Vatermord / Tony Hill & Carol Jordan Bd.6
Ein neuer Fall für Carol Jordan und Tony Hill. Thriller. Deutsche Erstausgabe
Das Ermittlerduo Carol Jordan und Tony Hill jagt einen Serienkiller. Seine Opfer: 14-jährige Teenager. Seine Vorgehensweise: Er kontaktiert sie über eine Internetplattform.
Plötzlich wird Tony von seiner eigenen Vergangenheit...
Plötzlich wird Tony von seiner eigenen Vergangenheit...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vatermord / Tony Hill & Carol Jordan Bd.6 “
Das Ermittlerduo Carol Jordan und Tony Hill jagt einen Serienkiller. Seine Opfer: 14-jährige Teenager. Seine Vorgehensweise: Er kontaktiert sie über eine Internetplattform.
Plötzlich wird Tony von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Kann er den Killer jetzt noch aufhalten?
Plötzlich wird Tony von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Kann er den Killer jetzt noch aufhalten?
Klappentext zu „Vatermord / Tony Hill & Carol Jordan Bd.6 “
Bestseller-Autorin Val McDermid lässt uns in diesem Thriller erneut erschaudern. Detective Chief Inspector Carol Jordan und Profiler Tony Hill müssen einen Serienkiller stoppen, der es auf Teenager abgesehen hat.Als im englischen Worcester die verstümmelte Leiche der 14-jährigen Jennifer gefunden wird, ist schnell klar, dass hier ein extrem gefährlicher Psychopath seine Spur hinterlassen hat. Der Verdacht bestätigt sich, als andernorts weitere Teenager ermordet werden. Ihre Gemeinsamkeit: Alle sind sie vierzehn Jahre alt, immer hat der Serienkiller auf einer Internetplattform Kontakt zu ihnen aufgenommen und gemeinsame Interessen vorgetäuscht - bevor er sie schließlich ins Verderben lockte. Bis Profiler Tony Hill den Zusammenhang zwischen den Teenager-Morden aufdecken kann, ist es schon fast zu spät.
Eigentlich ist Tony in Worcester, um den Spuren seines verstorbenen und ihm zu Lebzeiten unbekannten Vaters zu folgen, der ihm unerwartet sein Vermögen hinterlassen hat. Doch als die örtliche Polizei die Hilfe des versierten Profilers benötigt, macht er sich auf die gefährliche Suche des Serienkillers - gemeinsam mit Carol Jordan, die sich gegen ihren neuen Chef durchsetzen muss, der Tony aus dem Team geworfen hat.
Dieser nervenaufreibende Thriller hält einige Überraschungen bereit, denn Tony wird unerwartet von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt und der eiskalte Serienkiller findet immer neue Wege, weitere Teenager anzulocken.
Unglaublich gut und spannend zu lesen: Absolut empfehlenswert für Leute, die besonders Psychothriller mögen. Krimi-Couch.de
Fans und NeuleserInnen von McDermid werden an diesem Thriller vieles faszinierend finden. Lovelybooks.de
Weitere Bände der Thriller-Serie um Carol Jordan und Profiler Tony Hill:
Bd. 1: Das Lied der Sirenen
Bd. 2: Schlussblende
Bd. 3: Ein kalter Strom
Bd. 4: Tödliche Worte
Bd. 5: Schleichendes Gift
Bd. 6: Vatermord
Bd. 7: Vergeltung
Bd. 8: Eiszeit
Bd. 9: Schwarzes Netz
Bd. 10: Rachgier
Bd. 11:
Als die verstümmelte Leiche der 14-jährigen -Jennifer gefunden wird, ist DCI Carol Jordan sofort klar, dass hier ein extrem gefährlicher Psychopath seine Spur hinterlassen hat. Ihr Verdacht bestätigt sich, weitere Teenager werden ermordet. Ihre Gemeinsamkeit: Alle sind sie vierzehn Jahre alt, immer hat der Killer auf einer Internetplattform Kontakt zu ihnen aufgenommen und vorgetäuscht, genau ihre Interessen zu teilen - bevor er sie schließlich ins Verderben lockte.
Carol setzt erneut auf Tony Hill und dessen außergewöhnliche Fähigkeiten als Profiler. Doch Carols neuer Chef will davon nichts wissen, und als Tony überraschend von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird, scheint niemand mehr den Killer aufhalten zu können ...
Carol setzt erneut auf Tony Hill und dessen außergewöhnliche Fähigkeiten als Profiler. Doch Carols neuer Chef will davon nichts wissen, und als Tony überraschend von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird, scheint niemand mehr den Killer aufhalten zu können ...
Lese-Probe zu „Vatermord / Tony Hill & Carol Jordan Bd.6 “
Vatermord von Val McDermid... mehr
Am Ende fließt dann doch immer Blut. Über manches Unrecht kann man hinwegkommen. Es abhaken als eine weitere Lektion, die man gelernt hat, und als Gefahr, die es in Zukunft zu umgehen gilt. Aber bestimmte Arten von Verrat verlangen nach einer Reaktion. Und manchmal gibt es keine andere als Blutvergießen.
Nicht dass man am Töten selbst Spaß hätte. Das wäre ja pervers. Und du bist nicht pervers. Es gibt einen Grund für das, was du tust. Es geht darum, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Du musst so handeln, um dich besser fühlen zu können.
Die Leute reden viel davon, dass man wieder von vorn anfangen müsste. Aber nicht viele tun es tatsächlich. Sie meinen, dass ein Umzug, eine andere Arbeit oder eine neue Beziehung alles verändern würden. Aber du verstehst, was es wirklich bedeutet. Deine Liste abzuarbeiten, das war ein Akt der Reinigung. Es ist wie ins Kloster zu gehen, alle weltlichen Besitztümer zu verbrennen und zuzuschauen, wie alles, das einen an die Erde gebunden hat, in Flammen aufgeht. Erst wenn diese Geschichte sich in Feuer und Rauch verwandelt hat, kannst du richtig von vorn anfangen mit ganz neuen Hoffnungen und Zielen. Dann kannst du das annehmen, was möglich ist und was hinter dir liegt.
Dies ist deine perfekt ausgewogene Rache. Der Verrat wiegt den Verrat auf, Leben gegen Leben, Verlust gegen Verlust. Wenn der letzte Atemzug ausgehaucht ist und du dich mit Messern und Skalpellen an deine Arbeit machen kannst, ist es wie eine Befreiung. Und wenn das Blut herausrinnt, stellst du fest, dass du endlich genau das Richtige tust, die einzig logische Handlung, die dir unter diesen Umständen bleibt. Natürlich werden manche das anders sehen.
Manche sagen vielleicht, dass NIEMAND es so sehen wird wie du. Aber du weißt, andere werden dich dafür loben, dass du diese Richtung eingeschlagen hast, sollten sie jemals herausfinden, was du getan hast, was tu tust. Menschen, deren Träume zerstört worden sind wie deine. Sie würden es absolut verstehen. Und sie würden wünschen, sie hätten die Mittel, so etwas zu tun.
Wenn diese Sache bekannt wird, könntest du eine Welle auslösen.
1
Die gewölbte Decke des Raumes wirkte wie ein riesiger Verstärker. Ein Jazz-Quartett spielte dezent gegen das
Stimmengewirr an, konnte aber gegen dessen Lautstärke nicht gewinnen. Die Luft war geschwängert von einem Gemisch aus Gerüchen: Essensdüfte, Alkohol, Schweiß, Testosteron, Rasierwasser und die verbrauchte Atemluft von etwa hundert Personen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte der Zigarettenqualm die Ausdünstungen der menschlichen Körper überdeckt, doch wie die Wirte seit dem Rauchverbot entdeckt hatten, sind Menschenmassen viel weniger wohlriechend, als sie glauben.
Es gab nur wenige Frauen im Saal, und die meisten trugen Tabletts mit Häppchen und Getränken. Wie es in diesem Stadium jeder Feier aus Anlass einer Pensionierung bei der Polizei gewesen wäre, hatte man die Krawatten gelockert, und die Gesichter waren gerötet. Aber die Hände, die sonst vielleicht verstohlen hier und da hin gewandert wären, hielten in der Gegenwart so vieler höherer Polizeibeamter still. Nicht zum ersten - und wahrscheinlich auch nicht zum letzten - Mal fragte sich Dr. Tony Hill, wie es ihn um Himmels willen hierher hatte verschlagen können.
Die Frau, die durch die Menge auf ihn zukam, war wohl die
einzige Person im Saal, mit der er aus freien Stücken Zeit hätte verbringen wollen. Mord hatte sie einander näher gebracht, hatte das gegenseitige Einvernehmen geschaffen und Respekt für den Intellekt und die Integrität des anderen entstehen lassen. Zudem hatte Detective Chief Inspector Carol Jordan seit Jahren als einzige Kollegin die Grenze zu dem Bereich überschritten, den er wohl Freundschaft nennen musste. Manchmal gestand er sich ein, dass Freundschaft nicht das richtige Wort war für das Band, das sie trotz ihrer komplizierten Vergangenheit zusammenhielt. Aber selbst nach jahrelanger Erfahrung als klinischer Psychologe glaubte er, keine angemessene Definition dafür finden zu können.
Schon gar nicht jetzt und hier an einem Ort, an dem er nicht sein wollte.
Carol schaffte es viel besser als er, Dingen, die sie nicht tun wollte, aus dem Weg zu gehen. Außerdem gelang es ihr auch sehr gut, zu ermitteln, welche das waren, und sich entsprechend zu verhalten. Ihre Anwesenheit an diesem Abend war allerdings freiwillig. Für sie hatte das einen Stellenwert, der Tony fernlag.
Klar, John Brandon war der erste Polizist in höherer Stellung, der ihn ernst genommen, ihn aus der Welt der Therapie und Forschungsarbeit herausgeholt und ihm einen Platz als Profi- ler in vorderster Front der Polizeiarbeit gegeben hatte. Aber hätte er es nicht getan, dann hätte es eben jemand anders gemacht. Tony wusste Brandons Einsatz für den Wert des Pro¬filing zu schätzen. Aber ihre Beziehung war nie über das Berufliche hinausgegangen. Er hätte sich vor diesem Abend gedrückt, wenn Carol nicht betont hätte, dass die Kollegen es ziemlich seltsam finden würden, wenn er nicht käme. Tony wusste, dass er seltsam war. Aber es war ihm doch lieber, wenn den Leuten nicht so klar war, wie seltsam. Also war er hier, mit seinem dünnen Lächeln auf dem Gesicht, wann immer jemand ihn ansah.
Carol dagegen in ihrem glänzenden dunkelblauen Kleid, das von den Schultern über die Brüste bis zu den Hüften und Fesseln genau die richtigen Kurven betonte, sah aus, als sei sie geradezu dazu geboren, sich gewandt in der Menge zu bewegen. Ihr blondes Haar sah heller aus, allerdings wusste Tony, dass der Grund dafür nicht das kunstvolle Wirken eines Friseurs war, sondern dass sich immer mehr Silbersträhnen unter das Gold mischten. Während sie durch den Raum schritt, belebte sich ihr Gesicht bei den Begrüßungen, sie lächelte, die Augenbrauen hoben sich, und die Augen strahlten.
Schließlich gelangte sie bei ihm an, reichte ihm ein Glas Wein und nahm einen Schluck von ihrem. »Du trinkst Rotwein?«, fragte Tony.
»Der weiße ist ungenießbar.«
Er nippte vorsichtig daran. »Und der hier ist besser?« »Verlass dich ruhig auf mich.«
Da sie viel mehr trank als er, war er versucht, das zu tun. »Sollen Reden gehalten werden?«
»Der stellvertretende Polizeipräsident will ein paar Worte sagen.«
»Ein paar? Das wär ja das erste Mal.«
»Stimmt. Und wem das nicht reicht, für den haben sie den ehrbaren Supercop ausgegraben, der John seine goldene Uhr überreichen soll.«
Tony wich mit nur teilweise gespieltem Entsetzen zurück. »Sir Derek Armthwaite? Ist der nicht gestorben?«
»Leider nicht. Da er der Polizeipräsident war, der John auf der Karriereleiter nach oben befördert hat, fanden sie, es wäre doch nett, ihn einzuladen.«
Tony schauderte. »Erinnere mich, niemals zuzulassen, dass deine Kollegen meinen Ausstand organisieren.«
»Du bekommst eh keinen, du gehörst nicht zu uns«, entgegnete Carol, lächelte aber dabei, um ihre Worte etwas abzumildern. »Du bekommst nur mich, und ich lade dich dann zum besten Curry in Bradfield ein.«
Bevor Tony antworten konnte, übertönte das Dröhnen der Lautsprecheranlage die Unterhaltung, der stellvertretende Polizeipräsident von Bradfield wurde angekündigt. Carol trank aus und verschwand in der Menge, um sich ein weiteres Glas Wein zu holen und, so nahm Tony an, um nebenbei ihre Kontakte ein bisschen zu pflegen. Sie war jetzt seit einigen Jahren Chief Inspector und leitete in letzter Zeit ihre eigene hochspezialisierte ständige Sonderkommission. Er wusste, dass sie hin- und hergerissen war zwischen dem praktischen Einsatz ihrer Fähigkeiten und dem Wunsch, in eine Stellung aufzusteigen, wo sie wirklichen Einfluss hatte. Tony fragte sich, ob ihr diese Entscheidung abgenommen würde, da John Brandon nun weg vom Fenster war.
Seine Grundsätze besagten, dass jeder Mensch gleich viel wert sei, aber Detective Inspector Stuart Patterson hatte sich beim Umgang mit den Toten nie an diesen Grundsatz halten können. Irgendein verlotterter Junkie, der bei einer sinnlosen Hinterhofprügelei erstochen wurde, würde ihn niemals so rühren wie dieses tote, verstümmelte Kind. Er trat in dem weißen Zelt zur Seite, das den Fundort vor dem stetig trommelnden nächtlichen Regen schützte. Er ließ die Kriminaltechniker weitermachen und versuchte zu verdrängen, wie sehr dieses tote Mädchen, das kaum das Teenageralter erreicht hatte, ihn an seine eigene Tochter erinnerte.
Das Mädchen, das hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, hätte eine von Lilys Klassenkameradinnen sein können, hätte sie nicht eine andere Schuluniform getragen. Trotz des trockenen Laubs, das durch Wind und Regen auf der durchsichtigen Plastiktüte über Gesicht und Haar festklebte, sah sie sauber und behütet aus. Ihre Mutter hatte sie kurz nach neun als vermisst gemeldet, was hieß, dass es um eine Tochter ging, die in einem strengeren Elternhaus lebte als Lily, und um eine Familie, deren Zeitplan geregelter war. Theoretisch war es möglich, dass dies hier nicht Jennifer Maidment war, da die Leiche gefunden worden war, bevor die Vermisstenanzeige einging. Und sie hatten hier vor Ort noch kein Foto des vermissten Mädchens. Aber DI Patterson hielt es für unwahrscheinlich, dass im Stadtzentrum an einem Abend zwei Mädchen von der gleichen Schule verschwanden. Höchstens, wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Tod der beiden gäbe. Dieser Tage konnte man ja nichts ausschließen.
Die Plane an der Zeltöffnung flog heftig zur Seite, und ein Schrank von einem Mann schob sich herein. Seine Schultern waren so breit, dass er den größten Schutzanzug, den die Polizei von West Mercia für ihre Mitarbeiter zur Verfügung stellte, nicht zubekam. Von seinem kahlen Schädel, der die Farbe starken Tees hatte, rannen Regentropfen in sein Gesicht, das aussah, als hätte er seine rauhe Jugendzeit größtenteils im Boxring zugebracht. Er hielt ein Blatt Papier in einer durchsichtigen Plastikhülle.
»Ich bin hier drüben, Alvin«, rief Patterson, und seine Stimme verriet seine starke Betroffenheit.
Detective Sergeant Alvin Ambrose ging zu seinem Chef hinüber. »Jennifer Maidment«, sagte er und hielt die Hülle mit dem Computerausdruck eines Fotos hoch. »Ist sie das?« Patterson betrachtete eingehend das ovale Gesicht, das von langem braunem Haar eingerahmt war, und nickte traurig. »Das ist sie.«
»Sie ist hübsch«, sagte Ambrose.
»Jetzt nicht mehr.« Der Mörder hatte ihr mit dem Leben auch die Schönheit genommen. Obgleich er sich immer vor voreiligen Schlüssen hütete, glaubte Patterson, man könne davon ausgehen, dass die aufgedunsene Haut, die geschwollene Zunge, die hervorquellenden Augen und die fest haftende Plastiktüte auf einen Tod durch Ersticken hinwiesen. »Die Tüte war um ihren Hals herum festgeklebt. Schrecklich, so zu sterben.«
»Ihre Bewegung muss irgendwie eingeschränkt gewesen sein«, sagte Ambrose. »Sonst hätte sie versucht, sich zu befreien.«
»Kein Anzeichen, dass sie gefesselt war. Wir werden mehr wissen, wenn sie in der Pathologie untersucht wurde.« »Wurde sie sexuell missbraucht?«
Patterson konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Er hat sie mit einem Messer traktiert. Zuerst haben wir es gar nicht gesehen. Ihr Rock hat es verdeckt. Dann schaute der Arzt es sich an.« Er schloss die Augen und gab dem Drang nach einem schweigenden Stoßgebet nach. »Der Scheißkerl hat sie verstümmelt. Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt einen sexuellen Übergriff nennen würde. Eher eine komplette Vernichtung der Sexualorgane.« Er wandte sich ab und schritt zum Ausgang. Beim Vergleich von Jennifer Maidments Leiche mit anderen, deren Tod er untersucht hatte, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe.«
Draußen vor dem Zelt herrschte scheußliches Wetter. Aus dem stürmischen Regenschauer vom Nachmittag war ein richtiges Unwetter geworden. Die Einwohner von Worcester hatten gelernt, in solchen Nächten das Ansteigen des Severn zu fürchten. Sie erwarteten Hochwasser, nicht Mord.
Die Leiche war auf dem Seitenstreifen einer Parkbucht gefunden worden, die ein paar Jahre zuvor bei der Begradigung der Straße angelegt worden war. Die alte, enge Kurve hatte eine neue Funktion bekommen als Haltepunkt für Lkw-Fahrer, die von der Imbissbude angezogen wurden, an der es tagsüber kleine Mahlzeiten gab. Während der Nacht diente er als inoffizieller Lkw-Parkplatz; gewöhnlich standen vier oder fünf Fahrzeuge da, deren Fahrern es nichts ausmachte, in der Kabine zu übernachten, um ein paar Pfund zu sparen. Der holländische Trucker, der zum Pinkeln aus seiner Kabine gestiegen war, hatte etwas ganz anderes gefunden als das, was er erwartet hatte.
Die Parkbucht war von der Straße durch dichtes Gestrüpp aus großen Bäumen und undurchdringlichem Unterholz getrennt. Der Wind heulte in den Bäumen, und Ambrose und Patterson wurden durchnässt, als sie zu ihrem Volvo zurückliefen. Kaum saßen sie im Wagen, zählte Patterson schon an den Fingern ab, was zu tun war. »Nimm Kontakt mit der Verkehrspolizei auf. Sie haben an dieser Strecke zwei Kameras mit Kennzeichenerfassung stehen, ich weiß aber nicht genau, wo. Wir brauchen eine komplette Überprüfung für jedes Fahrzeug, das heute Abend diese Strecke gefahren ist. Ruf bei der psychologischen Opferbetreuung an. Einer ihrer Leute soll mich am Haus der Familie treffen. Setz dich mit dem Schulleiter in Verbindung. Ich will wissen, wer ihre Freunde sind, welche Lehrer sie hatte, und wir vereinbaren mit ihnen Termine für Befragungen gleich morgen früh. Wer immer den Bericht nach Eingang der Meldung geschrieben hat, soll mich per E-Mail über die Einzelheiten unterrichten. Ruf die Pressestelle an und informiere sie. Wir setzen uns morgen früh mit den Journalisten zusammen, zehn Uhr. Okay? Hab ich noch was vergessen?«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich drum. Ich kann einen von der Verkehrspolizei bitten, mich mit zurück zu nehmen. Wirst du persönlich bei der Familie vorbeischauen?«
Patterson seufzte. »Ich freu mich nicht drauf. Aber sie haben ihre Tochter verloren. Sie haben es verdient, dass ein ranghöherer Beamter dabei ist. Ich seh dich dann auf dem Revier.«
Ambrose stieg aus und ging auf die Polizeiwagen zu, die vor der Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes standen. Sein Chef schaute ihm nach. Nichts schien Ambrose aus der Ruhe zu bringen. Er nahm die Last auf seine breiten Schultern und stapfte weiter, egal was ihr Fall ihnen brachte. Was immer der Preis für diese offenbare Seelenruhe sein mochte, Patterson hätte ihn heute Abend bereitwillig gezahlt.
2
Carol sah, dass John Brandon in Fahrt kam. Sein trauriges Hundegesicht wirkte angeregter, als sie es jemals während der Arbeitszeit gesehen hatte, und an seiner Seite war seine geliebte Maggie mit ihrem milden Lächeln, das Carol oft am Esstisch der Familie beobachtet hatte, wenn Brandon sich in ein Thema verbissen hatte wie ein Terrier in ein Kaninchen. Sie tauschte ihr leeres Glas gegen ein volles von einem Tablett, das vorbeigetragen wurde, und kehrte wieder zu der Ecke zurück, in der sie Tony zurückgelassen hatte. Sein Gesichtsausdruck hätte besser zu einer Beerdigung gepasst, allerdings konnte sie kaum behaupten, dass sie etwas anderes erwartet hatte. Sie wusste, dass er solche Veranstaltungen als reine Zeitverschwendung betrachtete, und schätzte, dass es für ihn auch wirklich so war. Aber ihr war klar, dass eine solche Feier für sie selbst eine ganz andere Bedeutung hatte.
Das Wesentliche bei moderner Polizeiarbeit war nicht, dass man Kriminelle schnappte. Vielmehr ging es um Politik und Beziehungen, genau wie in jeder großen Behörde. Früher einmal wäre ein Abend wie der heutige ein Vorwand gewesen für ein hemmungsloses allgemeines Besäufnis inklusive Stripperinnen. Heutzutage ging es dagegen um Kontakte, Verbindungen und Gespräche, die man im Büro nicht führen konnte. Sie mochte diese Dinge auch nicht mehr als Tony, hatte aber ein gewisses Talent dafür. Wenn dies nötig war, um ihr ihren Platz in der inoffiziellen Hierarchie zu sichern, würde sie es mit Fassung tragen.
Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie innehalten und sich umdrehen. Detective Constable Paula McIntyre von ihrer Gruppe flüsterte ihr ins Ohr: »Er ist gerade eingetroffen.«
Carol brauchte nicht zu fragen, wer »er« war. John Brandons Nachfolger war dem Namen und seinem Ruf nach bekannt, aber weil er aus einem ganz anderen Landesteil kam, hatte in Bradfield niemand viel Information aus erster Hand über ihn. Nicht viele Polizeibeamte ließen sich von Devon & Cornwall nach Bradfield versetzen. Warum sollte man ein relativ beschauliches Leben in einer hübschen Touristengegend eintauschen gegen die aufreibende Arbeit der Polizei in einer postindustriellen Stadt im Norden mit einer Kriminalitätsrate (inklusive Schusswaffen und Messerstechereien), die einem die Tränen in die Augen trieb? Es sei denn, man war ehrgeizig und hielt es für karrierefördernd, den viertgrößten Polizeibezirk des Landes zu leiten.
Carol konnte sich vorstellen, dass das Wort »Herausforderung« mehr als einmal in James Blakes Vorstellungsgespräch gefallen war, bevor er zum Chief Constable, zum Polizeipräsidenten, ernannt wurde. Sie ließ den Blick schweifen. »Wo denn?«
Paula sah ihr über die Schulter. »Er hat gerade eben dem stellvertretenden Leiter der Dezernats Schwerverbrechen etwas vorgeschwafelt, aber jetzt ist er weitergezogen. Tut mir leid, Chef n.«
»Macht nichts. Danke für den Tipp.« Carol hob ihr Glas, prostete ihr zu und drängte sich dann weiter in Richtung Tony. Bis sie sich durch die Menge gearbeitet hatte, war ihr Glas schon wieder leer. »Ich brauche noch ein Glas Wein«, sagte sie und lehnte sich neben ihm gegen die Wand.
»Das ist schon dein viertes«, stellte er fest, aber nicht in unfreundlichem Ton.
»Wer zählt da schon mit?«
»Ich, offensichtlich.«
»Du bist mein Freund, nicht mein Psychiater.« Carols Tonfall war eisig.
»Eben deshalb sage ich dir ja, dass du vielleicht zu viel trinkst. Als dein Therapeut wäre ich kaum so kritisch. Ich würde es dir überlassen.«
»Hör mal zu, Tony. Mir geht's gut. In der Zeit nach ... Ich gebe zu, dass es mal eine Zeit gab, als ich zu viel getrunken habe. Aber ich habe es wieder unter Kontrolle. Alles klar?« Tony breitete beschwichtigend die Hände aus. »Es ist deine Sache.«
Carol seufzte tief und stellte ihr leeres Glas neben seines auf den Tisch. Er konnte einen zum Wahnsinn treiben, wenn er so vernünftig war. Aber sie war schließlich nicht die Einzige, die es nicht mochte, wenn man ihre Macken ans Tageslicht zog. Soll er doch mal sehen, wie ihm das gefällt. Sie lächelte liebenswürdig. »Sollen wir mal rausgehen, ein bisschen Luft schöpfen?«
Er lächelte etwas ratlos. »Okay, wenn du willst.«
»Ich habe ein paar Sachen über deinen Vater herausgefunden. Gehen wir doch irgendwohin, wo wir richtig reden können.« Sie beobachtete, wie sein Lächeln verschwand und er reumütig das Gesicht verzog. Wer Tonys Vater war, hatte sich erst nach dessen Tod herausgestellt, weil er beschlossen hatte, dem Sohn, den er nie gekannt hatte, sein Anwesen zu hinterlassen. Carol wusste ganz genau, dass Tony in Bezug auf Edmund Arthur Blythe bestenfalls zwiespältige Gefühle hatte. Er mochte es genauso wenig, über seinen erst kürzlich entdeckten Vater zu sprechen, wie sie selbst Lust zu Diskussionen über ihre angebliche Alkoholabhängigkeit hatte.
...
Übersetzung: Doris Styron
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei
Knaur Taschenbuch Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Am Ende fließt dann doch immer Blut. Über manches Unrecht kann man hinwegkommen. Es abhaken als eine weitere Lektion, die man gelernt hat, und als Gefahr, die es in Zukunft zu umgehen gilt. Aber bestimmte Arten von Verrat verlangen nach einer Reaktion. Und manchmal gibt es keine andere als Blutvergießen.
Nicht dass man am Töten selbst Spaß hätte. Das wäre ja pervers. Und du bist nicht pervers. Es gibt einen Grund für das, was du tust. Es geht darum, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Du musst so handeln, um dich besser fühlen zu können.
Die Leute reden viel davon, dass man wieder von vorn anfangen müsste. Aber nicht viele tun es tatsächlich. Sie meinen, dass ein Umzug, eine andere Arbeit oder eine neue Beziehung alles verändern würden. Aber du verstehst, was es wirklich bedeutet. Deine Liste abzuarbeiten, das war ein Akt der Reinigung. Es ist wie ins Kloster zu gehen, alle weltlichen Besitztümer zu verbrennen und zuzuschauen, wie alles, das einen an die Erde gebunden hat, in Flammen aufgeht. Erst wenn diese Geschichte sich in Feuer und Rauch verwandelt hat, kannst du richtig von vorn anfangen mit ganz neuen Hoffnungen und Zielen. Dann kannst du das annehmen, was möglich ist und was hinter dir liegt.
Dies ist deine perfekt ausgewogene Rache. Der Verrat wiegt den Verrat auf, Leben gegen Leben, Verlust gegen Verlust. Wenn der letzte Atemzug ausgehaucht ist und du dich mit Messern und Skalpellen an deine Arbeit machen kannst, ist es wie eine Befreiung. Und wenn das Blut herausrinnt, stellst du fest, dass du endlich genau das Richtige tust, die einzig logische Handlung, die dir unter diesen Umständen bleibt. Natürlich werden manche das anders sehen.
Manche sagen vielleicht, dass NIEMAND es so sehen wird wie du. Aber du weißt, andere werden dich dafür loben, dass du diese Richtung eingeschlagen hast, sollten sie jemals herausfinden, was du getan hast, was tu tust. Menschen, deren Träume zerstört worden sind wie deine. Sie würden es absolut verstehen. Und sie würden wünschen, sie hätten die Mittel, so etwas zu tun.
Wenn diese Sache bekannt wird, könntest du eine Welle auslösen.
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Die gewölbte Decke des Raumes wirkte wie ein riesiger Verstärker. Ein Jazz-Quartett spielte dezent gegen das
Stimmengewirr an, konnte aber gegen dessen Lautstärke nicht gewinnen. Die Luft war geschwängert von einem Gemisch aus Gerüchen: Essensdüfte, Alkohol, Schweiß, Testosteron, Rasierwasser und die verbrauchte Atemluft von etwa hundert Personen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte der Zigarettenqualm die Ausdünstungen der menschlichen Körper überdeckt, doch wie die Wirte seit dem Rauchverbot entdeckt hatten, sind Menschenmassen viel weniger wohlriechend, als sie glauben.
Es gab nur wenige Frauen im Saal, und die meisten trugen Tabletts mit Häppchen und Getränken. Wie es in diesem Stadium jeder Feier aus Anlass einer Pensionierung bei der Polizei gewesen wäre, hatte man die Krawatten gelockert, und die Gesichter waren gerötet. Aber die Hände, die sonst vielleicht verstohlen hier und da hin gewandert wären, hielten in der Gegenwart so vieler höherer Polizeibeamter still. Nicht zum ersten - und wahrscheinlich auch nicht zum letzten - Mal fragte sich Dr. Tony Hill, wie es ihn um Himmels willen hierher hatte verschlagen können.
Die Frau, die durch die Menge auf ihn zukam, war wohl die
einzige Person im Saal, mit der er aus freien Stücken Zeit hätte verbringen wollen. Mord hatte sie einander näher gebracht, hatte das gegenseitige Einvernehmen geschaffen und Respekt für den Intellekt und die Integrität des anderen entstehen lassen. Zudem hatte Detective Chief Inspector Carol Jordan seit Jahren als einzige Kollegin die Grenze zu dem Bereich überschritten, den er wohl Freundschaft nennen musste. Manchmal gestand er sich ein, dass Freundschaft nicht das richtige Wort war für das Band, das sie trotz ihrer komplizierten Vergangenheit zusammenhielt. Aber selbst nach jahrelanger Erfahrung als klinischer Psychologe glaubte er, keine angemessene Definition dafür finden zu können.
Schon gar nicht jetzt und hier an einem Ort, an dem er nicht sein wollte.
Carol schaffte es viel besser als er, Dingen, die sie nicht tun wollte, aus dem Weg zu gehen. Außerdem gelang es ihr auch sehr gut, zu ermitteln, welche das waren, und sich entsprechend zu verhalten. Ihre Anwesenheit an diesem Abend war allerdings freiwillig. Für sie hatte das einen Stellenwert, der Tony fernlag.
Klar, John Brandon war der erste Polizist in höherer Stellung, der ihn ernst genommen, ihn aus der Welt der Therapie und Forschungsarbeit herausgeholt und ihm einen Platz als Profi- ler in vorderster Front der Polizeiarbeit gegeben hatte. Aber hätte er es nicht getan, dann hätte es eben jemand anders gemacht. Tony wusste Brandons Einsatz für den Wert des Pro¬filing zu schätzen. Aber ihre Beziehung war nie über das Berufliche hinausgegangen. Er hätte sich vor diesem Abend gedrückt, wenn Carol nicht betont hätte, dass die Kollegen es ziemlich seltsam finden würden, wenn er nicht käme. Tony wusste, dass er seltsam war. Aber es war ihm doch lieber, wenn den Leuten nicht so klar war, wie seltsam. Also war er hier, mit seinem dünnen Lächeln auf dem Gesicht, wann immer jemand ihn ansah.
Carol dagegen in ihrem glänzenden dunkelblauen Kleid, das von den Schultern über die Brüste bis zu den Hüften und Fesseln genau die richtigen Kurven betonte, sah aus, als sei sie geradezu dazu geboren, sich gewandt in der Menge zu bewegen. Ihr blondes Haar sah heller aus, allerdings wusste Tony, dass der Grund dafür nicht das kunstvolle Wirken eines Friseurs war, sondern dass sich immer mehr Silbersträhnen unter das Gold mischten. Während sie durch den Raum schritt, belebte sich ihr Gesicht bei den Begrüßungen, sie lächelte, die Augenbrauen hoben sich, und die Augen strahlten.
Schließlich gelangte sie bei ihm an, reichte ihm ein Glas Wein und nahm einen Schluck von ihrem. »Du trinkst Rotwein?«, fragte Tony.
»Der weiße ist ungenießbar.«
Er nippte vorsichtig daran. »Und der hier ist besser?« »Verlass dich ruhig auf mich.«
Da sie viel mehr trank als er, war er versucht, das zu tun. »Sollen Reden gehalten werden?«
»Der stellvertretende Polizeipräsident will ein paar Worte sagen.«
»Ein paar? Das wär ja das erste Mal.«
»Stimmt. Und wem das nicht reicht, für den haben sie den ehrbaren Supercop ausgegraben, der John seine goldene Uhr überreichen soll.«
Tony wich mit nur teilweise gespieltem Entsetzen zurück. »Sir Derek Armthwaite? Ist der nicht gestorben?«
»Leider nicht. Da er der Polizeipräsident war, der John auf der Karriereleiter nach oben befördert hat, fanden sie, es wäre doch nett, ihn einzuladen.«
Tony schauderte. »Erinnere mich, niemals zuzulassen, dass deine Kollegen meinen Ausstand organisieren.«
»Du bekommst eh keinen, du gehörst nicht zu uns«, entgegnete Carol, lächelte aber dabei, um ihre Worte etwas abzumildern. »Du bekommst nur mich, und ich lade dich dann zum besten Curry in Bradfield ein.«
Bevor Tony antworten konnte, übertönte das Dröhnen der Lautsprecheranlage die Unterhaltung, der stellvertretende Polizeipräsident von Bradfield wurde angekündigt. Carol trank aus und verschwand in der Menge, um sich ein weiteres Glas Wein zu holen und, so nahm Tony an, um nebenbei ihre Kontakte ein bisschen zu pflegen. Sie war jetzt seit einigen Jahren Chief Inspector und leitete in letzter Zeit ihre eigene hochspezialisierte ständige Sonderkommission. Er wusste, dass sie hin- und hergerissen war zwischen dem praktischen Einsatz ihrer Fähigkeiten und dem Wunsch, in eine Stellung aufzusteigen, wo sie wirklichen Einfluss hatte. Tony fragte sich, ob ihr diese Entscheidung abgenommen würde, da John Brandon nun weg vom Fenster war.
Seine Grundsätze besagten, dass jeder Mensch gleich viel wert sei, aber Detective Inspector Stuart Patterson hatte sich beim Umgang mit den Toten nie an diesen Grundsatz halten können. Irgendein verlotterter Junkie, der bei einer sinnlosen Hinterhofprügelei erstochen wurde, würde ihn niemals so rühren wie dieses tote, verstümmelte Kind. Er trat in dem weißen Zelt zur Seite, das den Fundort vor dem stetig trommelnden nächtlichen Regen schützte. Er ließ die Kriminaltechniker weitermachen und versuchte zu verdrängen, wie sehr dieses tote Mädchen, das kaum das Teenageralter erreicht hatte, ihn an seine eigene Tochter erinnerte.
Das Mädchen, das hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, hätte eine von Lilys Klassenkameradinnen sein können, hätte sie nicht eine andere Schuluniform getragen. Trotz des trockenen Laubs, das durch Wind und Regen auf der durchsichtigen Plastiktüte über Gesicht und Haar festklebte, sah sie sauber und behütet aus. Ihre Mutter hatte sie kurz nach neun als vermisst gemeldet, was hieß, dass es um eine Tochter ging, die in einem strengeren Elternhaus lebte als Lily, und um eine Familie, deren Zeitplan geregelter war. Theoretisch war es möglich, dass dies hier nicht Jennifer Maidment war, da die Leiche gefunden worden war, bevor die Vermisstenanzeige einging. Und sie hatten hier vor Ort noch kein Foto des vermissten Mädchens. Aber DI Patterson hielt es für unwahrscheinlich, dass im Stadtzentrum an einem Abend zwei Mädchen von der gleichen Schule verschwanden. Höchstens, wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Tod der beiden gäbe. Dieser Tage konnte man ja nichts ausschließen.
Die Plane an der Zeltöffnung flog heftig zur Seite, und ein Schrank von einem Mann schob sich herein. Seine Schultern waren so breit, dass er den größten Schutzanzug, den die Polizei von West Mercia für ihre Mitarbeiter zur Verfügung stellte, nicht zubekam. Von seinem kahlen Schädel, der die Farbe starken Tees hatte, rannen Regentropfen in sein Gesicht, das aussah, als hätte er seine rauhe Jugendzeit größtenteils im Boxring zugebracht. Er hielt ein Blatt Papier in einer durchsichtigen Plastikhülle.
»Ich bin hier drüben, Alvin«, rief Patterson, und seine Stimme verriet seine starke Betroffenheit.
Detective Sergeant Alvin Ambrose ging zu seinem Chef hinüber. »Jennifer Maidment«, sagte er und hielt die Hülle mit dem Computerausdruck eines Fotos hoch. »Ist sie das?« Patterson betrachtete eingehend das ovale Gesicht, das von langem braunem Haar eingerahmt war, und nickte traurig. »Das ist sie.«
»Sie ist hübsch«, sagte Ambrose.
»Jetzt nicht mehr.« Der Mörder hatte ihr mit dem Leben auch die Schönheit genommen. Obgleich er sich immer vor voreiligen Schlüssen hütete, glaubte Patterson, man könne davon ausgehen, dass die aufgedunsene Haut, die geschwollene Zunge, die hervorquellenden Augen und die fest haftende Plastiktüte auf einen Tod durch Ersticken hinwiesen. »Die Tüte war um ihren Hals herum festgeklebt. Schrecklich, so zu sterben.«
»Ihre Bewegung muss irgendwie eingeschränkt gewesen sein«, sagte Ambrose. »Sonst hätte sie versucht, sich zu befreien.«
»Kein Anzeichen, dass sie gefesselt war. Wir werden mehr wissen, wenn sie in der Pathologie untersucht wurde.« »Wurde sie sexuell missbraucht?«
Patterson konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Er hat sie mit einem Messer traktiert. Zuerst haben wir es gar nicht gesehen. Ihr Rock hat es verdeckt. Dann schaute der Arzt es sich an.« Er schloss die Augen und gab dem Drang nach einem schweigenden Stoßgebet nach. »Der Scheißkerl hat sie verstümmelt. Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt einen sexuellen Übergriff nennen würde. Eher eine komplette Vernichtung der Sexualorgane.« Er wandte sich ab und schritt zum Ausgang. Beim Vergleich von Jennifer Maidments Leiche mit anderen, deren Tod er untersucht hatte, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe.«
Draußen vor dem Zelt herrschte scheußliches Wetter. Aus dem stürmischen Regenschauer vom Nachmittag war ein richtiges Unwetter geworden. Die Einwohner von Worcester hatten gelernt, in solchen Nächten das Ansteigen des Severn zu fürchten. Sie erwarteten Hochwasser, nicht Mord.
Die Leiche war auf dem Seitenstreifen einer Parkbucht gefunden worden, die ein paar Jahre zuvor bei der Begradigung der Straße angelegt worden war. Die alte, enge Kurve hatte eine neue Funktion bekommen als Haltepunkt für Lkw-Fahrer, die von der Imbissbude angezogen wurden, an der es tagsüber kleine Mahlzeiten gab. Während der Nacht diente er als inoffizieller Lkw-Parkplatz; gewöhnlich standen vier oder fünf Fahrzeuge da, deren Fahrern es nichts ausmachte, in der Kabine zu übernachten, um ein paar Pfund zu sparen. Der holländische Trucker, der zum Pinkeln aus seiner Kabine gestiegen war, hatte etwas ganz anderes gefunden als das, was er erwartet hatte.
Die Parkbucht war von der Straße durch dichtes Gestrüpp aus großen Bäumen und undurchdringlichem Unterholz getrennt. Der Wind heulte in den Bäumen, und Ambrose und Patterson wurden durchnässt, als sie zu ihrem Volvo zurückliefen. Kaum saßen sie im Wagen, zählte Patterson schon an den Fingern ab, was zu tun war. »Nimm Kontakt mit der Verkehrspolizei auf. Sie haben an dieser Strecke zwei Kameras mit Kennzeichenerfassung stehen, ich weiß aber nicht genau, wo. Wir brauchen eine komplette Überprüfung für jedes Fahrzeug, das heute Abend diese Strecke gefahren ist. Ruf bei der psychologischen Opferbetreuung an. Einer ihrer Leute soll mich am Haus der Familie treffen. Setz dich mit dem Schulleiter in Verbindung. Ich will wissen, wer ihre Freunde sind, welche Lehrer sie hatte, und wir vereinbaren mit ihnen Termine für Befragungen gleich morgen früh. Wer immer den Bericht nach Eingang der Meldung geschrieben hat, soll mich per E-Mail über die Einzelheiten unterrichten. Ruf die Pressestelle an und informiere sie. Wir setzen uns morgen früh mit den Journalisten zusammen, zehn Uhr. Okay? Hab ich noch was vergessen?«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich drum. Ich kann einen von der Verkehrspolizei bitten, mich mit zurück zu nehmen. Wirst du persönlich bei der Familie vorbeischauen?«
Patterson seufzte. »Ich freu mich nicht drauf. Aber sie haben ihre Tochter verloren. Sie haben es verdient, dass ein ranghöherer Beamter dabei ist. Ich seh dich dann auf dem Revier.«
Ambrose stieg aus und ging auf die Polizeiwagen zu, die vor der Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes standen. Sein Chef schaute ihm nach. Nichts schien Ambrose aus der Ruhe zu bringen. Er nahm die Last auf seine breiten Schultern und stapfte weiter, egal was ihr Fall ihnen brachte. Was immer der Preis für diese offenbare Seelenruhe sein mochte, Patterson hätte ihn heute Abend bereitwillig gezahlt.
2
Carol sah, dass John Brandon in Fahrt kam. Sein trauriges Hundegesicht wirkte angeregter, als sie es jemals während der Arbeitszeit gesehen hatte, und an seiner Seite war seine geliebte Maggie mit ihrem milden Lächeln, das Carol oft am Esstisch der Familie beobachtet hatte, wenn Brandon sich in ein Thema verbissen hatte wie ein Terrier in ein Kaninchen. Sie tauschte ihr leeres Glas gegen ein volles von einem Tablett, das vorbeigetragen wurde, und kehrte wieder zu der Ecke zurück, in der sie Tony zurückgelassen hatte. Sein Gesichtsausdruck hätte besser zu einer Beerdigung gepasst, allerdings konnte sie kaum behaupten, dass sie etwas anderes erwartet hatte. Sie wusste, dass er solche Veranstaltungen als reine Zeitverschwendung betrachtete, und schätzte, dass es für ihn auch wirklich so war. Aber ihr war klar, dass eine solche Feier für sie selbst eine ganz andere Bedeutung hatte.
Das Wesentliche bei moderner Polizeiarbeit war nicht, dass man Kriminelle schnappte. Vielmehr ging es um Politik und Beziehungen, genau wie in jeder großen Behörde. Früher einmal wäre ein Abend wie der heutige ein Vorwand gewesen für ein hemmungsloses allgemeines Besäufnis inklusive Stripperinnen. Heutzutage ging es dagegen um Kontakte, Verbindungen und Gespräche, die man im Büro nicht führen konnte. Sie mochte diese Dinge auch nicht mehr als Tony, hatte aber ein gewisses Talent dafür. Wenn dies nötig war, um ihr ihren Platz in der inoffiziellen Hierarchie zu sichern, würde sie es mit Fassung tragen.
Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie innehalten und sich umdrehen. Detective Constable Paula McIntyre von ihrer Gruppe flüsterte ihr ins Ohr: »Er ist gerade eingetroffen.«
Carol brauchte nicht zu fragen, wer »er« war. John Brandons Nachfolger war dem Namen und seinem Ruf nach bekannt, aber weil er aus einem ganz anderen Landesteil kam, hatte in Bradfield niemand viel Information aus erster Hand über ihn. Nicht viele Polizeibeamte ließen sich von Devon & Cornwall nach Bradfield versetzen. Warum sollte man ein relativ beschauliches Leben in einer hübschen Touristengegend eintauschen gegen die aufreibende Arbeit der Polizei in einer postindustriellen Stadt im Norden mit einer Kriminalitätsrate (inklusive Schusswaffen und Messerstechereien), die einem die Tränen in die Augen trieb? Es sei denn, man war ehrgeizig und hielt es für karrierefördernd, den viertgrößten Polizeibezirk des Landes zu leiten.
Carol konnte sich vorstellen, dass das Wort »Herausforderung« mehr als einmal in James Blakes Vorstellungsgespräch gefallen war, bevor er zum Chief Constable, zum Polizeipräsidenten, ernannt wurde. Sie ließ den Blick schweifen. »Wo denn?«
Paula sah ihr über die Schulter. »Er hat gerade eben dem stellvertretenden Leiter der Dezernats Schwerverbrechen etwas vorgeschwafelt, aber jetzt ist er weitergezogen. Tut mir leid, Chef n.«
»Macht nichts. Danke für den Tipp.« Carol hob ihr Glas, prostete ihr zu und drängte sich dann weiter in Richtung Tony. Bis sie sich durch die Menge gearbeitet hatte, war ihr Glas schon wieder leer. »Ich brauche noch ein Glas Wein«, sagte sie und lehnte sich neben ihm gegen die Wand.
»Das ist schon dein viertes«, stellte er fest, aber nicht in unfreundlichem Ton.
»Wer zählt da schon mit?«
»Ich, offensichtlich.«
»Du bist mein Freund, nicht mein Psychiater.« Carols Tonfall war eisig.
»Eben deshalb sage ich dir ja, dass du vielleicht zu viel trinkst. Als dein Therapeut wäre ich kaum so kritisch. Ich würde es dir überlassen.«
»Hör mal zu, Tony. Mir geht's gut. In der Zeit nach ... Ich gebe zu, dass es mal eine Zeit gab, als ich zu viel getrunken habe. Aber ich habe es wieder unter Kontrolle. Alles klar?« Tony breitete beschwichtigend die Hände aus. »Es ist deine Sache.«
Carol seufzte tief und stellte ihr leeres Glas neben seines auf den Tisch. Er konnte einen zum Wahnsinn treiben, wenn er so vernünftig war. Aber sie war schließlich nicht die Einzige, die es nicht mochte, wenn man ihre Macken ans Tageslicht zog. Soll er doch mal sehen, wie ihm das gefällt. Sie lächelte liebenswürdig. »Sollen wir mal rausgehen, ein bisschen Luft schöpfen?«
Er lächelte etwas ratlos. »Okay, wenn du willst.«
»Ich habe ein paar Sachen über deinen Vater herausgefunden. Gehen wir doch irgendwohin, wo wir richtig reden können.« Sie beobachtete, wie sein Lächeln verschwand und er reumütig das Gesicht verzog. Wer Tonys Vater war, hatte sich erst nach dessen Tod herausgestellt, weil er beschlossen hatte, dem Sohn, den er nie gekannt hatte, sein Anwesen zu hinterlassen. Carol wusste ganz genau, dass Tony in Bezug auf Edmund Arthur Blythe bestenfalls zwiespältige Gefühle hatte. Er mochte es genauso wenig, über seinen erst kürzlich entdeckten Vater zu sprechen, wie sie selbst Lust zu Diskussionen über ihre angebliche Alkoholabhängigkeit hatte.
...
Übersetzung: Doris Styron
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei
Knaur Taschenbuch Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Val McDermid
Val McDermid ist eine internationale Nr. 1-Bestsellerautorin, deren Bücher in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurden. Ihre mehrfach preisgekrönten Thrillerserien und Einzelromane wurden für Fernsehen und Rundfunk adaptiert - etwa die Serie Hautnah - Die Methode Hill mit dem Profiler Dr. Tony Hill und DCI Carol Jordan. Eine Verfilmung der Reihe um die schottische Cold Case-Ermittlerin Karen Pirie ist in Arbeit.Val McDermid war 2017 Vorsitzende des Wellcome Book Prize und Jurorin für den Women's Prize for Fiction und den Man Booker Prize 2018. Sie ist Trägerin von sechs Ehrendoktorwürden, außerdem Honorary Fellow des St Hilda's College in Oxford. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehören der CWA Diamond Dagger für ihr Lebenswerk und der Theakstons Old Peculier Award für "Outstanding Contribution to Crime Writing". Val ist außerdem eine erfahrene Rundfunksprecherin und gefragte Kolumnistin und Kommentatorin in Printmedien.Mehr über die Autorin unter www.val-mcdermid.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Val McDermid
- 2010, 5. Aufl., 528 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Doris Styron
- Verlag: Little, Brown Book Group
- ISBN-10: 3426507269
- ISBN-13: 9783426507261
- Erscheinungsdatum: 01.10.2010
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