buchenwald, Jamlitz oderSachsenhausen - oft die alten waren. Insgesamt kamen in dem von der Roten Armeeeroberten Territorium etwa 2,5 Millionen Deutsche durch Flucht, Vertreibungoder Verschleppung ums Leben.
Der sowjetische Terror derNachkriegszeit bildete die Voraussetzung für die Etablierung der SED-Diktatur.Das wirtschaftliche und politische Leben in Ostdeutschland wurdegleichgeschaltet, Widerstand brutal erstickt. Während die Bevölkerung inAngst und Unsicherheit verharrte, übernahmen die aus Moskau eingeflogenenkommunistischen Kader schrittweise die Macht. Unter dem Vorwand derantifaschistisch-demokratischen Umwälzung, wie die Funktionäre die Phase biszur Gründung der DDR titulierten, entstand auf den Ruinen des Hitler-Regimeseine neue Diktatur, deren Existenz in den kommenden vierzig Jahren von bis zu500000 Sowjetsoldaten garantiert wurde. Nicht der 8. Mai 1945 brachte denOstdeutschen die Freiheit, sondern der 9. November 1989, als in Berlin dieMauer fiel und das Regime der SED zusammenbrach.
Sechzig Jahre nach Kriegsende tut esNot, sich den damaligen Ereignissen noch einmal zuzuwenden. In der Erinnerungder später Geborenen sind die Schrecken der Nachkriegszeit verblasst. DieGeschichte verkürzt sich zunehmend auf den gemeinsamen Kampf der Alliierten,die den Nationalsozialismus unter gewaltigen Opfern zerschlugen. Doch dieSowjetunion war damals selber eine blutige Diktatur, die in den ersten beidenKriegsjahren sogar im Bündnis mit Deutschland gestanden hatte. Und ihr FührerJosef Stalin war kein Freiheitskämpfer, sondern ein grausamer Tyrann, derseinen Sieg über Hitler nur dazu nutzte, halb Europa seinem eigenenTerrorregime zu unterwerfen.
Dass das Kriegsende den Menschen imOsten nicht die Freiheit brachte, droht aus verschiedenen Gründen aus dem Blickzu geraten. In der DDR haben die Machthaber jahrzehntelang ein propagandistischverzerrtes Bild der Geschichte gezeichnet, das bis heute nachwirkt. Inzwischenkommen nostalgische Verklärungen der Vergangenheit hinzu, die die altenDenkmuster neu belebt haben. Insbesondere die entmachteten Kader der SED unddie aus ihr hervorgegangene PDS stellen den 8. Mai 1945 auch für Ostdeutschlandals Tag der Befreiung dar, um der untergegangenen DDR rückwirkend moralischeLegitimität zu verleihen.
In Westdeutschland spielen andereGründe eine Rolle: Die Sowjetunion wird hier vor allem als Opfer desnationalsozialistischen Vernichtungskrieges wahrgenommen. Über denstalinistischen Terror ist hingegen wenig bekannt. Der Schock über dieVerbrechen Hitlers hat viele blind werden lassen für die Untaten Stalins, überdie zu reden oft bereits als Relativierung deutscher Schuld angesehen wird.Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik besteht zudem die Gefahr, dass daswestliche Geschichtsbild unbedacht auf das gesamte Deutschland übertragen wird.Wenn Politiker und Journalisten von der Befreiung vom Nationalsozialismussprechen, vergessen sie oft hinzuzufügen, dass Freiheit und Demokratie damalsnur im Westen Einzug hielten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, nehmen siedamit auch Stalin mit in den Kreis der Befreier auf. Seitdem rechtsradikaleParteien versuchen, aus der Geschichte Kapital zu schlagen, ist einedifferenzierte Debatte über das Kriegsende in Deutschland noch schwierigergeworden.
Dieses Buch macht deutlich, warum demKriegsende für Ostdeutschland eine andere Bedeutung zukommt als für die alteBundesrepublik. Im ersten Teil dokumentiert es die Schrecken der Eroberung beimVormarsch der Roten Armee. Es beschreibt das Ausmaß der Übergriffe auf dieZivilbevölkerung und schildert das Schicksal der in die Sowjetuniondeportierten Kriegsgefangenen. Es lenkt zugleich den Blick auf die oftvergessenen sowjetischen Opfer von Stalins Sieg über Hitler. Der zweite Teilskizziert die brutale Säuberung der deutschen Ostgebiete, der HunderttausendeZivilisten zum Opfer fielen: Sie wurden verhaftet, in Lager gesperrt und zurZwangsarbeit herangezogen, die viele nicht überlebten. Der dritte Teil beschreibt den Weg in dieSED-Diktatur: Wie Stalin die besiegten Deutschen nach dem Ende des Krieges mitwillkürlichen Massenverhaftungen in Angst und Schrecken versetzte; wie sichseine gefürchtete Geheimpolizei in der Sowjetischen Besatzungszoneflächendeckend festsetzte; wie so genannte Militärtribunale eine neueTerrorjustiz gegen Andersdenkende entfalteten. Die Folterkeller derBesatzungsmacht und das Massensterben in ihren Lagern werden ebenso beschriebenwie das Schicksal der in den Archipel GULag Deportierten. Das Buch will keineallgemeine Darstellung der sowjetischen Besatzungspolitik nach 1945 liefern,sondern aufzeigen, wie sehr die Zerschlagung des Nationalsozialismus und dieErrichtung einer neuen Diktatur Hand in Hand gingen.
Während das Kriegsende inOstdeutschland früher fast ausschließlich anhand von Augenzeugenberichtenerforscht werden konnte, ist mittlerweile vieles durch Dokumente belegbar.Deutsche und russische Historiker haben seit Beginn der neunziger Jahre Berge sowjetischerAkten ausgewertet. Eine Fülle von Detailstudien erlaubt es, viele Aspekteumfassender und differenzierter als früher zu behandeln. Nach vierzigjährigemverordneten Schweigen haben sich zudem auch in den neuen Bundesländern viele Menschenmit ihren Erinnerungen zu Wort gemeldet.
Woran es bislang mangelt, ist, dieseErkenntnisse auch im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Die intensive Forschunghat das Geschichtsbild der Deutschen kaum beeinflusst. Spricht man in derBundesrepublik etwa über Buchenwald, denken die meisten bis heute nur an denNationalsozialismus und nicht an die Zeit der sowjetischen Besatzung, obwohldie Chancen, in dem Lager zu überleben, nach 1945 geringer waren als davor.Dasselbe gilt für Sachsenhausen, dessen Nachkriegsgeschichte den wenigstenbekannt ist, obwohl dort auch unter dem stalinistischen Regime etwa 60000Menschen gefangen waren, von denen 12000 ums Leben kamen. Dieser ungleichenWahrnehmung entgegenzuwirken ist Anliegen des vorliegenden Buches.
Bei einem Thema wie diesem muss man inDeutschland zu Beginn eine Klarstellung vornehmen: Es geht nicht darum, dieSchuld Hitlers am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu relativieren - wenn esauch eine Reihe ernst zu nehmender Anhaltspunkte dafür gibt, dass die PolitikStalins für das Geschehen zumindest mitverantwortlich war. Es sollen auchnicht Verbrechen und Tote gegeneinander aufgerechnet werden, um Deutschland vonseiner historischen Verantwortung zu entlasten - denn die eine Untat wird durchdie andere nicht geringer, sondern beide addieren sich. Schon gar nicht ist diekritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Nachkriegspolitik vonantirussischen Gefühlen getragen - im Gegenteil: Nur so kann in Erinnerunggerufen werden, dass zu den Opfern des Sowjetkommunismus auch und vor allem dieeigenen Landsleute gehörten. Denn nicht nur Deutsche, sondern auchHunderttausende Russen und Ukrainer - Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene,Wehrmachtsangehörige, Emigranten - wurden nach Stalins Sieg über Hitler inDeutschland festgenommen und in sowjetische Arbeitslager gesperrt, wo viele vonihnen elendig zugrunde gingen. Auch an ihr Schicksal will dieses Buch erinnern.(...)
© Propyläen Verlag
- Autor: Hubertus Knabe
- 2005, 388 Seiten, 16 Abbildungen, Maße: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549072457
- ISBN-13: 9783549072455
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