Todesregen
Roman
Es beginnt mit endlosem Regen. Dann fällt der Fernseher aus, das Telefon, das Internet, schließlich der Strom. Und dann verschwinden Leute. Grausige Schreie dringen durch die Nacht. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass eine fremde Macht die Erde übernommen hat.
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
19.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Todesregen “
Es beginnt mit endlosem Regen. Dann fällt der Fernseher aus, das Telefon, das Internet, schließlich der Strom. Und dann verschwinden Leute. Grausige Schreie dringen durch die Nacht. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass eine fremde Macht die Erde übernommen hat.
Lese-Probe zu „Todesregen “
Todesregen von Dean KoontzWenige Minuten nach ein Uhr morgens fiel unerwartet starker Regen. Kein Donner ging der Sintflut voraus und kein Wind.
So jäh und so heftig war der Guss, dass er sich ins Bewusstsein drängte wie das unheilvolle Unwetter in einem Traum. Schon bevor die Wolken aufgeplatzt waren, hatte Molly Sloan ruhelos neben ihrem Mann im Bett gelegen. Nun wurde sie immer noch nervöser, während sie dem herabrauschenden Regen lauschte.
Die unzähligen Stimmen des Wolkenbruchs klangen wie eine wütende Menschenmenge, die in einer vergessenen Sprache Parolen brüllt. Die Wassermassen hämmerten an die Zedernverschalung und die Dachschindeln, als wollten sie sich Eingang verschaffen.
Bisher war der September in Südkalifornien immer ein trockener Monat inmitten einer langen Dürrezeit gewesen. Zwischen März und Dezember fiel nur selten Regen. In den feuchten Monaten war das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach manchmal ein wirksames Heilmittel gegen Schlaflosigkeit. Heute Nacht aber wiegten die flüssigen Rhythmen Molly nicht in den Schlaf, und zwar nicht nur, weil sie nicht zur Jahreszeit passten.
Enttäuschter Ehrgeiz hatte Molly in den letzten Jahren schon oft den Schlaf geraubt. Vom Sandmann im Stich gelassen, hatte sie an die dunkle Zimmerdecke gestarrt, darüber nachgegrübelt, was hätte sein können, und sich nach etwas gesehnt, was vielleicht nie kommen würde. Sie war nun achtundzwanzig Jahre alt und hatte vier Romane veröffentlicht. Alle waren von der Kritik günstig aufgenommen worden, aber keiner hatte sich oft genug verkauft, um sie berühmt zu machen oder wenigstens zu garantieren, dass irgendein Verleger ungeduldig auf ihr nächstes Buch wartete.
Ihre Mutter Thalia, die brillante Prosa geschrieben hatte, war mit dreißig an Krebs gestorben. Zu Lebzeiten hatte man ihr eine große Karriere
... mehr
vorhergesagt, aber nun, sechzehn Jahre später, waren ihre Bücher vergriffen, und die Spuren, die sie auf der Welt hinterlassen hatte, waren so gut wie verschwunden.
Molly lebte mit der nagenden Angst, sie könne in Vergessenheit geraten wie ihre Mutter. Sie fürchtete den Tod nicht besonders; es war die Vorstellung, zu sterben, bevor sie eine bleibende Leistung vollbracht hatte, die ihr Sorgen machte.
Neben ihr schlief ihr Mann Neil, leise schnarchend und ohne das Unwetter wahrzunehmen. Sobald er den Kopf aufs Kissen gelegt und die Augen geschlossen hatte, schlief er immer innerhalb einer Minute ein. In der Nacht bewegte er sich kaum; nach acht Stunden wachte er in derselben Körperhaltung auf, in der er eingeschlafen war, gestärkt und ausgeruht. Neil behauptete, nur die Unschuldigen erfreuten sich eines so vollkommenen Schlafs.
Molly sprach vom Schlaf eines Faulenzers. In ihren sieben Ehejahren hatten die beiden ihr Leben stets nach unterschiedlichen Uhren gerichtet. Molly hielt sich genauso gern in der Zukunft auf wie in der Gegenwart. Sie malte sich aus, wo sie hinwollte, und plante unablässig den Weg, der sie zu ihren hohen Zielen führen sollte. Ihre starke Triebfeder war fest gespannt. Neil hingegen lebte im Augenblick. Für ihn lag schon die nächste Woche in ferner Zukunft, und er vertraute darauf, dass die Zeit ihn dorthin bringen würde, egal, ob er die Reise nun plante oder nicht.
Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Angesichts ihres gegensätzlichen Wesens war die Liebe, die sie füreinander empfanden, ganz erstaunlich. Sie war das Band, das sie vereinte, das feste Netz, das ihnen die Kraft verlieh, Enttäuschungen und Tragödien zu überstehen. Wenn Molly an Schlaflosigkeit litt, stellte Neils rhythmisches, wenn auch nicht sehr lautes Schnarchen diese Liebe fast so sehr auf die Probe wie ein Seitensprung. Nun übertönte der prasselnde Regen dieses Geräusch, sodass Molly ein neues Ziel für ihre nervöse Ungeduld hatte.
Das Tosen des Unwetters nahm zu, bis Molly sich wie im Innern der grollenden Maschinerie fühlte, die das Universum in Gang hält.
Kurz nach zwei stieg sie aus dem Bett, ohne das Licht anzuknipsen. Am Fenster, das durch das überstehende Dach vor dem Regen geschützt war, blickte sie durch ihr gespenstisches Spiegelbild hindurch in den windlosen Wolkenbruch. Das Haus stand hoch in den San Bernardino Mountains, umgeben von Zucker- und Höckerkiefern und von gewaltigen Gelbkiefern mit dramatisch aufgerissener Rinde. Die meisten Nachbarn lagen zu dieser Stunde im Bett. Durch die Bäume und den unablässig strömenden Regen hindurch funkelten nur an einer einzigen Stelle Lichter an den Hängen über dem Black Lake.
Das Haus der Corrigans. Vor wenigen Monaten, im Juni, hatte Harry Corrigan seine Frau Calista verloren, mit der er fünfunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war. Während eines Wochenendbesuchs bei ihrer Schwester Nancy in Redondo Beach hatte Calista ihren Wagen an einem Geldautomaten geparkt, um zweihundert Dollar abzuheben. Dabei hatte man sie erst ausgeraubt und ihr dann mitten ins Gesicht geschossen.
Anschließend hatten die beiden Straßenräuber Nancy aus dem Wagen gezerrt, ihr zwei Kugeln in den Leib gejagt und sie achtlos überfahren, als sie in Calistas Wagen flohen. Jetzt, drei Monate nach Calistas Beerdigung, lag Nancy immer noch im Koma.
Während Molly den Schlaf herbeisehnte, versuchte Harry Corrigan jede Nacht, ihm zu entkommen. Seine Träume brächten ihn um den Verstand, sagte er. In den Wogen des Unwetters erinnerten die leuchtenden Fenster von Harrys Haus an die Positionslichter eines fernen Dampfers, der auf dem stürmischen Meer dahinfuhr wie eines jener Geisterschiffe, die von Passagieren und Mannschaft verlassen waren, obwohl kein einziges der Rettungsboote fehlte. Erforschte man solche Schiffe, so sah man, dass in der Mannschaftsmesse das Essen unberührt auf dem Tisch stand, und im Ruderhaus lag auf dem Kartentisch die Lieblingspfeife des Kapitäns, in der noch Tabak glomm.
Mollys Fantasie war nun lebhaft erregt und ließ sich nicht so ohne Weiteres abschalten. Deshalb suchte Molly in Zeiten der Schlaflosigkeit manchmal Zuflucht bei ihren literarischen Eingebungen. Unten im Arbeitszimmer warteten fünf Kapitel ihres neuen Romans, die überarbeitet werden mussten. Vielleicht konnte sie mit einigen Stunden Arbeit am Manuskript ihre Nerven so weit beruhigen, dass ihr endlich der Schlaf kam.
Ihr Bademantel hing gleich neben dem Bett über einer Stuhllehne. Sie schlüpfte hinein und schlang einen Knoten in den Gürtel.
Als sie zur Tür ging, fiel ihr auf, dass sie sich erstaunlich sicher bewegte, obwohl kein Licht brannte. Die Tatsache, dass sie stundenlang wach gelegen und mit an die Dunkelheit angepassten Augen an die Decke gestarrt hatte, konnte das nicht ganz erklären. Das schwache Licht, das durch die Fenster drang und die Finsternis im Zimmer abschwächte, stammte bestimmt nicht aus den Fenstern von Harry Corrigan, der drei Häuser weiter im Süden wohnte. Vorläufig blieb die Quelle rätselhaft. Schwarze Wolken verbargen den Mond. Die Lichter im Garten draußen waren ebenso ausgeschaltet wie die auf der Veranda.
Molly trat wieder ans Fenster und wunderte sich über das leichte Schimmern des Regens. Ein merkwürdiger nasser Glanz lag auf den stachligen Ästen der nächsten Kiefern und ließ sie deutlicher sichtbar werden als sonst.
Eis? Nein. Ein nächtlicher Graupelschauer hätte ein spröderes Geräusch gemacht als das weiche Trommeln dieses herbstlichen Regengusses.
Molly drückte die Fingerspitzen an die Fensterscheibe. Das Glas war kühl, aber nicht kalt. Wenn herabfallender Regen irgendeine künstliche Lichtquelle reflektiert, dann nimmt er manchmal einen silbrigen Schimmer an. Momentan existierte jedoch keine solche Quelle. Vielmehr sah der Regen aus, als leuchtete er selbst schwach, als wäre jeder Tropfen ein winziger, glitzernder Kristall. Die Nacht wurde von unzähligen Ketten aus fluoreszierenden Perlen gleichzeitig verschleiert und enthüllt.
Als Molly aus dem Schlafzimmer in den Flur trat, bleichte das schwache Leuchten der beiden Lichtkuppeln das düstere Schwarz zu dunklem Grau und ließ den Weg zur Treppe sichtbar werden. Das Regenwasser, das an den Plexiglaskuppeln in der Decke herabströmte, war von glitzernden Strudeln durchzogen. Unwillkürlich dachte Molly an Spiralnebel, die sich am Gewölbe eines Planetariums drehen.
Sie stieg die Treppe hinab und ging in dem merkwürdigen Schein, der durch die Fenster drang, in die Küche. In manchen Nächten wehrte sie sich nicht gegen ihre Schlaflosigkeit, sondern kochte sich stattdessen eine Kanne Kaffee und setzte sich damit an ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer. Entsprechend aufgeputscht, schrieb sie schroffe, vom Koffein geschärfte Prosa im realistischen Tonfall polizeilicher Vernehmungsprotokolle. In dieser Nacht hatte sie allerdings vor, irgendwann wieder ins Bett zu gehen. Sie schaltete das Licht im Abzug über dem Herd an, würzte einen Becher Milch mit Vanilleextrakt und Zimt und stellte ihn in die Mikrowelle, um die Milch zu wärmen.
Die Bücherregale im Arbeitszimmer waren mit der Lyrik und Prosa von Mollys Lieblingsautoren gefüllt – Louise Glück, Donald Justice, T. S. Eliot, Carson McCullers, Flannery O’Connor, Charles Dickens. Gelegentlich schöpfte sie aus einem demütigen Gefühl der Verwandtschaft mit diesen Schriftstellern Trost und Inspiration.
Meistens fühlte sie sich allerdings wie eine Hochstaplerin oder sogar wie eine Schwindlerin. Ihre Mutter Thalia hatte gesagt, jede gute Autorin müsse gleichzeitig ihre schärfste Kritikerin sein. Deshalb redigierte Molly ihre Texte nicht nur mit dem Rotstift, sondern auch mit einem metaphorischen Beil. Mit Ersterem hinterließ sie Spuren blutigen Leidens, mit Letzterem machte sie manche Szene zu Kleinholz.
Mehr als einmal hatte Neil ihr beizubringen versucht, dass Thalia nie gesagt oder gemeint habe, echte Kunst könne aus der rohen Sprache nur mithilfe eines Selbstzweifels geschnitzt werden, der so scharf wie ein Meißel war. Für Thalia, behauptete er, sei die Arbeit auch ein Spiel gewesen. Molly wusste, dass sie in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Kultur lebte, in der sich oft die Sahne am Boden absetzte, während die dünnste Milch an die Oberfläche stieg. Angesichts dessen war es eher Aberglaube als Logik, wenn sie glaubte, ihre Hoffnung auf Erfolg beruhe auf dem Aufwand an Leidenschaft, Schmerz und Feinarbeit, den sie ihren Texten widmete. Dennoch blieb sie, was ihr Werk anging, eine echte Puritanerin und hielt es für eine Tugend, sich selbst zu geißeln.
Ohne das Licht anzuknipsen, schaltete sie den Computer ein, setzte sich jedoch nicht sofort an den Schreibtisch. Während der Bildschirm aufleuchtete und die Erkennungsmelodie des Betriebssystems sie zu einer nächtlichen Arbeitssitzung begrüßte, ließ sie sich vom beharrlichen Rhythmus des Regens noch einmal zum Fenster locken. Von dort aus überblickte sie die breite vordere Veranda. Das Geländer und das überstehende Dach umrahmten ein dunkles Panorama aus dicht zusammenstehenden Kiefern, einen seltsam leuchtenden Geisterwald wie aus einem verstörenden Traum.
Gebannt blickte Molly hinaus. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber die Szenerie hatte etwas Beunruhigendes. Für eine Romanautorin hat die Natur viele Lektionen bereit. Eine besteht darin, dass nichts die Fantasie so rasch und so vollständig gefangen nimmt wie ein ungewohntes Schauspiel. (…)
© Heyne Verlag
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
Molly lebte mit der nagenden Angst, sie könne in Vergessenheit geraten wie ihre Mutter. Sie fürchtete den Tod nicht besonders; es war die Vorstellung, zu sterben, bevor sie eine bleibende Leistung vollbracht hatte, die ihr Sorgen machte.
Neben ihr schlief ihr Mann Neil, leise schnarchend und ohne das Unwetter wahrzunehmen. Sobald er den Kopf aufs Kissen gelegt und die Augen geschlossen hatte, schlief er immer innerhalb einer Minute ein. In der Nacht bewegte er sich kaum; nach acht Stunden wachte er in derselben Körperhaltung auf, in der er eingeschlafen war, gestärkt und ausgeruht. Neil behauptete, nur die Unschuldigen erfreuten sich eines so vollkommenen Schlafs.
Molly sprach vom Schlaf eines Faulenzers. In ihren sieben Ehejahren hatten die beiden ihr Leben stets nach unterschiedlichen Uhren gerichtet. Molly hielt sich genauso gern in der Zukunft auf wie in der Gegenwart. Sie malte sich aus, wo sie hinwollte, und plante unablässig den Weg, der sie zu ihren hohen Zielen führen sollte. Ihre starke Triebfeder war fest gespannt. Neil hingegen lebte im Augenblick. Für ihn lag schon die nächste Woche in ferner Zukunft, und er vertraute darauf, dass die Zeit ihn dorthin bringen würde, egal, ob er die Reise nun plante oder nicht.
Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Angesichts ihres gegensätzlichen Wesens war die Liebe, die sie füreinander empfanden, ganz erstaunlich. Sie war das Band, das sie vereinte, das feste Netz, das ihnen die Kraft verlieh, Enttäuschungen und Tragödien zu überstehen. Wenn Molly an Schlaflosigkeit litt, stellte Neils rhythmisches, wenn auch nicht sehr lautes Schnarchen diese Liebe fast so sehr auf die Probe wie ein Seitensprung. Nun übertönte der prasselnde Regen dieses Geräusch, sodass Molly ein neues Ziel für ihre nervöse Ungeduld hatte.
Das Tosen des Unwetters nahm zu, bis Molly sich wie im Innern der grollenden Maschinerie fühlte, die das Universum in Gang hält.
Kurz nach zwei stieg sie aus dem Bett, ohne das Licht anzuknipsen. Am Fenster, das durch das überstehende Dach vor dem Regen geschützt war, blickte sie durch ihr gespenstisches Spiegelbild hindurch in den windlosen Wolkenbruch. Das Haus stand hoch in den San Bernardino Mountains, umgeben von Zucker- und Höckerkiefern und von gewaltigen Gelbkiefern mit dramatisch aufgerissener Rinde. Die meisten Nachbarn lagen zu dieser Stunde im Bett. Durch die Bäume und den unablässig strömenden Regen hindurch funkelten nur an einer einzigen Stelle Lichter an den Hängen über dem Black Lake.
Das Haus der Corrigans. Vor wenigen Monaten, im Juni, hatte Harry Corrigan seine Frau Calista verloren, mit der er fünfunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war. Während eines Wochenendbesuchs bei ihrer Schwester Nancy in Redondo Beach hatte Calista ihren Wagen an einem Geldautomaten geparkt, um zweihundert Dollar abzuheben. Dabei hatte man sie erst ausgeraubt und ihr dann mitten ins Gesicht geschossen.
Anschließend hatten die beiden Straßenräuber Nancy aus dem Wagen gezerrt, ihr zwei Kugeln in den Leib gejagt und sie achtlos überfahren, als sie in Calistas Wagen flohen. Jetzt, drei Monate nach Calistas Beerdigung, lag Nancy immer noch im Koma.
Während Molly den Schlaf herbeisehnte, versuchte Harry Corrigan jede Nacht, ihm zu entkommen. Seine Träume brächten ihn um den Verstand, sagte er. In den Wogen des Unwetters erinnerten die leuchtenden Fenster von Harrys Haus an die Positionslichter eines fernen Dampfers, der auf dem stürmischen Meer dahinfuhr wie eines jener Geisterschiffe, die von Passagieren und Mannschaft verlassen waren, obwohl kein einziges der Rettungsboote fehlte. Erforschte man solche Schiffe, so sah man, dass in der Mannschaftsmesse das Essen unberührt auf dem Tisch stand, und im Ruderhaus lag auf dem Kartentisch die Lieblingspfeife des Kapitäns, in der noch Tabak glomm.
Mollys Fantasie war nun lebhaft erregt und ließ sich nicht so ohne Weiteres abschalten. Deshalb suchte Molly in Zeiten der Schlaflosigkeit manchmal Zuflucht bei ihren literarischen Eingebungen. Unten im Arbeitszimmer warteten fünf Kapitel ihres neuen Romans, die überarbeitet werden mussten. Vielleicht konnte sie mit einigen Stunden Arbeit am Manuskript ihre Nerven so weit beruhigen, dass ihr endlich der Schlaf kam.
Ihr Bademantel hing gleich neben dem Bett über einer Stuhllehne. Sie schlüpfte hinein und schlang einen Knoten in den Gürtel.
Als sie zur Tür ging, fiel ihr auf, dass sie sich erstaunlich sicher bewegte, obwohl kein Licht brannte. Die Tatsache, dass sie stundenlang wach gelegen und mit an die Dunkelheit angepassten Augen an die Decke gestarrt hatte, konnte das nicht ganz erklären. Das schwache Licht, das durch die Fenster drang und die Finsternis im Zimmer abschwächte, stammte bestimmt nicht aus den Fenstern von Harry Corrigan, der drei Häuser weiter im Süden wohnte. Vorläufig blieb die Quelle rätselhaft. Schwarze Wolken verbargen den Mond. Die Lichter im Garten draußen waren ebenso ausgeschaltet wie die auf der Veranda.
Molly trat wieder ans Fenster und wunderte sich über das leichte Schimmern des Regens. Ein merkwürdiger nasser Glanz lag auf den stachligen Ästen der nächsten Kiefern und ließ sie deutlicher sichtbar werden als sonst.
Eis? Nein. Ein nächtlicher Graupelschauer hätte ein spröderes Geräusch gemacht als das weiche Trommeln dieses herbstlichen Regengusses.
Molly drückte die Fingerspitzen an die Fensterscheibe. Das Glas war kühl, aber nicht kalt. Wenn herabfallender Regen irgendeine künstliche Lichtquelle reflektiert, dann nimmt er manchmal einen silbrigen Schimmer an. Momentan existierte jedoch keine solche Quelle. Vielmehr sah der Regen aus, als leuchtete er selbst schwach, als wäre jeder Tropfen ein winziger, glitzernder Kristall. Die Nacht wurde von unzähligen Ketten aus fluoreszierenden Perlen gleichzeitig verschleiert und enthüllt.
Als Molly aus dem Schlafzimmer in den Flur trat, bleichte das schwache Leuchten der beiden Lichtkuppeln das düstere Schwarz zu dunklem Grau und ließ den Weg zur Treppe sichtbar werden. Das Regenwasser, das an den Plexiglaskuppeln in der Decke herabströmte, war von glitzernden Strudeln durchzogen. Unwillkürlich dachte Molly an Spiralnebel, die sich am Gewölbe eines Planetariums drehen.
Sie stieg die Treppe hinab und ging in dem merkwürdigen Schein, der durch die Fenster drang, in die Küche. In manchen Nächten wehrte sie sich nicht gegen ihre Schlaflosigkeit, sondern kochte sich stattdessen eine Kanne Kaffee und setzte sich damit an ihren Schreibtisch im Arbeitszimmer. Entsprechend aufgeputscht, schrieb sie schroffe, vom Koffein geschärfte Prosa im realistischen Tonfall polizeilicher Vernehmungsprotokolle. In dieser Nacht hatte sie allerdings vor, irgendwann wieder ins Bett zu gehen. Sie schaltete das Licht im Abzug über dem Herd an, würzte einen Becher Milch mit Vanilleextrakt und Zimt und stellte ihn in die Mikrowelle, um die Milch zu wärmen.
Die Bücherregale im Arbeitszimmer waren mit der Lyrik und Prosa von Mollys Lieblingsautoren gefüllt – Louise Glück, Donald Justice, T. S. Eliot, Carson McCullers, Flannery O’Connor, Charles Dickens. Gelegentlich schöpfte sie aus einem demütigen Gefühl der Verwandtschaft mit diesen Schriftstellern Trost und Inspiration.
Meistens fühlte sie sich allerdings wie eine Hochstaplerin oder sogar wie eine Schwindlerin. Ihre Mutter Thalia hatte gesagt, jede gute Autorin müsse gleichzeitig ihre schärfste Kritikerin sein. Deshalb redigierte Molly ihre Texte nicht nur mit dem Rotstift, sondern auch mit einem metaphorischen Beil. Mit Ersterem hinterließ sie Spuren blutigen Leidens, mit Letzterem machte sie manche Szene zu Kleinholz.
Mehr als einmal hatte Neil ihr beizubringen versucht, dass Thalia nie gesagt oder gemeint habe, echte Kunst könne aus der rohen Sprache nur mithilfe eines Selbstzweifels geschnitzt werden, der so scharf wie ein Meißel war. Für Thalia, behauptete er, sei die Arbeit auch ein Spiel gewesen. Molly wusste, dass sie in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Kultur lebte, in der sich oft die Sahne am Boden absetzte, während die dünnste Milch an die Oberfläche stieg. Angesichts dessen war es eher Aberglaube als Logik, wenn sie glaubte, ihre Hoffnung auf Erfolg beruhe auf dem Aufwand an Leidenschaft, Schmerz und Feinarbeit, den sie ihren Texten widmete. Dennoch blieb sie, was ihr Werk anging, eine echte Puritanerin und hielt es für eine Tugend, sich selbst zu geißeln.
Ohne das Licht anzuknipsen, schaltete sie den Computer ein, setzte sich jedoch nicht sofort an den Schreibtisch. Während der Bildschirm aufleuchtete und die Erkennungsmelodie des Betriebssystems sie zu einer nächtlichen Arbeitssitzung begrüßte, ließ sie sich vom beharrlichen Rhythmus des Regens noch einmal zum Fenster locken. Von dort aus überblickte sie die breite vordere Veranda. Das Geländer und das überstehende Dach umrahmten ein dunkles Panorama aus dicht zusammenstehenden Kiefern, einen seltsam leuchtenden Geisterwald wie aus einem verstörenden Traum.
Gebannt blickte Molly hinaus. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber die Szenerie hatte etwas Beunruhigendes. Für eine Romanautorin hat die Natur viele Lektionen bereit. Eine besteht darin, dass nichts die Fantasie so rasch und so vollständig gefangen nimmt wie ein ungewohntes Schauspiel. (…)
© Heyne Verlag
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
... weniger
Autoren-Porträt von Dean R. Koontz
Autoren-Porträt von Dean Koontz Dean Koontz ist einer der fleißigsten und erfolgreichsten Verfasser von Thrillern und Horrorromanen. 300 Millionen Exemplare seiner fast 100 Titel wurden weltweit verkauft, die Bücher in 38 Sprachen übersetzt. Und es ist kein Ende abzusehen, wie der Schriftsteller selbst sagt: „Ich schreibe einfach, weil ich nicht aufhören kann zu schreiben“.
Geboren wurde Koontz am 9.7.1945 in Everett, Pennsylvania. Seine Kindheit war geprägt von dem alkoholsüchtigen und gewalttätigen Vater. Der Sohn flüchtete in eine Traumwelt und schrieb schon mit neun Jahren Geschichten, die er an seine Klassenkameraden verkaufte. Mit 20 Jahren bekam er die erste Auszeichnung für eine Kurzgeschichte. 1965 heiratete er seine Jugendliebe Gerda Ann Cerra und zog nach Mechanisburg, Pennsylvania, wo er als Sozialarbeiter in einem Projekt für benachteiligte Kinder wirkte. Danach bekam er eine Anstellung als Englischlehrer an einer Highschool in Harrisburg, wurde allerdings auf Betreiben einiger konservativer Eltern entlassen.
Unterstützt von seiner Frau Gerda wagte Koontz den Schritt, als freier Schriftsteller zu arbeiten. In Deutschland kennt man ihn seit 1972 u. a. durch „Das Höllentor“. Viele seiner Bücher wurden unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht, weil der Autor gern die Erzählstile wechselt und der Verlag die Leser nicht verwirren wollte. Der deutsche Übersetzer Uwe Anton bemerkte dazu: „Der Autor hat einen umfassenden Wortschatz, vielleicht den größten der Autoren, die ich bislang übersetzt habe“.
... mehr
Die zuletzt in Deutschland erschienenen Bücher sind „Die Anbetung“ (2006), „Irrsinn“ (2007) und „Seelenlos“ (2008). Es sind „fantastische Romane“, in denen immer etwas Mystisches in der realistischen Beschreibung der Welt mitschwingt. Die reale Welt des Dean Koontz spielt auch in die Geschichten hinein: sein Engagement für Behinderte und die Liebe zu Hunden. Der Autor schreibt oft von Menschen, die trotz eines Handicaps erfolgreich sind, Lebensmut und Frohsinn verbreiten – für dieses Literaturgenre sehr ungewöhnlich. Das Ehepaar unterstützt die „Gerda & Dean Koontz Stiftung“, die Hunde für Behinderte ausbildet, und lebt mit der Hündin Trixie in einem Traumhaus in Kalifornien.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Dean R. Koontz
- 2007, 399 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kleinschmidt, Bernhard
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453016750
- ISBN-13: 9783453016750
Kommentar zu "Todesregen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Todesregen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Todesregen".
Kommentar verfassen