Türkisch für Anfänger
Roman - Basierend auf dem Drehbuch von Bora Dagtekin. Originalausgabe
Tja, so hat sich das Lena nicht vorgestellt: Mitten im Indischen Ozean stürzt das Flugzeug ab. Und sie strandet ausgerechnet neben Macho Cem auf einer einsamen Insel. Kultur-Crash ist angesagt. Aber neben Kultur-Kampf gibt es auch Schmetterlinge im Bauch.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Türkisch für Anfänger “
Tja, so hat sich das Lena nicht vorgestellt: Mitten im Indischen Ozean stürzt das Flugzeug ab. Und sie strandet ausgerechnet neben Macho Cem auf einer einsamen Insel. Kultur-Crash ist angesagt. Aber neben Kultur-Kampf gibt es auch Schmetterlinge im Bauch.
Klappentext zu „Türkisch für Anfänger “
Was ist schlimmer als ein Urlaub mit einer berufsjugendlichen Single-Mutter in der Midlife-Crisis?... Natürlich mit einem türkischen Macho auf einer einsamen Insel zu stranden! So schlimm hat sich selbst Pessimistin Lena Schneider (19) ihren Urlaub nicht vorgestellt. Denn mitten im Indischen Ozean stürzt das Flugzeug ab. Ein wahrer Culture Crash - denn neben Lena strandet noch Macho Cem, samt gläubiger Schwester Yagmur und dem stotternden Costa auf der einsamen Insel. Die ganze Welt sucht fieberhaft nach den vier Verschollenen - mit Ausnahme von Lenas Alt-68er-Mutter Doris. Die strauchelt in einer Hotelanlage durch ihre Midlife-Crisis und ist entsetzt, dass sich Cems Vater Metin für sie interessiert. Ist der Spießer nicht viel zu alt für sie? Indes sorgen Naturvölker und Schmetterlinge im Bauch bei Cem und Lena für einen Schnellkurs in Sachen Erwachsenwerden. Ein Kampf der Kulturen - und der Egos, bei dem es nicht nur ums Überleben geht, sondern vor allem um die erste große Liebe.
Was ist schlimmer als ein Urlaub mit einer berufsjugendlichen Single-Mutter in der Midlife-Crisis? ... Natürlich mit einem türkischen Macho auf einer einsamen Insel zu stranden!
So schlimm hat sich selbst Pessimistin Lena Schneider (19) ihren Urlaub nicht vorgestellt. Denn mitten im Indischen Ozean stürzt das Flugzeug ab. Ein wahrer Culture Crash - denn neben Lena strandet noch Macho Cem, samt gläubiger Schwester Yagmur und dem stotternden Costa auf der einsamen Insel. Die ganze Welt sucht fieberhaft nach den vier Verschollenen - mit Ausnahme von Lenas Alt-68er-Mutter Doris. Die strauchelt in einer Hotelanlage durch ihre Midlife-Crisis und ist entsetzt, dass sich Cems Vater Metin für sie interessiert. Ist der Spießer nicht viel zu alt für sie? Indes sorgen Naturvölker und Schmetterlinge im Bauch bei Cem und Lena für einen Schnell kurs in Sachen Erwachsenwerden. Ein Kampf der Kulturen - und der Egos, bei dem es nicht nur ums Überleben geht, sondern vor allem um die erste große Liebe.
So schlimm hat sich selbst Pessimistin Lena Schneider (19) ihren Urlaub nicht vorgestellt. Denn mitten im Indischen Ozean stürzt das Flugzeug ab. Ein wahrer Culture Crash - denn neben Lena strandet noch Macho Cem, samt gläubiger Schwester Yagmur und dem stotternden Costa auf der einsamen Insel. Die ganze Welt sucht fieberhaft nach den vier Verschollenen - mit Ausnahme von Lenas Alt-68er-Mutter Doris. Die strauchelt in einer Hotelanlage durch ihre Midlife-Crisis und ist entsetzt, dass sich Cems Vater Metin für sie interessiert. Ist der Spießer nicht viel zu alt für sie? Indes sorgen Naturvölker und Schmetterlinge im Bauch bei Cem und Lena für einen Schnell kurs in Sachen Erwachsenwerden. Ein Kampf der Kulturen - und der Egos, bei dem es nicht nur ums Überleben geht, sondern vor allem um die erste große Liebe.
Lese-Probe zu „Türkisch für Anfänger “
Türkisch für Anfänger von Detlef Dresslein1
... mehr
Lena Schneider war neunzehn Jahre alt und fühlte sich wie Mitte siebzig. Antriebslos, überflüssig und unsexy. Dem gefühlten Alter entsprechend stand es auch um ihr Liebesleben. Wobei Rentner vermutlich mehr Sex hatten als sie. Senioren waren ja heutzutage die neuen Teenies. Ihre Mutter Doris war da ein gutes Beispiel. Und just hämmerte sie an Lenas Zimmertür.
»Gurke, kann ich reinkommen oder masturbierst du?«
Leider war Doris deutlich unter siebzig, sodass man nicht mal sagen konnte: »Mensch, super, Mutti, dass du noch so agil und ... jung geblieben bist!« Nein, sie war Mitte vierzig und deswegen war der einzig passende Kommentar: »OMG, du bist so scheiße peinlich und berufsjugendlich, bitte hör auf, mich auf Facebook zu poken, und versuch nicht, meine Hosen anzuziehen.«
Doris quetschte sich mit ihrem debilen Therapeutinnen-Lächeln durch die Tür - sie war vorsichtig, in der Vergangenheit waren des Öfteren Gegenstände geflogen - und sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
»Mutter, ich masturbiere ... erstens gar nicht, wenn du zu Hause bist, und zweitens nicht tagsüber.«
Doris seufzte. »Jetzt hat wieder die alte Frau aus dir gesprochen. Du weißt doch. Sex ist nichts, was man im Dunkeln machen muss. Mein bester Sex war ...«
»NÖÖÖÖT!«
Lena imitierte ein Buzzer-Geräusch, um Doris' Satz vor Erreichen der maximalen Peinlichkeit zu beenden. Doris fand, ihre Tochter war verklemmt. Und Lena wusste, dass sie irgendwo recht hatte. Was sie öffentlich natürlich jederzeit abstreiten würde.
»Ja, ist noch irgendwas?«
Lena hatte gerade leider nichts zu werfen - außer einem abfälligen Blick.
»Frieder ist da!«
Doris freute sich. Sie fand Frieder super. Und Frieder fand Lena super. Nur leider fand Lena Frieder gar nicht so super.
»Zieh dir doch mal was Hübsches an, du siehst schon wieder so grau aus.«
Doris verschwand. Lena leider nicht.
Oh Gott, Frieder war da. Wieso das denn? Sie hatte ihm doch vorhin gesimst, dass sie verstorben und bis auf Weiteres nur noch auf dem anonymen Friedhof zu besuchen sei. Wieso nahm der Penner sie nie ernst? Lena blickte in den Spiegel. Was fand der Idiot an ihr? Sie betrachtete sich eingehend. Und fand sich schrecklich. Langweilig. Irgendwie so ... unaktuell. Rote Haare waren ihrer Meinung wirklich extrem dated. Ihr heller Teint passte vielleicht in einen Jane-Austen-Roman, aber nicht ins Zeitalter von MTV, in dem man als Mädchen möglichst braun gebrannt und mit prallem Dekollete ... apropos Dekolleté. Wo war das noch mal? Ach richtig, nicht vorhanden. Kein
Busen. Super. Der war schuld. Eigentlich sagte Doris immer, Lenas Vater sei an allem schuld, aber ihr Vater war irgendwo am Amazonas, wühlte im Schlamm nach ausgestorbenen Kulturen, hatte selten Handyempfang und schickte eigentlich auch nur zum chinesischen Neujahr eine Karte aus Recycling-Papier. Und genau deswegen fokussierte Lena all ihren Weltschmerz auf ihren Busen.
Sie seufzte sehr lange und sehr schwer. Es war Zeit für Entscheidungen. In der Liebe und im Leben überhaupt. So konnte das alles nicht weitergehen. Sie hatte gerade ihr Abitur bestanden, zwar schlechter als gewollt (1,1), aber immerhin, Klassenbeste (hilft übrigens auch nicht, um populärer zu werden). Sie wusste nicht, was sie studieren sollte, vielleicht Journalismus. Oder war es an der Zeit, sich total gegen das Establishment zu stellen und eine Ausbildung als Fleischfachverkäuferin zu machen?
»GURKE! FRIEDER WARTET AUF DICH!«
Richtig, da war noch was. Ihr Spitzname. Maximal untragbar. Und nicht totzukriegen. Albtraum. Das ganze Leben. War ein einziger Albtraum. Und Lena hatte das unangenehme Gefühl, dass sie sehr alt werden würde.
2
Lena hatte Frieder in einer Selbsthilfegruppe für Suizid-gefährdete kennengelernt. Nein, sie war leider nicht so konsequent gewesen und hatte ihre jämmerliche Existenz beenden wollen, sie hatte bloß beim Brotschneiden ihre Fingerkuppe gerammt. Blutend und panisch schreiend (sie hasste alle Körperflüssigkeiten) war sie durchs Haus gelaufen, auf der Suche nach Pflastern hatte sie den Badezimmerschrank durchwühlt, war auf einem nassen Handtuch ausgerutscht, längs in die Badewanne geflogen, und als Doris - noch ganz rosig von ihrem Nachmittagsschläfchen - ins Bad trat, lag Lena bewusstlos, über und über mit Blut besudelt, mit einem Messer in der Hand in der Badewanne.
Erklärungsversuche waren - nachvollziehbarerweise -zwecklos. Doris hatte Lena in eine Gruppentherapie mit zwölf anderen (wirklich!) geisteskranken Teenagern gesteckt, die alle (wirklich!!!) schon mal versucht hatten, sich umzubringen, und dort hatte sie auch Frieder kennengelernt. Der behauptete felsenfest, er sei ebenfalls nur versehentlich dort gelandet und nur rein zufällig mit der Plastiktüte überm Kopf auf dem Dachboden eingeschlafen. Hm. Genau. Aber irgendwie war Lena langweilig gewesen und sie war ein paarmal mit ihm im Kino gewesen. Fehler! Er fand sie affenscharf (seine Mutter hatte auch keinen Busen, Psyyyycho!), hatte alle fünf neuen Telefonnummern, die sich Lena zugelegt hatte, rausgefunden und war an ihr drangeblieben. Da sich Lenas Sozialleben im Minusbereich befand und sie außerdem eine feige Sau war, hatte sie Frieder noch nicht so richtig abgeschossen, sondern nutzte ihn als Zeitvertreib. Doris interpretierte das als »erste Liebe«. Lena interpretierte das eigentlich nur als »muss noch geklärt werden, aber gerade kein Bock«.
Frieder war einundzwanzig, politisch in Ordnung, also leicht links, intelligent, ziemlich still, etwas verpeilt und heute war er unangenehm pushy. Er starrte auf ihren »Busen«, und Lena vermutete, dass es wieder irgendwas mit seiner Mutter zu tun hatte.
»Was willst du?«
Sie war unfreundlich, aber das half überhaupt nichts. Er fand das heiß.
»Fahren wir? Es wird super.«
Verdammt, er wollte fahren. Frieder fuhr schlecht. Der meerblaue VW Polo mit dem Aufdruck »Frieder's EsoShop - Traumdeutung & Aurafotografie« wurde kurz im Kupplungsbereich vergewaltigt, dann rasten die beiden los. Die Ladenhüter aus jenem Shop - Holzketten, magische Steine und Mandalas - flogen kreuz und quer im Auto umher. Lena hatte große Angst, in der Eso-Kutsche gesehen zu werden - aber immer noch besser, als Bus zu fahren. Sie mochte den Geruch von nassen Klamotten nicht so gern. Und irgendwie waren die Leute in den öffentlichen Verkehrsmitteln immer gerade einem Regenguss entkommen und stanken wie kleine nasse Hunde. Fand Lena. Frieder lächelte so vorfreudig, dass sie extra nicht nachfragte, wo er hinwollte. Sie wollte ihm den Gefallen nicht tun, ihr antworten zu können. Während sie darüber nachdachte, ob sie vielleicht sadistische Züge hatte, hielten sie am Park.
»Was meinst du? Der perfekte Ort, um die Sonnenfinsternis zu beobachten, oder?«
»Was? Können wir nicht ins Kino gehen? Da ist es auch dunkel. Aber man sieht trotzdem was.« Vor allem musste man nicht reden. Im Kino musste sie nur alle fünf Minuten seine Hand von ihrem Busen schlagen und dann war wieder Ruhe.
»Für unser Jubiläum fand ich das hier irgendwie netter.«
Jubiläum? Was für ein Jubiläum? Drei Monate keinen Körperkontakt?, dachte sie, als sie Frieder hinterherlief, der mit einer Decke, einem Picknickkorb und Schutzbrillen schon vorausgegangen war.
Sie waren nicht das einzige Paar im Park, aber die anderen waren glücklich. Was Lenas Laune zusätzlich verdüsterte. Frieder packte Picknick-Unsinn aus. Lena wurde nervös. Denn Frieder legte diesen »Lass uns den nächsten Schritt tun«-Blick nicht ab.
Der Platz auf der abschüssigen Wiese war für normale Menschen vermutlich sogar romantisch. Frieder rückte näher und legte die Hand auf ihr Knie. Komisch - kein Kribbeln im Bauch. Dabei müsste sie genau das jetzt spüren, wenn man Vorabendserien oder Bravo-Lovestorys glaubte. »Oh wow, seine Hand lag auf meinem Bein und mir wurde ganz anders«, dachten an dieser Stelle andere Mädchen. Lena dachte nur darüber nach, wo seine Hand
wohl die letzte Stunde überall gewesen war und dass er sie im Anschluss vermutlich nicht angemessen gewaschen hatte. Ihr fiel ein, wie er damals die Sonnenbrille aus dem Urinal am Potsdamer Platz gefischt hatte.
»So eine ... äh ... Sonnenfinsternis ist schon echt romantisch, oder?«
Ihr wurde flau im Magen. Was faselte er denn jetzt? »Mir war sofort klar, dass du was Besonderes bist. Seit unserer ersten Demo.«
Lena schauderte.
»Weißt du noch«, fragte Frieder verträumt, »als du dich an den Baum gekettet hast?«
Jetzt fing er von dieser scheiß Castor-Demo an, oder was?
»Mau«, krächzte sie. »Das war meine Mutter, und du weißt, ich hätte den Schlüssel gerne bekommen, bevor sie mich und den Baum gefällt haben.«
Frieder schien das überhaupt nicht zu hören. Er fuhr mit dem Text fort, den er schon lange vorbereitet zu haben schien.
»Lena, bevor du in den Urlaub fährst, muss ich etwas loswerden.«
Scheiße. Der Urlaub. Das hatte sie ja total verdrängt. Oh nein. Doris' Geschenk zum Abitur. Lena dachte darüber nach, wie sie aus der Sache rauskommen konnte; Frieder fuhr fort:
»Ich liebe dich. Und ich will mit dir schlafen.«
WHAT? Auf Lenas Gesicht legte sich die Dunkelheit der Sonnenfinsternis. Die anderen Paare begannen zu knutschen. So zärtlich sie konnten.
Und Lena begann zu rennen. So schnell sie konnte.
3
Verzweifelt durch die Stadt zu rennen ist ja ein sehr dramatischer Vorgang, gern auch in Kinofilmen genutzt, man denke an »Lola rennt« oder die obligatorische Szene, in der irgendwer hinter irgendwem herrennt, weil er noch dringend ein »Ich liebe dich« loswerden muss. In Lenas Fall war es nicht so mondän. Sie stolperte durch den Prenzlauer Berg, rammte Kinderwagen und schwangere Frauen, entkam nur zufällig größeren Verkehrsunfällen und dachte die ganze Zeit nur: »Bitte mach, dass er mir nicht nachkommt!« Hatte er wirklich gesagt, dass er mit ihr schlafen wolle? Beim Gedanken daran stoppte sie kurz, übergab sich neben einem Supermarkt in einen Mülleimer, fing sich ein paar verstörte Blicke ein, dachte kurz darüber nach, dass sie extrem neurotisch für ihr Alter war, und rannte dann weiter.
Keuchend schloss sie die Haustür auf. Gerettet.
In der Küche fiel sie über Nils, ihren elf Jahre alten Bruder. Er saß in einem silbrigen Overall am Küchentisch und arbeitete mit einem Schweißgerät (nicht altersgemäß!) an seinem Astronautenhelm herum.
Auf der gelben Wachstuchtischdecke standen einige
sehr leere Weinflaschen. Lena besann sich der Erziehungspflicht, die ja irgendwer übernehmen musste.
»Hast du das getrunken?«, fragte sie und blickte vorwurfsvoll auf die Flaschen.
Nils schüttelte abwesend den Kopf und konzentrierte sich weiter auf seine Schweißarbeiten.
»Quatsch. Mamas Freundinnen sind da.«
Erleichterung. Ihr Bruder war kein minderjähriger Alkoholiker. Dann: Panik! Mamas Freundinnen waren da?!
Sie hatte den Tag unterschätzt. Jetzt wusste sie auch, woher die leisen Grunz- und Stöhnlaute kamen. Sie riss den Vorhang zu dem Zimmer neben der Küche zur Seite und sah, was sie befürchtet hatte: vier Frauen mittleren Alters, in sehr weite Saris gewandet, eine davon ihre eigene Mutter, umnebelt von Räucherstäbchen und über Spiegeln kauernd, die eine Körperregion widerspiegelten, die Lena nicht sehen wollte. Vor den Frauen standen Vibratoren in allen Formen und Farben, die man sich vorstellen konnte. Auf den Gleitcremedosen klebte mit Namen beschriftetes Krepppapier.
»Schön«, sie versuchte nicht hinzugucken, konnte ihren Blick aber nicht von den Frauen und den Spiegeln abwenden. »Du hast versprochen, die Orgasmuskurse nicht mehr bei uns zu halten.«
»Geh bitte raus oder nimm dir einen Spiegel und setz dich zu uns«, erwiderte ihre Mutter.
Jetzt drehte sie völlig durch.
»Ich setze mich bestimmt nicht nackt auf einen Spiegel.«
Eine lange Diskussion mit Doris und deren Freundinnen über das Verhältnis zu ihrem Körper war wirklich das Allerletzte, was sie jetzt brauchte. Sie musste das Thema wechseln, und zwar schnell:
»Wo ist dein Pass?«
Der Urlaub sollte nämlich schon am nächsten Tag beginnen. Doris hatte eine Thailandreise gebucht, nur für sie beide. Und wenn sie nicht schon am Flughafen scheitern wollten, musste sich Lena wohl um alles kümmern. Wie im Übrigen die vergangenen neunzehn Jahre auch schon.
»Gurke«, schnurrte ihre Mutter, »es ist doch noch Zeit, was bist du denn so ...?«
Lena unterbrach sie sofort: »Wir fliegen morgen früh, du hast noch nichts gepackt, es liegt Fleisch in der Küche, rotes Fleisch, auf dem Brett, auf dem ich mein Brot schneide, was bedeutet, ich kann da nie wieder drauf Brot schneiden, Nils hat Hunger und ... und ... und Frieder hat mir ein Liebesgeständnis gemacht.«
Mist. Wie konnte ihr das nur rausrutschen?
Die Frauen jauchzten auf:
»Hach! ...Toooll! ... Oho! ... Ach wie süüüüß, die Kleine wird erwachsen ...«
Unfassbar. Waren die nicht auch mal jung gewesen? Früher? Viel früher?
Jetzt half nur noch eins: Zwiebeln schneiden! Abreagieren! Sie ließ ihre Mutter und die Freundinnen jubeln, ging in die Küche und setzte sich ihre Taucherbrille auf. Es war zwar sowieso alles zum Heulen - aber es musste ja keiner sehen.
Nils war mittlerweile mit seinen Schweißarbeiten fertig, hatte sich den Helm aufgesetzt und hielt Lena unter enervierendem Gepiepse seinen »Scanner« entgegen, den er aus einer alten Briefmarkenlupe und einer CD gebastelt hatte. Lena war bedient. Renitent schlug er ihr auf den Hinterkopf und bezeichnete sie als fremde Spezies.
»Nils, kannst du das nicht mal ... ausziehen?«
»Die Atmosphäre ist verseucht«, antwortete er metallisch, »ich kann hier nicht atmen.«
»Sobald deine private Krankenversicherung anläuft, kannst du dich auf eine schöne Therapie gefasst machen.«
»Ich will nicht, dass Tante Diana hier wohnt. Ich will mit in den Urlaub«, maulte der Astronaut.
Vielleicht sollte ich mit ihm tauschen, überlegte Lena. Während sie weiter wütend Zwiebeln hackte, kam ihre Mutter in die Küche. Sie hatte offensichtlich den letzten Teil des Gesprächs gehört:
»Du musst in die Schule«, konterte sie ungewohnt pädagogisch das Ansinnen ihres Jüngsten. »Lena und ich wollen mal so richtig die Sau rauslassen und Party machen.«
Da war das alte Problem. Meine Mutter, die beste Freundin. Nach Partymachen war ihr gerade wirklich nicht zumute, und wenn, dann sicher nicht mit ihrer überdrehten Mutter. Sie zog die Gummihandschuhe an, um das rohe Fleisch vom Schneidebrett zu schieben.
»Ich will nur lesen und überlegen, was ich studieren will. Sonst nichts.«
Ihr Handy klingelte. Frieder!!! Mit einem beherzten Handkantenschlag drückte sie das Gespräch weg. Doris war entsetzt. Lena fand, dass der drohende Urlaub doch einen Vorteil hatte: Sie würde drei Wochen Ruhe vor Frieder, dem Stalker, haben.
»Gurke«, fing ihre Mutter an, während sie zu ihr rüberkam und das Fleisch selbst in die Hand nahm, »du musst mal emotional aufmachen. Allein, dass du das rohe Fleisch nicht mit den bloßen Händen anfassen kannst - das erzählt so viel über dich.«
»Ja, dass ich Vegetarierin bin.«
Ihre Mutter aber kam jetzt in Fahrt. »Das Fleisch. Die Berührung. Die Nähe. Die Leidenschaft.«
Dabei knetete sie die Schweineschulter wie den Rücken eines spanischen Tänzers. Lena blickte sie durch die beschlagene Taucherbrille fassungslos an:
»Vielleicht kaufst du das Schwein nächstes Mal lebendig, dann hat es auch was davon.«
Währenddessen hatte sich Nils den Helm abgenommen, atmete die verseuchte Luft und sank langsam röchelnd am Küchenschrank hinunter auf den Fußboden. Eigentlich eine gute Performance, aber Lena und Doris waren erstens derlei Unsinn gewohnt, zweitens viel zu beschäftigt, um die Aktion zu würdigen, und drittens brauchte es schon ein bisschen mehr, um im Hause Schneider aufzufallen. So starb er, ohne besondere Aufmerksamkeit zu bekommen, auf dem Küchenfußboden vor sich hin.
Lena ging hinüber zum Kühlschrank. Irgendwas Fleischloses sollte doch zu finden sein. Ketchup, Mayo, Essiggurken, ein Käse, der nicht mehr viel von seiner originalen Farbe hatte. Und seltsam roch.
»So, Nille, komm, Tisch decken!«, flötete Doris zu dem noch immer am Boden röchelnden Astronauten. Er schaute sie kritisch an:
»Wieso setzt ihr euch eigentlich auf einen Spiegel?« »Weil der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen voller Geheimnisse und Schatzkammern ist.« »Lenas auch?«
Lena hielt inne. Wehe, Doris würde darauf antworten.
»Theoretisch schon, aber manche Schätze sind so tief
vergraben, dass man erst ganz viele Löcher buddeln muss,
um sie zu finden. Und es gibt kaum noch Männer, die Lust dazu haben. Und wenn man Pech hat, dann findet man all das Gold und die Perlen erst, wenn man so alt ist, dass man sich davon gar nichts mehr kaufen kann.« Doris seufzte theatralisch: »Außer einem Rollator.«
Lena verdrehte unter ihrer Taucherbrille die Augen: »Hallo? Ich bin noch im Raum!«
Es war einfach zu viel: Frieder, ihre sexuell überdrehte Mutter, dieses verhaltensgestörte Kleinkind, eine Schweineschulter auf dem Schneidebrett - und jetzt auch noch drei Wochen Thailand allein mit dieser Psychotherapeutin.
Der Appetit war ihr vergangen. Sie ging in ihr Zimmer. Wenigstens sie würde am nächsten Morgen einen gepackten Koffer haben.
»Gurke, pack bitte die Videokamera ein! Wir machen lustige Videos am Pool und stellen die auf Youpupe!«, rief ihr Doris nach und erntete einen genervten Schrei ihrer Tochter.
»ES HEISST NICHT YOUPUPE! UND AUCH NICHT MYFACE!«
Das Schlimmste, dachte Lena, während sie Bücher und Bikinis in ihren Koffer schleuderte, war ja, dass ihre Mutter sogar irgendwie recht hatte. Sie war total verkorkst. Sie würde sich vermutlich niemals verlieben. Das stand fest, darüber musste man überhaupt nicht nachdenken. Und schon gar nicht diskutieren. In wen sollte sie sich auch verlieben? Sie war erst einmal verliebt gewesen. Und zwar in Oliver Geissen. Aber darüber hatte sie nie mit jemandem gesprochen. Sie würde das niemals jemandem sagen. Höchstens Oliver Geissen. Den sie allerdings niemals treffen würde. So gesehen war das auch egal.
Sie schaute in den Spiegel, blickte sich tief in die Augen, fuhr sich durch das Haar, warf es zur Seite, nach hinten, probierte zaghaft ein wenig Lipgloss, nur um festzustellen, dass auch das eher wie Kriegsbemalung aussah. Aber woran lag das? Sie tröstete sich damit, dass sie einfach zu stark war, zu selbstständig. Zu intellektuell. Etwas so Profanem, gar Animalischem wie Liebe könnte sie sich nie hingeben.
Na ja ... und vielleicht ... war sie auch ... aber nur ... ein bisschen ... verklemmt? Für eine Sekunde spürte sie so etwas wie Einsicht, Selbsterkenntnis. Aber ehe sie darüber nachdenken konnte, ob da was dran war, packte sie hektisch weiter. Unterwäsche. Im Handgepäck durfte auf keinen Fall Unterwäsche fehlen. Falls der Koffer verloren gehen würde, würde sie saubere Unterwäsche dabeihaben. Ein Gedanke, der ihr Halt gab.
...
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Lena Schneider war neunzehn Jahre alt und fühlte sich wie Mitte siebzig. Antriebslos, überflüssig und unsexy. Dem gefühlten Alter entsprechend stand es auch um ihr Liebesleben. Wobei Rentner vermutlich mehr Sex hatten als sie. Senioren waren ja heutzutage die neuen Teenies. Ihre Mutter Doris war da ein gutes Beispiel. Und just hämmerte sie an Lenas Zimmertür.
»Gurke, kann ich reinkommen oder masturbierst du?«
Leider war Doris deutlich unter siebzig, sodass man nicht mal sagen konnte: »Mensch, super, Mutti, dass du noch so agil und ... jung geblieben bist!« Nein, sie war Mitte vierzig und deswegen war der einzig passende Kommentar: »OMG, du bist so scheiße peinlich und berufsjugendlich, bitte hör auf, mich auf Facebook zu poken, und versuch nicht, meine Hosen anzuziehen.«
Doris quetschte sich mit ihrem debilen Therapeutinnen-Lächeln durch die Tür - sie war vorsichtig, in der Vergangenheit waren des Öfteren Gegenstände geflogen - und sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
»Mutter, ich masturbiere ... erstens gar nicht, wenn du zu Hause bist, und zweitens nicht tagsüber.«
Doris seufzte. »Jetzt hat wieder die alte Frau aus dir gesprochen. Du weißt doch. Sex ist nichts, was man im Dunkeln machen muss. Mein bester Sex war ...«
»NÖÖÖÖT!«
Lena imitierte ein Buzzer-Geräusch, um Doris' Satz vor Erreichen der maximalen Peinlichkeit zu beenden. Doris fand, ihre Tochter war verklemmt. Und Lena wusste, dass sie irgendwo recht hatte. Was sie öffentlich natürlich jederzeit abstreiten würde.
»Ja, ist noch irgendwas?«
Lena hatte gerade leider nichts zu werfen - außer einem abfälligen Blick.
»Frieder ist da!«
Doris freute sich. Sie fand Frieder super. Und Frieder fand Lena super. Nur leider fand Lena Frieder gar nicht so super.
»Zieh dir doch mal was Hübsches an, du siehst schon wieder so grau aus.«
Doris verschwand. Lena leider nicht.
Oh Gott, Frieder war da. Wieso das denn? Sie hatte ihm doch vorhin gesimst, dass sie verstorben und bis auf Weiteres nur noch auf dem anonymen Friedhof zu besuchen sei. Wieso nahm der Penner sie nie ernst? Lena blickte in den Spiegel. Was fand der Idiot an ihr? Sie betrachtete sich eingehend. Und fand sich schrecklich. Langweilig. Irgendwie so ... unaktuell. Rote Haare waren ihrer Meinung wirklich extrem dated. Ihr heller Teint passte vielleicht in einen Jane-Austen-Roman, aber nicht ins Zeitalter von MTV, in dem man als Mädchen möglichst braun gebrannt und mit prallem Dekollete ... apropos Dekolleté. Wo war das noch mal? Ach richtig, nicht vorhanden. Kein
Busen. Super. Der war schuld. Eigentlich sagte Doris immer, Lenas Vater sei an allem schuld, aber ihr Vater war irgendwo am Amazonas, wühlte im Schlamm nach ausgestorbenen Kulturen, hatte selten Handyempfang und schickte eigentlich auch nur zum chinesischen Neujahr eine Karte aus Recycling-Papier. Und genau deswegen fokussierte Lena all ihren Weltschmerz auf ihren Busen.
Sie seufzte sehr lange und sehr schwer. Es war Zeit für Entscheidungen. In der Liebe und im Leben überhaupt. So konnte das alles nicht weitergehen. Sie hatte gerade ihr Abitur bestanden, zwar schlechter als gewollt (1,1), aber immerhin, Klassenbeste (hilft übrigens auch nicht, um populärer zu werden). Sie wusste nicht, was sie studieren sollte, vielleicht Journalismus. Oder war es an der Zeit, sich total gegen das Establishment zu stellen und eine Ausbildung als Fleischfachverkäuferin zu machen?
»GURKE! FRIEDER WARTET AUF DICH!«
Richtig, da war noch was. Ihr Spitzname. Maximal untragbar. Und nicht totzukriegen. Albtraum. Das ganze Leben. War ein einziger Albtraum. Und Lena hatte das unangenehme Gefühl, dass sie sehr alt werden würde.
2
Lena hatte Frieder in einer Selbsthilfegruppe für Suizid-gefährdete kennengelernt. Nein, sie war leider nicht so konsequent gewesen und hatte ihre jämmerliche Existenz beenden wollen, sie hatte bloß beim Brotschneiden ihre Fingerkuppe gerammt. Blutend und panisch schreiend (sie hasste alle Körperflüssigkeiten) war sie durchs Haus gelaufen, auf der Suche nach Pflastern hatte sie den Badezimmerschrank durchwühlt, war auf einem nassen Handtuch ausgerutscht, längs in die Badewanne geflogen, und als Doris - noch ganz rosig von ihrem Nachmittagsschläfchen - ins Bad trat, lag Lena bewusstlos, über und über mit Blut besudelt, mit einem Messer in der Hand in der Badewanne.
Erklärungsversuche waren - nachvollziehbarerweise -zwecklos. Doris hatte Lena in eine Gruppentherapie mit zwölf anderen (wirklich!) geisteskranken Teenagern gesteckt, die alle (wirklich!!!) schon mal versucht hatten, sich umzubringen, und dort hatte sie auch Frieder kennengelernt. Der behauptete felsenfest, er sei ebenfalls nur versehentlich dort gelandet und nur rein zufällig mit der Plastiktüte überm Kopf auf dem Dachboden eingeschlafen. Hm. Genau. Aber irgendwie war Lena langweilig gewesen und sie war ein paarmal mit ihm im Kino gewesen. Fehler! Er fand sie affenscharf (seine Mutter hatte auch keinen Busen, Psyyyycho!), hatte alle fünf neuen Telefonnummern, die sich Lena zugelegt hatte, rausgefunden und war an ihr drangeblieben. Da sich Lenas Sozialleben im Minusbereich befand und sie außerdem eine feige Sau war, hatte sie Frieder noch nicht so richtig abgeschossen, sondern nutzte ihn als Zeitvertreib. Doris interpretierte das als »erste Liebe«. Lena interpretierte das eigentlich nur als »muss noch geklärt werden, aber gerade kein Bock«.
Frieder war einundzwanzig, politisch in Ordnung, also leicht links, intelligent, ziemlich still, etwas verpeilt und heute war er unangenehm pushy. Er starrte auf ihren »Busen«, und Lena vermutete, dass es wieder irgendwas mit seiner Mutter zu tun hatte.
»Was willst du?«
Sie war unfreundlich, aber das half überhaupt nichts. Er fand das heiß.
»Fahren wir? Es wird super.«
Verdammt, er wollte fahren. Frieder fuhr schlecht. Der meerblaue VW Polo mit dem Aufdruck »Frieder's EsoShop - Traumdeutung & Aurafotografie« wurde kurz im Kupplungsbereich vergewaltigt, dann rasten die beiden los. Die Ladenhüter aus jenem Shop - Holzketten, magische Steine und Mandalas - flogen kreuz und quer im Auto umher. Lena hatte große Angst, in der Eso-Kutsche gesehen zu werden - aber immer noch besser, als Bus zu fahren. Sie mochte den Geruch von nassen Klamotten nicht so gern. Und irgendwie waren die Leute in den öffentlichen Verkehrsmitteln immer gerade einem Regenguss entkommen und stanken wie kleine nasse Hunde. Fand Lena. Frieder lächelte so vorfreudig, dass sie extra nicht nachfragte, wo er hinwollte. Sie wollte ihm den Gefallen nicht tun, ihr antworten zu können. Während sie darüber nachdachte, ob sie vielleicht sadistische Züge hatte, hielten sie am Park.
»Was meinst du? Der perfekte Ort, um die Sonnenfinsternis zu beobachten, oder?«
»Was? Können wir nicht ins Kino gehen? Da ist es auch dunkel. Aber man sieht trotzdem was.« Vor allem musste man nicht reden. Im Kino musste sie nur alle fünf Minuten seine Hand von ihrem Busen schlagen und dann war wieder Ruhe.
»Für unser Jubiläum fand ich das hier irgendwie netter.«
Jubiläum? Was für ein Jubiläum? Drei Monate keinen Körperkontakt?, dachte sie, als sie Frieder hinterherlief, der mit einer Decke, einem Picknickkorb und Schutzbrillen schon vorausgegangen war.
Sie waren nicht das einzige Paar im Park, aber die anderen waren glücklich. Was Lenas Laune zusätzlich verdüsterte. Frieder packte Picknick-Unsinn aus. Lena wurde nervös. Denn Frieder legte diesen »Lass uns den nächsten Schritt tun«-Blick nicht ab.
Der Platz auf der abschüssigen Wiese war für normale Menschen vermutlich sogar romantisch. Frieder rückte näher und legte die Hand auf ihr Knie. Komisch - kein Kribbeln im Bauch. Dabei müsste sie genau das jetzt spüren, wenn man Vorabendserien oder Bravo-Lovestorys glaubte. »Oh wow, seine Hand lag auf meinem Bein und mir wurde ganz anders«, dachten an dieser Stelle andere Mädchen. Lena dachte nur darüber nach, wo seine Hand
wohl die letzte Stunde überall gewesen war und dass er sie im Anschluss vermutlich nicht angemessen gewaschen hatte. Ihr fiel ein, wie er damals die Sonnenbrille aus dem Urinal am Potsdamer Platz gefischt hatte.
»So eine ... äh ... Sonnenfinsternis ist schon echt romantisch, oder?«
Ihr wurde flau im Magen. Was faselte er denn jetzt? »Mir war sofort klar, dass du was Besonderes bist. Seit unserer ersten Demo.«
Lena schauderte.
»Weißt du noch«, fragte Frieder verträumt, »als du dich an den Baum gekettet hast?«
Jetzt fing er von dieser scheiß Castor-Demo an, oder was?
»Mau«, krächzte sie. »Das war meine Mutter, und du weißt, ich hätte den Schlüssel gerne bekommen, bevor sie mich und den Baum gefällt haben.«
Frieder schien das überhaupt nicht zu hören. Er fuhr mit dem Text fort, den er schon lange vorbereitet zu haben schien.
»Lena, bevor du in den Urlaub fährst, muss ich etwas loswerden.«
Scheiße. Der Urlaub. Das hatte sie ja total verdrängt. Oh nein. Doris' Geschenk zum Abitur. Lena dachte darüber nach, wie sie aus der Sache rauskommen konnte; Frieder fuhr fort:
»Ich liebe dich. Und ich will mit dir schlafen.«
WHAT? Auf Lenas Gesicht legte sich die Dunkelheit der Sonnenfinsternis. Die anderen Paare begannen zu knutschen. So zärtlich sie konnten.
Und Lena begann zu rennen. So schnell sie konnte.
3
Verzweifelt durch die Stadt zu rennen ist ja ein sehr dramatischer Vorgang, gern auch in Kinofilmen genutzt, man denke an »Lola rennt« oder die obligatorische Szene, in der irgendwer hinter irgendwem herrennt, weil er noch dringend ein »Ich liebe dich« loswerden muss. In Lenas Fall war es nicht so mondän. Sie stolperte durch den Prenzlauer Berg, rammte Kinderwagen und schwangere Frauen, entkam nur zufällig größeren Verkehrsunfällen und dachte die ganze Zeit nur: »Bitte mach, dass er mir nicht nachkommt!« Hatte er wirklich gesagt, dass er mit ihr schlafen wolle? Beim Gedanken daran stoppte sie kurz, übergab sich neben einem Supermarkt in einen Mülleimer, fing sich ein paar verstörte Blicke ein, dachte kurz darüber nach, dass sie extrem neurotisch für ihr Alter war, und rannte dann weiter.
Keuchend schloss sie die Haustür auf. Gerettet.
In der Küche fiel sie über Nils, ihren elf Jahre alten Bruder. Er saß in einem silbrigen Overall am Küchentisch und arbeitete mit einem Schweißgerät (nicht altersgemäß!) an seinem Astronautenhelm herum.
Auf der gelben Wachstuchtischdecke standen einige
sehr leere Weinflaschen. Lena besann sich der Erziehungspflicht, die ja irgendwer übernehmen musste.
»Hast du das getrunken?«, fragte sie und blickte vorwurfsvoll auf die Flaschen.
Nils schüttelte abwesend den Kopf und konzentrierte sich weiter auf seine Schweißarbeiten.
»Quatsch. Mamas Freundinnen sind da.«
Erleichterung. Ihr Bruder war kein minderjähriger Alkoholiker. Dann: Panik! Mamas Freundinnen waren da?!
Sie hatte den Tag unterschätzt. Jetzt wusste sie auch, woher die leisen Grunz- und Stöhnlaute kamen. Sie riss den Vorhang zu dem Zimmer neben der Küche zur Seite und sah, was sie befürchtet hatte: vier Frauen mittleren Alters, in sehr weite Saris gewandet, eine davon ihre eigene Mutter, umnebelt von Räucherstäbchen und über Spiegeln kauernd, die eine Körperregion widerspiegelten, die Lena nicht sehen wollte. Vor den Frauen standen Vibratoren in allen Formen und Farben, die man sich vorstellen konnte. Auf den Gleitcremedosen klebte mit Namen beschriftetes Krepppapier.
»Schön«, sie versuchte nicht hinzugucken, konnte ihren Blick aber nicht von den Frauen und den Spiegeln abwenden. »Du hast versprochen, die Orgasmuskurse nicht mehr bei uns zu halten.«
»Geh bitte raus oder nimm dir einen Spiegel und setz dich zu uns«, erwiderte ihre Mutter.
Jetzt drehte sie völlig durch.
»Ich setze mich bestimmt nicht nackt auf einen Spiegel.«
Eine lange Diskussion mit Doris und deren Freundinnen über das Verhältnis zu ihrem Körper war wirklich das Allerletzte, was sie jetzt brauchte. Sie musste das Thema wechseln, und zwar schnell:
»Wo ist dein Pass?«
Der Urlaub sollte nämlich schon am nächsten Tag beginnen. Doris hatte eine Thailandreise gebucht, nur für sie beide. Und wenn sie nicht schon am Flughafen scheitern wollten, musste sich Lena wohl um alles kümmern. Wie im Übrigen die vergangenen neunzehn Jahre auch schon.
»Gurke«, schnurrte ihre Mutter, »es ist doch noch Zeit, was bist du denn so ...?«
Lena unterbrach sie sofort: »Wir fliegen morgen früh, du hast noch nichts gepackt, es liegt Fleisch in der Küche, rotes Fleisch, auf dem Brett, auf dem ich mein Brot schneide, was bedeutet, ich kann da nie wieder drauf Brot schneiden, Nils hat Hunger und ... und ... und Frieder hat mir ein Liebesgeständnis gemacht.«
Mist. Wie konnte ihr das nur rausrutschen?
Die Frauen jauchzten auf:
»Hach! ...Toooll! ... Oho! ... Ach wie süüüüß, die Kleine wird erwachsen ...«
Unfassbar. Waren die nicht auch mal jung gewesen? Früher? Viel früher?
Jetzt half nur noch eins: Zwiebeln schneiden! Abreagieren! Sie ließ ihre Mutter und die Freundinnen jubeln, ging in die Küche und setzte sich ihre Taucherbrille auf. Es war zwar sowieso alles zum Heulen - aber es musste ja keiner sehen.
Nils war mittlerweile mit seinen Schweißarbeiten fertig, hatte sich den Helm aufgesetzt und hielt Lena unter enervierendem Gepiepse seinen »Scanner« entgegen, den er aus einer alten Briefmarkenlupe und einer CD gebastelt hatte. Lena war bedient. Renitent schlug er ihr auf den Hinterkopf und bezeichnete sie als fremde Spezies.
»Nils, kannst du das nicht mal ... ausziehen?«
»Die Atmosphäre ist verseucht«, antwortete er metallisch, »ich kann hier nicht atmen.«
»Sobald deine private Krankenversicherung anläuft, kannst du dich auf eine schöne Therapie gefasst machen.«
»Ich will nicht, dass Tante Diana hier wohnt. Ich will mit in den Urlaub«, maulte der Astronaut.
Vielleicht sollte ich mit ihm tauschen, überlegte Lena. Während sie weiter wütend Zwiebeln hackte, kam ihre Mutter in die Küche. Sie hatte offensichtlich den letzten Teil des Gesprächs gehört:
»Du musst in die Schule«, konterte sie ungewohnt pädagogisch das Ansinnen ihres Jüngsten. »Lena und ich wollen mal so richtig die Sau rauslassen und Party machen.«
Da war das alte Problem. Meine Mutter, die beste Freundin. Nach Partymachen war ihr gerade wirklich nicht zumute, und wenn, dann sicher nicht mit ihrer überdrehten Mutter. Sie zog die Gummihandschuhe an, um das rohe Fleisch vom Schneidebrett zu schieben.
»Ich will nur lesen und überlegen, was ich studieren will. Sonst nichts.«
Ihr Handy klingelte. Frieder!!! Mit einem beherzten Handkantenschlag drückte sie das Gespräch weg. Doris war entsetzt. Lena fand, dass der drohende Urlaub doch einen Vorteil hatte: Sie würde drei Wochen Ruhe vor Frieder, dem Stalker, haben.
»Gurke«, fing ihre Mutter an, während sie zu ihr rüberkam und das Fleisch selbst in die Hand nahm, »du musst mal emotional aufmachen. Allein, dass du das rohe Fleisch nicht mit den bloßen Händen anfassen kannst - das erzählt so viel über dich.«
»Ja, dass ich Vegetarierin bin.«
Ihre Mutter aber kam jetzt in Fahrt. »Das Fleisch. Die Berührung. Die Nähe. Die Leidenschaft.«
Dabei knetete sie die Schweineschulter wie den Rücken eines spanischen Tänzers. Lena blickte sie durch die beschlagene Taucherbrille fassungslos an:
»Vielleicht kaufst du das Schwein nächstes Mal lebendig, dann hat es auch was davon.«
Währenddessen hatte sich Nils den Helm abgenommen, atmete die verseuchte Luft und sank langsam röchelnd am Küchenschrank hinunter auf den Fußboden. Eigentlich eine gute Performance, aber Lena und Doris waren erstens derlei Unsinn gewohnt, zweitens viel zu beschäftigt, um die Aktion zu würdigen, und drittens brauchte es schon ein bisschen mehr, um im Hause Schneider aufzufallen. So starb er, ohne besondere Aufmerksamkeit zu bekommen, auf dem Küchenfußboden vor sich hin.
Lena ging hinüber zum Kühlschrank. Irgendwas Fleischloses sollte doch zu finden sein. Ketchup, Mayo, Essiggurken, ein Käse, der nicht mehr viel von seiner originalen Farbe hatte. Und seltsam roch.
»So, Nille, komm, Tisch decken!«, flötete Doris zu dem noch immer am Boden röchelnden Astronauten. Er schaute sie kritisch an:
»Wieso setzt ihr euch eigentlich auf einen Spiegel?« »Weil der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen voller Geheimnisse und Schatzkammern ist.« »Lenas auch?«
Lena hielt inne. Wehe, Doris würde darauf antworten.
»Theoretisch schon, aber manche Schätze sind so tief
vergraben, dass man erst ganz viele Löcher buddeln muss,
um sie zu finden. Und es gibt kaum noch Männer, die Lust dazu haben. Und wenn man Pech hat, dann findet man all das Gold und die Perlen erst, wenn man so alt ist, dass man sich davon gar nichts mehr kaufen kann.« Doris seufzte theatralisch: »Außer einem Rollator.«
Lena verdrehte unter ihrer Taucherbrille die Augen: »Hallo? Ich bin noch im Raum!«
Es war einfach zu viel: Frieder, ihre sexuell überdrehte Mutter, dieses verhaltensgestörte Kleinkind, eine Schweineschulter auf dem Schneidebrett - und jetzt auch noch drei Wochen Thailand allein mit dieser Psychotherapeutin.
Der Appetit war ihr vergangen. Sie ging in ihr Zimmer. Wenigstens sie würde am nächsten Morgen einen gepackten Koffer haben.
»Gurke, pack bitte die Videokamera ein! Wir machen lustige Videos am Pool und stellen die auf Youpupe!«, rief ihr Doris nach und erntete einen genervten Schrei ihrer Tochter.
»ES HEISST NICHT YOUPUPE! UND AUCH NICHT MYFACE!«
Das Schlimmste, dachte Lena, während sie Bücher und Bikinis in ihren Koffer schleuderte, war ja, dass ihre Mutter sogar irgendwie recht hatte. Sie war total verkorkst. Sie würde sich vermutlich niemals verlieben. Das stand fest, darüber musste man überhaupt nicht nachdenken. Und schon gar nicht diskutieren. In wen sollte sie sich auch verlieben? Sie war erst einmal verliebt gewesen. Und zwar in Oliver Geissen. Aber darüber hatte sie nie mit jemandem gesprochen. Sie würde das niemals jemandem sagen. Höchstens Oliver Geissen. Den sie allerdings niemals treffen würde. So gesehen war das auch egal.
Sie schaute in den Spiegel, blickte sich tief in die Augen, fuhr sich durch das Haar, warf es zur Seite, nach hinten, probierte zaghaft ein wenig Lipgloss, nur um festzustellen, dass auch das eher wie Kriegsbemalung aussah. Aber woran lag das? Sie tröstete sich damit, dass sie einfach zu stark war, zu selbstständig. Zu intellektuell. Etwas so Profanem, gar Animalischem wie Liebe könnte sie sich nie hingeben.
Na ja ... und vielleicht ... war sie auch ... aber nur ... ein bisschen ... verklemmt? Für eine Sekunde spürte sie so etwas wie Einsicht, Selbsterkenntnis. Aber ehe sie darüber nachdenken konnte, ob da was dran war, packte sie hektisch weiter. Unterwäsche. Im Handgepäck durfte auf keinen Fall Unterwäsche fehlen. Falls der Koffer verloren gehen würde, würde sie saubere Unterwäsche dabeihaben. Ein Gedanke, der ihr Halt gab.
...
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Detlef Dreßlein
Detlef Dreßlein, geboren 1970, studierte Germanistik und besuchte anschließend die Deutsche Journalistenschule. Danach arbeitete er als Pauschalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und war Redakteur bei GQ und Playboy. Seit 2010 ist er als freier Journalist und Autor tätig. Mit seinen Reportagen gewann er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Feuilletonpreis des Verbands Deutscher Sportjournalisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Detlef Dreßlein
- 2012, 1. Auflage., 240 Seiten, 16 farbige Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462044303
- ISBN-13: 9783462044300
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