Traumpass
Mein Weg aus den Slums von Nairobi auf die Fußballplätze Europas
In Nairobi leben zwei Drittel der Einwohner in Slums. Auch Doreen wächst in einem Elendsviertel auf, wo bittere Armut und Gewalt den Alltag bestimmen. Schon als kleines Mädchen kickt sie begeistert aus Lumpen zusammengeschnürte Bälle und Getränkedosen über...
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Produktinformationen zu „Traumpass “
Klappentext zu „Traumpass “
In Nairobi leben zwei Drittel der Einwohner in Slums. Auch Doreen wächst in einem Elendsviertel auf, wo bittere Armut und Gewalt den Alltag bestimmen. Schon als kleines Mädchen kickt sie begeistert aus Lumpen zusammengeschnürte Bälle und Getränkedosen über staubige Plätze. Fußball wird ihre Leidenschaft und Doreen hat Talent! Bereits im Alter von 15 Jahren wird sie Nationalspielerin und trainiert daneben selbst eine Mädchenmannschaft. Ihr großer Traum: sie will für einen deutschen Verein spielen! Gemeinsam mit dem Journalisten Herbert Ostwald erzählt sie vom Leben in Armut, von Bürgerkrieg und Stammesdünkel, von Frauen und ihren Rollen, von der Geburt ihres Sohnes und wie sie es geschafft hat, eine gefragte Fußballerin in Europa zu werden.
Lese-Probe zu „Traumpass “
Traumpass von Doreen NabwireVorwort
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Fußball spielen, dribbeln, Pässe schlagen - das ist meine Leidenschaft, meine Bestimmung. Ich bin es gewohnt, mit dem Ball umzugehen, weniger mit Worten. Niemals wäre ich daher auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben - und dann auch noch über mich. Ich stehe gern im Zentrum des Fußballplatzes, bin aber niemand, der sich unbedingt in die Öffentlichkeit drängelt. Dann, während der Weltmeisterschaft in Berlin 2006, lernte ich den Journalisten Herbert Ostwald kennen. Da er mit seiner Familie damals ebenfalls in Nairobi lebte und arbeitete, hielten wir Kontakt zueinander. Wir wurden gute Freunde und ich erzählte ihm viel von dem, was ich in meinem Alltag erlebte. Schließlich entstand die Idee, alles aufzuschreiben, um daraus ein Buch zu machen. Das war im Dezember 2007. Zunächst war ich skeptisch, dachte, es würde vielleicht niemanden interessieren. Doch er ermutigte mich und ich begann fortan mit meinen Notizen.
Ich möchte meinen jüngeren Geschwistern und allen Fußballmädchen Mut machen. Für viele Mädchen in Kenia bin ich ein Idol und deswegen habe ich aufgeschrieben, was ich erlebt habe. Damit sie wissen, wer die Fußballerin Doreen wirklich ist. Als ich klein war, hätte ich gern ein Buch in den Händen gehalten, in dem eine afrikanische Fußballerin ihre Erlebnisse niedergeschrieben und mir Ratschläge gegeben hätte. Doch das gab es damals nicht. Ich hatte auch keine große Schwester, an der ich mich hätte orientieren können. So ging ich meinen eigenen Weg in der rauen Wirklichkeit eines Slums in Nairobi. Es war nie einfach, denn ich war sehr schüchtern und zurückhaltend. Aber ich gab nicht auf, an eine bessere Zukunft zu glauben. Ich entdeckte mein Fußballtalent und hoffte, es würde mich weit bringen.
Ich bin froh, dass Herbert geduldig genug war, meine Notizen aufzuarbeiten und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Er hat mit seinen journalistischen Sichtweisen, Erfahrungen und Erklärungen meine Erlebnisse und Erinnerungen ergänzt, um dem Leser ein umfassenderes Bild vom Leben in Kenia und von meinem Lebensweg zu geben.
Oft haben wir dabei festgestellt, wie leicht man sich verführen lässt, die Dinge aus dem europäischen Blickwinkel zu betrachten. Ein Slum ist für einen Europäer meist ein armseliger Ort, in dem Menschen unwürdig leben. Das stimmt aber nur zum Teil. Für uns ist es auch ein Marktplatz, an dem die Menschen zusammenkommen, an dem sie mit Waren handeln, reden, feiern und Freundschaft schließen. Im Slum lernt man, sich im Leben zu behaupten. »Ghetto ist unsere Schule« heißt es. Wir sind im Slum geboren, aber der Slum ist nicht in uns.
Allzu gern sieht man einen Afrikaner gern als jemanden, der nur rauswill. Das stimmt so nicht. Auch ich wäre gern in Kenia geblieben, um dort professionell Fußball zu spielen. Aber dafür gab es keine Chancen. Nur deswegen bin ich nach Europa gekommen und litt viel unter Heimweh. Bei jeder Rückkehr freute ich mich so sehr, wieder meinen Sohn, meine Eltern, Geschwister und meine Freunde in die Arme zu nehmen - dort, wo meine Heimat ist: Kenia.
Ich finde es wichtig, den Lesern zu berichten, dass es in meinem Land viele tapfere Menschen gibt, die jeden Tag anständig und kreativ nach Auswegen aus den schwierigen Lebenssituationen suchen. Ich hoffe, mein Buch trägt dazu bei, ein anderes Bild von Kenia und seinen Menschen zu schaffen, das fernab der Klischees liegt. Wenn mir das als Fußballerin gelänge, dann wäre es mir noch wichtiger als der schönste Traumpass, der zu einem Siegtor meines Teams führt.
Doreen Nabwire, im Januar 2011
1 Der Tag, der mein Leben veränderte
Die Nacht des 25. Januar 2008 werde ich nie vergessen - sie war schrecklich. Ich lag in meinem Bett, hellwach, und schwitzte; ich fühlte mich schlecht und wälzte mich von einer Seite zur anderen. Es war keine Malaria, auch keine Lebensmittelvergiftung, keine Krankheit. Es war etwas anderes und ich wollte es nicht wahrhaben.
Nachts igelte ich mich immer mit meinen drei jüngeren Geschwistern auf den wenigen Quadratmetern unserer kleinen Wohnung ein. Zwei Doppelbetten in einem Raum; ich teilte meines mit meiner vier Jahre jüngeren Schwester Christine. Im anderen Bett lag meine jüngste Schwester Vivianne, damals zwölf, und mein sechs Jahre jüngerer Bruder Erik. Alle schliefen fest.
Mein Zustand war noch immer ein gut gehütetes Geheim - nis und ich wusste, er würde mein ganzes Leben verändern, vielleicht alle Pläne für die Zukunft kaputt machen. Mit wem sollte ich darüber reden, ohne dass ich mich gleich rechtfertigen musste? Mit meiner Mutter konnte ich keinesfalls darüber sprechen, erst recht nicht mit meinem Vater. Sie hätten nicht verstehen können, was passiert war. Der Einzige, dem ich ein Zeichen geben konnte, war Herbert, ein guter Freund aus Deutschland, den ich gut zwei Jahre zuvor bei der Straßenfußball-Weltmeisterschaft in Berlin kennengelernt hatte. Er war mir nah und wahrte gleichzeitig auf freundschaftliche Weise die Distanz. Aber leider war er gerade nicht, wie gewohnt, bei uns in Nairobi, wo er damals lebte, sondern in seiner Heimat.
Und ich konnte mich nicht mit ihm treffen, um ihm zu sagen, was mich so bedrückte. Ich wusste auch gar nicht, wie er darüber und über mich denken würde. In dieser Nacht löste ich keine Probleme mehr, mit offenen Augen erwartete ich den folgenden Morgen. Erst zwei Tage später, als mir bereits klar war, was mit mir los war, nahm ich all meinen Mut zusammen und schickte ihm eine SMS.
»I messd up my future. I dnt wnt 2 tel u ths on 4n!« Diese kryptische Botschaft leuchtete auf dem Display meines Handys auf. Einen Moment dauerte es, bis ich die Mitteilung verstand: »Ich habe meine Zukunft zerstört, ich möchte es dir nicht am Telefon sagen.« Doreen liebt diese Kürzelsprache, sie ist schicke Alltagskultur der jungen Leute in Nairobi, aber auch ökonomische Reduzierung der Zeichen. Fasse dich kurz - Buchstaben sind Geld! 160 Zeichen für vier Schilling (ungefähr vier Cent) innerhalb des Landes. Geld ist knapp in Kenia, auch bei Doreen. Was wollte sie mir nicht am Telefon beichten? Was war geschehen? Ich stand irgendwo im Gewühl einer Kaufhausetage in Köln, suchte im Auftrag Doreens nach Fußballschuhen für Frauen (ja, die gibt es!) und nun ereilte mich diese wichtige Nachricht aus einem Vorort Nairobis. Was tun? Doreens Botschaft klang wie ein Notruf. Ich blieb hartnäckig, insistierte, wollte wissen, was passiert war, ich simste zurück und bekam eine neue Nachricht. »I jst wnt 2 die, I feel terrible.« Das klang sehr ernst: »Ich möchte sterben, ich fühle mich schrecklich.« Doreen hatte ich schon melancholisch, still oder zurückgezogen erlebt, aber meist doch positiv und optimistisch. Das aber hörte sich anders an, ganz anders. Ernst. Sehr ernst. Ihr musste etwas Schreckliches passiert sein. Ein Unfall, eine Krankheitsdiagnose, ein Todesfall? Ich wusste, mit ihr zu sprechen wäre der falsche Weg. Es schien etwas zu sein, was ihr nicht über die Lippen ging, jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn überhaupt, dann würde sie mir nur per SMS antworten. Also bewegte ich meinen rechten Daumen, so schnell es ging, auf den Tasten des Handys und fragte nochmals nach dem Grund ihres Zustands. Ich hoffte, sie würde noch genug Guthaben auf dem Handy haben und könnte antworten. Die Simserei nach Deutschland ist teuer, machte zehn Schilling (etwa zehn Cent) - dafür bekam man in vielen Buden der Slums bereits ein warmes Mittagessen. Einige Minuten vergingen, es schien mir wie eine Ewigkeit. Ohne Ziel schlenderte ich durch die Sport abteilung des einladend wirkenden Konsumtempels, schaute die große Auswahl von Fußballschuhen an, ohne sie wirklich zu sehen. Immer wieder der Blick auf das Handy in meiner Hand. Biep-biep. Da war sie, die neue Antwort. »M pregnant!« - »Ich bin schwanger!«
Kurze Denkpause. Das war es also? Eigentlich eine wunderbare Nachricht, doch für eine junge Frau, die so viele Ziele hatte, wie sie Tore schoss, schien es das Ende ihrer Träume zu sein. »Mensch, Doreen!«, so raste es mir durch den Kopf. »Wie konnte das passieren?« Gerade sie, die in ihrem Fußballclub bei Jugendlichen für den Gebrauch von Kondomen gegen HIV warb. Gerade sie, die so zielstrebig eine professionelle Karriere verfolgte, gerade sie, die als Vorbild ... und so weiter und so wei ter ... Was für ein Blödsinn! Natürlich wusste ich, dass das Leben oft andere Drehbücher schreibt. Moralisieren half in den Armenvierteln Kenias nicht weiter. Ich entschied mich für eine andere Strategie. Ich wollte sie aufbauen, gratulierte ihr, machte ihr Mut. Gerade damals, als die Nachrichten in unserem friedlichen Wohlstandsland fast täglich brennende Hütten, blutende Menschen und schießwütige Polizisten aus dem afrikanischen Vorzeigestaat zeigten, war Doreen schwanger geworden.
Auch wenn ich innerlich erhebliche Zweifel hegte, dass Doreens Zukunft in der Millionenmetropole Nairobi mit Baby nun rosiger werden würde - ich wollte es positiv sehen und es sie wissen lassen. Die Nachricht verfehlte ihre Wirkung nicht. »Uv given me hope n at least put a smile on my face. Sthng tht hasnt happened 2 me this past few days!« Ich hatte ihr Hoffnung geben können und sie endlich zum Lächeln gebracht, nach allem, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht haben musste.
Die Tage vor der schrecklichen Nacht rieben mich auf, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was mir passiert sein konnte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass meine Periode ausgeblieben war. Ich war angespannt, mein Körper fühlte sich anders an als sonst. Schwerfälliger. Plumper. Ich hatte immer einen flachen Bauch besessen, mochte meine Figur, aber nun hatte ich das Gefühl, er wölbe sich ganz leicht nach außen. Tatsächlich hatte ich etwas zugenommen, nicht viel, aber immerhin. Das machte mich wirklich fertig.
Zunächst glaubte ich, ich könnte etwas dagegen tun. Ich startete ein Trainingsprogramm, das ich in meiner Freizeit außerhalb des Hauses absolvieren konnte. Ich verordnete mir Klappmesser und Liegestützen, und meine jüngste Schwester nahm mit dem Handy die Zeit und zählte mit. Aber was ich auch unternahm, mein Bauch wurde nicht kleiner, das komische Gefühl blieb. Meine Übungen schienen noch nicht genug zu sein. Ich entschloss mich, ins Fitness-Studio zu gehen. Ich plante, ab sofort immer eine Stunde vor dem Fußballtraining in meinem Verein Mathare United Gewichte zu stemmen. Und dann bemerkte ich noch eine weitere merkwürdige Veränderung an mir: Meine Brüste waren fester oder sogar größer geworden und sie zogen. Jetzt war ich wirklich besorgt, mein Herz raste und ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Zum ersten Mal schoss es mir durch den Kopf: Bist du etwa schwanger?
Ich vertraute mich meiner engsten Freundin Monica an. Sie beruhigte mich, redete mir gut zu und wollte mich darin bestärken, dass ich bestimmt nicht schwanger sei. Ich solle ruhig noch eine Woche warten, ob meine Periode nicht doch noch einsetze. Doch ich blieb skeptisch, es waren bereits gut sechs Wochen vergangen, seit ich das letzte Mal mashirow war, wie wir es unter Mädchen in Suaheli sagen, wenn man seine Periode hat. Hier redet eine Frau gern drum herum. Manche »schwimmen über das rote Meer«, andere sind »in rotem Licht«. Normalerweise bekam ich meine Regelblutungen alle drei Wochen. Aber tatsächlich hatte es eine Begegnung gegeben, die die Ursache für meinen Zustand sein konnte. Wie ein Film lief sie noch einmal vor meinem inneren Auge ab: Ich dachte zurück an mein letztes Treffen mit meinem Freund einige Wochen zuvor ... Es war der 11. Dezember 2007. Am frühen Abend hatte mich die Tante meines Freundes angerufen. Wir mochten uns sehr und sie lud mich zu ihrer Party in meinem alten Heimatbezirk Mathare ein. Ihr Sohn war gerade mit der Grundschulzeit, die bei uns acht Jahre dauert, fertig geworden und nun bereit, auf die Oberschule zu gehen. Die ganze Familie gehört zur größten Volksgruppe in Kenia, den Kikuyus. Nach ihrer Tradition ist es üblich, dass Jungen nach dem Besuch der 8. Klasse beschnitten werden - deshalb also dieses Fest. Am Handy drängte mich die Tante meines Freundes, ich solle doch unbedingt kommen. Zuerst wollte ich nicht, denn für den nächs - ten Tag stand ein Fußballmatch an und ich blieb bei solchen Anlässen eher eisern. Aber nachdem mich auch noch einige Freundinnen baten, beschloss ich so gegen zehn dann doch noch hinzugehen. Ich nahm meine Schwester Christine an die Hand und wir fuhren mit einem Sammeltaxi, einem matatu, zu dem Fest.
Viele waren aus der Familie der alten Dame gekommen. Ich unterhielt mich mal hier, mal dort mit Leuten und hatte Spaß. Kurz vor Mitternacht redete ich mit Freunden, erzählte von meinem überraschenden Trip nach Durban, wo ich vom Weltfußballverband FIFA zur Auslosung der Qualifikation für die WM in Südafrika eingeladen worden war. Meine Freunde blätterten mit mir aufgeregt in den alten Tageszeitungen und wir schauten uns die Bilder von mir darin an. Alle waren sehr angetan, freuten sich für mich und viele gaben mir Tipps für meine weitere Zukunft. Plötzlich tauchte mein Freund auf dem Fest auf. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass er auch zur Party kommen würde, obwohl es eigentlich sehr wahrscheinlich schien - schließlich war seine Tante die Gastgeberin.
Mein Freund war kein großer Typ, eher so meine Größe, um die ein Meter fünfundsechzig, und vier Jahre älter. Er hatte schokoladenbraune Haut und einen sportlichen Körper. Wir hatten uns in meinem Fußballclub kennengelernt. Er leitete dort eine der Abteilungen des Vereins. Da war ich noch eine kleine unwissende Fußballerin, gerade mal 15. Er begann sich für mich zu interessieren, kam zu unserem Training, saß am Spielfeldrand und schaute mir zu. Ich reagierte damals noch sehr schüchtern und zu Jungen war ich nicht besonders freundlich. Eines Tages ging ich zu einem Spiel im großen NyayoStadion. Er folgte mir von zu Hause aus, was ich erst gar nicht bemerkte. Plötzlich kam er auf mich zu und sprach mich an. Ich bekam einen Riesenschreck und dachte, er wolle nur den Macker spielen, um mich zu beeindrucken. »Du spielst doch nur mit mir«, sagte ich, »lass mich in Ruhe.« Ich ließ ihn stehen und lange Zeit passierte nichts.
Dann bekam er ein Jahresstipendium in Norwegen. Bevor er abreiste, rief er mich an, sagte, er vermisse mich. Er verließ Kenia und ich begann ernsthaft über ihn nachzudenken. Ich konnte ihn nicht vergessen, er tauchte in meinen Gedanken und in meinen Träumen auf. Ende 2003 kam er zurück, wir trafen uns und merkten, dass wir einander tatsächlich vermisst hat ten. Ich verknallte mich total in ihn, es ist einfach so passiert. Von da an waren wir nun schon seit rund fünf Jahren zusammen, mit allen Höhen und Tiefen, mit manchen Trennungen und Versöhnungen. Für mich hatte es nie einen anderen Kerl gegeben, er war trotz aller Probleme so etwas wie die Liebe meines Le bens.
An diesem Abend mischte er sich nicht in meine Gespräche ein, er setzte sich und hörte uns zu. Nach einer weiteren Plauderstunde ging ich aus dem Haus, um »eine Schlange zu killen«, wie wir hier salopp sagen, wenn wir zur Toilette müssen. Im Mathare Slum befinden sich die Klos meistens nicht im Haus, man muss ein Stück über die holprigen, unbefestigten und dunklen Gassen gehen, ich brauchte gut fünf Minuten dafür. Das ist immer sehr unangenehm, denn du weißt nie, wer auf dich lauert. Viele Mädchen werden auf diesen Gängen im Dunkeln belästigt und vergewaltigt. Ich erledigte mein Geschäft und nichts war passiert. Als ich zurückkam, trat mir mein Freund plötzlich in den Weg. »Hallo«, grüßte er scheu, »du wirst berühmt.«
»Ach, Unsinn«, sagte ich.
»Alle beneiden dich, du bist ein Star. Nun wirst du wohl noch weniger Zeit für mich haben, oder?«, fragte er leicht scherzend.
»Hey, Mann, hör auf. Ich bin nur sehr beschäftigt«, entgegnete ich.
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Tief im Innern spürte ich, dass ich auch ohne ihn ganz gut klarkam. Aber gleichzeitig vermisste ich ihn auch, wenn wir längere Auszeiten in unserer Beziehung hatten. Ein ewiges Auf und Ab der Gefühle eben.
Eine Weile blieben wir stehen und quatschten über dies und das. Wir erzählten uns eine Menge, denn wir hatten uns diesmal drei Monate nicht getroffen. Es war schön, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. »Lass uns woanders hingehen, wo wir ungestört sind«, schlug er vor, »vielleicht in eine Bar in der Stadt.« Eigentlich war ich müde und wollte nach Hause laufen, aber dann dachte ich, es wäre gut, auch mal ein wenig Zeit nur für uns zu haben und mal über einige Dinge zu reden. Ich willigte ein, mit ihm die Party zu verlassen. Doch wir gingen nicht wie geplant in eine Bar, sondern zu ihm nach Hause. Das erschien mir auch besser, denn ich brauchte bald Schlaf. Bis weit nach Mitternacht saßen wir bei Schummerlicht in seiner Bude, redeten, redeten und redeten. Und irgendwann, ja, da lag ich in seinen Armen und wir liebten uns.
Knapp sieben Wochen danach, eben an jenem Tag vor dem 25. Januar 2008, raste mir all dies durch den Kopf. Monicas Zureden half nichts. Immer wieder dachte ich: Du bist schwanger! Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meine Zukunft. Ich wollte Gewissheit, aber ich hatte auch Angst davor. Ganz allein eilte ich durch die Straßen von Kariobangi, vorbei an den fliegenden Händlern und den Buden aus Holz und Wellblech, zu der kleinen Apotheke in unserer Nähe und kaufte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen Schwangerschaftstest. So schnell wie möglich lief ich nach Hause, hoffte, niemandem aus der Familie oder Freunden zu begegnen, und schloss mich umgehend in der Toilette ein. Ohne zu zögern, pinkelte ich auf den Teststreifen und war gespannt auf das Ergebnis, auch wenn ich mir tief in meinem Herzen ein negatives Resultat herbeiwünschte. Ich war nervös und zitterte vor Angst. Einige Sekunden vergingen. Aber was immer der Test anzeigte - ich habe es nie erfahren. Aus Furcht vor einem positiven Ergebnis warf ich das kleine Ding weg, ohne nachzuschauen. Ich konnte der Wahrheit nicht ins Auge sehen! Danach machte mich die Ungewissheit fertig und sie gipfelte in einer schlaflosen und sorgenvollen Nacht.
Total aufgelöst und übermüdet entschloss ich mich zu einem zweiten Schwangerschaftstest. Diesmal schickte ich meine jüngs - te Schwester Vivianne zur Apotheke. Sie stellte keine Fragen, gerade so, als würde ich sie zum Brötchenholen schicken. Natürlich war sie nicht dumm, sie konnte ja lesen und wusste, wofür der Test war. Aber sie besorgte ihn einfach, gab ihn mir wortlos und fragte mich auch nicht nach dem Ergebnis. Wieder ging ich zur Toilette. Dieses Mal war ich mutig genug. Negativ oder positiv - ich war bereit! Ich hielt die Spannung nicht mehr aus. Dann ging es ganz schnell: Das Papier verfärbte sich, erster Balken, zweiter Balken - positiv!
In meinem Schädel hämmerte das Blut und ich zitterte am ganzen Leib. Was nun? Wie sollte es weitergehen? Mit nur zwanzig Jahren und so vielen Plänen? Ich wollte doch Fußballprofi in Deutschland oder den USA werden, hatte vielleicht eine große Karriere vor mir, die mir und meiner Familie ein besseres Leben würde ermöglichen können. Ich hatte große Träume im Kopf, und nun? Ein Kind im Bauch. Ich liebe Kinder und ich wollte auch immer irgendwann, wenn ich so 26, 27 oder 28 wäre, eins haben. Aber jetzt doch nicht, wenn mein Kind geboren würde, wäre ich erst 21! Viele Mädchen, die bei uns Fußball spielen, bekommen schon früh ein Kind, meist mit 18, oft sogar eher, und das ist, ehrlich gesagt, meist das Ende ihrer Fußballträume - abgesehen von all den anderen Problemen, die sich dadurch auftun.
Wie sollte ich das meiner Familie erklären, meinen Freunden? Wie würden sich all die Jungen und Mädchen fühlen, die mich anhimmelten? Immer hatte ich als Vorbild im Verein den jungen Mädchen geraten, vorsichtig zu sein, beim Sex stets ein Kondom zu benutzen. Sie könnten sagen: »Du predigst Wasser und trinkst selbst Wein.« Und ich könnte antworten: »Macht, was ich sage, nicht das, was ich tue.«
Dann riss ich mich zusammen. In Suaheli sagen wir liwe liwalo - was passiert ist, ist passiert. Ich musste mich dem allem stellen und lernen, damit umzugehen. Noch am selben Tag meines positiven Tests entschloss ich mich, zu meinem Freund zu gehen und ihm die Neuigkeit zu erzählen. Ich besuchte ihn, machte keine Umschweife und rückte sofort mit der Sprache raus.
»Ich bin schwanger!«
Er war schockiert, zog peinlich berührt die Augenbrauen hoch und sagte eine Weile - nichts! Das schockte wiederum mich!
»Doreen, ich möchte noch kein Kind.« Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wir sind jetzt beide verantwortlich für das Baby, verstehst du?«, sagte ich.
Er schwieg, schaute auf den Boden.
»Ich wollte es auch nicht, wir beide haben Mist gebaut«, fügte ich hinzu.
»Überleg mal, das ist doch das Ende deiner Karriere«, behauptete er und fragte dann entrüstet: »Was sollen die Leute über mich denken? Ich habe deine Zukunft kaputt gemacht. Ich kann nicht mehr vor unsere Freunde treten.«
»Na und?« Ich konnte es nicht fassen!
»Bitte, bitte, lass dir das Kind wegmachen!«
Der Satz traf mich ins Herz. Ich schnappte nach Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ich konnte nicht glauben, was ich da eben hörte, und war fast sprachlos.
»Bitte, es ist besser für uns alle. Treib ab«, wiederholte er.
Ich war fassungslos. Ich sollte ein unschuldiges Leben beenden, nur um sein Saubermann-Image zu schützen? Das würde ich niemals tun.
»Ich werde auf keinen Fall abtreiben!«, hielt ich ihm entgegen.
»Das hast du doch alles nur geplant, um mich an dich zu binden. Du willst doch nur, dass ich dich heirate!«, schrie er verzweifelt.
»Blödsinn!«, brüllte ich zurück. Ich wollte es nicht wahrhaben. Wie konnte er nur wie ein unreifer Schulbube denken, anstatt seine Verantwortung anzuerkennen und nach vorn zu blicken?
Ich weinte, bekam kein Wort mehr über die Lippen und lief davon. Er ging mir auf die Nerven. Jedes Mal wenn ich später an diesen hitzigen Streit dachte, musste ich wieder heulen. Aber ich kam dann gestärkt heraus, und ich bedrängte ihn nicht, er interessierte mich nicht mehr. Irgendwie hatte ich schon fast erwartet, dass er so reagieren würde. Unser Verhältnis war wirklich nicht mehr das beste. Er kümmerte sich weniger um mich und schien mich nicht mehr so zu lieben wie am Anfang. Und nun konnte er einfach nicht über seinen Schatten springen, nicht mannhaft zu seiner »Tat« stehen. Viele Gedanken sprangen durch meinen Kopf, auch die Angst, Aids zu haben und mein Kind anzustecken. Ich blieb zwar all die Jahre nur bei meinem Freund, und das war bezüglich des Virus ja auch der beste Schutz. Aber ich konnte natürlich nie genau wissen, was er so trieb, wenn ich nicht bei ihm war. Ich vertraute ihm zwar, aber ein Restrisiko blieb immer. So machte ich den Aidstest, als ich wusste, dass ich schwanger war. Als sie mir sagten, ich sei HIV-negativ, war ich richtig glücklich und feierte die gute Nachricht.
© 2011 vgs verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Fußball spielen, dribbeln, Pässe schlagen - das ist meine Leidenschaft, meine Bestimmung. Ich bin es gewohnt, mit dem Ball umzugehen, weniger mit Worten. Niemals wäre ich daher auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben - und dann auch noch über mich. Ich stehe gern im Zentrum des Fußballplatzes, bin aber niemand, der sich unbedingt in die Öffentlichkeit drängelt. Dann, während der Weltmeisterschaft in Berlin 2006, lernte ich den Journalisten Herbert Ostwald kennen. Da er mit seiner Familie damals ebenfalls in Nairobi lebte und arbeitete, hielten wir Kontakt zueinander. Wir wurden gute Freunde und ich erzählte ihm viel von dem, was ich in meinem Alltag erlebte. Schließlich entstand die Idee, alles aufzuschreiben, um daraus ein Buch zu machen. Das war im Dezember 2007. Zunächst war ich skeptisch, dachte, es würde vielleicht niemanden interessieren. Doch er ermutigte mich und ich begann fortan mit meinen Notizen.
Ich möchte meinen jüngeren Geschwistern und allen Fußballmädchen Mut machen. Für viele Mädchen in Kenia bin ich ein Idol und deswegen habe ich aufgeschrieben, was ich erlebt habe. Damit sie wissen, wer die Fußballerin Doreen wirklich ist. Als ich klein war, hätte ich gern ein Buch in den Händen gehalten, in dem eine afrikanische Fußballerin ihre Erlebnisse niedergeschrieben und mir Ratschläge gegeben hätte. Doch das gab es damals nicht. Ich hatte auch keine große Schwester, an der ich mich hätte orientieren können. So ging ich meinen eigenen Weg in der rauen Wirklichkeit eines Slums in Nairobi. Es war nie einfach, denn ich war sehr schüchtern und zurückhaltend. Aber ich gab nicht auf, an eine bessere Zukunft zu glauben. Ich entdeckte mein Fußballtalent und hoffte, es würde mich weit bringen.
Ich bin froh, dass Herbert geduldig genug war, meine Notizen aufzuarbeiten und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Er hat mit seinen journalistischen Sichtweisen, Erfahrungen und Erklärungen meine Erlebnisse und Erinnerungen ergänzt, um dem Leser ein umfassenderes Bild vom Leben in Kenia und von meinem Lebensweg zu geben.
Oft haben wir dabei festgestellt, wie leicht man sich verführen lässt, die Dinge aus dem europäischen Blickwinkel zu betrachten. Ein Slum ist für einen Europäer meist ein armseliger Ort, in dem Menschen unwürdig leben. Das stimmt aber nur zum Teil. Für uns ist es auch ein Marktplatz, an dem die Menschen zusammenkommen, an dem sie mit Waren handeln, reden, feiern und Freundschaft schließen. Im Slum lernt man, sich im Leben zu behaupten. »Ghetto ist unsere Schule« heißt es. Wir sind im Slum geboren, aber der Slum ist nicht in uns.
Allzu gern sieht man einen Afrikaner gern als jemanden, der nur rauswill. Das stimmt so nicht. Auch ich wäre gern in Kenia geblieben, um dort professionell Fußball zu spielen. Aber dafür gab es keine Chancen. Nur deswegen bin ich nach Europa gekommen und litt viel unter Heimweh. Bei jeder Rückkehr freute ich mich so sehr, wieder meinen Sohn, meine Eltern, Geschwister und meine Freunde in die Arme zu nehmen - dort, wo meine Heimat ist: Kenia.
Ich finde es wichtig, den Lesern zu berichten, dass es in meinem Land viele tapfere Menschen gibt, die jeden Tag anständig und kreativ nach Auswegen aus den schwierigen Lebenssituationen suchen. Ich hoffe, mein Buch trägt dazu bei, ein anderes Bild von Kenia und seinen Menschen zu schaffen, das fernab der Klischees liegt. Wenn mir das als Fußballerin gelänge, dann wäre es mir noch wichtiger als der schönste Traumpass, der zu einem Siegtor meines Teams führt.
Doreen Nabwire, im Januar 2011
1 Der Tag, der mein Leben veränderte
Die Nacht des 25. Januar 2008 werde ich nie vergessen - sie war schrecklich. Ich lag in meinem Bett, hellwach, und schwitzte; ich fühlte mich schlecht und wälzte mich von einer Seite zur anderen. Es war keine Malaria, auch keine Lebensmittelvergiftung, keine Krankheit. Es war etwas anderes und ich wollte es nicht wahrhaben.
Nachts igelte ich mich immer mit meinen drei jüngeren Geschwistern auf den wenigen Quadratmetern unserer kleinen Wohnung ein. Zwei Doppelbetten in einem Raum; ich teilte meines mit meiner vier Jahre jüngeren Schwester Christine. Im anderen Bett lag meine jüngste Schwester Vivianne, damals zwölf, und mein sechs Jahre jüngerer Bruder Erik. Alle schliefen fest.
Mein Zustand war noch immer ein gut gehütetes Geheim - nis und ich wusste, er würde mein ganzes Leben verändern, vielleicht alle Pläne für die Zukunft kaputt machen. Mit wem sollte ich darüber reden, ohne dass ich mich gleich rechtfertigen musste? Mit meiner Mutter konnte ich keinesfalls darüber sprechen, erst recht nicht mit meinem Vater. Sie hätten nicht verstehen können, was passiert war. Der Einzige, dem ich ein Zeichen geben konnte, war Herbert, ein guter Freund aus Deutschland, den ich gut zwei Jahre zuvor bei der Straßenfußball-Weltmeisterschaft in Berlin kennengelernt hatte. Er war mir nah und wahrte gleichzeitig auf freundschaftliche Weise die Distanz. Aber leider war er gerade nicht, wie gewohnt, bei uns in Nairobi, wo er damals lebte, sondern in seiner Heimat.
Und ich konnte mich nicht mit ihm treffen, um ihm zu sagen, was mich so bedrückte. Ich wusste auch gar nicht, wie er darüber und über mich denken würde. In dieser Nacht löste ich keine Probleme mehr, mit offenen Augen erwartete ich den folgenden Morgen. Erst zwei Tage später, als mir bereits klar war, was mit mir los war, nahm ich all meinen Mut zusammen und schickte ihm eine SMS.
»I messd up my future. I dnt wnt 2 tel u ths on 4n!« Diese kryptische Botschaft leuchtete auf dem Display meines Handys auf. Einen Moment dauerte es, bis ich die Mitteilung verstand: »Ich habe meine Zukunft zerstört, ich möchte es dir nicht am Telefon sagen.« Doreen liebt diese Kürzelsprache, sie ist schicke Alltagskultur der jungen Leute in Nairobi, aber auch ökonomische Reduzierung der Zeichen. Fasse dich kurz - Buchstaben sind Geld! 160 Zeichen für vier Schilling (ungefähr vier Cent) innerhalb des Landes. Geld ist knapp in Kenia, auch bei Doreen. Was wollte sie mir nicht am Telefon beichten? Was war geschehen? Ich stand irgendwo im Gewühl einer Kaufhausetage in Köln, suchte im Auftrag Doreens nach Fußballschuhen für Frauen (ja, die gibt es!) und nun ereilte mich diese wichtige Nachricht aus einem Vorort Nairobis. Was tun? Doreens Botschaft klang wie ein Notruf. Ich blieb hartnäckig, insistierte, wollte wissen, was passiert war, ich simste zurück und bekam eine neue Nachricht. »I jst wnt 2 die, I feel terrible.« Das klang sehr ernst: »Ich möchte sterben, ich fühle mich schrecklich.« Doreen hatte ich schon melancholisch, still oder zurückgezogen erlebt, aber meist doch positiv und optimistisch. Das aber hörte sich anders an, ganz anders. Ernst. Sehr ernst. Ihr musste etwas Schreckliches passiert sein. Ein Unfall, eine Krankheitsdiagnose, ein Todesfall? Ich wusste, mit ihr zu sprechen wäre der falsche Weg. Es schien etwas zu sein, was ihr nicht über die Lippen ging, jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn überhaupt, dann würde sie mir nur per SMS antworten. Also bewegte ich meinen rechten Daumen, so schnell es ging, auf den Tasten des Handys und fragte nochmals nach dem Grund ihres Zustands. Ich hoffte, sie würde noch genug Guthaben auf dem Handy haben und könnte antworten. Die Simserei nach Deutschland ist teuer, machte zehn Schilling (etwa zehn Cent) - dafür bekam man in vielen Buden der Slums bereits ein warmes Mittagessen. Einige Minuten vergingen, es schien mir wie eine Ewigkeit. Ohne Ziel schlenderte ich durch die Sport abteilung des einladend wirkenden Konsumtempels, schaute die große Auswahl von Fußballschuhen an, ohne sie wirklich zu sehen. Immer wieder der Blick auf das Handy in meiner Hand. Biep-biep. Da war sie, die neue Antwort. »M pregnant!« - »Ich bin schwanger!«
Kurze Denkpause. Das war es also? Eigentlich eine wunderbare Nachricht, doch für eine junge Frau, die so viele Ziele hatte, wie sie Tore schoss, schien es das Ende ihrer Träume zu sein. »Mensch, Doreen!«, so raste es mir durch den Kopf. »Wie konnte das passieren?« Gerade sie, die in ihrem Fußballclub bei Jugendlichen für den Gebrauch von Kondomen gegen HIV warb. Gerade sie, die so zielstrebig eine professionelle Karriere verfolgte, gerade sie, die als Vorbild ... und so weiter und so wei ter ... Was für ein Blödsinn! Natürlich wusste ich, dass das Leben oft andere Drehbücher schreibt. Moralisieren half in den Armenvierteln Kenias nicht weiter. Ich entschied mich für eine andere Strategie. Ich wollte sie aufbauen, gratulierte ihr, machte ihr Mut. Gerade damals, als die Nachrichten in unserem friedlichen Wohlstandsland fast täglich brennende Hütten, blutende Menschen und schießwütige Polizisten aus dem afrikanischen Vorzeigestaat zeigten, war Doreen schwanger geworden.
Auch wenn ich innerlich erhebliche Zweifel hegte, dass Doreens Zukunft in der Millionenmetropole Nairobi mit Baby nun rosiger werden würde - ich wollte es positiv sehen und es sie wissen lassen. Die Nachricht verfehlte ihre Wirkung nicht. »Uv given me hope n at least put a smile on my face. Sthng tht hasnt happened 2 me this past few days!« Ich hatte ihr Hoffnung geben können und sie endlich zum Lächeln gebracht, nach allem, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht haben musste.
Die Tage vor der schrecklichen Nacht rieben mich auf, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was mir passiert sein konnte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass meine Periode ausgeblieben war. Ich war angespannt, mein Körper fühlte sich anders an als sonst. Schwerfälliger. Plumper. Ich hatte immer einen flachen Bauch besessen, mochte meine Figur, aber nun hatte ich das Gefühl, er wölbe sich ganz leicht nach außen. Tatsächlich hatte ich etwas zugenommen, nicht viel, aber immerhin. Das machte mich wirklich fertig.
Zunächst glaubte ich, ich könnte etwas dagegen tun. Ich startete ein Trainingsprogramm, das ich in meiner Freizeit außerhalb des Hauses absolvieren konnte. Ich verordnete mir Klappmesser und Liegestützen, und meine jüngste Schwester nahm mit dem Handy die Zeit und zählte mit. Aber was ich auch unternahm, mein Bauch wurde nicht kleiner, das komische Gefühl blieb. Meine Übungen schienen noch nicht genug zu sein. Ich entschloss mich, ins Fitness-Studio zu gehen. Ich plante, ab sofort immer eine Stunde vor dem Fußballtraining in meinem Verein Mathare United Gewichte zu stemmen. Und dann bemerkte ich noch eine weitere merkwürdige Veränderung an mir: Meine Brüste waren fester oder sogar größer geworden und sie zogen. Jetzt war ich wirklich besorgt, mein Herz raste und ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Zum ersten Mal schoss es mir durch den Kopf: Bist du etwa schwanger?
Ich vertraute mich meiner engsten Freundin Monica an. Sie beruhigte mich, redete mir gut zu und wollte mich darin bestärken, dass ich bestimmt nicht schwanger sei. Ich solle ruhig noch eine Woche warten, ob meine Periode nicht doch noch einsetze. Doch ich blieb skeptisch, es waren bereits gut sechs Wochen vergangen, seit ich das letzte Mal mashirow war, wie wir es unter Mädchen in Suaheli sagen, wenn man seine Periode hat. Hier redet eine Frau gern drum herum. Manche »schwimmen über das rote Meer«, andere sind »in rotem Licht«. Normalerweise bekam ich meine Regelblutungen alle drei Wochen. Aber tatsächlich hatte es eine Begegnung gegeben, die die Ursache für meinen Zustand sein konnte. Wie ein Film lief sie noch einmal vor meinem inneren Auge ab: Ich dachte zurück an mein letztes Treffen mit meinem Freund einige Wochen zuvor ... Es war der 11. Dezember 2007. Am frühen Abend hatte mich die Tante meines Freundes angerufen. Wir mochten uns sehr und sie lud mich zu ihrer Party in meinem alten Heimatbezirk Mathare ein. Ihr Sohn war gerade mit der Grundschulzeit, die bei uns acht Jahre dauert, fertig geworden und nun bereit, auf die Oberschule zu gehen. Die ganze Familie gehört zur größten Volksgruppe in Kenia, den Kikuyus. Nach ihrer Tradition ist es üblich, dass Jungen nach dem Besuch der 8. Klasse beschnitten werden - deshalb also dieses Fest. Am Handy drängte mich die Tante meines Freundes, ich solle doch unbedingt kommen. Zuerst wollte ich nicht, denn für den nächs - ten Tag stand ein Fußballmatch an und ich blieb bei solchen Anlässen eher eisern. Aber nachdem mich auch noch einige Freundinnen baten, beschloss ich so gegen zehn dann doch noch hinzugehen. Ich nahm meine Schwester Christine an die Hand und wir fuhren mit einem Sammeltaxi, einem matatu, zu dem Fest.
Viele waren aus der Familie der alten Dame gekommen. Ich unterhielt mich mal hier, mal dort mit Leuten und hatte Spaß. Kurz vor Mitternacht redete ich mit Freunden, erzählte von meinem überraschenden Trip nach Durban, wo ich vom Weltfußballverband FIFA zur Auslosung der Qualifikation für die WM in Südafrika eingeladen worden war. Meine Freunde blätterten mit mir aufgeregt in den alten Tageszeitungen und wir schauten uns die Bilder von mir darin an. Alle waren sehr angetan, freuten sich für mich und viele gaben mir Tipps für meine weitere Zukunft. Plötzlich tauchte mein Freund auf dem Fest auf. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass er auch zur Party kommen würde, obwohl es eigentlich sehr wahrscheinlich schien - schließlich war seine Tante die Gastgeberin.
Mein Freund war kein großer Typ, eher so meine Größe, um die ein Meter fünfundsechzig, und vier Jahre älter. Er hatte schokoladenbraune Haut und einen sportlichen Körper. Wir hatten uns in meinem Fußballclub kennengelernt. Er leitete dort eine der Abteilungen des Vereins. Da war ich noch eine kleine unwissende Fußballerin, gerade mal 15. Er begann sich für mich zu interessieren, kam zu unserem Training, saß am Spielfeldrand und schaute mir zu. Ich reagierte damals noch sehr schüchtern und zu Jungen war ich nicht besonders freundlich. Eines Tages ging ich zu einem Spiel im großen NyayoStadion. Er folgte mir von zu Hause aus, was ich erst gar nicht bemerkte. Plötzlich kam er auf mich zu und sprach mich an. Ich bekam einen Riesenschreck und dachte, er wolle nur den Macker spielen, um mich zu beeindrucken. »Du spielst doch nur mit mir«, sagte ich, »lass mich in Ruhe.« Ich ließ ihn stehen und lange Zeit passierte nichts.
Dann bekam er ein Jahresstipendium in Norwegen. Bevor er abreiste, rief er mich an, sagte, er vermisse mich. Er verließ Kenia und ich begann ernsthaft über ihn nachzudenken. Ich konnte ihn nicht vergessen, er tauchte in meinen Gedanken und in meinen Träumen auf. Ende 2003 kam er zurück, wir trafen uns und merkten, dass wir einander tatsächlich vermisst hat ten. Ich verknallte mich total in ihn, es ist einfach so passiert. Von da an waren wir nun schon seit rund fünf Jahren zusammen, mit allen Höhen und Tiefen, mit manchen Trennungen und Versöhnungen. Für mich hatte es nie einen anderen Kerl gegeben, er war trotz aller Probleme so etwas wie die Liebe meines Le bens.
An diesem Abend mischte er sich nicht in meine Gespräche ein, er setzte sich und hörte uns zu. Nach einer weiteren Plauderstunde ging ich aus dem Haus, um »eine Schlange zu killen«, wie wir hier salopp sagen, wenn wir zur Toilette müssen. Im Mathare Slum befinden sich die Klos meistens nicht im Haus, man muss ein Stück über die holprigen, unbefestigten und dunklen Gassen gehen, ich brauchte gut fünf Minuten dafür. Das ist immer sehr unangenehm, denn du weißt nie, wer auf dich lauert. Viele Mädchen werden auf diesen Gängen im Dunkeln belästigt und vergewaltigt. Ich erledigte mein Geschäft und nichts war passiert. Als ich zurückkam, trat mir mein Freund plötzlich in den Weg. »Hallo«, grüßte er scheu, »du wirst berühmt.«
»Ach, Unsinn«, sagte ich.
»Alle beneiden dich, du bist ein Star. Nun wirst du wohl noch weniger Zeit für mich haben, oder?«, fragte er leicht scherzend.
»Hey, Mann, hör auf. Ich bin nur sehr beschäftigt«, entgegnete ich.
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Tief im Innern spürte ich, dass ich auch ohne ihn ganz gut klarkam. Aber gleichzeitig vermisste ich ihn auch, wenn wir längere Auszeiten in unserer Beziehung hatten. Ein ewiges Auf und Ab der Gefühle eben.
Eine Weile blieben wir stehen und quatschten über dies und das. Wir erzählten uns eine Menge, denn wir hatten uns diesmal drei Monate nicht getroffen. Es war schön, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. »Lass uns woanders hingehen, wo wir ungestört sind«, schlug er vor, »vielleicht in eine Bar in der Stadt.« Eigentlich war ich müde und wollte nach Hause laufen, aber dann dachte ich, es wäre gut, auch mal ein wenig Zeit nur für uns zu haben und mal über einige Dinge zu reden. Ich willigte ein, mit ihm die Party zu verlassen. Doch wir gingen nicht wie geplant in eine Bar, sondern zu ihm nach Hause. Das erschien mir auch besser, denn ich brauchte bald Schlaf. Bis weit nach Mitternacht saßen wir bei Schummerlicht in seiner Bude, redeten, redeten und redeten. Und irgendwann, ja, da lag ich in seinen Armen und wir liebten uns.
Knapp sieben Wochen danach, eben an jenem Tag vor dem 25. Januar 2008, raste mir all dies durch den Kopf. Monicas Zureden half nichts. Immer wieder dachte ich: Du bist schwanger! Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meine Zukunft. Ich wollte Gewissheit, aber ich hatte auch Angst davor. Ganz allein eilte ich durch die Straßen von Kariobangi, vorbei an den fliegenden Händlern und den Buden aus Holz und Wellblech, zu der kleinen Apotheke in unserer Nähe und kaufte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen Schwangerschaftstest. So schnell wie möglich lief ich nach Hause, hoffte, niemandem aus der Familie oder Freunden zu begegnen, und schloss mich umgehend in der Toilette ein. Ohne zu zögern, pinkelte ich auf den Teststreifen und war gespannt auf das Ergebnis, auch wenn ich mir tief in meinem Herzen ein negatives Resultat herbeiwünschte. Ich war nervös und zitterte vor Angst. Einige Sekunden vergingen. Aber was immer der Test anzeigte - ich habe es nie erfahren. Aus Furcht vor einem positiven Ergebnis warf ich das kleine Ding weg, ohne nachzuschauen. Ich konnte der Wahrheit nicht ins Auge sehen! Danach machte mich die Ungewissheit fertig und sie gipfelte in einer schlaflosen und sorgenvollen Nacht.
Total aufgelöst und übermüdet entschloss ich mich zu einem zweiten Schwangerschaftstest. Diesmal schickte ich meine jüngs - te Schwester Vivianne zur Apotheke. Sie stellte keine Fragen, gerade so, als würde ich sie zum Brötchenholen schicken. Natürlich war sie nicht dumm, sie konnte ja lesen und wusste, wofür der Test war. Aber sie besorgte ihn einfach, gab ihn mir wortlos und fragte mich auch nicht nach dem Ergebnis. Wieder ging ich zur Toilette. Dieses Mal war ich mutig genug. Negativ oder positiv - ich war bereit! Ich hielt die Spannung nicht mehr aus. Dann ging es ganz schnell: Das Papier verfärbte sich, erster Balken, zweiter Balken - positiv!
In meinem Schädel hämmerte das Blut und ich zitterte am ganzen Leib. Was nun? Wie sollte es weitergehen? Mit nur zwanzig Jahren und so vielen Plänen? Ich wollte doch Fußballprofi in Deutschland oder den USA werden, hatte vielleicht eine große Karriere vor mir, die mir und meiner Familie ein besseres Leben würde ermöglichen können. Ich hatte große Träume im Kopf, und nun? Ein Kind im Bauch. Ich liebe Kinder und ich wollte auch immer irgendwann, wenn ich so 26, 27 oder 28 wäre, eins haben. Aber jetzt doch nicht, wenn mein Kind geboren würde, wäre ich erst 21! Viele Mädchen, die bei uns Fußball spielen, bekommen schon früh ein Kind, meist mit 18, oft sogar eher, und das ist, ehrlich gesagt, meist das Ende ihrer Fußballträume - abgesehen von all den anderen Problemen, die sich dadurch auftun.
Wie sollte ich das meiner Familie erklären, meinen Freunden? Wie würden sich all die Jungen und Mädchen fühlen, die mich anhimmelten? Immer hatte ich als Vorbild im Verein den jungen Mädchen geraten, vorsichtig zu sein, beim Sex stets ein Kondom zu benutzen. Sie könnten sagen: »Du predigst Wasser und trinkst selbst Wein.« Und ich könnte antworten: »Macht, was ich sage, nicht das, was ich tue.«
Dann riss ich mich zusammen. In Suaheli sagen wir liwe liwalo - was passiert ist, ist passiert. Ich musste mich dem allem stellen und lernen, damit umzugehen. Noch am selben Tag meines positiven Tests entschloss ich mich, zu meinem Freund zu gehen und ihm die Neuigkeit zu erzählen. Ich besuchte ihn, machte keine Umschweife und rückte sofort mit der Sprache raus.
»Ich bin schwanger!«
Er war schockiert, zog peinlich berührt die Augenbrauen hoch und sagte eine Weile - nichts! Das schockte wiederum mich!
»Doreen, ich möchte noch kein Kind.« Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wir sind jetzt beide verantwortlich für das Baby, verstehst du?«, sagte ich.
Er schwieg, schaute auf den Boden.
»Ich wollte es auch nicht, wir beide haben Mist gebaut«, fügte ich hinzu.
»Überleg mal, das ist doch das Ende deiner Karriere«, behauptete er und fragte dann entrüstet: »Was sollen die Leute über mich denken? Ich habe deine Zukunft kaputt gemacht. Ich kann nicht mehr vor unsere Freunde treten.«
»Na und?« Ich konnte es nicht fassen!
»Bitte, bitte, lass dir das Kind wegmachen!«
Der Satz traf mich ins Herz. Ich schnappte nach Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ich konnte nicht glauben, was ich da eben hörte, und war fast sprachlos.
»Bitte, es ist besser für uns alle. Treib ab«, wiederholte er.
Ich war fassungslos. Ich sollte ein unschuldiges Leben beenden, nur um sein Saubermann-Image zu schützen? Das würde ich niemals tun.
»Ich werde auf keinen Fall abtreiben!«, hielt ich ihm entgegen.
»Das hast du doch alles nur geplant, um mich an dich zu binden. Du willst doch nur, dass ich dich heirate!«, schrie er verzweifelt.
»Blödsinn!«, brüllte ich zurück. Ich wollte es nicht wahrhaben. Wie konnte er nur wie ein unreifer Schulbube denken, anstatt seine Verantwortung anzuerkennen und nach vorn zu blicken?
Ich weinte, bekam kein Wort mehr über die Lippen und lief davon. Er ging mir auf die Nerven. Jedes Mal wenn ich später an diesen hitzigen Streit dachte, musste ich wieder heulen. Aber ich kam dann gestärkt heraus, und ich bedrängte ihn nicht, er interessierte mich nicht mehr. Irgendwie hatte ich schon fast erwartet, dass er so reagieren würde. Unser Verhältnis war wirklich nicht mehr das beste. Er kümmerte sich weniger um mich und schien mich nicht mehr so zu lieben wie am Anfang. Und nun konnte er einfach nicht über seinen Schatten springen, nicht mannhaft zu seiner »Tat« stehen. Viele Gedanken sprangen durch meinen Kopf, auch die Angst, Aids zu haben und mein Kind anzustecken. Ich blieb zwar all die Jahre nur bei meinem Freund, und das war bezüglich des Virus ja auch der beste Schutz. Aber ich konnte natürlich nie genau wissen, was er so trieb, wenn ich nicht bei ihm war. Ich vertraute ihm zwar, aber ein Restrisiko blieb immer. So machte ich den Aidstest, als ich wusste, dass ich schwanger war. Als sie mir sagten, ich sei HIV-negativ, war ich richtig glücklich und feierte die gute Nachricht.
© 2011 vgs verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Doreen Nabwire, Herbert Ostwald
Doreen Nabwire Omondi wurde 1987 in Nairobi/Kenia geboren. Bereits mit 9 Jahren trat sie einem Fußballclub bei. Ab 2002 kickte sie für die Frauennationalmannschaft Kenias und gewann 2006 in Berlin den Weltmeistertitel im Straßenfußball. 2007 war sie Botschafterin für die FIFA Initiative Football for Hope, 2009 spielte sie für Werder Bremen. Inzwischen steht Doreen bei einem niederländischen Verein unter Vertrag.Herbert Ostwald arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Journalist für TV, Hörfunk und Print. Von 2002 bis 2008 lebte er in Nairobi.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Doreen Nabwire , Herbert Ostwald
- 2011, 191 Seiten, Maße: 13,8 x 21,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: EGMONT VGS
- ISBN-10: 3802537165
- ISBN-13: 9783802537165
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