Teufelsmond
Historischer Roman
Ausgerechnet während der Raunächte, der Zeit der Toten und der Geister, wird Pater Fürchtegott zum Exorzisten berufen. Nachzehrer sollen ihr Unwesen treiben. Unterwegs schließt sich ihm Karla an, auf der Flucht vor einer arrangierten...
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Produktinformationen zu „Teufelsmond “
Ausgerechnet während der Raunächte, der Zeit der Toten und der Geister, wird Pater Fürchtegott zum Exorzisten berufen. Nachzehrer sollen ihr Unwesen treiben. Unterwegs schließt sich ihm Karla an, auf der Flucht vor einer arrangierten Heirat. Und dann kommen sie an eine Mühle, in der angeblich das Böse haust.
Klappentext zu „Teufelsmond “
Ausgerechnet während der Raunächte, der Zeit der Toten und der Geister, wird Pater Fürchtegott zum Exorzisten berufen. Im Knüllwald sollen Nachzehrer ihr Unwesen treiben. Unterwegs schließt das kluge Mädchen Karla sich ihm an. Sie hat ihren kleinen Weiler verlassen, auf der Flucht vor einer Heirat wider Willen. In Alwerode trifft das ungleiche Gespann auf eine eingeschworene Dorfgemeinschaft, die mit dem Finger auf die Michelsmühle zeigt: Dort soll das Böse hausen; die Müller hätten die Ernte verhext, trieben Unzucht mit dem Teufel. Dann sterben immer mehr Mitglieder der Familie einen plötzlichen und unerklärlichen Tod, geschüttelt von Krämpfen, wie vom Satan besessen. Karla und Fürchtegott wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Wandeln die Michelsmüller wirklich nachts als Nachzehrer über den Friedhof, oder hat der Hass der Dorfbewohner Gründe, die schlimmer sind als der Teufel?
Lese-Probe zu „Teufelsmond “
Teufelsmond von Ines ThornErstes Kapitel
NORDHESSEN IM JAHRE 1536
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«Das nordhessische Landvolk, mein lieber Bruder Abt, ist im Großen und Ganzen bis zum Ekel hässlich und abstoßend. Die Weibsleute sind die dreckigsten Gestalten, die ich je gesehen habe.» Der Monsignore schüttelte sich und verzog den sichelartigen Mund, der lange gelbe Zähne verdeckte. Der Abt kniff vor Freude die vom Wein rot geränderten Schweinsäuglein zusammen und kicherte: «Sprecht weiter, lieber Freund.» Er lehnte sich behaglich in den mit Schaffellen bedeckten Lehnstuhl zurück und faltete die feisten Finger über seinem Wanst. Mit einer Handbewegung bedeutete er einem einfachen Mönch, das Kohlebecken näher zu schieben.
«Ihre Kleidung ist abscheulich. Die meisten gehen ganz in verwaschenem Schwarz und tragen die Röcke unter der Brust geschnürt, dass man gar keine Taille, wohl aber ungelenke Stampffüße bis an die Knie erblickt. Die groben Knöchel lassen an Schweinshaxen denken. Brrr!»
Der Abt kicherte wieder und rieb sich die Hände. «Und die Männer? Monsignore, sagt, sind die Männer den Weibern ebenbürtig?»
«Und ob, lieber Freund. Die Männer machen mit Grobschlächtigkeit wett, was ihnen an Wohlgestalt und Klugheit mangelt. Einmal habe ich sie nach getaner Arbeit essen sehen. Mich schaudert heute noch, wenn ich daran denke. Sie packen die zarten Hühner mit ihren schaufelgroßen Händen, schlagen ihre Zähne in das Fleisch wie hungrige Wölfe und reißen unter Schmatzen und Keuchen ganze Batzen davon heraus. Dabei laufen ihnen Fett und Blut über das Kinn, Knochensplitter verfangen sich in den wilden Bärten; sie wischen alles hernach mit dem Kittelärmel weg, schnäuzen sich eben. Sie greifen zu ihren Krügen und trinken das Bier in großen, gierigen Schlucken aus. Dann rülpsen und furzen sie und ziehen sich die quiekenden Weiber auf den Schoß.»
«Schauerlich. Was Ihr da erzählt, klingt ganz schauerlich.» Der Abt rieb sich vergnügt die Hände und nahm sich einen Keks vom Tisch, den er betont manierlich in den Mund steckte.
«Ihre Lebensart ist rau», fuhr der Monsignore fort und kostete ein Schlückchen Wein. «Halbrohes Fleisch und Branntwein, den man auch den Kindern gibt, sind ihre vorzüglichsten Nahrungsmittel.»
«Gibt es auch Händel allerorten? Tragen sie die Messer locker im Schaft?»
«Die da im tiefsten Knüllwald hocken, sind kein hochgewachsener, aber ein behänder Menschenschlag, die alle ungeheure Köpfe und Füße haben. Sie sind meistens blond und kraushaarig. Und ja, sie lassen eher die Fäuste als die Münder sprechen. Am besten meidet man sie, so gut man kann. Von der feinen Lebensart haben sie keine Vorstellung. Sie leben mehr nach der Art der Tiere, wild und ein bisschen verschlagen.»
«Vorzüglich, ganz vorzüglich!» Der Abt klatschte in die Hände. «Genau das Richtige für Pater Fürchtegott. Weit weg von hier und so verdorben, dass er für den Rest seines Lebens damit beschäftigt sein dürfte.»
«Vergesst dabei nicht, lieber Bruder Abt: Ihr schickt den Pater nicht in die Verbannung, sondern nur zeitweise fort aus Eurer unmittelbaren Umgebung. Auf ewig geht das nicht. Er hat ein Recht darauf, in einem Kloster zu leben. Für den Augenblick kann ich ihn Euch vom Halse halten. Auf Dauer müsst Ihr selbst eine Lösung finden. Der Meinung ist Euer Oheim im Übrigen auch. Ich kann nicht behaupten, dass ihn die Beschwerde des Paters amüsiert hat.»
Der Monsignore hielt seinem Gegenüber die ausgestreckte Hand hin, und der Abt warf einen Beutel mit klingenden Münzen hinein. «Mein Oheim, der Bischof, ist aber doch einverstanden?»
«Letztendlich ja, mein lieber Abt. In Euern Adern fließt das gleiche Blut. Wer, wenn nicht er, hätte Verständnis für Euern Hang zur Schönheit. Ich gebe zu, auch mir gefällt Euer Bettschatz. Wir Gottesmänner brauchen schließlich Freude, wie könnten wir den Menschen sonst die frohe Botschaft verkünden?» Der Monsignore schmatzte genüsslich, während der Abt bei der Erwähnung seines Bettschatzes die Stirn in Falten legte.
«Nun denn, lassen wir ihn rufen, den untadeligen Pater Fürchtegott.»
Der Monsignore nickte. «Vorher kann ich eine kleine Stärkung gut gebrauchen. Er ist nicht der Verträglichste, heißt es.» Er hielt einen Becher aus Silber empor, fein ziseliert, und deutete damit auf die Weinkanne.
Der Abt versorgte den Monsignore mit Nachschub, vergaß auch den eigenen Becher nicht, dann schwang er eine Glocke und gab dem herbeieilenden Mönch Anweisung, Pater Fürchtegott zu bringen, ehe er dem Monsignore antwortete: «In der Tat. Mit Abt Blasius hatte er zwar keinen Zwist. Blasius war alt und asketisch. Aber ich bin da von anderer Art. Erst ging es gut, doch seit ein paar Wochen macht er mir den Bettschatz madig, wo er kann. Sogar der Sünde hat er mich bezichtigt. In ein Kloster gehöre kein Weibsvolk, und wenn, dann höchstens in die Küche. Ich trage den Stachel der Wollust in mir, der Völlerei sowieso, und ich sei eine Gefahr für die Novizen. Und dabei erfährt unser Kloster seit neuestem einen Zuwachs, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht gab.»
«Ich weiß, ich weiß.» Der Monsignore winkte grämlich ab. «Die Spatzen pfeifen es in Mainz von den Dächern. ‹Ora et amora> nennt man das Haus hinter vorgehaltener Hand.» Er sah den Abt streng an. «Ich kann Euch nur raten, treibt es nicht gar zu toll. Unser Kaiser ist ein frommer Mann. Er hat mehr Macht als Euer Oheim, der Erzbischof von Mainz, und seine Ohren sind überall.»
«Ach, was! Der Kaiser hat andere Sorgen. Und so schlimm geht es hier auch wieder nicht zu. Bruder Augustus hat aus freien Stücken um die Versetzung in ein anderes Kloster gebeten, und Pater Cornelius ...» Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.
«Herein, immer herein in die gute Stube!»
Pater Fürchtegott betrat den Raum. «Ihr wolltet mich sprechen, Vater.» Statt demütig den Kopf zu senken, sah er dem Abt in die Augen. Seine Kutte war abgetragen und an den Ärmeln ein wenig ausgefranst. Das Gesicht zeigte Falten, die Wangen waren eingefallen, die ganze Erscheinung wirkte, als mache sie sich nichts aus Schönheit und Anmut. Barfuß war Pater Fürchtegott in seinen Holzschuhen, die Füße blau gefroren. Der Abt schob seine weich gefütterten Zie genlederstie fel unter den Lehnstuhl und versteckte die Hände in den Ärmeln seiner pelzverbrämten Kutte.
«Ja, in der Tat, das wollte ich, das will ich noch immer. Setzt Euch, mein Lieber.»
Pater Fürchtegott begrüßte den Monsignore, dann nahm er auf der vordersten Stuhlkante Platz, die Hände fromm im Schoß seiner Kutte gefaltet, den Blick auf das Gesicht des Abtes gerichtet.
«Nun also, lieber Bruder, es hat sich ergeben, dass Euer Dienst am Herrn dringend gebraucht wird. Andernorts», erklärte der Abt.
«Ich verstehe. Meine Beschwerde über Euer zügelloses Leben hat den Bischof erreicht.»
«Haltet ein, Pater Fürchtegott. Mäßigt Euch!» Die Stimme des Abtes wurde laut. «Und verwechselt nicht Äpfel mit Birnen. Ihr seid ein Mann der Kirche, und die Kirche bestimmt, wo Ihr ihr am besten dienen könnt. Euer Platz ist ab sofort in Nordhessen.»
«Im Kloster in Grünberg?»
Der Abt verzog den Mund, als hätte er auf einen Essigschwamm gebissen. «In Grünberg hausen die Antoniter. Außerdem liegt der Ort im Vogelsberg. Nein, Ihr geht in kein Kloster, lieber Pater.»
«Nicht? Was dann?» Pater Fürchtegott hob besorgt die Augenbrauen.
«Ab dem heutigen Tage seid Ihr vom Erzbischof von Mainz zum Exorzisten in Nordhessen bestimmt. Euer Gebiet erstreckt sich von der Schwalm über den Knüll bis zum Aulatal, genauer gesagt vom Orte Ziegenhain, welcher dem hessischen Landgrafen untersteht, bis über die Besitzungen derer von Dörnberg hinaus.»
Pater Fürchtegott fiel die Kinnlade herunter. Ungläubig starrte er seinen Vater Abt an.
«Ihr seid ein Glückspilz, Pater Fürchtegott», mischte sich nun der Monsignore ein und zeigte seine gelben Pferdezähne. «Edle Menschen, sanfte Hügel, klare Bäche, und darüber lacht die Sonne.» Er hielt seine Hände über das Kohlebecken.
«Exorzist? Wieso Exorzist? Ich bin Gelehrter und kein Teufelsjäger.» Pater Fürchtegott hatte seine Sprache wiedergefunden, aber die Worte klangen kraftlos.
«Gewiss, gewiss. Ihr seid wahrlich ein Gelehrter mit einem bescheidenen Ruf. Doch meint Ihr nicht auch, dass sich die Wissenschaft hin und wieder aus dem Elfenbeinturm hinaus und hinein ins pralle Leben begeben muss? Ihr vergesst mir noch die Welt, wenn Ihr nur hier drinnen hockt.»
«Aber ich bin kein Satansjäger! Im Gegenteil: Ich habe eine Höllenangst vor dem Teufel», wiederholte der Pater bockig.
«Eben drum, mein Lieber. In der Heiligen Schrift steht, man soll dem Herrn mit allen Kräften dienen. Da Ihr selbst zugebt, auf diesem ausgesuchten Gebiet nicht erprobt zu sein, nun denn, so müsst Ihr eben üben.»
«Als Exorzist in Nordhessen!» Pater Fürchtegotts Stimme klang, als verläse er sein eigenes Todesurteil.
«Dort werdet Ihr gebraucht!» Der Monsignore nickte.
«Aus der Grafschaft derer von Dörnberg kommen beunruhigende Nachrichten. Es heißt, ein Geheimbund hätte sich dort gegründet, der sich dem Dienst des Lazarus verschrieben hat.» Der Monsignore senkte die Stimme. «Aber unter umgekehrten Vorzeichen. Versteht Ihr mich, Pater?»
«Kein Wort, Monsignore.»
Der Monsignore seufzte und fing vom Abt einen Blick auf, in dem zu lesen stand: Hab ich's Euch nicht gesagt?
Der Monsignore bekreuzigte sich und senkte die Stimme, als fürchte er, belauscht zu werden: «Von Nachzehrern rede ich, Pater. Von Toten, die aus den Gräbern auferstehen und Kummer und Leid über die Lebenden bringen.»
Pater Fürchtegott straffte die Schultern. «Und was genau kann ich dabei bewirken?»
«In Nordhessen, Ihr wisst, in den dunklen Tälern, da gehen die Nachzehrer um. Ihr müsst sie finden, Pater, die Nachzehrer selbst und die Ursache für ihr Auftreten. Ihr müsst sie exorzieren, damit sie Ruhe geben. Die Kirche muss zeigen, dass sie noch immer die Hoheit über derlei Dinge trägt. Diese Lazarusbrüder nämlich, die betreiben Exorzismus auf eigene Faust. Mit Mitteln, Pater, die so schrecklich sind, dass ich nicht über sie sprechen will. Sie verstoßen gegen das Gebot der Kirche, schlimmer noch, sie machen uns Konkurrenz. Das muss aufhören, Pater. Und Ihr werdet dafür sorgen.»
Er bekreuzigte sich erneut. Beschwörend fuhr er fort: «Wir können die guten Menschen dort nicht ohne Beistand lassen. Ihr werdet gebraucht, Pater, sofort. Manch einer ist schon ganz verzagt.»
Pater Fürchtegott klappte den Mund wieder zu und warf misstrauische Blicke vom Abt zum Monsignore und wieder zurück. «Es gibt Brüder, die sind für so eine Aufgabe besser geeignet als ich.»
«Aber nein!» Der Abt schüttelte energisch den Kopf. «Ihr, lieber Bruder, seid der einzig Richtige. In einer Zeit, in der teuflische Dinge geschehen und der Aberglaube Blüten treibt, muss ein Gelehrter sich dieser Dinge annehmen. Jemand, der dem Teufelswerk mit Verstand und Spiritualität beizukommen vermag!»
«Ihr wisst doch aber, mit meiner Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Und von Dämonen weiß ich rein gar nichts. Nur das, was in der Heiligen Schrift steht.»
Der Monsignore stöhnte, und der Abt faltete die Hände und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. «Jetzt seid doch nicht so stur, Pater. Gehorchen müsst Ihr ohnehin. Den Verstand, der da unten in den grauen Wäldern dringend gebraucht wird, den habt Ihr. Und der Heilige Geist wird über Euch kommen, wenn Ihr ihn nötig habt.»
Pater Fürchtegott seufzte und erhob sich. «Wann soll ich aufbrechen?»
Der Abt entspannte sich. «Eile mit Weile, mein Lieber. Morgen früh, gleich nach den Laudes. In der Klosterküche wird Proviant für Euch bereitliegen. Und weil Ihr so einsichtig seid, gebe ich Euch noch einen guten Tropfen anbei.»
«Schon morgen früh? Wir sind im Advent. Den Heiligen Abend würde ich gern noch mit meinen Brüdern feiern.»
«Ich verstehe, mein Lieber, ich verstehe Euch nur zu gut. Doch nach dem Heiligen Abend kommen die Raunächte. Ihr wisst um ihre Bedeutung», flüsterte der Monsignore.
«Das will ich meinen», warf der Abt ein. «Unser Pater hier, der von den Menschen nichts wissen will, hat sicher mehr über die Raunächte gelesen als Ihr und ich zusammen.»
Pater Fürchtegott nickte. Sein Gesicht war blass geworden. «Die Raunächte, die Nächte zwischen den Zeiten.» Seine Stimme klang dunkel. «Es heißt, in den Tagen und Nächten zwischen dem Heiligen Abend und dem Tag der Heiligen Drei Könige sind die Naturgesetze außer Kraft, die Grenzen zu den anderen Welten durchlässig. Geister werden beschworen, Menschen verwandeln sich in Tiere. Tiere reden mit menschlicher Stimme. Die Orakel sprechen. Und zur Mitte der Raunächte, an Silvester, da findet die wilde Jagd statt.»
Pater Fürchtegotts Stimme klang von Satz zu Satz düsterer. Der Abt verzog ängstlich das Gesicht und griff haltsuchend nach seinem Weinbecher. Der Monsignore drückte das Kreuz fest an die Stuhllehne, der Mönch, der seine Dienste in Bereitschaft hielt, griff nach dem Rosenkranz. Seine Lippen murmelten ein stummes Gebet.
«Das Geisterreich öffnet zu Silvester seine Pforten, und die Seelen der Verstorbenen kommen in die Welt der Lebenden zurück, begleitet von allen Dämonen der Hölle. Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, verwandeln sich in Werwölfe, in den Häusern hört man Ketten im Kamin rasseln, Gegenstände fallen vom Tisch, Türen und Fenster öffnen sich, und die Kerzen malen Schatten an die Wand, die in Wirklichkeit Gespenster sind ...»
«Hört auf, hört auf, Pater! Mich graut es bei diesen Geschichten.» Der Abt schüttelte sich. «Gleichwohl müsst Ihr einsehen, dass es wohl kaum einen geeigneteren Zeitpunkt gibt, Euer Amt als Exorzist anzutreten. Wann, wenn nicht in den Raunächten, könnte man dem Teufel besser auf die Spur kommen?»
Pater Fürchtegott hatte den Blick in die Ferne gerichtet und sprach weiter mit dieser seltsamen dunklen Stimme: «An Silvester, Schlag Mitternacht, sprechen die Tiere im Stall mit menschlicher Stimme. Und jeder, der sie hört, muss sterben.»
Der Abt begann zu zittern, und der Monsignore fingerte nach seinem Rosenkranz.
«An einigen Orten beschweren sich die Tiere bei den Geistern über ihre Herren. Und wehe dem, der sein Vieh geschlagen hat!»
«Genug, ich bitte Euch, Pater!» Das Gesicht des Abtes war aschfahl geworden.
«Unverheiratete Frauen laufen zu den Kreuzwegen, um ihre zukünftigen Ehemänner zu erblicken. Aber Vorsicht!»
Pater Fürchtegott hob den Finger. «Schweigen müssen die Weiber, wenn der Liebste vorübergeht. Tun sie es nicht, ist ihnen der Tod gewiss.»
Er sah dem Monsignore in die Augen. «Habt Ihr Euch etwa noch nie gefragt, woher die vielen jungen Weiber auf den Friedhöfen kommen?»
Der Monsignore schluckte.
«Schluss jetzt!» Der Abt ließ die Faust auf den Tisch krachen, dass die Weinpokale klirrten. «Ammenmärchen. Nichts als Ammenmärchen sind das.» Er wandte sich an den Monsignore. «Oder habt Ihr an Silvester schon einmal einen Werwolf gesehen?»
Der Monsignore schluckte wieder und dachte an das gewaltige zottige Vieh, welches ihm im letzten Jahr am Silvesterabend erschienen war. Er war auf dem Heimweg von seinem Liebchen gewesen. Und das gräuliche Tier hatte sich ihm zugesellt. Stumm war es neben ihm hergetrottet und hatte dabei einen Blick! Dem Monsignore schwindelte jetzt noch. Gleich am nächsten Tag hatte er seinem Liebchen den Abschied gegeben. Denn wer sonst als sie konnte die Bestie gewesen sein? Der Monsignore hatte Mühe, das Zittern seiner Hände zu verbergen.
«Ihr geht, und zwar morgen früh.» Der Abt funkelte den Pater drohend an. «Kein Widerwort!»
Pater Fürchtegott zuckte mit keiner Wimper.
«Unter einer Bedingung.»
«Pater! Wir sind doch hier nicht im Tempel!»
«Steht in der Bibel nicht: <Eine Hand wäscht die andere>?», fragte der Pater mit Unschuldsmiene. «Oder ist Euch <Auge um Auge, Zahn um Zahn> lieber?»
Der Abt schnappte nach Luft, der Monsignore fauchte: «Wie lautet Eure Bedingung?»
«Ich möchte nach Erledigung meiner Aufgabe draußen in der Welt zurück hinter Klostermauern. Hinter diese Klostermauern.»
Der Abt machte dem Monsignore hinter Pater Fürchtegotts Rücken heimlich Zeichen, doch der Vertreter des Erzbischofs reagierte nicht. «Abgemacht, Pater. Gleich morgen früh zieht Ihr von dannen. Und wenn es in Nordhessen nichts mehr zu tun gibt, wenn Ihr das Gebiet von allen Übeln befreit habt, dann kommt Ihr zurück in die warmen Arme des Klosters.»
«Was heißt hier von allen Übeln? Bisher war nur von Nachzehrern die Rede.» Misstrauen stand im Gesicht des Paters.
Der Monsignore winkte ab. «Nur eine Redensart, nichts weiter. Kümmert Euch um diese Wiedergänger dort, und dann ist Euch der Dank des Herrn und der Mutter Kirche gewiss.»
Zweites Kapitel
Die Zeit des Sterbens, der Samhain, hatte begonnen. Die alte Grit hatte den Monat November immer so genannt, weil sich viele alte Leute aus Angst vor den trüben Wochen und der Kälte zum Sterben anschickten. Sie hockten sich nahe ans Feuer, obwohl die Glut ihre alten Knochen längst nicht mehr wärmte. Sie krochen unter Kissen und Decken, aßen so wenig wie möglich, bis sie schließlich starben, und ihre Leichen mussten oft bis zum Frühjahr auf das Begräbnis warten, weil der Boden gefroren war. Die alte Grit hatte erzählt, dass sich in der alten Zeit die Seelen um den NovemberNeumond herum neue Mütter aussuchten. Deshalb nannte man den Novemberanfang auch Allerseelen.
In diesem Jahr war im Weiler erst ein Mensch gestorben. Die Grit.
Das Kind der Seifensiederin lag elend danieder, aber das würde schon wieder werden. Das Kind war jung und kräftig. Die alte Grit war es nicht gewesen. Wenigstens nicht in letzter Zeit.
Sie hatte kaum ihre Seele ausgehaucht, da kamen schon die Dörfler und schleppten sie zum Friedhof. Ihr Leib war noch warm, als die ersten Erdbrocken auf sie fielen. Sie hatten nicht einmal nach dem Priester geschickt. Nur rasch loswerden wollten sie die alte Grit. Und kaum war sie verscharrt, da stürmten sie schon ihre Hütte, rissen raus und zerrten fort, was nicht festgenagelt war. Der Letzte dann, es war der Schmiedsohn Lebe recht, zündete die Kate an. Jetzt war dort, wo sie gestanden hatte, nur noch ein schwarzer Fleck zwischen zu Kohle verbrannten Balken.
Karla sah zu den Wolken hinauf, die den Wald und seine Umgebung in einen dichten Umhang aus Nieselregen hüllten. Nebel wallten über die Wiesen und Weiden. Ein Pferdekopf ragte daraus hervor wie aus dichtem Rauch. Die Bäume dahinter, grau und mächtig, neigten ihre Kronen vor dem Wind. Karla fror und zog ihr Umschlagtuch fester um sich. Peter, ihr ältester Bruder, war gestern auf der Jagd gewesen. Er hatte Wolfsspuren gefunden. Ganz nahe bei den letzten Hütten vor dem Wald. Ihre Stiefmutter hatte deshalb befohlen, die Ziege und das dürre Schaf hereinzuholen, damit sie den Winter gemeinsam mit der Familie in der geduckten Kate verbrachten. Sie hatte schon einen Teil des ohnehin zu kleinen Raumes abgeteilt, sodass die sechs Kinder in der Nacht noch enger auf dem Boden zusammenrücken mussten. Der Gestank würde noch schlimmer werden, und Karla würde in der Nacht oft erwachen und das Gefühl haben zu ersticken. Ihr graute vor den dunklen Tagen, in denen draußen der Sturm heulte und die Schneeflocken waagerecht gegen die Hütten trieb. Aber ihr graute auch vor dem Frühjahr, vor dem Sommer und dem Herbst. Ihr graute vor dem Leben hier.
Karla übersah den kleinen Marktflecken mitten im Lüttergrund mit einem hasserfüllten Blick: den engen Weiler mit seinen Bewohnern, die niemals über den Waldrand hinausgegangen waren, gerade mal ein Dutzend dumpfer Katen, in denen Dummheit und Aberglaube wohnten, die maulfaulen Männer mit den hageren rohen Gesichtern und Händen, die zu gern nach den Frauen griffen oder schlugen, und die Frauen, die vergrämt an den Feuerstellen oder Waschtrögen standen und alles ertrugen, weil sie eben Frauen waren. Und nicht zuletzt hasste Karla die ewig gleichen Worte dieser Frauen, die ihr schon beim ersten Anhören hohl vorgekommen waren. «Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen» und «Du sollst den Platz nicht verlassen, auf den Gott dich gestellt hat» und «Gehorche deinem Mann, denn er ist auf Erden dein Gott».
«Gott zum Gruße, Karla. Ist dir kalt? Dann komm her, ich werde dir einheizen unter deinen Röcken. Bist jetzt wie alt? Sechzehn Lenze, nicht wahr? Wird langsam Zeit, dass dich mal einer zum Weibe macht.» Knallendes Gelächter. Als würde eine Ziege in einen Blechzuber pinkeln. Vor Karla stand Lebe recht, der Sohn des Schmiedes. Seine riesigen Pranken griffen nach ihrem Umschlagtuch. Sein rotes Gesicht leuchtete, die dünnen blonden Haare klebten auf dem Kopf.
«Pfoten weg!», zischte Karla.
Lebe recht kniff Karla in die Wange, dass sie aufstöhnte. «Nicht mehr lange, dann bist du mein Weib. Und dann kann ich unter deine Röcke, wann immer es mir passt.»
Lebe rechts Rattenaugen funkelten. Er leckte sich mit der Zunge über die feuchten Lippen und kraulte sein feistes Doppelkinn. «Hm, das wird ein Vergnügen. Ich werde dich nehmen, wo es mir beliebt, und dir ein Dutzend Kinder machen. Unter dem Küchentisch, im Stall, rittlings auf den Sauerkrautfässern im Keller. Und du wirst die Blagen großziehen und mir jeden Tag ein warmes Mahl kochen. Du wirst mich verwöhnen und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen.»
«Niemals!» Karla ballte die Hände zu Fäusten. «Eher heirate ich unsere Ziege, als mit dir das Lager zu teilen.»
Die Maulschelle traf sie mitten auf die rechte Wange. Lebe recht beugte sich zu ihr, so nah, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte. «Du wirst mir gehorchen. Wenn nicht freiwillig, dann werde ich dich zwingen. Merk dir das, Karla, es ist ein Leichtes, den Willen eines Weibes zu brechen. Schließlich ist der Mann der Herr und das Weib die Magd.»
Er spuckte vor ihr aus, warf ihr einen abschätzigen Blick zu und stapfte davon. Wie ein Sauerkrautfass auf Beinen, dachte Karla und presste eine Hand auf die glühende Wange. Wieder hat er mich geschlagen, auf die gleiche Stelle, dachte sie. Sie sah ihm nach, wie er zwischen den Marktbuden verschwand, am Glühweinstand stehen blieb und sich einen großen Becher Würzwein bestellte. Ab und zu schielte er zu ihr herüber, und Karla wusste, wie es weitergehen würde. Lebe recht würde sich Mut antrinken, dann würde er ihr nachstellen, unter ihre Röcke langen, in ihre Brüste kneifen, ihr seinen sauren Weinatem ins Gesicht blasen und seine Zunge, die wie ein Putzlumpen schmeckte, in ihre Mundhöhle stoßen. Und sie würde sich wieder gegen ihn wehren müssen, würde mit dem Knie in seine Leibesmitte zielen, dass er von ihr abließ, und einen Tag später würde er sich bei ihrem Vater beschweren, und der Vater würde der Stiefmutter berichten, und die würde dann den Schürhaken nehmen und Karla verdreschen, bis sie nicht mehr sitzen konnte. «Wie kannst du es wagen, Lebe recht so auf der Nase herumzutanzen? Er ist der Sohn des Schmiedes. Eine bessere Partie gibt es hier nicht. Froh solltest du sein, dass er dich will!» Und Karla würde die Schläge über sich ergehen lassen und dabei denken: Niemals werde ich Lebe rechts Frau. Und sie würde sich fragen, ob ihre richtige Mutter, die im Kindbett gestorben war, sie auch mit diesem Widerling verheiratet hätte.
Gerade jetzt schielte er wieder zu ihr herüber und schüttete einen halben Becher Würzwein in sich hinein.
Ich muss fort von hier, dachte Karla. Am besten noch heute. Ich habe die Nase voll von dem Leben hier und von Lebe recht erst recht. Wenn ich an meine Zukunft denke, dann graut mir. Nicht einmal die Grit ist mir geblieben.
Ein Mönch näherte sich dem Glühweinstand, und im selben Augenblick knallte Lebe recht seinen leeren Becher auf das Holzbrett und verschwand in Richtung Schmiede.
Karla beobachtete den Mönch aufmerksam, schlenderte dabei ein wenig näher. Gerade mal sechs Händler hatten ihre Buden aufgebaut. Karla blieb vor dem Stand des Schlachters stehen und tat, als betrachte sie die gelben Hühnerbeine, aus denen die Stiefmutter immer Suppe kochte. Ein halber Hammel hing an einem Haken, die blaue Zunge hing ihm aus dem Maul. Dunkelrote Leberbatzen lagen auf der Auslage, ferkelfarbene Kuheuter, zerfaserte Lungen und Nieren, an denen das Fett klebte. In einem Holzkäfig flatterten ein paar Hühner herum. Junge, fette Gänse schnatterten aufgeregt ihrem Tod entgegen.
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«Das nordhessische Landvolk, mein lieber Bruder Abt, ist im Großen und Ganzen bis zum Ekel hässlich und abstoßend. Die Weibsleute sind die dreckigsten Gestalten, die ich je gesehen habe.» Der Monsignore schüttelte sich und verzog den sichelartigen Mund, der lange gelbe Zähne verdeckte. Der Abt kniff vor Freude die vom Wein rot geränderten Schweinsäuglein zusammen und kicherte: «Sprecht weiter, lieber Freund.» Er lehnte sich behaglich in den mit Schaffellen bedeckten Lehnstuhl zurück und faltete die feisten Finger über seinem Wanst. Mit einer Handbewegung bedeutete er einem einfachen Mönch, das Kohlebecken näher zu schieben.
«Ihre Kleidung ist abscheulich. Die meisten gehen ganz in verwaschenem Schwarz und tragen die Röcke unter der Brust geschnürt, dass man gar keine Taille, wohl aber ungelenke Stampffüße bis an die Knie erblickt. Die groben Knöchel lassen an Schweinshaxen denken. Brrr!»
Der Abt kicherte wieder und rieb sich die Hände. «Und die Männer? Monsignore, sagt, sind die Männer den Weibern ebenbürtig?»
«Und ob, lieber Freund. Die Männer machen mit Grobschlächtigkeit wett, was ihnen an Wohlgestalt und Klugheit mangelt. Einmal habe ich sie nach getaner Arbeit essen sehen. Mich schaudert heute noch, wenn ich daran denke. Sie packen die zarten Hühner mit ihren schaufelgroßen Händen, schlagen ihre Zähne in das Fleisch wie hungrige Wölfe und reißen unter Schmatzen und Keuchen ganze Batzen davon heraus. Dabei laufen ihnen Fett und Blut über das Kinn, Knochensplitter verfangen sich in den wilden Bärten; sie wischen alles hernach mit dem Kittelärmel weg, schnäuzen sich eben. Sie greifen zu ihren Krügen und trinken das Bier in großen, gierigen Schlucken aus. Dann rülpsen und furzen sie und ziehen sich die quiekenden Weiber auf den Schoß.»
«Schauerlich. Was Ihr da erzählt, klingt ganz schauerlich.» Der Abt rieb sich vergnügt die Hände und nahm sich einen Keks vom Tisch, den er betont manierlich in den Mund steckte.
«Ihre Lebensart ist rau», fuhr der Monsignore fort und kostete ein Schlückchen Wein. «Halbrohes Fleisch und Branntwein, den man auch den Kindern gibt, sind ihre vorzüglichsten Nahrungsmittel.»
«Gibt es auch Händel allerorten? Tragen sie die Messer locker im Schaft?»
«Die da im tiefsten Knüllwald hocken, sind kein hochgewachsener, aber ein behänder Menschenschlag, die alle ungeheure Köpfe und Füße haben. Sie sind meistens blond und kraushaarig. Und ja, sie lassen eher die Fäuste als die Münder sprechen. Am besten meidet man sie, so gut man kann. Von der feinen Lebensart haben sie keine Vorstellung. Sie leben mehr nach der Art der Tiere, wild und ein bisschen verschlagen.»
«Vorzüglich, ganz vorzüglich!» Der Abt klatschte in die Hände. «Genau das Richtige für Pater Fürchtegott. Weit weg von hier und so verdorben, dass er für den Rest seines Lebens damit beschäftigt sein dürfte.»
«Vergesst dabei nicht, lieber Bruder Abt: Ihr schickt den Pater nicht in die Verbannung, sondern nur zeitweise fort aus Eurer unmittelbaren Umgebung. Auf ewig geht das nicht. Er hat ein Recht darauf, in einem Kloster zu leben. Für den Augenblick kann ich ihn Euch vom Halse halten. Auf Dauer müsst Ihr selbst eine Lösung finden. Der Meinung ist Euer Oheim im Übrigen auch. Ich kann nicht behaupten, dass ihn die Beschwerde des Paters amüsiert hat.»
Der Monsignore hielt seinem Gegenüber die ausgestreckte Hand hin, und der Abt warf einen Beutel mit klingenden Münzen hinein. «Mein Oheim, der Bischof, ist aber doch einverstanden?»
«Letztendlich ja, mein lieber Abt. In Euern Adern fließt das gleiche Blut. Wer, wenn nicht er, hätte Verständnis für Euern Hang zur Schönheit. Ich gebe zu, auch mir gefällt Euer Bettschatz. Wir Gottesmänner brauchen schließlich Freude, wie könnten wir den Menschen sonst die frohe Botschaft verkünden?» Der Monsignore schmatzte genüsslich, während der Abt bei der Erwähnung seines Bettschatzes die Stirn in Falten legte.
«Nun denn, lassen wir ihn rufen, den untadeligen Pater Fürchtegott.»
Der Monsignore nickte. «Vorher kann ich eine kleine Stärkung gut gebrauchen. Er ist nicht der Verträglichste, heißt es.» Er hielt einen Becher aus Silber empor, fein ziseliert, und deutete damit auf die Weinkanne.
Der Abt versorgte den Monsignore mit Nachschub, vergaß auch den eigenen Becher nicht, dann schwang er eine Glocke und gab dem herbeieilenden Mönch Anweisung, Pater Fürchtegott zu bringen, ehe er dem Monsignore antwortete: «In der Tat. Mit Abt Blasius hatte er zwar keinen Zwist. Blasius war alt und asketisch. Aber ich bin da von anderer Art. Erst ging es gut, doch seit ein paar Wochen macht er mir den Bettschatz madig, wo er kann. Sogar der Sünde hat er mich bezichtigt. In ein Kloster gehöre kein Weibsvolk, und wenn, dann höchstens in die Küche. Ich trage den Stachel der Wollust in mir, der Völlerei sowieso, und ich sei eine Gefahr für die Novizen. Und dabei erfährt unser Kloster seit neuestem einen Zuwachs, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht gab.»
«Ich weiß, ich weiß.» Der Monsignore winkte grämlich ab. «Die Spatzen pfeifen es in Mainz von den Dächern. ‹Ora et amora> nennt man das Haus hinter vorgehaltener Hand.» Er sah den Abt streng an. «Ich kann Euch nur raten, treibt es nicht gar zu toll. Unser Kaiser ist ein frommer Mann. Er hat mehr Macht als Euer Oheim, der Erzbischof von Mainz, und seine Ohren sind überall.»
«Ach, was! Der Kaiser hat andere Sorgen. Und so schlimm geht es hier auch wieder nicht zu. Bruder Augustus hat aus freien Stücken um die Versetzung in ein anderes Kloster gebeten, und Pater Cornelius ...» Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.
«Herein, immer herein in die gute Stube!»
Pater Fürchtegott betrat den Raum. «Ihr wolltet mich sprechen, Vater.» Statt demütig den Kopf zu senken, sah er dem Abt in die Augen. Seine Kutte war abgetragen und an den Ärmeln ein wenig ausgefranst. Das Gesicht zeigte Falten, die Wangen waren eingefallen, die ganze Erscheinung wirkte, als mache sie sich nichts aus Schönheit und Anmut. Barfuß war Pater Fürchtegott in seinen Holzschuhen, die Füße blau gefroren. Der Abt schob seine weich gefütterten Zie genlederstie fel unter den Lehnstuhl und versteckte die Hände in den Ärmeln seiner pelzverbrämten Kutte.
«Ja, in der Tat, das wollte ich, das will ich noch immer. Setzt Euch, mein Lieber.»
Pater Fürchtegott begrüßte den Monsignore, dann nahm er auf der vordersten Stuhlkante Platz, die Hände fromm im Schoß seiner Kutte gefaltet, den Blick auf das Gesicht des Abtes gerichtet.
«Nun also, lieber Bruder, es hat sich ergeben, dass Euer Dienst am Herrn dringend gebraucht wird. Andernorts», erklärte der Abt.
«Ich verstehe. Meine Beschwerde über Euer zügelloses Leben hat den Bischof erreicht.»
«Haltet ein, Pater Fürchtegott. Mäßigt Euch!» Die Stimme des Abtes wurde laut. «Und verwechselt nicht Äpfel mit Birnen. Ihr seid ein Mann der Kirche, und die Kirche bestimmt, wo Ihr ihr am besten dienen könnt. Euer Platz ist ab sofort in Nordhessen.»
«Im Kloster in Grünberg?»
Der Abt verzog den Mund, als hätte er auf einen Essigschwamm gebissen. «In Grünberg hausen die Antoniter. Außerdem liegt der Ort im Vogelsberg. Nein, Ihr geht in kein Kloster, lieber Pater.»
«Nicht? Was dann?» Pater Fürchtegott hob besorgt die Augenbrauen.
«Ab dem heutigen Tage seid Ihr vom Erzbischof von Mainz zum Exorzisten in Nordhessen bestimmt. Euer Gebiet erstreckt sich von der Schwalm über den Knüll bis zum Aulatal, genauer gesagt vom Orte Ziegenhain, welcher dem hessischen Landgrafen untersteht, bis über die Besitzungen derer von Dörnberg hinaus.»
Pater Fürchtegott fiel die Kinnlade herunter. Ungläubig starrte er seinen Vater Abt an.
«Ihr seid ein Glückspilz, Pater Fürchtegott», mischte sich nun der Monsignore ein und zeigte seine gelben Pferdezähne. «Edle Menschen, sanfte Hügel, klare Bäche, und darüber lacht die Sonne.» Er hielt seine Hände über das Kohlebecken.
«Exorzist? Wieso Exorzist? Ich bin Gelehrter und kein Teufelsjäger.» Pater Fürchtegott hatte seine Sprache wiedergefunden, aber die Worte klangen kraftlos.
«Gewiss, gewiss. Ihr seid wahrlich ein Gelehrter mit einem bescheidenen Ruf. Doch meint Ihr nicht auch, dass sich die Wissenschaft hin und wieder aus dem Elfenbeinturm hinaus und hinein ins pralle Leben begeben muss? Ihr vergesst mir noch die Welt, wenn Ihr nur hier drinnen hockt.»
«Aber ich bin kein Satansjäger! Im Gegenteil: Ich habe eine Höllenangst vor dem Teufel», wiederholte der Pater bockig.
«Eben drum, mein Lieber. In der Heiligen Schrift steht, man soll dem Herrn mit allen Kräften dienen. Da Ihr selbst zugebt, auf diesem ausgesuchten Gebiet nicht erprobt zu sein, nun denn, so müsst Ihr eben üben.»
«Als Exorzist in Nordhessen!» Pater Fürchtegotts Stimme klang, als verläse er sein eigenes Todesurteil.
«Dort werdet Ihr gebraucht!» Der Monsignore nickte.
«Aus der Grafschaft derer von Dörnberg kommen beunruhigende Nachrichten. Es heißt, ein Geheimbund hätte sich dort gegründet, der sich dem Dienst des Lazarus verschrieben hat.» Der Monsignore senkte die Stimme. «Aber unter umgekehrten Vorzeichen. Versteht Ihr mich, Pater?»
«Kein Wort, Monsignore.»
Der Monsignore seufzte und fing vom Abt einen Blick auf, in dem zu lesen stand: Hab ich's Euch nicht gesagt?
Der Monsignore bekreuzigte sich und senkte die Stimme, als fürchte er, belauscht zu werden: «Von Nachzehrern rede ich, Pater. Von Toten, die aus den Gräbern auferstehen und Kummer und Leid über die Lebenden bringen.»
Pater Fürchtegott straffte die Schultern. «Und was genau kann ich dabei bewirken?»
«In Nordhessen, Ihr wisst, in den dunklen Tälern, da gehen die Nachzehrer um. Ihr müsst sie finden, Pater, die Nachzehrer selbst und die Ursache für ihr Auftreten. Ihr müsst sie exorzieren, damit sie Ruhe geben. Die Kirche muss zeigen, dass sie noch immer die Hoheit über derlei Dinge trägt. Diese Lazarusbrüder nämlich, die betreiben Exorzismus auf eigene Faust. Mit Mitteln, Pater, die so schrecklich sind, dass ich nicht über sie sprechen will. Sie verstoßen gegen das Gebot der Kirche, schlimmer noch, sie machen uns Konkurrenz. Das muss aufhören, Pater. Und Ihr werdet dafür sorgen.»
Er bekreuzigte sich erneut. Beschwörend fuhr er fort: «Wir können die guten Menschen dort nicht ohne Beistand lassen. Ihr werdet gebraucht, Pater, sofort. Manch einer ist schon ganz verzagt.»
Pater Fürchtegott klappte den Mund wieder zu und warf misstrauische Blicke vom Abt zum Monsignore und wieder zurück. «Es gibt Brüder, die sind für so eine Aufgabe besser geeignet als ich.»
«Aber nein!» Der Abt schüttelte energisch den Kopf. «Ihr, lieber Bruder, seid der einzig Richtige. In einer Zeit, in der teuflische Dinge geschehen und der Aberglaube Blüten treibt, muss ein Gelehrter sich dieser Dinge annehmen. Jemand, der dem Teufelswerk mit Verstand und Spiritualität beizukommen vermag!»
«Ihr wisst doch aber, mit meiner Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Und von Dämonen weiß ich rein gar nichts. Nur das, was in der Heiligen Schrift steht.»
Der Monsignore stöhnte, und der Abt faltete die Hände und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. «Jetzt seid doch nicht so stur, Pater. Gehorchen müsst Ihr ohnehin. Den Verstand, der da unten in den grauen Wäldern dringend gebraucht wird, den habt Ihr. Und der Heilige Geist wird über Euch kommen, wenn Ihr ihn nötig habt.»
Pater Fürchtegott seufzte und erhob sich. «Wann soll ich aufbrechen?»
Der Abt entspannte sich. «Eile mit Weile, mein Lieber. Morgen früh, gleich nach den Laudes. In der Klosterküche wird Proviant für Euch bereitliegen. Und weil Ihr so einsichtig seid, gebe ich Euch noch einen guten Tropfen anbei.»
«Schon morgen früh? Wir sind im Advent. Den Heiligen Abend würde ich gern noch mit meinen Brüdern feiern.»
«Ich verstehe, mein Lieber, ich verstehe Euch nur zu gut. Doch nach dem Heiligen Abend kommen die Raunächte. Ihr wisst um ihre Bedeutung», flüsterte der Monsignore.
«Das will ich meinen», warf der Abt ein. «Unser Pater hier, der von den Menschen nichts wissen will, hat sicher mehr über die Raunächte gelesen als Ihr und ich zusammen.»
Pater Fürchtegott nickte. Sein Gesicht war blass geworden. «Die Raunächte, die Nächte zwischen den Zeiten.» Seine Stimme klang dunkel. «Es heißt, in den Tagen und Nächten zwischen dem Heiligen Abend und dem Tag der Heiligen Drei Könige sind die Naturgesetze außer Kraft, die Grenzen zu den anderen Welten durchlässig. Geister werden beschworen, Menschen verwandeln sich in Tiere. Tiere reden mit menschlicher Stimme. Die Orakel sprechen. Und zur Mitte der Raunächte, an Silvester, da findet die wilde Jagd statt.»
Pater Fürchtegotts Stimme klang von Satz zu Satz düsterer. Der Abt verzog ängstlich das Gesicht und griff haltsuchend nach seinem Weinbecher. Der Monsignore drückte das Kreuz fest an die Stuhllehne, der Mönch, der seine Dienste in Bereitschaft hielt, griff nach dem Rosenkranz. Seine Lippen murmelten ein stummes Gebet.
«Das Geisterreich öffnet zu Silvester seine Pforten, und die Seelen der Verstorbenen kommen in die Welt der Lebenden zurück, begleitet von allen Dämonen der Hölle. Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, verwandeln sich in Werwölfe, in den Häusern hört man Ketten im Kamin rasseln, Gegenstände fallen vom Tisch, Türen und Fenster öffnen sich, und die Kerzen malen Schatten an die Wand, die in Wirklichkeit Gespenster sind ...»
«Hört auf, hört auf, Pater! Mich graut es bei diesen Geschichten.» Der Abt schüttelte sich. «Gleichwohl müsst Ihr einsehen, dass es wohl kaum einen geeigneteren Zeitpunkt gibt, Euer Amt als Exorzist anzutreten. Wann, wenn nicht in den Raunächten, könnte man dem Teufel besser auf die Spur kommen?»
Pater Fürchtegott hatte den Blick in die Ferne gerichtet und sprach weiter mit dieser seltsamen dunklen Stimme: «An Silvester, Schlag Mitternacht, sprechen die Tiere im Stall mit menschlicher Stimme. Und jeder, der sie hört, muss sterben.»
Der Abt begann zu zittern, und der Monsignore fingerte nach seinem Rosenkranz.
«An einigen Orten beschweren sich die Tiere bei den Geistern über ihre Herren. Und wehe dem, der sein Vieh geschlagen hat!»
«Genug, ich bitte Euch, Pater!» Das Gesicht des Abtes war aschfahl geworden.
«Unverheiratete Frauen laufen zu den Kreuzwegen, um ihre zukünftigen Ehemänner zu erblicken. Aber Vorsicht!»
Pater Fürchtegott hob den Finger. «Schweigen müssen die Weiber, wenn der Liebste vorübergeht. Tun sie es nicht, ist ihnen der Tod gewiss.»
Er sah dem Monsignore in die Augen. «Habt Ihr Euch etwa noch nie gefragt, woher die vielen jungen Weiber auf den Friedhöfen kommen?»
Der Monsignore schluckte.
«Schluss jetzt!» Der Abt ließ die Faust auf den Tisch krachen, dass die Weinpokale klirrten. «Ammenmärchen. Nichts als Ammenmärchen sind das.» Er wandte sich an den Monsignore. «Oder habt Ihr an Silvester schon einmal einen Werwolf gesehen?»
Der Monsignore schluckte wieder und dachte an das gewaltige zottige Vieh, welches ihm im letzten Jahr am Silvesterabend erschienen war. Er war auf dem Heimweg von seinem Liebchen gewesen. Und das gräuliche Tier hatte sich ihm zugesellt. Stumm war es neben ihm hergetrottet und hatte dabei einen Blick! Dem Monsignore schwindelte jetzt noch. Gleich am nächsten Tag hatte er seinem Liebchen den Abschied gegeben. Denn wer sonst als sie konnte die Bestie gewesen sein? Der Monsignore hatte Mühe, das Zittern seiner Hände zu verbergen.
«Ihr geht, und zwar morgen früh.» Der Abt funkelte den Pater drohend an. «Kein Widerwort!»
Pater Fürchtegott zuckte mit keiner Wimper.
«Unter einer Bedingung.»
«Pater! Wir sind doch hier nicht im Tempel!»
«Steht in der Bibel nicht: <Eine Hand wäscht die andere>?», fragte der Pater mit Unschuldsmiene. «Oder ist Euch <Auge um Auge, Zahn um Zahn> lieber?»
Der Abt schnappte nach Luft, der Monsignore fauchte: «Wie lautet Eure Bedingung?»
«Ich möchte nach Erledigung meiner Aufgabe draußen in der Welt zurück hinter Klostermauern. Hinter diese Klostermauern.»
Der Abt machte dem Monsignore hinter Pater Fürchtegotts Rücken heimlich Zeichen, doch der Vertreter des Erzbischofs reagierte nicht. «Abgemacht, Pater. Gleich morgen früh zieht Ihr von dannen. Und wenn es in Nordhessen nichts mehr zu tun gibt, wenn Ihr das Gebiet von allen Übeln befreit habt, dann kommt Ihr zurück in die warmen Arme des Klosters.»
«Was heißt hier von allen Übeln? Bisher war nur von Nachzehrern die Rede.» Misstrauen stand im Gesicht des Paters.
Der Monsignore winkte ab. «Nur eine Redensart, nichts weiter. Kümmert Euch um diese Wiedergänger dort, und dann ist Euch der Dank des Herrn und der Mutter Kirche gewiss.»
Zweites Kapitel
Die Zeit des Sterbens, der Samhain, hatte begonnen. Die alte Grit hatte den Monat November immer so genannt, weil sich viele alte Leute aus Angst vor den trüben Wochen und der Kälte zum Sterben anschickten. Sie hockten sich nahe ans Feuer, obwohl die Glut ihre alten Knochen längst nicht mehr wärmte. Sie krochen unter Kissen und Decken, aßen so wenig wie möglich, bis sie schließlich starben, und ihre Leichen mussten oft bis zum Frühjahr auf das Begräbnis warten, weil der Boden gefroren war. Die alte Grit hatte erzählt, dass sich in der alten Zeit die Seelen um den NovemberNeumond herum neue Mütter aussuchten. Deshalb nannte man den Novemberanfang auch Allerseelen.
In diesem Jahr war im Weiler erst ein Mensch gestorben. Die Grit.
Das Kind der Seifensiederin lag elend danieder, aber das würde schon wieder werden. Das Kind war jung und kräftig. Die alte Grit war es nicht gewesen. Wenigstens nicht in letzter Zeit.
Sie hatte kaum ihre Seele ausgehaucht, da kamen schon die Dörfler und schleppten sie zum Friedhof. Ihr Leib war noch warm, als die ersten Erdbrocken auf sie fielen. Sie hatten nicht einmal nach dem Priester geschickt. Nur rasch loswerden wollten sie die alte Grit. Und kaum war sie verscharrt, da stürmten sie schon ihre Hütte, rissen raus und zerrten fort, was nicht festgenagelt war. Der Letzte dann, es war der Schmiedsohn Lebe recht, zündete die Kate an. Jetzt war dort, wo sie gestanden hatte, nur noch ein schwarzer Fleck zwischen zu Kohle verbrannten Balken.
Karla sah zu den Wolken hinauf, die den Wald und seine Umgebung in einen dichten Umhang aus Nieselregen hüllten. Nebel wallten über die Wiesen und Weiden. Ein Pferdekopf ragte daraus hervor wie aus dichtem Rauch. Die Bäume dahinter, grau und mächtig, neigten ihre Kronen vor dem Wind. Karla fror und zog ihr Umschlagtuch fester um sich. Peter, ihr ältester Bruder, war gestern auf der Jagd gewesen. Er hatte Wolfsspuren gefunden. Ganz nahe bei den letzten Hütten vor dem Wald. Ihre Stiefmutter hatte deshalb befohlen, die Ziege und das dürre Schaf hereinzuholen, damit sie den Winter gemeinsam mit der Familie in der geduckten Kate verbrachten. Sie hatte schon einen Teil des ohnehin zu kleinen Raumes abgeteilt, sodass die sechs Kinder in der Nacht noch enger auf dem Boden zusammenrücken mussten. Der Gestank würde noch schlimmer werden, und Karla würde in der Nacht oft erwachen und das Gefühl haben zu ersticken. Ihr graute vor den dunklen Tagen, in denen draußen der Sturm heulte und die Schneeflocken waagerecht gegen die Hütten trieb. Aber ihr graute auch vor dem Frühjahr, vor dem Sommer und dem Herbst. Ihr graute vor dem Leben hier.
Karla übersah den kleinen Marktflecken mitten im Lüttergrund mit einem hasserfüllten Blick: den engen Weiler mit seinen Bewohnern, die niemals über den Waldrand hinausgegangen waren, gerade mal ein Dutzend dumpfer Katen, in denen Dummheit und Aberglaube wohnten, die maulfaulen Männer mit den hageren rohen Gesichtern und Händen, die zu gern nach den Frauen griffen oder schlugen, und die Frauen, die vergrämt an den Feuerstellen oder Waschtrögen standen und alles ertrugen, weil sie eben Frauen waren. Und nicht zuletzt hasste Karla die ewig gleichen Worte dieser Frauen, die ihr schon beim ersten Anhören hohl vorgekommen waren. «Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen» und «Du sollst den Platz nicht verlassen, auf den Gott dich gestellt hat» und «Gehorche deinem Mann, denn er ist auf Erden dein Gott».
«Gott zum Gruße, Karla. Ist dir kalt? Dann komm her, ich werde dir einheizen unter deinen Röcken. Bist jetzt wie alt? Sechzehn Lenze, nicht wahr? Wird langsam Zeit, dass dich mal einer zum Weibe macht.» Knallendes Gelächter. Als würde eine Ziege in einen Blechzuber pinkeln. Vor Karla stand Lebe recht, der Sohn des Schmiedes. Seine riesigen Pranken griffen nach ihrem Umschlagtuch. Sein rotes Gesicht leuchtete, die dünnen blonden Haare klebten auf dem Kopf.
«Pfoten weg!», zischte Karla.
Lebe recht kniff Karla in die Wange, dass sie aufstöhnte. «Nicht mehr lange, dann bist du mein Weib. Und dann kann ich unter deine Röcke, wann immer es mir passt.»
Lebe rechts Rattenaugen funkelten. Er leckte sich mit der Zunge über die feuchten Lippen und kraulte sein feistes Doppelkinn. «Hm, das wird ein Vergnügen. Ich werde dich nehmen, wo es mir beliebt, und dir ein Dutzend Kinder machen. Unter dem Küchentisch, im Stall, rittlings auf den Sauerkrautfässern im Keller. Und du wirst die Blagen großziehen und mir jeden Tag ein warmes Mahl kochen. Du wirst mich verwöhnen und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen.»
«Niemals!» Karla ballte die Hände zu Fäusten. «Eher heirate ich unsere Ziege, als mit dir das Lager zu teilen.»
Die Maulschelle traf sie mitten auf die rechte Wange. Lebe recht beugte sich zu ihr, so nah, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte. «Du wirst mir gehorchen. Wenn nicht freiwillig, dann werde ich dich zwingen. Merk dir das, Karla, es ist ein Leichtes, den Willen eines Weibes zu brechen. Schließlich ist der Mann der Herr und das Weib die Magd.»
Er spuckte vor ihr aus, warf ihr einen abschätzigen Blick zu und stapfte davon. Wie ein Sauerkrautfass auf Beinen, dachte Karla und presste eine Hand auf die glühende Wange. Wieder hat er mich geschlagen, auf die gleiche Stelle, dachte sie. Sie sah ihm nach, wie er zwischen den Marktbuden verschwand, am Glühweinstand stehen blieb und sich einen großen Becher Würzwein bestellte. Ab und zu schielte er zu ihr herüber, und Karla wusste, wie es weitergehen würde. Lebe recht würde sich Mut antrinken, dann würde er ihr nachstellen, unter ihre Röcke langen, in ihre Brüste kneifen, ihr seinen sauren Weinatem ins Gesicht blasen und seine Zunge, die wie ein Putzlumpen schmeckte, in ihre Mundhöhle stoßen. Und sie würde sich wieder gegen ihn wehren müssen, würde mit dem Knie in seine Leibesmitte zielen, dass er von ihr abließ, und einen Tag später würde er sich bei ihrem Vater beschweren, und der Vater würde der Stiefmutter berichten, und die würde dann den Schürhaken nehmen und Karla verdreschen, bis sie nicht mehr sitzen konnte. «Wie kannst du es wagen, Lebe recht so auf der Nase herumzutanzen? Er ist der Sohn des Schmiedes. Eine bessere Partie gibt es hier nicht. Froh solltest du sein, dass er dich will!» Und Karla würde die Schläge über sich ergehen lassen und dabei denken: Niemals werde ich Lebe rechts Frau. Und sie würde sich fragen, ob ihre richtige Mutter, die im Kindbett gestorben war, sie auch mit diesem Widerling verheiratet hätte.
Gerade jetzt schielte er wieder zu ihr herüber und schüttete einen halben Becher Würzwein in sich hinein.
Ich muss fort von hier, dachte Karla. Am besten noch heute. Ich habe die Nase voll von dem Leben hier und von Lebe recht erst recht. Wenn ich an meine Zukunft denke, dann graut mir. Nicht einmal die Grit ist mir geblieben.
Ein Mönch näherte sich dem Glühweinstand, und im selben Augenblick knallte Lebe recht seinen leeren Becher auf das Holzbrett und verschwand in Richtung Schmiede.
Karla beobachtete den Mönch aufmerksam, schlenderte dabei ein wenig näher. Gerade mal sechs Händler hatten ihre Buden aufgebaut. Karla blieb vor dem Stand des Schlachters stehen und tat, als betrachte sie die gelben Hühnerbeine, aus denen die Stiefmutter immer Suppe kochte. Ein halber Hammel hing an einem Haken, die blaue Zunge hing ihm aus dem Maul. Dunkelrote Leberbatzen lagen auf der Auslage, ferkelfarbene Kuheuter, zerfaserte Lungen und Nieren, an denen das Fett klebte. In einem Holzkäfig flatterten ein paar Hühner herum. Junge, fette Gänse schnatterten aufgeregt ihrem Tod entgegen.
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Autoren-Porträt von Ines Thorn
Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und schreibt seit langem erfolgreich historische Romane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ines Thorn
- 2012, 1. Auflage., 384 Seiten, Maße: 13,7 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250177
- ISBN-13: 9783805250177
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