Trübe Wasser sind kalt
Kay Scarpetta wird zu einem mysteriösen Fall gerufen: Die Leiche eines Reporters wurde auf einem alten Schiffsfriedhof entdeckt. Was trieb den jungen Mann dazu, zwischen ausrangierten U-Booten und Frachtern der US-Marine zu tauchen? Bei ihren...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Trübe Wasser sind kalt “
Kay Scarpetta wird zu einem mysteriösen Fall gerufen: Die Leiche eines Reporters wurde auf einem alten Schiffsfriedhof entdeckt. Was trieb den jungen Mann dazu, zwischen ausrangierten U-Booten und Frachtern der US-Marine zu tauchen? Bei ihren Nachforschungen gerät Kay in einen Strudel des Bösen, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.
Klappentext zu „Trübe Wasser sind kalt “
An diesem Tag des blutigsten Jahres, das Virginia seit dem Bürgerkrieg erlebt hat, wird Kay Scarpetta, Chefin der Gerichtsmedizin von Virginia und forensische Beraterin des FBI, noch einmal zum Schauplatz eines Mordes gerufen. Auf dem alten Schiffsfriedhof am Elizabeth River soll eine Leiche liegen. Sie kannte den Toten gut. Was trieb den Reporter Ted Eddings dazu, zwischen ausrangierten U-Booten und Frachtern der US-Marine zu tauchen? War er hinter Reliquien vergangener Schlachten her oder recherchierte er für eine aktuelle Geschichte? Zusammen mit dem getreuen Captain Marino und ihrem FBI-Kollegen und Liebhaber Benton Wesley versucht sie einen Fall zu lösen, der all ihre detektivischen Fähigkeiten und den Einsatz modernster Technologie fordert. Aber am Ende kann nur sie allein die ungeheure Katastrophe, die ihrem Land droht, vielleicht noch verhindern. Scarpetta schließt mit dem Leben ab.
Lese-Probe zu „Trübe Wasser sind kalt “
Noch vor Anbruch des letzten Tages im blutigsten Jahr, das Virginia seit dem Bürgerkrieg erlebt hatte, machte ich Feuer und setzte mich an das dunkle Fenster, das mir nach Sonnenaufgang das Meer zeigen würde. Ich saß im Morgenmantel im Schein der Lampe und sah die Jahresstatistik meiner Behörde über die Verkehrsunfälle, Prügeleien, Schießereien und Messerstechereien durch, als um Viertel nach fünf das Telefon aufdringlich klingelte."Verdammt", brummte ich, denn meine Bereitschaft, an Dr. Philip Mants Telefon zu gehen, ließ spürbar nach. "Schon gut, schon gut."
Sein verwittertes Cottage in der kleinen Gemeinde Sandbridge direkt an der Küste Virginias zwischen dem Marinestützpunkt und dem Naturschutzgebiet Back Bay lag versteckt hinter einer Düne. Mant war mein Leichenbeschauer für den Bezirk Tidewater. Seine Mutter war bedauerlicherweise an Heiligabend gestorben. Unter normalen Umständen hätte seine Reise nach London, wo er die Familienangelegenheiten regeln mußte, keine Notlage in der Gerichtsmedizin Virginias geschaffen, aber die stellvertretende forensische Pathologin war im Mutterschaftsurlaub, und der Leichenschauhaus-Aufseher hatte gerade gekündigt.
"Bei Dr. Mant", meldete ich mich. Vor den Fensterscheiben zauste der Wind die dunklen Umrisse der Kiefern.
"Hier ist Officer Young von der Polizei Chesapeake", sagte jemand, der wie ein im Süden geborener und aufgewachsener Weißer klang. "Könnte ich bitte Dr. Mant sprechen?"
"Er ist verreist", entgegnete ich. "Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?"
"Sind Sie Mrs. Mant?"
"Ich bin Dr. Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner. Ich vertrete Dr. Mant."
Der Anrufer zögerte und fuhr dann fort: "Wir haben einen Hinweis auf einen Todesfall bekommen. Einen anonymen Anruf."
"Wissen Sie, wo es sich ereignet haben soll?" Ich hatte mir schon Stift und Papier bereitgelegt.
"Auf dem Schiffsfriedhof der Marine." "Wie bitte?" Ich blickte auf. Er wiederholte seine Worte.
"Um wen handelt es sich,
... mehr
einen Navy-SEAL?" Ich war verblüfft, denn meines Wissens hatten nur diese speziell ausgebildeten Marinetaucher im Manövereinsatz Zugang zu den in der Werft vertäuten, ausrangierten Schiffen.
"Wir wissen nicht, wer es ist, aber er könnte nach Überbleibseln aus dem Bürgerkrieg gesucht haben."
"Im Finstern?"
"Ma'am, das Gelände ist militärischer Sicherheitsbereich. Aber das hat die Leute schon früher nicht davon abgehalten, sich da herumzutreiben. Sie stehlen sich in Booten hin, und das geht immer nur im Dunkeln."
"So etwas hat der anonyme Anrufer angedeutet?"
"So ziemlich."
"Klingt ja interessant."
"Das dachte ich auch."
"Und die Leiche ist noch nicht gefunden worden", sagte ich, denn ich wunderte mich immer noch, warum dieser Officer es für nötig gehalten hatte, zu so früher Stunde einen Gerichtspathologen zu verständigen, wenn nicht einmal eindeutig feststand, daß es eine Leiche gab oder daß überhaupt jemand vermißt wurde.
"Wir sind auf der Suche danach, und die Navy schickt ein paar Taucher, da kriegen wir die Sache in den Griff, wenn alles gutgeht. Ich wollte Sie lediglich darauf aufmerksam machen. Und richten Sie Dr. Mant mein Beileid aus."
"Ihr Beileid?" rätselte ich, denn wenn er von Dr. Mants Situation wußte, warum hatte er dann nach ihm gefragt.
"Ich habe gehört, seine Mutter ist gestorben."
Ich setzte die Spitze meines Stifts auf das Blatt Papier.
"Würden Sie mir bitte Ihren vollen Namen nennen, und wie Sie zu erreichen sind?"
"S.T. Young." Er gab mir eine Telefonnummer, und wir legten auf.
Ich starrte in das schwache Feuer im Kamin und fühlte mich unbehaglich und einsam, als ich aufstand, um Holz nachzulegen. Ich wäre viel lieber in Richmond gewesen, in meinem eigenen Haus mit Kerzen in den Fenstern und der mit altem Christbaumschmuck dekorierten Fraser-Tanne. Ich wollte Mozart und Händel hören statt des schrill ums Dach pfeifenden Winds, und ich wünschte, ich hätte Mants freundliches Angebot, in seinem Haus statt in einem Hotel zu wohnen, nicht angenommen. Ich machte weiter mit der Überprüfung der Statistik, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich stellte mir das schlammige Wasser des Elizabeth River vor, das zu dieser Jahreszeit wohl eine Temperatur von weniger als 15 Grad hatte, und die Sicht betrug bestenfalls einen halben Meter.
Gut, manche tauchten im Winter in der Chesapeake Bay nach Austern oder fuhren dreißig Meilen auf den Atlantik hinaus, um einen versunkenen Flugzeugträger oder ein deutsches U-Boot zu erkunden oder andere Wunderdinge, wonach zu tauchen sich lohnte. Aber im Elizabeth River, wo die Navy ihre ausrangierten Schiffe hinbrachte, schien es wenig Verlockendes zu geben, egal bei welchem Wetter. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß jemand dort im Winter nach Einbruch der Dunkelheit allein tauchen sollte, um nach altem Gerümpel oder so zu suchen, und glaubte, der anonyme Hinweis würde sich als pures Spinnertum erweisen.
Ich stand aus dem Lehnstuhl auf und ging ins Schlafzimmer, wo meine Habseligkeiten fast über den ganzen kühlen, kleinen Raum verbreitet waren. Ich zog mich rasch aus und duschte hastig, denn ich hatte schon am ersten Tag hier entdeckt, daß der Boiler nicht viel hergab. Offen gestanden fühlte ich mich überhaupt nicht wohl in Dr. Mants zugigem Haus mit der knorrigen, hellen Kieferntäfelung und den dunkelbraun gestrichenen Böden, auf denen jedes Stäubchen zu sehen war. Mein britischer Deputy Chief schien in einem düsteren Windfang zu leben, und ich fror ständig in seiner spärlich möblierten Bleibe. Zudem verstörten mich hier unidentifizierbare Geräusche, weswegen ich manchmal aus dem Schlaf hochfuhr und nach meiner Waffe griff.
In einen Morgenmantel gehüllt, das Haar mit einem Handtuch umwickelt, kontrollierte ich Gästezimmer und Bad, um mich zu vergewissern, daß alles für die Ankunft meiner Nichte Lucy am Mittag bereit war. Dann warf ich einen Blick in die Küche, die im Vergleich zu meiner eigenen erbärmlich war. Es schien, als hätte ich bei meiner gestrigen Einkaufsfahrt nach Virginia Beach nichts vergessen, aber ich würde ohne Knoblauchpresse, Spaghettimaschine, Mixer und Mikrowellenherd auskommen müssen. Ich fragte mich schon ernsthaft, ob Mant jemals zu Hause aß oder sich überhaupt hier aufhielt. Wenigstens hatte ich daran gedacht, mein eigenes Besteck und Kochgeschirr mitzubringen, und solange ich gute Messer und Töpfe hatte, würde ich schon zurechtkommen.
Ich las noch ein wenig, schlief dann aber im Schein der Stehlampe wieder ein. Wieder riß mich das Telefon hoch, und ich griff nach dem Hörer, während sich meine Augen erst noch an das Sonnenlicht gewöhnen mußten, das mir nun ins Gesicht fiel.
"Hier Detective C.T. Roche, Chesapeake", sagte eine andere, mir unbekannte männliche Stimme. "Soviel ich weiß, vertreten Sie Dr. Mant, und wir brauchen unbedingt sofort eine Antwort von Ihnen. Es sieht so aus, als hätte es auf dem Marine-Schiffsfriedhof einen Todesfall beim Tauchen gegeben. Wir müssen uns an die Bergung der Leiche machen."
"Ich nehme an, es handelt sich um den Fall, von dem mich einer Ihrer Beamten vorhin schon unterrichtet hat?"
Auf langes Schweigen folgte die eher defensive Bemerkung: "Soweit ich weiß, bin ich der erste, der Sie benachrichtigt."
"Ein Officer Young rief mich heute früh um Viertel nach fünf an. Einen Augenblick." Ich sah auf meinen Notizzettel. "Initialen S wie Sam und T wie Tom."
Wieder Sendepause, dann sagte er im gleichen Ton: "Also, ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden, bei uns ist niemand mit diesem Namen."
Mein Adrenalinpegel stieg, während ich mir Notizen machte. Es war dreizehn Minuten nach neun. Ich war verblüfft über das, was er gesagt hatte. Wenn der erste Anrufer nicht von der Polizei war, wer war er dann, warum hatte er angerufen, und woher kannte er Mant?
"Wann wurde die Leiche gefunden?" fragte ich Roche.
"Gegen sechs Uhr bemerkte ein Wachmann einen Kahn, hinter einem der Schiffe vertäut. Ein langer Schlauch führte ins Wasser, als würde dort jemand tauchen. Und als sich nach einer Stunde nichts gerührt hatte, wurden wir gerufen. Ein Taucher fand dann, wie schon gesagt, eine Leiche."
"Ist sie identifiziert?"
"Wir haben im Boot eine Brieftasche gefunden. Der Führerschein ist auf einen Theodore Andrew Eddings ausgestellt."
"Der Reporter?" sagte ich ungläubig. "Der Ted Eddings?"
"Weiß, zweiunddreißig Jahre alt, braunes Haar und blaue Augen, dem Foto nach. Er wohnt in der West Grace Street in Richmond."
Der Ted Eddings, den ich kannte, war ein preisgekrönter Reporter für Associated Press. Es verging kaum eine Woche, in der er nicht wegen irgend etwas anrief. Einen Augenblick lang konnte ich fast nicht denken.
"Wir haben aus dem Boot auch eine Neun-Millimeter-Pistole geborgen", sagte er.
Als ich wieder sprach, klang ich sehr entschieden. "Seine Identität darf auf keinen Fall der Presse oder sonst wem bekanntgegeben werden, bevor sie nicht bestätigt ist."
"Das habe ich allen bereits gesagt. Keine Bange."
"Gut. Und niemand hat eine Ahnung, warum diese Person auf dem Schiffsfriedhof getaucht haben könnte?" fragte ich.
"Er könnte nach irgendwelchem Zeug aus dem Bürgerkrieg gesucht haben."
"Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?"
"Eine Menge Leute suchen in den Flüssen hier nach Kanonenkugeln und solchen Sachen", meinte er. "Okay. Wir machen also weiter und holen ihn raus, damit er nicht länger als notwendig dort unten bleibt."
"Ich möchte nicht, daß er berührt wird, und wenn er noch etwas länger im Wasser bleibt, macht das auch nichts mehr."
"Was haben Sie vor?" Er klang wieder abwehrend.
"Das weiß ich erst, wenn ich dort bin."
"Also, ich glaube nicht, daß Ihre Anwesenheit notwendig ..."
"Detective Roche", unterbrach ich ihn, "ob es notwendig ist, daß ich zum Tatort komme, und was ich dort tue, darüber zu entscheiden, liegt nicht in Ihrem Ermessen."
"Nun ja, ich hab da all die Leute warten, und heute nachmittag soll es schneien. Niemand will sich da draußen an der Pier die Beine in den Bauch stehen."
"Nach dem in Virginia gültigen Recht bin ich für die Leiche zuständig, und nicht sie oder irgend jemand anderes, ob von der Polizei, der Feuerwehr, der Rettung oder einem Beerdigungsinstitut. Niemand berührt die Leiche, bis ich es erlaube." Ich sprach mit gerade soviel Schärfe, daß er merkte, ich konnte auch streng sein.
"Wie schon gesagt, dann werde ich all den Leuten auf dem Gelände mitteilen müssen, daß sie sich zu gedulden haben, und das wird sie nicht freuen. Die Navy setzt mir bereits ganz schön zu, ich soll das Gelände verlassen, bevor Reporter auftauchen."
"Das ist kein Fall der Navy."
"Das müssen Sie denen sagen. Es sind ihre Schiffe."
"Das werde ich ihnen gern sagen. In der Zwischenzeit teilen Sie allen mit, daß ich unterwegs bin", sagte ich, bevor ich auflegte. Da mir klar war, daß ich erst in ein paar Stunden wieder zu dem Cottage zurückkehren würde, heftete ich an die Haustür eine Nachricht mit verschlüsselten Anweisungen für Lucy, wie sie in meiner Abwesenheit ins Haus gelangen konnte. Ich versteckte einen Schlüssel so, daß nur sie ihn finden konnte, und packte dann meine Arzttasche und die Tauchausrüstung in den Kofferraum meines schwarzen Mercedes. Um Viertel vor zehn war die Temperatur auf drei Grad angestiegen, und meine Versuche, Captain Pete Marino in Richmond zu erreichen, hatten bisher zu nichts geführt.
"Gott sei Dank", murmelte ich, als endlich mein Autotelefon klingelte.
Ich schnappte es. "Scarpetta."
"Hi."
"Du hast deinen Piepser an. Das schockiert mich", sagte ich.
"Wenn du so schockiert bist, warum, zum Teufel, rufst du dann an?" Er klang erfreut, von mir zu hören. "Was ist los?"
"Erinnerst du dich an den Reporter, den du überhaupt nicht leiden magst?" Ich achtete darauf, keine Details preiszugeben, weil wir über Funk sprachen und abgehört werden konnten.
"Welcher denn?"
"Der für AP arbeitet und immer bei mir im Büro vorbeischaut." Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: "Worum geht's denn? Hast du einen Termin mit ihm?"
"Bedauerlicherweise ja. Ich bin unterwegs zum Elizabeth River. Chesapeake hat gerade angerufen."
"Augenblick mal. Nicht die Art von Termin." Er hörte sich besorgt an.
"Ich fürchte, doch."
"Ach du Scheiße."
"Wir haben bisher nur einen Führerschein. Wir können also noch nicht sicher sein. Ich werde runtergehen und ihn mir anschauen, bevor wir ihn rausholen."
"Jetzt halt, zum Teufel, noch mal, die Luft an", sagte er. "Warum mußt du unbedingt so was machen? Können das nicht andere erledigen?"
"Ich muß ihn sehen, bevor er bewegt wird", wiederholte ich.
Marino war sehr ungehalten, weil er stets viel zu besorgt war um mich. Er brauchte gar kein Wort mehr zu sagen, um mir das zu vermitteln.
"Ich habe mir bloß gedacht, du könntest eventuell seine Wohnung in Richmond überprüfen", sagte ich ihm.
"Ja ja. Das mache ich todsicher."
"Ich weiß nicht, was uns erwartet."
"Also ich wünschte mir, du würdest die das zuerst rausfinden lassen."
In Chesapeake nahm ich die Ausfahrt Elizabeth River und bog nach links auf die High Street ab, wo ich an Kirchen, Gebrauchtwagenangeboten und Wohnwagensiedlungen vorbeikam. Hinter dem örtlichen Gefängnis und dem Polizeirevier verlor sich die Marinekaserne in weiträumigem, deprimierendem Schrottgelände, das von einem stacheldrahtbewehrten, rostigen Zaun umgeben war. Inmitten dieser riesigen Fläche, wo überall Metall herumlag und das Unkraut nur so wucherte, befand sich ein Kraftwerk, das anscheinend Müll und Kohle verbrannte, um den Schiffsfriedhof mit Energie für sein trostloses und träges Geschäft zu versorgen. Schornsteine und Gleisanlagen waren heute nicht in Betrieb, alle Kräne am Trockendock standen still. Schließlich war Silvester. Ich fuhr auf das Hauptquartier zu, einen Bau aus langweiligen, rotgrauen Hohlblocksteinen, hinter dem sich lange, gepflasterte Kais erstreckten. Am Wachtor trat ein junger Mann in Zivilkleidung und mit Schutzhelm aus seinem Häuschen. Ich ließ das Fenster herunter. Am windgepeitschten Himmel wirbelten die Wolken vorbei.
"Dies ist militärischer Sicherheitsbereich." Er verzog keine Miene.
"Ich bin Dr. Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner", sagte ich und hielt meine Messingplakette hoch, das Symbol dafür, daß ich bei jedem plötzlichen, unbeobachteten, unerklärlichen oder gewaltsamen Todesfall im Bundesstaat Virginia juristisch zuständig war.
Er beugte sich vor und studierte meine Beglaubigung. Ein paarmal blickte er mir ins Gesicht und starrte auf meinen Wagen.
"Sie sind der Chief Medical Examiner?" fragte er. "Wie kommt es dann, daß Sie keinen Leichenwagen fahren?"
Ich hatte das schon öfter gehört und antwortete geduldig: "Leute, die in Bestattungsunternehmen arbeiten, fahren Leichenwagen. Ich arbeite nicht in einem Bestattungsunternehmen. Ich stelle die Todesursache fest."
"Ich brauche noch einen anderen Ausweis von Ihnen."
Ich gab ihm meinen Führerschein und hatte keine Zweifel mehr daran, daß solche Art von Einmischung nicht aufhören würde, nachdem ich eine Durchfahrtsgenehmigung bekommen hatte. Er trat ein paar Schritte von meinem Auto zurück und hob ein Funkgerät an die Lippen.
"Einheit elf an Einheit zwei." Er drehte sich von mir weg, als würde er gleich eine Geheimsache durchgeben.
"Zwei", kam krächzend die Antwort.
"Ich hab eine Dr. Scaylatta hier." Er sprach meinen Namen so falsch wie kaum jemand.
"Tenfour. Bereit."
"Ma'am", sagte der Wachtposten zu mir, "fahren Sie einfach geradeaus, dann kommt rechts ein Parkplatz." Er deutete mit der Hand in die Richtung. "Sie stellen Ihren Wagen dort ab und gehen zur Pier Zwei, wo Sie Captain Green erwartet. An den müssen Sie sich wenden."
"Und wo finde ich Detective Roche?" fragte ich.
"Sie müssen sich an Captain Green wenden", sagte er noch einmal.
Ich kurbelte das Fenster wieder hoch, während er ein Tor öffnete, auf dem Schilder mir verkündeten, daß ich nun Gelände betrat, wo Gefahr drohte von Farbsprühfilm, Sicherheitsausrüstung verlangt und Parken nur auf eigenes Risiko erlaubt war. In der Ferne ragten graue Frachter, Panzerlandungsschiffe, Minensucher, Fregatten und Tragflächenboote bedrohlich in den kalten Himmel. Auf der zweiten Pier hatten sich Rettungswagen, Polizeiautos und eine kleine Menschengruppe eingefunden.
Ich stellte meinen Wagen wie befohlen ab und schritt dann forsch auf sie zu. Sie starrten mir entgegen. Ich hatte meine Arzttasche und die Tauchausrüstung im Auto gelassen und lieferte ihnen so das Bild einer Frau mittleren Alters mit leeren Händen, in Wanderstiefeln, Wollhose und armeegrünem Mantel. Kaum hatte ich den Kai betreten, schnitt mir ein kultiviert aussehender, uniformierter Mann mit grauen Schläfen den Weg ab, als wäre ich unbefugt auf das Gelände eingedrungen. Ohne den Anflug eines Lächelns trat er mir entgegen.
"Kann ich Ihnen helfen?" fragte er in einem Ton, der mir Halt gebot. Der Wind hatte seine Haare aufgerichtet und seine Wangen gerötet.
Ich erklärte noch einmal, wer ich war.
"Ah gut." Er klang eindeutig nicht so, als meinte er dies. "Ich bin Captain Green vom Navy Investigative Service. Wir müssen wirklich mit der Sache vorankommen. Hör zu", er wandte sich von mir ab und sprach zu jemand anderem. "Wir müssen diese KDs wegschaffen ..."
"Entschuldigen Sie? Sie sind vom NIS?" schaltete ich mich ein, denn das mußte sofort geklärt werden. "Ich war der Meinung, daß dieses Gelände nicht der Navy gehört. Wenn es Navy-Gelände ist, dann ist meine Anwesenheit nicht erforderlich. Dann ist das ein Navy-Fall, und die Autopsie sollte ein Pathologe der Navy vornehmen."
"Ma'am", sagte er, als wollte ich seine Geduld strapazieren, "dieses Gelände untersteht einem Zivilunternehmen und gehört deshalb nicht der Navy. Aber wir haben ein naheliegendes Interesse, weil offenbar jemand unbefugt bei unseren Schiffen getaucht ist."
"Haben Sie eine Vermutung, warum jemand das getan haben könnte?" Ich blickte mich um.
"Ein Paar Schatzjäger meinen, sie würden im Wasser hier Kanonenkugeln, alte Schiffsglocken und was weiß ich noch alles finden."Wir standen zwischen dem Frachter El Paso und dem U-Boot Exploiter, beide glanzlos und starr im Fluß. Das Wasser sah wie Cappuccino aus, und mir wurde klar, daß die Sicht noch schlechter sein würde, als ich befürchtet hatte. Neben dem U-Boot war eine Tauchplattform. Aber ich sah nichts, was auf das Opfer hindeutete, keine Rettungs- oder Polizeitrupps, die diesen Todesfall bearbeiten sollten. Ich fragte Green danach, während der vom Wasser wehende Wind mir das Gesicht taub werden ließ, und statt einer Antwort bekam ich wieder den Rücken zugedreht.
"Wir wissen nicht, wer es ist, aber er könnte nach Überbleibseln aus dem Bürgerkrieg gesucht haben."
"Im Finstern?"
"Ma'am, das Gelände ist militärischer Sicherheitsbereich. Aber das hat die Leute schon früher nicht davon abgehalten, sich da herumzutreiben. Sie stehlen sich in Booten hin, und das geht immer nur im Dunkeln."
"So etwas hat der anonyme Anrufer angedeutet?"
"So ziemlich."
"Klingt ja interessant."
"Das dachte ich auch."
"Und die Leiche ist noch nicht gefunden worden", sagte ich, denn ich wunderte mich immer noch, warum dieser Officer es für nötig gehalten hatte, zu so früher Stunde einen Gerichtspathologen zu verständigen, wenn nicht einmal eindeutig feststand, daß es eine Leiche gab oder daß überhaupt jemand vermißt wurde.
"Wir sind auf der Suche danach, und die Navy schickt ein paar Taucher, da kriegen wir die Sache in den Griff, wenn alles gutgeht. Ich wollte Sie lediglich darauf aufmerksam machen. Und richten Sie Dr. Mant mein Beileid aus."
"Ihr Beileid?" rätselte ich, denn wenn er von Dr. Mants Situation wußte, warum hatte er dann nach ihm gefragt.
"Ich habe gehört, seine Mutter ist gestorben."
Ich setzte die Spitze meines Stifts auf das Blatt Papier.
"Würden Sie mir bitte Ihren vollen Namen nennen, und wie Sie zu erreichen sind?"
"S.T. Young." Er gab mir eine Telefonnummer, und wir legten auf.
Ich starrte in das schwache Feuer im Kamin und fühlte mich unbehaglich und einsam, als ich aufstand, um Holz nachzulegen. Ich wäre viel lieber in Richmond gewesen, in meinem eigenen Haus mit Kerzen in den Fenstern und der mit altem Christbaumschmuck dekorierten Fraser-Tanne. Ich wollte Mozart und Händel hören statt des schrill ums Dach pfeifenden Winds, und ich wünschte, ich hätte Mants freundliches Angebot, in seinem Haus statt in einem Hotel zu wohnen, nicht angenommen. Ich machte weiter mit der Überprüfung der Statistik, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich stellte mir das schlammige Wasser des Elizabeth River vor, das zu dieser Jahreszeit wohl eine Temperatur von weniger als 15 Grad hatte, und die Sicht betrug bestenfalls einen halben Meter.
Gut, manche tauchten im Winter in der Chesapeake Bay nach Austern oder fuhren dreißig Meilen auf den Atlantik hinaus, um einen versunkenen Flugzeugträger oder ein deutsches U-Boot zu erkunden oder andere Wunderdinge, wonach zu tauchen sich lohnte. Aber im Elizabeth River, wo die Navy ihre ausrangierten Schiffe hinbrachte, schien es wenig Verlockendes zu geben, egal bei welchem Wetter. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß jemand dort im Winter nach Einbruch der Dunkelheit allein tauchen sollte, um nach altem Gerümpel oder so zu suchen, und glaubte, der anonyme Hinweis würde sich als pures Spinnertum erweisen.
Ich stand aus dem Lehnstuhl auf und ging ins Schlafzimmer, wo meine Habseligkeiten fast über den ganzen kühlen, kleinen Raum verbreitet waren. Ich zog mich rasch aus und duschte hastig, denn ich hatte schon am ersten Tag hier entdeckt, daß der Boiler nicht viel hergab. Offen gestanden fühlte ich mich überhaupt nicht wohl in Dr. Mants zugigem Haus mit der knorrigen, hellen Kieferntäfelung und den dunkelbraun gestrichenen Böden, auf denen jedes Stäubchen zu sehen war. Mein britischer Deputy Chief schien in einem düsteren Windfang zu leben, und ich fror ständig in seiner spärlich möblierten Bleibe. Zudem verstörten mich hier unidentifizierbare Geräusche, weswegen ich manchmal aus dem Schlaf hochfuhr und nach meiner Waffe griff.
In einen Morgenmantel gehüllt, das Haar mit einem Handtuch umwickelt, kontrollierte ich Gästezimmer und Bad, um mich zu vergewissern, daß alles für die Ankunft meiner Nichte Lucy am Mittag bereit war. Dann warf ich einen Blick in die Küche, die im Vergleich zu meiner eigenen erbärmlich war. Es schien, als hätte ich bei meiner gestrigen Einkaufsfahrt nach Virginia Beach nichts vergessen, aber ich würde ohne Knoblauchpresse, Spaghettimaschine, Mixer und Mikrowellenherd auskommen müssen. Ich fragte mich schon ernsthaft, ob Mant jemals zu Hause aß oder sich überhaupt hier aufhielt. Wenigstens hatte ich daran gedacht, mein eigenes Besteck und Kochgeschirr mitzubringen, und solange ich gute Messer und Töpfe hatte, würde ich schon zurechtkommen.
Ich las noch ein wenig, schlief dann aber im Schein der Stehlampe wieder ein. Wieder riß mich das Telefon hoch, und ich griff nach dem Hörer, während sich meine Augen erst noch an das Sonnenlicht gewöhnen mußten, das mir nun ins Gesicht fiel.
"Hier Detective C.T. Roche, Chesapeake", sagte eine andere, mir unbekannte männliche Stimme. "Soviel ich weiß, vertreten Sie Dr. Mant, und wir brauchen unbedingt sofort eine Antwort von Ihnen. Es sieht so aus, als hätte es auf dem Marine-Schiffsfriedhof einen Todesfall beim Tauchen gegeben. Wir müssen uns an die Bergung der Leiche machen."
"Ich nehme an, es handelt sich um den Fall, von dem mich einer Ihrer Beamten vorhin schon unterrichtet hat?"
Auf langes Schweigen folgte die eher defensive Bemerkung: "Soweit ich weiß, bin ich der erste, der Sie benachrichtigt."
"Ein Officer Young rief mich heute früh um Viertel nach fünf an. Einen Augenblick." Ich sah auf meinen Notizzettel. "Initialen S wie Sam und T wie Tom."
Wieder Sendepause, dann sagte er im gleichen Ton: "Also, ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden, bei uns ist niemand mit diesem Namen."
Mein Adrenalinpegel stieg, während ich mir Notizen machte. Es war dreizehn Minuten nach neun. Ich war verblüfft über das, was er gesagt hatte. Wenn der erste Anrufer nicht von der Polizei war, wer war er dann, warum hatte er angerufen, und woher kannte er Mant?
"Wann wurde die Leiche gefunden?" fragte ich Roche.
"Gegen sechs Uhr bemerkte ein Wachmann einen Kahn, hinter einem der Schiffe vertäut. Ein langer Schlauch führte ins Wasser, als würde dort jemand tauchen. Und als sich nach einer Stunde nichts gerührt hatte, wurden wir gerufen. Ein Taucher fand dann, wie schon gesagt, eine Leiche."
"Ist sie identifiziert?"
"Wir haben im Boot eine Brieftasche gefunden. Der Führerschein ist auf einen Theodore Andrew Eddings ausgestellt."
"Der Reporter?" sagte ich ungläubig. "Der Ted Eddings?"
"Weiß, zweiunddreißig Jahre alt, braunes Haar und blaue Augen, dem Foto nach. Er wohnt in der West Grace Street in Richmond."
Der Ted Eddings, den ich kannte, war ein preisgekrönter Reporter für Associated Press. Es verging kaum eine Woche, in der er nicht wegen irgend etwas anrief. Einen Augenblick lang konnte ich fast nicht denken.
"Wir haben aus dem Boot auch eine Neun-Millimeter-Pistole geborgen", sagte er.
Als ich wieder sprach, klang ich sehr entschieden. "Seine Identität darf auf keinen Fall der Presse oder sonst wem bekanntgegeben werden, bevor sie nicht bestätigt ist."
"Das habe ich allen bereits gesagt. Keine Bange."
"Gut. Und niemand hat eine Ahnung, warum diese Person auf dem Schiffsfriedhof getaucht haben könnte?" fragte ich.
"Er könnte nach irgendwelchem Zeug aus dem Bürgerkrieg gesucht haben."
"Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?"
"Eine Menge Leute suchen in den Flüssen hier nach Kanonenkugeln und solchen Sachen", meinte er. "Okay. Wir machen also weiter und holen ihn raus, damit er nicht länger als notwendig dort unten bleibt."
"Ich möchte nicht, daß er berührt wird, und wenn er noch etwas länger im Wasser bleibt, macht das auch nichts mehr."
"Was haben Sie vor?" Er klang wieder abwehrend.
"Das weiß ich erst, wenn ich dort bin."
"Also, ich glaube nicht, daß Ihre Anwesenheit notwendig ..."
"Detective Roche", unterbrach ich ihn, "ob es notwendig ist, daß ich zum Tatort komme, und was ich dort tue, darüber zu entscheiden, liegt nicht in Ihrem Ermessen."
"Nun ja, ich hab da all die Leute warten, und heute nachmittag soll es schneien. Niemand will sich da draußen an der Pier die Beine in den Bauch stehen."
"Nach dem in Virginia gültigen Recht bin ich für die Leiche zuständig, und nicht sie oder irgend jemand anderes, ob von der Polizei, der Feuerwehr, der Rettung oder einem Beerdigungsinstitut. Niemand berührt die Leiche, bis ich es erlaube." Ich sprach mit gerade soviel Schärfe, daß er merkte, ich konnte auch streng sein.
"Wie schon gesagt, dann werde ich all den Leuten auf dem Gelände mitteilen müssen, daß sie sich zu gedulden haben, und das wird sie nicht freuen. Die Navy setzt mir bereits ganz schön zu, ich soll das Gelände verlassen, bevor Reporter auftauchen."
"Das ist kein Fall der Navy."
"Das müssen Sie denen sagen. Es sind ihre Schiffe."
"Das werde ich ihnen gern sagen. In der Zwischenzeit teilen Sie allen mit, daß ich unterwegs bin", sagte ich, bevor ich auflegte. Da mir klar war, daß ich erst in ein paar Stunden wieder zu dem Cottage zurückkehren würde, heftete ich an die Haustür eine Nachricht mit verschlüsselten Anweisungen für Lucy, wie sie in meiner Abwesenheit ins Haus gelangen konnte. Ich versteckte einen Schlüssel so, daß nur sie ihn finden konnte, und packte dann meine Arzttasche und die Tauchausrüstung in den Kofferraum meines schwarzen Mercedes. Um Viertel vor zehn war die Temperatur auf drei Grad angestiegen, und meine Versuche, Captain Pete Marino in Richmond zu erreichen, hatten bisher zu nichts geführt.
"Gott sei Dank", murmelte ich, als endlich mein Autotelefon klingelte.
Ich schnappte es. "Scarpetta."
"Hi."
"Du hast deinen Piepser an. Das schockiert mich", sagte ich.
"Wenn du so schockiert bist, warum, zum Teufel, rufst du dann an?" Er klang erfreut, von mir zu hören. "Was ist los?"
"Erinnerst du dich an den Reporter, den du überhaupt nicht leiden magst?" Ich achtete darauf, keine Details preiszugeben, weil wir über Funk sprachen und abgehört werden konnten.
"Welcher denn?"
"Der für AP arbeitet und immer bei mir im Büro vorbeischaut." Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: "Worum geht's denn? Hast du einen Termin mit ihm?"
"Bedauerlicherweise ja. Ich bin unterwegs zum Elizabeth River. Chesapeake hat gerade angerufen."
"Augenblick mal. Nicht die Art von Termin." Er hörte sich besorgt an.
"Ich fürchte, doch."
"Ach du Scheiße."
"Wir haben bisher nur einen Führerschein. Wir können also noch nicht sicher sein. Ich werde runtergehen und ihn mir anschauen, bevor wir ihn rausholen."
"Jetzt halt, zum Teufel, noch mal, die Luft an", sagte er. "Warum mußt du unbedingt so was machen? Können das nicht andere erledigen?"
"Ich muß ihn sehen, bevor er bewegt wird", wiederholte ich.
Marino war sehr ungehalten, weil er stets viel zu besorgt war um mich. Er brauchte gar kein Wort mehr zu sagen, um mir das zu vermitteln.
"Ich habe mir bloß gedacht, du könntest eventuell seine Wohnung in Richmond überprüfen", sagte ich ihm.
"Ja ja. Das mache ich todsicher."
"Ich weiß nicht, was uns erwartet."
"Also ich wünschte mir, du würdest die das zuerst rausfinden lassen."
In Chesapeake nahm ich die Ausfahrt Elizabeth River und bog nach links auf die High Street ab, wo ich an Kirchen, Gebrauchtwagenangeboten und Wohnwagensiedlungen vorbeikam. Hinter dem örtlichen Gefängnis und dem Polizeirevier verlor sich die Marinekaserne in weiträumigem, deprimierendem Schrottgelände, das von einem stacheldrahtbewehrten, rostigen Zaun umgeben war. Inmitten dieser riesigen Fläche, wo überall Metall herumlag und das Unkraut nur so wucherte, befand sich ein Kraftwerk, das anscheinend Müll und Kohle verbrannte, um den Schiffsfriedhof mit Energie für sein trostloses und träges Geschäft zu versorgen. Schornsteine und Gleisanlagen waren heute nicht in Betrieb, alle Kräne am Trockendock standen still. Schließlich war Silvester. Ich fuhr auf das Hauptquartier zu, einen Bau aus langweiligen, rotgrauen Hohlblocksteinen, hinter dem sich lange, gepflasterte Kais erstreckten. Am Wachtor trat ein junger Mann in Zivilkleidung und mit Schutzhelm aus seinem Häuschen. Ich ließ das Fenster herunter. Am windgepeitschten Himmel wirbelten die Wolken vorbei.
"Dies ist militärischer Sicherheitsbereich." Er verzog keine Miene.
"Ich bin Dr. Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner", sagte ich und hielt meine Messingplakette hoch, das Symbol dafür, daß ich bei jedem plötzlichen, unbeobachteten, unerklärlichen oder gewaltsamen Todesfall im Bundesstaat Virginia juristisch zuständig war.
Er beugte sich vor und studierte meine Beglaubigung. Ein paarmal blickte er mir ins Gesicht und starrte auf meinen Wagen.
"Sie sind der Chief Medical Examiner?" fragte er. "Wie kommt es dann, daß Sie keinen Leichenwagen fahren?"
Ich hatte das schon öfter gehört und antwortete geduldig: "Leute, die in Bestattungsunternehmen arbeiten, fahren Leichenwagen. Ich arbeite nicht in einem Bestattungsunternehmen. Ich stelle die Todesursache fest."
"Ich brauche noch einen anderen Ausweis von Ihnen."
Ich gab ihm meinen Führerschein und hatte keine Zweifel mehr daran, daß solche Art von Einmischung nicht aufhören würde, nachdem ich eine Durchfahrtsgenehmigung bekommen hatte. Er trat ein paar Schritte von meinem Auto zurück und hob ein Funkgerät an die Lippen.
"Einheit elf an Einheit zwei." Er drehte sich von mir weg, als würde er gleich eine Geheimsache durchgeben.
"Zwei", kam krächzend die Antwort.
"Ich hab eine Dr. Scaylatta hier." Er sprach meinen Namen so falsch wie kaum jemand.
"Tenfour. Bereit."
"Ma'am", sagte der Wachtposten zu mir, "fahren Sie einfach geradeaus, dann kommt rechts ein Parkplatz." Er deutete mit der Hand in die Richtung. "Sie stellen Ihren Wagen dort ab und gehen zur Pier Zwei, wo Sie Captain Green erwartet. An den müssen Sie sich wenden."
"Und wo finde ich Detective Roche?" fragte ich.
"Sie müssen sich an Captain Green wenden", sagte er noch einmal.
Ich kurbelte das Fenster wieder hoch, während er ein Tor öffnete, auf dem Schilder mir verkündeten, daß ich nun Gelände betrat, wo Gefahr drohte von Farbsprühfilm, Sicherheitsausrüstung verlangt und Parken nur auf eigenes Risiko erlaubt war. In der Ferne ragten graue Frachter, Panzerlandungsschiffe, Minensucher, Fregatten und Tragflächenboote bedrohlich in den kalten Himmel. Auf der zweiten Pier hatten sich Rettungswagen, Polizeiautos und eine kleine Menschengruppe eingefunden.
Ich stellte meinen Wagen wie befohlen ab und schritt dann forsch auf sie zu. Sie starrten mir entgegen. Ich hatte meine Arzttasche und die Tauchausrüstung im Auto gelassen und lieferte ihnen so das Bild einer Frau mittleren Alters mit leeren Händen, in Wanderstiefeln, Wollhose und armeegrünem Mantel. Kaum hatte ich den Kai betreten, schnitt mir ein kultiviert aussehender, uniformierter Mann mit grauen Schläfen den Weg ab, als wäre ich unbefugt auf das Gelände eingedrungen. Ohne den Anflug eines Lächelns trat er mir entgegen.
"Kann ich Ihnen helfen?" fragte er in einem Ton, der mir Halt gebot. Der Wind hatte seine Haare aufgerichtet und seine Wangen gerötet.
Ich erklärte noch einmal, wer ich war.
"Ah gut." Er klang eindeutig nicht so, als meinte er dies. "Ich bin Captain Green vom Navy Investigative Service. Wir müssen wirklich mit der Sache vorankommen. Hör zu", er wandte sich von mir ab und sprach zu jemand anderem. "Wir müssen diese KDs wegschaffen ..."
"Entschuldigen Sie? Sie sind vom NIS?" schaltete ich mich ein, denn das mußte sofort geklärt werden. "Ich war der Meinung, daß dieses Gelände nicht der Navy gehört. Wenn es Navy-Gelände ist, dann ist meine Anwesenheit nicht erforderlich. Dann ist das ein Navy-Fall, und die Autopsie sollte ein Pathologe der Navy vornehmen."
"Ma'am", sagte er, als wollte ich seine Geduld strapazieren, "dieses Gelände untersteht einem Zivilunternehmen und gehört deshalb nicht der Navy. Aber wir haben ein naheliegendes Interesse, weil offenbar jemand unbefugt bei unseren Schiffen getaucht ist."
"Haben Sie eine Vermutung, warum jemand das getan haben könnte?" Ich blickte mich um.
"Ein Paar Schatzjäger meinen, sie würden im Wasser hier Kanonenkugeln, alte Schiffsglocken und was weiß ich noch alles finden."Wir standen zwischen dem Frachter El Paso und dem U-Boot Exploiter, beide glanzlos und starr im Fluß. Das Wasser sah wie Cappuccino aus, und mir wurde klar, daß die Sicht noch schlechter sein würde, als ich befürchtet hatte. Neben dem U-Boot war eine Tauchplattform. Aber ich sah nichts, was auf das Opfer hindeutete, keine Rettungs- oder Polizeitrupps, die diesen Todesfall bearbeiten sollten. Ich fragte Green danach, während der vom Wasser wehende Wind mir das Gesicht taub werden ließ, und statt einer Antwort bekam ich wieder den Rücken zugedreht.
... weniger
Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, geboren 1956 in Miami, arbeitete als Gerichtsreporterin und Computerspezialistin in der forensischen Medizin, bevor sie mit ihren Thrillern um Kay Scarpetta internationale Erfolge feierte und mit hohen literarischen Auszeichnungen bedacht wurde. Die Autorin lebt derzeit in New York und Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2003, 351 Seiten, Maße: 11,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Klaus Pemsel
- Übersetzer: Klaus Pemsel
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442055032
- ISBN-13: 9783442055036
Rezension zu „Trübe Wasser sind kalt “
"Der absolute Megastar der Thriller-Szene."
Kommentare zu "Trübe Wasser sind kalt"
0 Gebrauchte Artikel zu „Trübe Wasser sind kalt“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Trübe Wasser sind kalt".
Kommentar verfassen