Tod eines Dissidenten
Die Meldungen im November 2006 klangen absurd: Auf den russischen Dissidenten Alexander Litwinenko sei ein Giftanschlag in einer Londoner Sushi-Bar verübt worden - und Litwinenko machte Putin dafür verantwortlich. Dieser Bericht enthüllt: Die Intrige...
Die Meldungen im November 2006 klangen absurd: Auf den russischen Dissidenten Alexander Litwinenko sei ein Giftanschlag in einer Londoner Sushi-Bar verübt worden - und Litwinenko machte Putin dafür verantwortlich. Dieser Bericht enthüllt: Die Intrige gegen Litwinenko ist nur die Spitze eines Eisberges.
Der Bericht von Alex Goldfarb und Marina Litwinenko macht deutlich, dass die Intrige gegen Litwinenko die Spitze eines Eisbergs ist: "Niemand entkommt dem russischen Geheimdienst", sagte Marina Litwinenko in einem Interview.
Erscheint gleichzeitig in 18 L ndern: der Bericht der Witwe und des Freundes ber den Mord und seine Hintergr nde, der deutlich macht: Die Intrige gegen Litwinenko ist nur die Spitze eines Eisbergs.Die ersten Meldungen klangen absurd. Auf einen russischen Dissidenten, der fr her in den Diensten des KGB und der Nachfolgeorganisation FSB gestanden habe, sei ein Giftanschlag in einer Londoner Sushi-Bar ver bt worden. Doch als sich Litwinenkos Zustand verschlechterte und er in eine Klinik eingewiesen werden musste, nahm die Geschichte eine ernste Wendung. Am 23. November 2006 starb er an den Folgen einer Polonium-210-Verstrahlung. Zwei Tage zuvor gab er eine Erkl rung ab, in der er Kreml-Funktion re und Putin f r seinen Tod verantwortlich machte. Wer war Alexander Litwinenko? Weshalb konnte er nicht in seiner Heimat bleiben? Warum schwebte er auch in England, wo ihm politisches Asyl gew hrt worden war, in solcher Gefahr? Wie kam er wirklich ums Leben?
Tod eines Dissidenten von Alex Goldfarb und Marina Litwinenko
LESEPROBE
DieDissidentenschmiede
Asyl
New York,25. Oktober 2000
Der Tag warnoch nicht angebrochen, als mein Handy klingelte. »Salut«, sagte eine Stimme.»Wo bist du gerade?« Es war Boris Beresowski,der bis vor wenigen Monaten zu Russlands reichsten und mächtigsten Oligarchen gehört hatte. Jetzt rief er aus seinem Haus inCap d Antibes in Südfrankreich an, wo er im Exillebte. Russlands neuer Präsident Wladimir Putinverdankte seine Wahl an die Spitze des Landes nicht zuletzt dem Einfluss vonBoris Beresowski, der sich später mit ihm überworfenund beschlossen hatte, aus seinem Frankreichurlaub nicht nach Hausezurückzukehren. Putin war nun eifrig damitbeschäftigt, die allgegenwärtigen Gefolgsleute dieses Mannes aus RusslandsMachtstrukturen zu vertreiben. Beresowski wusste,dass seine Telefongespräche abgehört wurden. Ich musste ihm versichern, dassich mich nicht in Russland befand. Erst dann kam er zur Sache.
»Erinnerstdu dich an Sascha Litwinenko?«,fragte er.
Natürlich erinnerteich mich an Oberstleutnant Alexander »Sascha « Litwinenko.Er arbeitete in der Abteilung für die Bekämpfung des organisierten Verbrechensim russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der Nachfolgebehörde des KGB. Litwinenko gehörte zu Boris BeresowskisMännern. ÆÌ998 war er zu nationaler Berühmtheit gelangt. Damals hatte er einePressekonferenz einberufen und - flankiert von vier maskierten O.zieren, die seine Anschuldigungen bestätigten -behauptet, einige abtrünnige Generäle des FSB planten einen Anschlag auf Beresowski. Kurze Zeit zuvor hatte Präsident Boris Jelzinden bisherigen FSB-Direktor, einen erfahrenen Drei- Sterne-General,durch den Oberstleutnant Wladimir Putin ersetzt, derbis dahin ein unbeschriebenes Blatt aus der Kreml-Administration gewesen war.
Dass Litwinenko es gewagt hatte, sich zur besten Sendezeit mit derkontora (der Firma) anzulegen, gefielden Leuten in der Lubjanka, dem Hauptquartier desFSB, überhaupt nicht. Kurz darauf wurde er verhaftet. Die Abteilung für InnereAngelegenheiten beschuldigte ihn des Machtmissbrauchs. Er habe, hieß es, einigeJahre zuvor einen Verdächtigen zusammengeschlagen. Sascha Litwinenkoverbrachte mehrere Monate in Lefortowo, demberüchtigten Untersuchungsgefängnis des ehemaligen KGB. Ich hatte Beresowski damals gebeten, den Kontakt zu Saschaherzustellen, weil ich ein von dem Finanzexperten George Sorosgefördertes Projekt zur Gesundheitserziehung leitete, das die Ausbreitung vonTuberkulose-Epidemien in russischen Gefängnissen verhindern sollte. Ich wolltevon Sascha erfahren, wie es um die medizinische Versorgung in Lefortowo bestellt war. Vom Justizministerium hatte ichZugang zu den regulären Gefängnissen erhalten, aber Lefortowounterstand dem FSB und war streng abgeschirmt.
»Ja, icherinnere mich an Litwinenko«, sagte ich.
»Er ist inder Türkei.«
»Sie rufenmich um fünf Uhr morgens an, um mir das zu sagen?«
»Er ist aufder Flucht.«
Saschaversteckte sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Hotel am Mittelmeerund bereitete sich darauf vor, zu den Amerikanern überzulaufen. Beresowski fragte, ob ich »als Dissidentenveteran undobendrein noch Amerikaner« bereit sei, ihn zu unterstützen.
»Er glaubt,dass du der Einzige bist, der ihm helfen kann.«
»Aberwarum? Wir haben uns doch nur ein paarmal getroffen.«
»Du bistder einzige Amerikaner, den er kennt.«
Ein paarStunden nach Beresowskis Anruf - ich hattemittlerweile selbst mit Sascha telefoniert - betrat ich das Old Executive Office Building inWashington, D.C. Ich war mit einem alten Freund verabredet, der alsRussland-Spezialist für Präsident Clintons Nationalen Sicherheitsrat arbeitete.
Einentspannter Polizist warf einen flüchtigen Blick auf meinen Ausweis. Es warknapp ein Jahr vor dem ÆÌÆÌ. September. In zwei Wochen sollten die US-Präsidentschaftswahlenstattfinden, und in Washington machte sich niemand besonders viele Gedankenüber Russland. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, bis ich im Gebäude war.
»Ich habenur zehn Minuten Zeit«, sagte mein Freund. »Also, über welche dringlicheAngelegenheit wolltest du nur unter vier Augen mit mir sprechen?«
Icherzählte ihm von Litwinenko und dass ich vorhatte, indie Türkei zu fliegen und ihn zu unserer Botschaft zu bringen.
»AlsBeamter der US-Regierung muss ich dir sagen, dass wir nicht daran interessiertsind, russische Agenten zum Überlaufen zu bewegen «, erwiderte er. »Und alsFreund rate ich dir, dich aus der Sache rauszuhalten.Dafür braucht man Profis, und du bist keiner. Glaub mir, so was läuft nie nachPlan. Es könnte gefährlich werden. Und wenn du erst mal in der Sachedrinsteckst, geraten die Dinge schnell außer Kontrolle. Eins führt zum anderen,und du weißt nicht, wie du am Ende dastehst. Wenn du meinen Rat hören willst:Geh nach Hause und vergiss das Ganze.«
»Und Litwinenko? Was passiert mit ihm?«,fragte ich. Ich dachte daran, wie verängstigt Sascha am Telefon geklungenhatte. »Das ist nicht dein Problem«, antwortete er. »Er ist ein erwachsener Mann,und er wusste, worauf er sich einließ.«
»Was würdepassieren, wenn er allein in unsere Botschaft käme?«
»Man würdeihn dort gar nicht reinlassen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng, Ankaraist schließlich nicht Kopenhagen. Hat er überhaupt Papiere dabei?«
»Das weißich nicht.«
»Undzweitens: Selbst wenn er in die Botschaft gelangt, wird er dort nur aufKonsularbeamte stoßen, deren Aufgabe es ist«, er lächelte, »Leute von Amerikafernzuhalten.«
»Aber esgeht doch nicht um ein Touristenvisum.«
»Wenn erdas beweisen kann, dann «, er zögerte und suchte nach dem passenden Ausdruck,»dann werden andere Beamte mit ihm reden. Theoretisch könnten sie eingutes Wort für ihn einlegen, aber das hängt davon ab «
»Was er zubieten hat?«
»Genau.«
»Ich habekeine Ahnung, was er ihnen anbieten könnte.«
»Da siehstdu s: Du bist eben kein Profi.«
Ich erhobmich, und mein Freund lächelte mir zum Abschied zu. Ich hatte mich bereitsdagegen entschieden, seinem Rat zu folgen. Auch ich war ein Dissident, 1975emigriert, weil ich, ein jüdischer Biologe, in Moskau das Sowjetregimekritisiert hatte. Meinem Vater, ebenfalls Wissenschaftler, wurde die Ausreiseverweigert. Erst zehn Jahre nach mir erhielt er die Erlaubnis auszuwandern.Menschen bei ihrer Befreiung aus den Fängen Moskaus zu helfen lag mir amHerzen. Bald darauf flog ich in die Türkei. ( )
© VerlagHoffmann und Campe
Übersetzung:Violeta Topalova
Marina Litwinenko begegnete ihrem späteren Ehemann erstmals 1993 an ihrem 31. Geburtstag. 2000 wurde der Familie politisches Asyl in Großbritannien gewährt und 2006 die britische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Marina Litwinenko und ihr zwölfjähriger Sohn leben in London.
- Autoren: Marina Litwinenko , Alexander Goldfarb
- 2007, 427 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 14,2 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Violeta Topalova
- Übersetzer: Violeta Topalova
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455500455
- ISBN-13: 9783455500455
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