Todesstoss
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Eve Wilson ist vor Jahren einem Mordanschlag nur knapp entronnen. Mittlerweile hat sie Psychologie studiert und leitet ein Forschungsprojekt. Als sechs ihrer Probanden auf grausame Art ums Leben kommen, kann das nur eines bedeuten. Wird Detective Noah...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Todesstoss “
Eve Wilson ist vor Jahren einem Mordanschlag nur knapp entronnen. Mittlerweile hat sie Psychologie studiert und leitet ein Forschungsprojekt. Als sechs ihrer Probanden auf grausame Art ums Leben kommen, kann das nur eines bedeuten. Wird Detective Noah Webster die schöne und verletzliche Eve schützen können?
Klappentext zu „Todesstoss “
Die Angst der Frauen ist sein Aphrodisiakum. Ihre Qualen seine Ekstase. Ein berauschender Moment! Jetzt endlich ist die Zeit gekommen für sein Meisterstück.Eve Wilson hat die Hölle auf Erden erlebt. Nach einem Mordanschlag ist sie für immer gezeichnet. Dennoch versucht sie, sich eine neue Existenz aufzubauen: Sie studiert Psychologie und ist Leiterin eines Forschungsprojekts. Als sechs ihrer Testpersonen auf grausame Weise ums Leben kommen, hat Eve ein schockierendes Déjà-vu. Steht sie erneut auf der Liste eines psychopathischen Killers? Ein Fall für Detective Noah Webster, der die schöne und verletzliche Eve um jeden Preis schützen will...
Lese-Probe zu „Todesstoss “
Todesstoss von Karen RoseProlog
Minneapolis, Samstag, 13. Februar, 21.10 Uhr
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Sie war gehemmt. Nervös. Eine graue Maus. Mitte vierzig und bieder in ihrem hässlichen, braunen Kostüm, obwohl
sie sich offensichtlich für diese Gelegenheit extra schick gemacht hatte. Die Mühe hätte sie sich sparen können.
Martha Brisbane war genau so, wie er es erwartet hatte. Er beobachtete sie nun schon fast eine geschlagene Stunde. Sobald sich die Tür des überfüllten Cafés öffnete, setzte sie sich erwartungsvoll auf, und wenn ein Mann eintrat, begannen ihre Augen zu leuchten. Aber die Männer gingen jedes Mal an ihr vorüber, ohne sie zu beachten. Und jedes Mal wurde das Leuchten in ihren Augen ein bisschen weniger. Dennoch harrte sie aus und behielt die Tür im Blick. Aber nach einer Stunde war aus der Erwartung in ihrer Miene Verzweiflung geworden. Er fragte sich, wie wenig Selbstwertgefühl ein Mensch haben musste, um so lange vergeblich zu warten. Zu hoffen.
Es gefiel ihm, die Träume solcher Menschen wie Seifenblasen zum Platzen zu bringen.
Schließlich sah sie mit einem Seufzen auf ihre Armbanduhr und griff nach Tasche und Mantel. Eine Stunde, sechs Minuten und zweiundvierzig Sekunden. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.
Hinter der Theke warf ihr der Kellner durch seine Hornbrille einen mitfühlenden Blick zu. »Es schneit. Vielleicht ist er aufgehalten worden.«
Martha senkte resigniert den Kopf. »Ja, wahrscheinlich.«
Der Kellner schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. »Und Sie fahren bitte vorsichtig nach Hause.«
»Mach ich.«
Das war sein Stichwort. Er schlüpfte aus der Seitentür und beobachtete, wie Martha Brisbane, den Mantelkragen gegen den kalten Wind hochgeschlagen, auf ihren alten Ford Escort zustöckelte, die aufgequollenen Füße in Pumps mit fünf Zentimeter hohen Absätzen gezwängt. Sie schaffte es in den Wagen, bevor sich die Schleusen öffneten, und als die Tränen erst einmal strömten, hörte Martha nicht mehr auf. Sie weinte, als sie den Parkplatz verließ, und sie weinte noch, als sie auf den Highway einbog. Es war ein Wunder, dass sie nicht von der Straße abkam und tödlich verunglückte.
Fahr vorsichtig, Martha. Ich möchte, dass du unversehrt zu Hause ankommst.
Als sie vor ihrer Wohnung hielt, waren die Tränen versiegt, und sie schniefte. Ihr Gesicht war verquollen und rot. Sie hievte die schweren Tüten Katzenstreu und Futter, die sie vor ihrer geplatzten Verabredung gekauft hatte, aus dem Kofferraum und stolperte die Treppe zur Haustür hinauf.
Im Foyer des Mietshauses gab es eine Überwachungskamera, aber sie war kaputt. Dafür hatte er schon vor einigen Tagen gesorgt. Er lief voller Vorfreude die Treppen hinauf und öffnete ihr schwungvoll die Tür.
»Sie haben die Hände voll. Darf ich Ihnen helfen?«
Sie schüttelte den Kopf und brachte ein zittriges Lächeln zustande. »Nein, es geht schon. Aber vielen Dank.«
Er erwiderte das Lächeln. »War mir ein Vergnügen.« Und es würde bald ein noch viel größeres sein.
Niedergeschlagen schleppte sie sich die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch und schwankte auf ihren hohen Absätzen unter dem Gewicht der Einkaufstaschen. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung, und daher entging ihr, dass er hinter ihr lauerte.
Martha stellte die Tüten ab und kramte nach ihrem Schlüssel.
Herrgott, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Nun mach schon. Endlich hatte sie aufgeschlossen, hievte die Tüten wieder hoch und drückte die Tür mit der Schulter auf.
Jetzt. Er sprang vor, presste ihr die Hand auf den Mund und zog sie mit einer geschmeidigen Bewegung in die Wohnung. Sie wehrte sich, versuchte, mit den schweren Taschen auszuholen, doch er drückte die Tür zu, lehnte sich dagegen und zog sie mit einem Ruck an sich. Wie durch Zauberhand beendete der Pistolenlauf an ihrer Schläfe ihre Gegenwehr.
»Halt still, Martha«, flüsterte er, »vielleicht lasse ich dich leben.« Nicht, dass das in Frage gekommen wäre. Ganz sicher nicht. »Stell die Taschen ab.«
Sie ließ sie zu Boden fallen.
»Besser«, murmelte er. Sie zitterte nun vor Angst, und genau so mochte er es.
Die Worte, die durch seine Hand gedämpft wurden, klangen wie »Bitte, bitte«. Das sagten seine Opfer immer. Und er mochte höfliche Opfer.
Verächtlich sah er sich um. Ihre Wohnung war ein einziges Chaos, überall lagen Zeitungen, Bücher und Magazine herum. Ihr Schreibtisch mit dem Computer war mit Papieren, benutzten Kaffeebechern und Haftnotizen zugemüllt.
Ihre Kleidung stammte noch aus den Neunzigern, aber der Rechner war brandneu und supermodern. Er hätte es sich denken können. Für ihre Ausflüge ins Land der Fantasie war das Beste gerade gut genug.
Er drückte den Lauf der Waffe fester an ihren Kopf und spürte, wie sie zusammenzuckte. »Ich nehme jetzt die Hand weg. Wenn du schreist, bringe ich dich um.«
Manchmal schrien sie. Immer brachte er sie um.
Er ließ seine Hand von ihrem Mund zu ihrem Hals gleiten. »Tun Sie mir nichts«, wimmerte sie. »Bitte. Ich gebe Ihnen auch alle Wertsachen. Nehmen Sie, was Sie wollen.«
»Oh, das werde ich«, sagte er. »Desiree.«
Sie erstarrte. »Woher wissen Sie das?«
»Weil ich alles über dich weiß, Martha. Womit du wirklich dein Geld verdienst. Was du magst. Und wovor du dich am meisten fürchtest.« Ohne die Pistole von ihrer Schläfe zu nehmen, holte er die Spritze aus seiner Manteltasche. »Ich sehe alles. Ich weiß alles. Bis zum Zeitpunkt deines Todes. Und der wird heute Nacht kommen.«
1. Kapitel
Minneapolis, Sonntag, 21. Februar, 18.35 Uhr
Noah Webster, Detective der Mordkommission, blickte in die weit aufgerissenen, leeren Augen von Martha Brisbane und stieß ein Seufzen aus. Das weiße Atemwölkchen hing einen Moment lang so reglos in der frostigen Luft wie die Frau vor ihm. Tiefe Trauer, kalte Wut und eine klamme Furcht legten sich wie Blei auf seine Brust.
Es hätte ein unspektakulärer Tatort sein sollen. Martha Brisbane hatte sich auf konventionelle Art erhängt. Sie hatte einen Strick über einen Haken an ihrer Schlafzimmerdecke geworfen und eine Schlinge geknüpft. Dann war sie auf einen gepolsterten Schemel gestiegen und hatte ihn umgetreten. Nicht ganz dem üblichen Bild entsprach allerdings, dass sie das Fenster aufgemacht und die Heizung abgedreht hatte. Der Winter Minnesotas hatte die Leiche gut gekühlt. Den Todeszeitpunkt zu bestimmen, würde höllisch schwer werden.
Wie viele Selbstmörder hatte sie sich zu diesem Anlass besonders zurechtgemacht und mit schwerer Hand Make-up aufgetragen. Der Rock ihres roten Kleids mit dem gewagten Ausschnitt war um ihre Beine festgefroren. Die Schuhe, sexy Stilettos mit mindestens zwölf Zentimeter hohen Absätzen, waren ihr von den Füßen gefallen. Einer war umgekippt, der andere steckte aufrecht im Teppich.
Es hätte ein unspektakulärer Tatort sein müssen.
Aber so war es nicht. Und während Noah in die leeren Augen des Opfers blickte, rann ihm ein Schauder über den Rücken, der nicht auf die eisige Kälte in Martha Brisbanes Schlafzimmer zurückzuführen war. Er und seine Kollegen sollten glauben,
dass sie sich umgebracht hatte. Sie sollten sie als eine weitere von diesen typisch deprimierten Singlefrauen mittleren Alters abhaken, den Fall als erledigt betrachten und sich ohne einen weiteren Gedanken anderen Dingen zuwenden.
Das zumindest hatte die Person, die sie hier aufgehängt hatte, beabsichtigt. Und warum auch nicht? Beim letzten Mal hatte es ja auch funktioniert.
»Die Nachbarin hat sie gefunden«, sagte der Officer, der zuerst am Tatort gewesen war. »Die Spurensicherung ist unterwegs, die Gerichtsmedizin auch. Brauchen Sie sonst noch etwas?« Oder können wir die Akte schließen?, lautete die unausgesprochene Frage. Noah riss sich von dem Anblick der Toten los und wandte sich an den Officer. »Das Fenster, Officer Pratt. Stand es offen, als Sie eintrafen?«
Pratt zog die Stirn leicht in Falten. »Ja. Niemand hat etwas angefasst oder verändert.«
»Vielleicht die Nachbarin, die Sie gerufen hat?«, hakte Noah nach. »Kann sie das Fenster geöffnet haben?«
»Sie ist gar nicht in der Wohnung gewesen. Sie hat an die Tür geklopft, aber als niemand antwortete, ist sie außen über die Feuerleiter geklettert, um es am Fenster zu versuchen. Sie hat geglaubt, die Frau würde schlafen, weil sie nachts arbeitet. Aber dann hat sie das hier gesehen und uns gerufen. Wieso?« Weil ich diese Szene schon einmal gesehen habe. Und dieses grausige Déjà-vu drohte ihm die Luft abzuschnüren. Die Leiche, der Hocker, das offene Fenster. Ihr Kleid und die Schuhe, einer gekippt, der andere aufrecht stehend. Und die Augen. Noah hatte sie nicht vergessen können. Die Lider des Opfers waren festgeklebt gewesen, selbst im Tod war es noch dazu verdammt, mit weit aufgerissenen Augen ins Leere zu starren. Das hier würde übel werden. Sehr, sehr übel.
»Tun Sie mir den Gefallen und suchen Sie den Hausmeister«, sagte er. »Ich warte auf die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin.«
Officer Pratt warf ihm einen scharfen Blick zu. »Und auf Detective Coverboy?«
Noah zog innerlich eine Grimasse. Dass Jack Phelps sich noch nicht hatte blicken lassen, war leider nicht ungewöhnlich. Sein Partner war momentan nicht ganz bei der Sache. Höflich ausgedrückt. Tatsächlich war er seit einiger Zeit ausgesprochen unzuverlässig.
»Detective Phelps ist unterwegs«, sagte er zuversichtlicher, als er sich fühlte.
Pratt grunzte, zog aber schließlich auf der Suche nach dem Hausmeister ab, und Noah hatte Mitleid mit Jack. Selbst diejenigen Officer, die ihn nie kennengelernt hatten, maßten sich ein Urteil über ihn an. Und das nur wegen dieses Zeitschriftenartikels. In einem Bericht über die Mordkommission waren sie als Supermänner porträtiert worden. Aber Jacks Konterfei hatte das Cover geziert, so dass sich der Groll und der Neid der anderen auf ihn konzentrierte.
Andererseits hatte Jack seinen Ruf als oberflächlicher Partylöwe und Frauenheld nicht erst, seit die Zeitschrift vor drei Wochen erschienen war, und das war traurig, denn wenn Jack sich auf das Wesentliche konzentrierte, war er ein verdammt guter Cop. Noahs Partner hatte eine sehr rasche Auffassungsgabe und erkannte häufig Zusammenhänge, die anderen entgingen.
Wieder blickte Noah in die leeren Augen von Martha Brisbane. Sie würden jeden scharfen Verstand brauchen, den sie kriegen konnten.
Sein Handy summte. Jack. Aber es war sein Cousin Brock, von dessen Esstisch Noah fortgerufen worden war. Brock und seine Frau Trina waren ebenfalls Cops und nahmen es ihm nicht übel. In einer Polizistenfamilie waren Sonntage, in denen alle bis zum Schluss beim Essen sitzen bleiben konnten, eine Seltenheit.
Noah sparte sich die Begrüßung. »Bin beschäftigt.«
»Dein Partner auch«, gab Brock zurück. Brock war nach dem Essen noch in Sal's Bar gegangen, um sich das Spiel anzusehen. Was bedeutete, dass auch Jack im Sal's war. Verdammt.
»Ich habe ihn zweimal angerufen«, brachte Noah wütend hervor. Beide Anrufe waren auf der Mailbox gelandet.
»Er ist mit seiner neuesten Eroberung hier. Soll ich mit ihm reden?«
Noah sah ein letztes Mal in die leblosen Augen von Martha Brisbane und spürte Zorn in sich aufkochen. Es war nicht das erste Mal, dass Jack trotz Bereitschaftsdienst anderweitig beschäftigt war, aber, bei Gott, es würde das letzte Mal sein. »Nein. Ich hole Officer Pratt her, dann komme ich selbst.«
Sonntag, 21. Februar, 18.55 Uhr
»Komm schon, Eve, es ist doch nur ein kleiner Psychotest aus einer Zeitschrift.«
Eve Wilson warf ihrer Freundin über die Theke hinweg einen genervten Blick zu und schüttelte den Kopf, bevor sie sich wieder dem Zapfhahn zuwandte. »An der Uni muss ich mich ständig mit irgendwelchen Testfragen beschäftigen.«
»Aber diese hier sollen Spaß machen«, sagte Callie. »Das kannst du doch nicht mit dem Forschungsprojekt vergleichen, das dich ja fast auffrisst. Mach dir keine Sorgen. Du schaffst doch sowieso immer alles mit Bestnote. Komm - nur eine Frage.«
Wenn es nur die Sorge um eine gute Note wäre. Noch vor wenigen Monaten hatte sich für Eve tatsächlich noch alles darum gedreht. Vor wenigen Monaten waren die Teilnehmer an ihrem Forschungsprojekt namen- und gesichtslose Zahlen auf dem Papier gewesen. Sie stellte den vollen Bierkrug ab und hielt den nächsten unter den Hahn. Es war ziemlich viel los heute. Sie hoffte, sich durch die Arbeit ablenken zu können, aber die Sorgen hingen unterschwellig in ihrem Bewusstsein fest.
Noch vor wenigen Monaten wäre Eve niemals auf den Gedanken gekommen, die Regeln der Universität zu brechen oder gegen ihre eigenen Prinzipien zu verstoßen. Beides hatte sie nun aber getan. Und seitdem waren die Teilnehmer nicht mehr die anonymen Testpersonen, die sie hätten sein sollen. Nun waren Desiree, Gwenivere und die anderen echte Menschen, die in echten Schwierigkeiten steckten.
Desiree war seit über einer Woche verschwunden. Ich muss etwas unternehmen. Aber was? Sie hätte gar nicht wissen dürfen, dass Desiree existierte, noch weniger, dass sie im echten Leben Martha Brisbane hieß. Den Testpersonen war absolute Anonymität zugesichert worden.
Aber Eve wusste es, weil sie die Regeln gebrochen hatte. Und das wird mich teuer zu stehen kommen.
Auf der anderen Seite der Theke räusperte Callie sich theatralisch. Offenbar hatte sie Eves Schweigen als Zustimmung aufgefasst. »Frage eins. Sind Sie je mit einem Mann bei einem romantischen Candle-Light-...«
»Ich habe zu tun«, unterbrach Eve. In den nächsten Stunden konnte sie nichts wegen Martha oder den anderen Probanden unternehmen, aber Callies Test war überhaupt keine willkommene Ablenkung. ›Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?‹ Ich hasse solche Tests. Was natürlich der Grund war, warum Callie immer wieder davon anfing. »Hör zu, Cal, ich habe deine Schicht übernommen, damit du heute ausgehen kannst.« Callie zuckte mit den bloßen Schultern. Sie trug ein sexy Cocktailkleid. »Netter Versuch. Aber du vergisst, dass ich schon jemanden hatte, der für mich einspringen wollte. Du solltest eigentlich lernen, aber du bist hier und schiebst es vor dir her.«
Sie hatte recht. Eve nahm je drei Krüge gleichzeitig hoch und
biss die Zähne gegen den Schmerz in ihrer rechten Hand zusammen. Aber da sie bis vergangenes Jahr mit dieser Hand nicht einmal eine einzige Tasse hatte halten können, war der Schmerz ein geringer Preis für das Plus an Beweglichkeit. Und Unabhängigkeit.
Sie reichte die Krüge einem Stammgast hinüber und verzog den funktionierenden Teil ihres Mundes zu dem Drei-Punkte- Lächeln, das nach jahrelanger Übung nun normal wirkte. »Normal« stand auf ihrer Liste der erstrebenswerten Eigenschaften ganz oben neben Beweglichkeit und Unabhängigkeit. »Sie geben heute Abend eine Runde nach der anderen aus, Jeff«, sagte sie und streckte heimlich die Finger, »trinken aber selbst keinen Tropfen.« Das war eher unüblich. »Haben Sie eine Wette verloren?«
Officer Jeff Betz war ein großer Kerl mit einem sympathischen Grinsen. »Sagen Sie bloß meiner Frau nichts. Sie bringt mich sonst um.«
Eve nickte wissend. »Niemals. Barfrauen schweigen wie ein Grab. Das gehört zur Berufsehre.«
Er begegnete dankbar ihrem Blick. »Ich weiß«, sagte er, dann wandte er sich an Callie. »Verabredet?«
»Und ob.« Callie nickte. Sie hatte keine Probleme mit den Blicken, die sie unverhohlen musterten, seit sie in dem knappen Kleid und halsbrecherisch hohen Pumps ins Sal's hineingeschwebt war. Falls sie ihre nächste Schicht in diesem Aufzug antrat, würde sie deutlich mehr Trinkgeld einstreichen. Nicht, dass Callie so etwas nötig gehabt hätte.
Callie finanzierte ihr Jurastudium hauptsächlich mit einem Job im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Seit kurzem verdiente sie sich allerdings am Wochenende ein paar Extradollar im Sal's hinzu, und ihr Trinkgeldglas war stets bis zum Rand gefüllt. Würde sie sich in einem solchen Kleid und mit diesem Ausschnitt hinter die Theke stellen, brächte sie das Fass zum Überlaufen. Sozusagen.
Blieb zu hoffen, dass Callies Kleid ihren Chef nicht auf dumme Ideen brachte, dachte Eve finster. So etwas würde ich nie und nimmer anziehen, Trinkgeld hin oder her.
Eve unterdrückte den Neid. Callie war weder affektiert noch arrogant, sondern einfach nur eine schöne Frau, die sich in ihrer Haut wohl fühlte. Was Eve schon lange nicht mehr von sich behaupten konnte.
Sie zwang sich zu einem lockeren Tonfall. »Da will sie jemand ins Chez León ausführen.«
Jeff stieß einen Pfiff aus. »Wow, großzügig.« Dann runzelte er die Stirn. »Kennen wir den Burschen?«
»Wir« bezog sich auf jeden einzelnen Cop, der regelmäßig im Sal's einkehrte - und sowohl Callie als auch Eve wussten das. Achtzig Prozent von Sals Stammkunden waren Polizisten, weshalb die Bar einer der sichersten Orte in dieser Stadt war. Sal, der ebenfalls viele Jahre im Dienst gewesen war, gehörte zu ihnen und damit auch alle, die auf seiner Gehaltsliste standen. Es war, als hätte man gut hundert große Brüder. Ziemlich nett, wie Eve fand.
»Ich glaube nicht«, meinte Callie. Ihre Verabredung war ein Verteidiger, und dieser Berufsstand war bei Polizisten nicht gerade beliebt. Auch Callie hatte Vorbehalte, was genau der Grund dafür war, warum sie sich mit ihm verabredet hatte. Callie stellte ihre eigene Weltsicht stets in Frage, und dafür bewunderte Eve sie. »Aber er lässt sich Zeit, daher versuche ich gerade, mit Eve einen kleinen Test zu machen.«
»Ist das nicht diese MSP-Postille mit Jack Phelps auf dem Cover?«, fragte Jeff und verzog die Lippen.
MSP war das Frauenmagazin, das Klatsch, Kultur und kommunale Belange für den Großraumbereich Minneapolis- St. Paul, die »Twin Cities«, abdeckte. Ein kürzlich erschienener Artikel über die Abteilung Mordaufklärung hatte aus vielen von Sals Stammgästen über Nacht Berühmtheiten gemacht. Der Artikel war gut geschrieben, hatte jedoch die Detectives als edle Ritter dargestellt, was den Cops unendlich peinlich war.
Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2009 unter dem Titel
»I Can See You« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Book
Group USA, Inc., New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe Mai 2011
Copyright © 2009 by Karen Rose Hafer
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise -
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing,
New York, NY, USA. All rights reserved.
Redaktion: Antje Nissen
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Gettyimages/Vilhjalmur Ingi Vilhjalmsson
Gettyimages/Image Source
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-66357-8
Sie war gehemmt. Nervös. Eine graue Maus. Mitte vierzig und bieder in ihrem hässlichen, braunen Kostüm, obwohl
sie sich offensichtlich für diese Gelegenheit extra schick gemacht hatte. Die Mühe hätte sie sich sparen können.
Martha Brisbane war genau so, wie er es erwartet hatte. Er beobachtete sie nun schon fast eine geschlagene Stunde. Sobald sich die Tür des überfüllten Cafés öffnete, setzte sie sich erwartungsvoll auf, und wenn ein Mann eintrat, begannen ihre Augen zu leuchten. Aber die Männer gingen jedes Mal an ihr vorüber, ohne sie zu beachten. Und jedes Mal wurde das Leuchten in ihren Augen ein bisschen weniger. Dennoch harrte sie aus und behielt die Tür im Blick. Aber nach einer Stunde war aus der Erwartung in ihrer Miene Verzweiflung geworden. Er fragte sich, wie wenig Selbstwertgefühl ein Mensch haben musste, um so lange vergeblich zu warten. Zu hoffen.
Es gefiel ihm, die Träume solcher Menschen wie Seifenblasen zum Platzen zu bringen.
Schließlich sah sie mit einem Seufzen auf ihre Armbanduhr und griff nach Tasche und Mantel. Eine Stunde, sechs Minuten und zweiundvierzig Sekunden. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.
Hinter der Theke warf ihr der Kellner durch seine Hornbrille einen mitfühlenden Blick zu. »Es schneit. Vielleicht ist er aufgehalten worden.«
Martha senkte resigniert den Kopf. »Ja, wahrscheinlich.«
Der Kellner schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. »Und Sie fahren bitte vorsichtig nach Hause.«
»Mach ich.«
Das war sein Stichwort. Er schlüpfte aus der Seitentür und beobachtete, wie Martha Brisbane, den Mantelkragen gegen den kalten Wind hochgeschlagen, auf ihren alten Ford Escort zustöckelte, die aufgequollenen Füße in Pumps mit fünf Zentimeter hohen Absätzen gezwängt. Sie schaffte es in den Wagen, bevor sich die Schleusen öffneten, und als die Tränen erst einmal strömten, hörte Martha nicht mehr auf. Sie weinte, als sie den Parkplatz verließ, und sie weinte noch, als sie auf den Highway einbog. Es war ein Wunder, dass sie nicht von der Straße abkam und tödlich verunglückte.
Fahr vorsichtig, Martha. Ich möchte, dass du unversehrt zu Hause ankommst.
Als sie vor ihrer Wohnung hielt, waren die Tränen versiegt, und sie schniefte. Ihr Gesicht war verquollen und rot. Sie hievte die schweren Tüten Katzenstreu und Futter, die sie vor ihrer geplatzten Verabredung gekauft hatte, aus dem Kofferraum und stolperte die Treppe zur Haustür hinauf.
Im Foyer des Mietshauses gab es eine Überwachungskamera, aber sie war kaputt. Dafür hatte er schon vor einigen Tagen gesorgt. Er lief voller Vorfreude die Treppen hinauf und öffnete ihr schwungvoll die Tür.
»Sie haben die Hände voll. Darf ich Ihnen helfen?«
Sie schüttelte den Kopf und brachte ein zittriges Lächeln zustande. »Nein, es geht schon. Aber vielen Dank.«
Er erwiderte das Lächeln. »War mir ein Vergnügen.« Und es würde bald ein noch viel größeres sein.
Niedergeschlagen schleppte sie sich die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch und schwankte auf ihren hohen Absätzen unter dem Gewicht der Einkaufstaschen. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung, und daher entging ihr, dass er hinter ihr lauerte.
Martha stellte die Tüten ab und kramte nach ihrem Schlüssel.
Herrgott, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Nun mach schon. Endlich hatte sie aufgeschlossen, hievte die Tüten wieder hoch und drückte die Tür mit der Schulter auf.
Jetzt. Er sprang vor, presste ihr die Hand auf den Mund und zog sie mit einer geschmeidigen Bewegung in die Wohnung. Sie wehrte sich, versuchte, mit den schweren Taschen auszuholen, doch er drückte die Tür zu, lehnte sich dagegen und zog sie mit einem Ruck an sich. Wie durch Zauberhand beendete der Pistolenlauf an ihrer Schläfe ihre Gegenwehr.
»Halt still, Martha«, flüsterte er, »vielleicht lasse ich dich leben.« Nicht, dass das in Frage gekommen wäre. Ganz sicher nicht. »Stell die Taschen ab.«
Sie ließ sie zu Boden fallen.
»Besser«, murmelte er. Sie zitterte nun vor Angst, und genau so mochte er es.
Die Worte, die durch seine Hand gedämpft wurden, klangen wie »Bitte, bitte«. Das sagten seine Opfer immer. Und er mochte höfliche Opfer.
Verächtlich sah er sich um. Ihre Wohnung war ein einziges Chaos, überall lagen Zeitungen, Bücher und Magazine herum. Ihr Schreibtisch mit dem Computer war mit Papieren, benutzten Kaffeebechern und Haftnotizen zugemüllt.
Ihre Kleidung stammte noch aus den Neunzigern, aber der Rechner war brandneu und supermodern. Er hätte es sich denken können. Für ihre Ausflüge ins Land der Fantasie war das Beste gerade gut genug.
Er drückte den Lauf der Waffe fester an ihren Kopf und spürte, wie sie zusammenzuckte. »Ich nehme jetzt die Hand weg. Wenn du schreist, bringe ich dich um.«
Manchmal schrien sie. Immer brachte er sie um.
Er ließ seine Hand von ihrem Mund zu ihrem Hals gleiten. »Tun Sie mir nichts«, wimmerte sie. »Bitte. Ich gebe Ihnen auch alle Wertsachen. Nehmen Sie, was Sie wollen.«
»Oh, das werde ich«, sagte er. »Desiree.«
Sie erstarrte. »Woher wissen Sie das?«
»Weil ich alles über dich weiß, Martha. Womit du wirklich dein Geld verdienst. Was du magst. Und wovor du dich am meisten fürchtest.« Ohne die Pistole von ihrer Schläfe zu nehmen, holte er die Spritze aus seiner Manteltasche. »Ich sehe alles. Ich weiß alles. Bis zum Zeitpunkt deines Todes. Und der wird heute Nacht kommen.«
1. Kapitel
Minneapolis, Sonntag, 21. Februar, 18.35 Uhr
Noah Webster, Detective der Mordkommission, blickte in die weit aufgerissenen, leeren Augen von Martha Brisbane und stieß ein Seufzen aus. Das weiße Atemwölkchen hing einen Moment lang so reglos in der frostigen Luft wie die Frau vor ihm. Tiefe Trauer, kalte Wut und eine klamme Furcht legten sich wie Blei auf seine Brust.
Es hätte ein unspektakulärer Tatort sein sollen. Martha Brisbane hatte sich auf konventionelle Art erhängt. Sie hatte einen Strick über einen Haken an ihrer Schlafzimmerdecke geworfen und eine Schlinge geknüpft. Dann war sie auf einen gepolsterten Schemel gestiegen und hatte ihn umgetreten. Nicht ganz dem üblichen Bild entsprach allerdings, dass sie das Fenster aufgemacht und die Heizung abgedreht hatte. Der Winter Minnesotas hatte die Leiche gut gekühlt. Den Todeszeitpunkt zu bestimmen, würde höllisch schwer werden.
Wie viele Selbstmörder hatte sie sich zu diesem Anlass besonders zurechtgemacht und mit schwerer Hand Make-up aufgetragen. Der Rock ihres roten Kleids mit dem gewagten Ausschnitt war um ihre Beine festgefroren. Die Schuhe, sexy Stilettos mit mindestens zwölf Zentimeter hohen Absätzen, waren ihr von den Füßen gefallen. Einer war umgekippt, der andere steckte aufrecht im Teppich.
Es hätte ein unspektakulärer Tatort sein müssen.
Aber so war es nicht. Und während Noah in die leeren Augen des Opfers blickte, rann ihm ein Schauder über den Rücken, der nicht auf die eisige Kälte in Martha Brisbanes Schlafzimmer zurückzuführen war. Er und seine Kollegen sollten glauben,
dass sie sich umgebracht hatte. Sie sollten sie als eine weitere von diesen typisch deprimierten Singlefrauen mittleren Alters abhaken, den Fall als erledigt betrachten und sich ohne einen weiteren Gedanken anderen Dingen zuwenden.
Das zumindest hatte die Person, die sie hier aufgehängt hatte, beabsichtigt. Und warum auch nicht? Beim letzten Mal hatte es ja auch funktioniert.
»Die Nachbarin hat sie gefunden«, sagte der Officer, der zuerst am Tatort gewesen war. »Die Spurensicherung ist unterwegs, die Gerichtsmedizin auch. Brauchen Sie sonst noch etwas?« Oder können wir die Akte schließen?, lautete die unausgesprochene Frage. Noah riss sich von dem Anblick der Toten los und wandte sich an den Officer. »Das Fenster, Officer Pratt. Stand es offen, als Sie eintrafen?«
Pratt zog die Stirn leicht in Falten. »Ja. Niemand hat etwas angefasst oder verändert.«
»Vielleicht die Nachbarin, die Sie gerufen hat?«, hakte Noah nach. »Kann sie das Fenster geöffnet haben?«
»Sie ist gar nicht in der Wohnung gewesen. Sie hat an die Tür geklopft, aber als niemand antwortete, ist sie außen über die Feuerleiter geklettert, um es am Fenster zu versuchen. Sie hat geglaubt, die Frau würde schlafen, weil sie nachts arbeitet. Aber dann hat sie das hier gesehen und uns gerufen. Wieso?« Weil ich diese Szene schon einmal gesehen habe. Und dieses grausige Déjà-vu drohte ihm die Luft abzuschnüren. Die Leiche, der Hocker, das offene Fenster. Ihr Kleid und die Schuhe, einer gekippt, der andere aufrecht stehend. Und die Augen. Noah hatte sie nicht vergessen können. Die Lider des Opfers waren festgeklebt gewesen, selbst im Tod war es noch dazu verdammt, mit weit aufgerissenen Augen ins Leere zu starren. Das hier würde übel werden. Sehr, sehr übel.
»Tun Sie mir den Gefallen und suchen Sie den Hausmeister«, sagte er. »Ich warte auf die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin.«
Officer Pratt warf ihm einen scharfen Blick zu. »Und auf Detective Coverboy?«
Noah zog innerlich eine Grimasse. Dass Jack Phelps sich noch nicht hatte blicken lassen, war leider nicht ungewöhnlich. Sein Partner war momentan nicht ganz bei der Sache. Höflich ausgedrückt. Tatsächlich war er seit einiger Zeit ausgesprochen unzuverlässig.
»Detective Phelps ist unterwegs«, sagte er zuversichtlicher, als er sich fühlte.
Pratt grunzte, zog aber schließlich auf der Suche nach dem Hausmeister ab, und Noah hatte Mitleid mit Jack. Selbst diejenigen Officer, die ihn nie kennengelernt hatten, maßten sich ein Urteil über ihn an. Und das nur wegen dieses Zeitschriftenartikels. In einem Bericht über die Mordkommission waren sie als Supermänner porträtiert worden. Aber Jacks Konterfei hatte das Cover geziert, so dass sich der Groll und der Neid der anderen auf ihn konzentrierte.
Andererseits hatte Jack seinen Ruf als oberflächlicher Partylöwe und Frauenheld nicht erst, seit die Zeitschrift vor drei Wochen erschienen war, und das war traurig, denn wenn Jack sich auf das Wesentliche konzentrierte, war er ein verdammt guter Cop. Noahs Partner hatte eine sehr rasche Auffassungsgabe und erkannte häufig Zusammenhänge, die anderen entgingen.
Wieder blickte Noah in die leeren Augen von Martha Brisbane. Sie würden jeden scharfen Verstand brauchen, den sie kriegen konnten.
Sein Handy summte. Jack. Aber es war sein Cousin Brock, von dessen Esstisch Noah fortgerufen worden war. Brock und seine Frau Trina waren ebenfalls Cops und nahmen es ihm nicht übel. In einer Polizistenfamilie waren Sonntage, in denen alle bis zum Schluss beim Essen sitzen bleiben konnten, eine Seltenheit.
Noah sparte sich die Begrüßung. »Bin beschäftigt.«
»Dein Partner auch«, gab Brock zurück. Brock war nach dem Essen noch in Sal's Bar gegangen, um sich das Spiel anzusehen. Was bedeutete, dass auch Jack im Sal's war. Verdammt.
»Ich habe ihn zweimal angerufen«, brachte Noah wütend hervor. Beide Anrufe waren auf der Mailbox gelandet.
»Er ist mit seiner neuesten Eroberung hier. Soll ich mit ihm reden?«
Noah sah ein letztes Mal in die leblosen Augen von Martha Brisbane und spürte Zorn in sich aufkochen. Es war nicht das erste Mal, dass Jack trotz Bereitschaftsdienst anderweitig beschäftigt war, aber, bei Gott, es würde das letzte Mal sein. »Nein. Ich hole Officer Pratt her, dann komme ich selbst.«
Sonntag, 21. Februar, 18.55 Uhr
»Komm schon, Eve, es ist doch nur ein kleiner Psychotest aus einer Zeitschrift.«
Eve Wilson warf ihrer Freundin über die Theke hinweg einen genervten Blick zu und schüttelte den Kopf, bevor sie sich wieder dem Zapfhahn zuwandte. »An der Uni muss ich mich ständig mit irgendwelchen Testfragen beschäftigen.«
»Aber diese hier sollen Spaß machen«, sagte Callie. »Das kannst du doch nicht mit dem Forschungsprojekt vergleichen, das dich ja fast auffrisst. Mach dir keine Sorgen. Du schaffst doch sowieso immer alles mit Bestnote. Komm - nur eine Frage.«
Wenn es nur die Sorge um eine gute Note wäre. Noch vor wenigen Monaten hatte sich für Eve tatsächlich noch alles darum gedreht. Vor wenigen Monaten waren die Teilnehmer an ihrem Forschungsprojekt namen- und gesichtslose Zahlen auf dem Papier gewesen. Sie stellte den vollen Bierkrug ab und hielt den nächsten unter den Hahn. Es war ziemlich viel los heute. Sie hoffte, sich durch die Arbeit ablenken zu können, aber die Sorgen hingen unterschwellig in ihrem Bewusstsein fest.
Noch vor wenigen Monaten wäre Eve niemals auf den Gedanken gekommen, die Regeln der Universität zu brechen oder gegen ihre eigenen Prinzipien zu verstoßen. Beides hatte sie nun aber getan. Und seitdem waren die Teilnehmer nicht mehr die anonymen Testpersonen, die sie hätten sein sollen. Nun waren Desiree, Gwenivere und die anderen echte Menschen, die in echten Schwierigkeiten steckten.
Desiree war seit über einer Woche verschwunden. Ich muss etwas unternehmen. Aber was? Sie hätte gar nicht wissen dürfen, dass Desiree existierte, noch weniger, dass sie im echten Leben Martha Brisbane hieß. Den Testpersonen war absolute Anonymität zugesichert worden.
Aber Eve wusste es, weil sie die Regeln gebrochen hatte. Und das wird mich teuer zu stehen kommen.
Auf der anderen Seite der Theke räusperte Callie sich theatralisch. Offenbar hatte sie Eves Schweigen als Zustimmung aufgefasst. »Frage eins. Sind Sie je mit einem Mann bei einem romantischen Candle-Light-...«
»Ich habe zu tun«, unterbrach Eve. In den nächsten Stunden konnte sie nichts wegen Martha oder den anderen Probanden unternehmen, aber Callies Test war überhaupt keine willkommene Ablenkung. ›Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?‹ Ich hasse solche Tests. Was natürlich der Grund war, warum Callie immer wieder davon anfing. »Hör zu, Cal, ich habe deine Schicht übernommen, damit du heute ausgehen kannst.« Callie zuckte mit den bloßen Schultern. Sie trug ein sexy Cocktailkleid. »Netter Versuch. Aber du vergisst, dass ich schon jemanden hatte, der für mich einspringen wollte. Du solltest eigentlich lernen, aber du bist hier und schiebst es vor dir her.«
Sie hatte recht. Eve nahm je drei Krüge gleichzeitig hoch und
biss die Zähne gegen den Schmerz in ihrer rechten Hand zusammen. Aber da sie bis vergangenes Jahr mit dieser Hand nicht einmal eine einzige Tasse hatte halten können, war der Schmerz ein geringer Preis für das Plus an Beweglichkeit. Und Unabhängigkeit.
Sie reichte die Krüge einem Stammgast hinüber und verzog den funktionierenden Teil ihres Mundes zu dem Drei-Punkte- Lächeln, das nach jahrelanger Übung nun normal wirkte. »Normal« stand auf ihrer Liste der erstrebenswerten Eigenschaften ganz oben neben Beweglichkeit und Unabhängigkeit. »Sie geben heute Abend eine Runde nach der anderen aus, Jeff«, sagte sie und streckte heimlich die Finger, »trinken aber selbst keinen Tropfen.« Das war eher unüblich. »Haben Sie eine Wette verloren?«
Officer Jeff Betz war ein großer Kerl mit einem sympathischen Grinsen. »Sagen Sie bloß meiner Frau nichts. Sie bringt mich sonst um.«
Eve nickte wissend. »Niemals. Barfrauen schweigen wie ein Grab. Das gehört zur Berufsehre.«
Er begegnete dankbar ihrem Blick. »Ich weiß«, sagte er, dann wandte er sich an Callie. »Verabredet?«
»Und ob.« Callie nickte. Sie hatte keine Probleme mit den Blicken, die sie unverhohlen musterten, seit sie in dem knappen Kleid und halsbrecherisch hohen Pumps ins Sal's hineingeschwebt war. Falls sie ihre nächste Schicht in diesem Aufzug antrat, würde sie deutlich mehr Trinkgeld einstreichen. Nicht, dass Callie so etwas nötig gehabt hätte.
Callie finanzierte ihr Jurastudium hauptsächlich mit einem Job im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Seit kurzem verdiente sie sich allerdings am Wochenende ein paar Extradollar im Sal's hinzu, und ihr Trinkgeldglas war stets bis zum Rand gefüllt. Würde sie sich in einem solchen Kleid und mit diesem Ausschnitt hinter die Theke stellen, brächte sie das Fass zum Überlaufen. Sozusagen.
Blieb zu hoffen, dass Callies Kleid ihren Chef nicht auf dumme Ideen brachte, dachte Eve finster. So etwas würde ich nie und nimmer anziehen, Trinkgeld hin oder her.
Eve unterdrückte den Neid. Callie war weder affektiert noch arrogant, sondern einfach nur eine schöne Frau, die sich in ihrer Haut wohl fühlte. Was Eve schon lange nicht mehr von sich behaupten konnte.
Sie zwang sich zu einem lockeren Tonfall. »Da will sie jemand ins Chez León ausführen.«
Jeff stieß einen Pfiff aus. »Wow, großzügig.« Dann runzelte er die Stirn. »Kennen wir den Burschen?«
»Wir« bezog sich auf jeden einzelnen Cop, der regelmäßig im Sal's einkehrte - und sowohl Callie als auch Eve wussten das. Achtzig Prozent von Sals Stammkunden waren Polizisten, weshalb die Bar einer der sichersten Orte in dieser Stadt war. Sal, der ebenfalls viele Jahre im Dienst gewesen war, gehörte zu ihnen und damit auch alle, die auf seiner Gehaltsliste standen. Es war, als hätte man gut hundert große Brüder. Ziemlich nett, wie Eve fand.
»Ich glaube nicht«, meinte Callie. Ihre Verabredung war ein Verteidiger, und dieser Berufsstand war bei Polizisten nicht gerade beliebt. Auch Callie hatte Vorbehalte, was genau der Grund dafür war, warum sie sich mit ihm verabredet hatte. Callie stellte ihre eigene Weltsicht stets in Frage, und dafür bewunderte Eve sie. »Aber er lässt sich Zeit, daher versuche ich gerade, mit Eve einen kleinen Test zu machen.«
»Ist das nicht diese MSP-Postille mit Jack Phelps auf dem Cover?«, fragte Jeff und verzog die Lippen.
MSP war das Frauenmagazin, das Klatsch, Kultur und kommunale Belange für den Großraumbereich Minneapolis- St. Paul, die »Twin Cities«, abdeckte. Ein kürzlich erschienener Artikel über die Abteilung Mordaufklärung hatte aus vielen von Sals Stammgästen über Nacht Berühmtheiten gemacht. Der Artikel war gut geschrieben, hatte jedoch die Detectives als edle Ritter dargestellt, was den Cops unendlich peinlich war.
Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2009 unter dem Titel
»I Can See You« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Book
Group USA, Inc., New York.
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Deutsche Erstausgabe Mai 2011
Copyright © 2009 by Karen Rose Hafer
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe bei Knaur Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise -
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing,
New York, NY, USA. All rights reserved.
Redaktion: Antje Nissen
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Gettyimages/Vilhjalmur Ingi Vilhjalmsson
Gettyimages/Image Source
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-66357-8
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Autoren-Porträt von Karen Rose
Karen Rose studierte an der Universität von Maryland, Washington, D. C. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. Wenn Karen Rose nicht gerade Thriller schreibt oder auf Weltreise ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida.Kerstin Winter ist seit 1992 als freie Übersetzerin tätig. Die umfangreiche Liste ihrer Arbeiten reicht von Krimis über Romane, Essays, Biografien bis zu Kinderbüchern. Geboren wurde Kerstin Winter 1964 in Hamburg. In Köln, wo sie heute noch lebt, studierte sie nach dem Abitur Romanistik. Es folgten ein Volontariat und eine vierjährige Tätigkeit als Redakteurin bei einem Verlag, bevor sie den Schritt in die freie Arbeit ging.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Rose
- 2011, 650 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Winter, Kerstin
- Übersetzer: Kerstin Winter
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426663570
- ISBN-13: 9783426663578
Rezension zu „Todesstoss “
"Super Thriller für Frauen mit Nerven aus Stahl. Der Puls jagt hoch von der ersten bis zur letzten Seite." Petra - Buch Special, 01.05.2012
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