Unheil
Warum jeder zum Mörder werden kann.
Josef Wilfling, viele Jahre bei der Münchener Mordkommission aktiv, lässt mit seinen Geschichten tief in die Abgründe der menschlichen Natur blicken. Er berichtet von spektakulären, oft geradezu unglaublichen Verbrechen und leuchtet...
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Produktinformationen zu „Unheil “
Josef Wilfling, viele Jahre bei der Münchener Mordkommission aktiv, lässt mit seinen Geschichten tief in die Abgründe der menschlichen Natur blicken. Er berichtet von spektakulären, oft geradezu unglaublichen Verbrechen und leuchtet faszinierende Tathintergründe aus. Und er erklärt, warum immer zuerst der Ehemann verdächtigt wird.
Lese-Probe zu „Unheil “
Unheil von Josef WilflingVorwort
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Warum Gewalt- oder Gewohnheitsverbrecher zu Mördern werden können, ist weitgehend bekannt. Es liegt an der hohen kriminellen Energie, die sich bei diesen Leuten meist schon von Kindesbeinen an aufgebaut hat, während sich die innere Hemmschwelle sukzessive abbaut. Und ist diese Hemmschwelle erst einmal überschritten, dann wird es von Mord zu Mord immer leichter. Dafür gibt es genügend Beispiele. Trotzdem fällt diese Gruppe bei uns in Deutschland, zumindest statistisch, nicht besonders ins Gewicht und ist auch im Hinblick auf die Erforschung seelischer Abgründe relativ uninteressant. Es mag sich zynisch anhören, aber zum einen gehen allenfalls 10 Prozent aller Tötungsdelikte auf das Konto dieser Leute, zum anderen bringen sie sich meist gegenseitig um. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung wird in solchen Fällen also nicht sonderlich tangiert. Jedenfalls ruft es wenig Mitgefühl und Beunruhigung hervor, wenn ein Zuhälter einen anderen ersticht oder wenn sich Mafiosi wechselseitig eliminieren. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Tötungsarten in diesen Kreisen vielfach auf »kurz und schmerzlos« beschränken, sodass in der Regel nicht einmal das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt ist. Denn grausam handelt nur, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung heraus besondere Schmerzen und Qualen zufügt. Das aber erlebt man ausgerechnet dort, wo sich Menschen nahe, oft sogar sehr nahe standen und wo sich dennoch teuflische Mordpläne entwickelt oder negativ besetzte Emotionen entladen haben.
Während die Motivlagen bei Berufsverbrechern meist klar auf der Hand liegen und keine großen Rätsel aufgeben, ist man regelmäßig ratlos, wenn es sich bei Täterinnen oder Tätern um bislang unbescholtene, anständige Menschen handelt, denen man eine so schreckliche Tat niemals zugetraut hätte. Für Angehörige ist die Suche nach Antworten oft verbunden mit der quälenden Frage, ob sie die verhängnisvolle Entwicklung hätten erkennen oder sogar stoppen können. Nicht selten kommt es zu heftigen Vorwürfen oder Selbstvorwürfen. Was war es, das einen geistig gesunden, friedfertigen, mitten im Leben stehenden, erfolgreichen und eventuell sogar tiefgläubigen Menschen veranlassen konnte, vorsätzlich ein Menschenleben auszulöschen? Die Taten von Triebtätern oder psychisch kranken Menschen nehme ich hier ausdrücklich aus, weil mein Thema nicht Krankheiten, sondern Verbrechen sind.
In meinem Buch Abgründe habe ich die gesetzlich definierten Mordmotive anhand realer Fälle beschrieben. Der Vergleich mit den sieben Todsünden sollte aufzeigen, dass Habgier, Wollust, Mordlust, Eifersucht, Neid, Hass und alle anderen Bösartigkeiten seit Menschengedenken in jedem Winkel dieser Erde beheimatet waren und sind, unabhängig von Religion, Kultur oder sozialem Status. Es wird sie geben, solange es Menschen gibt. Die gesetzlich definierten Mordmotive sind also eine Art Allgemeingut und stellen lediglich eine grobe Einteilung dessen dar, was wir als besonders verwerflich betrachten. Es sind quasi unterschiedlich beschriftete Schubladen, in die sich die individuellen Taten einordnen lassen, wobei das Sortiment mit der Aufschrift »Habgier« am besten gefüllt ist - es sind jene Fälle, in denen es um rational geplanten, eiskalten Mord geht.
Im Bereich der emotionalen Motive dürfte dagegen die »Eifersucht« den Schwerpunkt bilden. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst scheinbar gleich gelagerte Fälle gravierende Unterschiede aufweisen.
In diesem Buch möchte ich etwas tiefer in die Täterseelen eindringen und aufzeigen, dass ausgerechnet das schwerste aller Verbrechen in den wenigsten Fällen mit dem zu tun hat, was man als Wurzel allen Übels ansieht, nämlich frühkindliche Gewalterfahrungen, Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen oder der soziale Status. Diese Faktoren mögen zwar die Entwicklung krimineller Energie begünstigen, aber wenn es um das böseste alles Bösen geht, spielen sie eine eher untergeordnete Rolle, weil sogenannte anständige Bürger mehr Menschen umgebracht haben, umbringen und umbringen werden als alle Berufsverbrecher zusammen.
Täglich werden Menschen zu Mördern, von denen niemand geglaubt hätte, dass sie jemals zu solchen Taten fähig sein könnten - am allerwenigsten sie selbst. Das mag unfassbar klingen, doch für mich war es der Normalfall. Ich hatte es ständig mit Menschen zu tun, die Ungeheuerliches getan haben. Die Begegnungen mit diesen Tätern und den Verbrechen, die sie begingen, lässt letztlich nur einen einzigen Schluss zu: Jeder kann zum Mörder werden.
Um diese zugegebenermaßen provokante These zu veranschaulichen, habe ich mich um ein möglichst breites Spektrum spezieller Fälle bemüht, in denen es um die Tötung nahestehender Menschen ging. Die dabei aufgezeigten Hintergründe mögen vielen bekannt vorkommen. Manche werden sogar feststellen, dass sie selbst schon inmitten eines aufziehenden Unheils stehen.
Vielleicht hilft dieses Buch ja im einen oder anderen Fall, sich dessen bewusst zu werden und zu realisieren, dass Brutalität, Kaltblütigkeit und kriminelle Energie nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt sind. Jeder kann - spontan oder im Verlauf eines längeren Prozesses - in eine Lage geraten, aus der heraus sich bewusst und gewollt der Wille zu töten entwickelt.
Die moralische Bewertung der geschilderten Tathintergründe bleibt selbstverständlich dem Urteil des Einzelnen überlassen. Die Sichtweisen sind ebenso individuell wie die Taten selbst. Da ich weder Psychologe noch Psychiater bin und auch keine philosophischen oder gar theologischen Weisheiten von mir geben möchte, beschränke ich mich auf das, was meinem Status als Praktiker entspricht: Veranschaulichung durch Schilderung realer Fälle.
Denjenigen, denen die Einblicke in die Täterseelen nicht tief genug gehen, möchte ich die Äußerung eines renommierten Gerichtspsychiaters in Bezug auf die Grenzen psychologischer und psychiatrischer Prognosen zu bedenken geben: »Die Einzigen, die in einen Menschen hineinschauen können, sind die Rechtsmediziner.« Wobei wir Ermittler übrigens bei jeder Obduktion mit am Seziertisch stehen, den Ärztinnen und Ärzten über die Schultern schauen und ihnen Fragen stellen. Manchmal lässt sich in den Eingeweiden tatsächlich eine Antwort finden, obwohl die Seele unsichtbar ist.
Trotzdem habe ich mich jedes Mal, wenn ich vor dem geöffneten Leichnam eines Menschen stand, aufs Neue gefragt, wo eigentlich »das« geblieben ist, was dieses Wesen in seiner Kreativität und Individualität einst ausgemacht hat. Eine Frage, die ich mir bei der ersten Obduktion, der ich beiwohnte, ganz spontan stellte und die mich in all den Jahren nicht mehr losließ.
Als Ermittler wären für mich natürlich insbesondere die Gedanken des jeweiligen Mordopfers interessant gewesen, vor allem die letzten. Aber wie soll man Gedanken sehen?
Dass gerade Beziehungstaten an Grausamkeit und Brutalität nicht zu übertreffen sind, ist eine Tatsache. Trotzdem sind detaillierte Schilderungen aus Gründen der Authentizität vor allem im Hinblick auf die Täterpsyche unerlässlich. Dass dabei eventuell auch Voyeure bedient werden, ließe sich nur vermeiden, wenn überhaupt keine Romane, Sachbücher, Filme oder Presseberichte über Verbrechen mehr veröffentlicht würden. Aber das Böse ist nun einmal spannender und interessanter als das Gute.
Die geschilderten Fälle orientieren sich an echten Kriminalfällen. Aus juristischen Gründen mussten Namen, örtliche und zeitliche Gegebenheiten, Berufe oder individuelle Besonderheiten, die einen Rückschluss auf Täter oder Opfer zulassen würden, verändert, anonymisiert und durch fiktive Beschreibungen unkenntlich gemacht werden.
Josef Wilfling
München, im Januar 2012
Der Profi
Friedrich O. war mit Frau und Kindern aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sein erster Gang führte ihn zur benachbarten Doppelhaushälfte, wo ihre Freunde Christine und Peter L. mit ihrer noch nicht sechsjährigen Tochter Lisa wohnten. Er wollte sich mit einer guten Flasche Wein, die er ihnen aus Frankreich mitgebracht hatte, dafür bedanken, dass sie während des Urlaubs ihre Katze gefüttert hatten.
Friedrich O. sah, dass die Haustür spaltbreit offen stand. Wahrscheinlich hat nur jemand vergessen, die Tür fest zuzuziehen, dachte er. Er läutete mehrmals, niemand reagierte. Also drückte er die Tür vorsichtig auf und rief nach drinnen.
»Hallo, ich bin es, Fritz. Wir sind zurück. Ist denn niemand zu Hause?«
Keine Antwort. Dann aber hörte er das Lachen und Kichern von Mädchen im Obergeschoss. Er kannte sich aus in dem Haus, ging hinauf und traf auf Lisa und ihre Freundin Nicole. Die vergnügten Kinder ließen sich nicht ablenken, und Lisa erklärte, sie wisse nicht, wo Papa und Mama seien. Vielleicht sei Papa beim Sport und Mama einkaufen, meinte sie unbekümmert.
Als Friedrich O. wieder nach unten gehen wollte, sah er, dass die Tür zum Büro weit offen stand, die Schreibtischschubladen herausgezogen waren und deren Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Es sah aus wie nach einem Einbruch. Besorgt ging er ins Erdgeschoss, schaute in die Küche und entdeckte auch hier eine gewaltige Unordnung, die auf ein hastiges Durchwühlen von Schränken und Schubladen hindeutete. Besonders auffallend war eine Geldbörse, die aufgeklappt auf dem Küchentisch lag und offensichtlich hastig geleert worden war. Mein Gott, dachte Friedrich O., da muss eingebrochen worden sein! Aber wo sind Christine und Peter?
Friedrich O. trat vor die Haustür, nahm sein Handy und wollte gerade Peter L. anrufen, als er ihn aus der Richtung des Waldes herankommen sah - wie an jedem Abend um diese Zeit, wenn Peter nicht beruflich unterwegs war und im Perlacher Forst joggte. Als er schwitzend auf sein Haus zulief, erklärte ihm sein Nachbar aufgeregt, dass die Haustür offen gewesen und Christine nicht im Haus sei. Da habe er sich schon mal erlaubt, nach ihr zu suchen.
»Was, die Tür stand offen?«, fragte Peter L. sofort alarmiert. »Das gibt es doch nicht. Ich habe sie fest zugezogen, als ich loslief. Allein schon wegen Lisa. Und Christine ist nicht da?«, setzte er nach und wurde panisch. Peter L. stürzte ins Haus und rief nach seiner Frau. Er lief ins Obergeschoss und schaute im Büro nach, rannte wieder hinunter in die Küche und rief: »Das gibt's doch gar nicht, da muss eingebrochen worden sein!«
Dann hetzte er abermals nach oben ins Arbeitszimmer, sodass der Nachbar Mühe hatte, ihm zu folgen, doch abschütteln ließ er sich nicht.
»Das war vorhin noch nicht, als ich losgelaufen bin, da war noch alles in Ordnung. Das müssen Einbrecher gewesen sein. Mein Gott, wo ist Christine?«, rief er mit fast weinerlicher Stimme und schaute seinen Nachbarn hilflos an. Er rannte abermals ins Erdgeschoss, nahm sein Handy, das er aus beruflichen Gründen auch beim Joggen immer dabeihatte, und rief seine Frau an. Deren Handy lag nicht wie üblich in der Küche, also musste sie es eingesteckt haben. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar«, ertönte eine Ansage. Das bedeutete, dass es ausgeschaltet war.
»Sieh doch mal im Keller nach«, schlug Friedrich O. vor, als Peter keine Anstalten machte, auch dort zu suchen.
»Ja klar, dort könnte sie sein«, antwortete dieser, öffnete die Tür zum Keller, die sich im Flur befand, und ging die Treppe hastig nach unten, wobei er mehrmals den Namen seiner Frau rief.
Der Bereitschaftsdienst der Mordkommission war bereits vor Ort, als ich in dem noblen Vorort Grünwald bei München eintraf.
Das Verbrechen hatte sich in der Nachbarschaft in Windeseile herumgesprochen. Vereinzelt standen Anwohner zusammen, während eine Gruppe der Einsatzhundertschaft bereits mit der Nachbarschaftsbefragung begann. Ziel der Aktion war, Zeugen, die sachdienliche Hinweise geben konnten, sofort zu den Ermittlern zu bringen.
Tatsächlich wollten mehrere Anwohner am späten Nachmittag südländisch aussehende Personen im Viertel gesehen haben, zwei oder drei Männer seien es gewesen, möglicherweise Angehörige einer vorwiegend herumziehenden osteuropäischen Volksgruppe. Sie seien aber nicht von Haus zu Haus gegangen, wie das Hausierer üblicherweise tun, sondern hätten eher den Eindruck gemacht, als würden sie etwas Bestimmtes suchen, möglicherweise eine Hausnummer.
Zu diesem frühen Zeitpunkt war dies die erste und einzige Spur. Ihr mussten wir sofort nachgehen. Wie meistens, wenn es um Informationstechnologie geht, wurden Spezialisten des Bayerischen Landeskriminalamtes hinzugezogen.
Bevor ich in den Kellerraum durfte, hatte ich mich in den obligatorischen weißen Overall gehüllt und mich etwas im Wohnzimmer umgesehen. Dort befanden sich Fotos, die eine glückliche Familie zeigten: einen gut aussehenden Vater, eine schöne Mutter und ein süßes Mädchen. Alle lachten fröhlich auf den Bildern und machten einen sorglosen, unbeschwerten Eindruck.
Die Tote im Keller bot einen schlimmen Anblick. Dass es sich bei ihr um jene attraktive Frau auf den Fotos handelte, hätte man nicht mehr erkennen können. Der Kopf war eine einzige blutige Masse ohne erkennbare Gesichtszüge, das ursprünglich hellblonde Haar klebte in Fäden oder Strähnen am Boden und war durch das viele Blut verkrustet und dunkel verfärbt. Wie immer, wenn ich vor einer so entsetzlich malträtierten Leiche stand, empfand ich tiefes Mitleid. Ich konnte nicht umhin, mir den Schmerz und die Todesangst vorzustellen, die dieser Mensch in den letzten Minuten oder Sekunden seines Lebens erlitten haben musste. Diese Frau hier starb jedenfalls eines grausamen Todes. Es war eines jener Tötungsdelikte, bei denen sich Mitleidlosigkeit und abgrundtiefer Hass im Zustand der Leiche widerspiegelten.
Grundsätzlich zeigte sich das klassische Bild einer Beziehungstat: einer Tat, bei der sich lange aufgestauter Hass explosionsartig entladen haben könnte, also im Affekt. Dafür sprach dieses sogenannte Übertöten, welches daran erkennbar ist, dass der Täter mehr getan hatte, als notwendig gewesen wäre, um das Opfer zu töten. Raubmörder, Auftragskiller oder Einbrecher beschränken sich gewöhnlich auf die bloße Tötung ihrer Opfer, da es ihnen in erster Linie darauf ankommt, Beute zu machen, einen Auftrag zu erfüllen oder sich bei Entdeckung der Festnahme zu entziehen.
Christine L. war offensichtlich beim Bügeln ermordet worden, da eine noch ungebügelte Bluse auf dem Bügelbrett lag. Darauf fanden sich zahlreiche Blutspritzer, die keine Zweifel daran ließen, dass die Tötungshandlung hier erfolgt sein musste.
Das Bügeleisen befand sich neben der Leiche am Boden und war offensichtlich mitgerissen worden. Allerdings war es längst erkaltet und das Kabel aus der Steckdose gezogen worden, die sich mindestens zwei Meter entfernt in der Wand befand. Am Stecker sah man Blutantragungen. Wer war da so besorgt, dass etwas in Brand geraten könnte? Und wann wurde diese Vorsichtsmaßnahme von wem durchgeführt?
In diesem Fall konnte man sowohl an der ausgedehnten Blutlache als auch den zahlreichen Blutspritzern an Wänden und am Boden erkennen, dass Auffindungsort und Tatort identisch sein dürften. Christine L. musste hier in diesem Raum überrascht und getötet worden sein. Diesen Rückschluss erlaubte schon die erste Inaugenscheinnahme, ohne den Rechtsmedizinern vorgreifen zu wollen, die auf das Lesen von Blutspurenbildern spezialisiert sind. Sie würden sogar Aussagen darüber treffen können, welche Positionen Opfer und Täter bei den jeweiligen Tatphasen innehatten, wie diese wechselten und wo und in welcher Reihenfolge jeder einzelne Tropfen oder Spritzer entstanden sein musste.
Sie konnten auch einschätzen, ob es sich beim Täter um einen Links- oder Rechtshänder gehandelt haben könnte, aus welcher Richtung und mit welcher Intensität die Schläge geführt wurden und wie viele Personen im Raum gewesen sein mussten.
Peter L. hielt sich im Haus von Friedrich O. auf, wo er von Freunden aus der ganzen Nachbarschaft betreut wurde. Als ich das Haus betrat, war ich in einem Zustand erwartungsvoller Anspannung. Man hatte mir bereits mitgeteilt, dass Peter L. ein 39-jähriger Jurist war, der in einem internationalen Unternehmen arbeitete. Er saß im Wohnzimmer, und ein Kollege des Erkennungsdienstes nahm Spurensicherungsmaßnahmen an ihm vor. Momentan kratzte er ihm gerade die Fingernägel aus, weil er zum Spurenträger geworden war. Hatte er sich doch schreiend auf die Leiche seiner Frau geworfen, als er sie im Keller auffand.
Lisa befand sich derweil in Obhut der Familie ihrer Freundin Nicole, die gleich in der Nähe wohnte. Weil es keine engen Verwandten gab, sollte sie dort auch bleiben. Ein glücklicher Zufall, denn Lisa fühlte sich bei den liebevollen Eltern ihrer besten Freundin wie zu Hause.
Eine Kinderpsychologin übernahm anderntags die Aufgabe, dem Mädchen schonend beizubringen, dass seine Mama nicht mehr wiederkommen werde. Das geschah auf unsere Bitte hin, verbunden mit dem Wunsch einer vorsichtigen Befragung, ob sie etwas mitbekommen haben könnte von dem, was sich im Keller des Hauses zugetragen hatte. Gott sei Dank war das nicht der Fall. Wie sich herausstellte, bemerkten weder Lisa noch ihre Freundin Nicole irgendetwas von den schrecklichen Vorgängen.
Als Ehemann des Tatopfers und Auffindungszeuge war Peter L. unsere wichtigste Informationsquelle. Da seine sofortige, umfassende Vernehmung unabdingbar war und die Ermittler mit anderen wichtigen Dingen beschäftigt waren, übernahm ich diese Aufgabe.
Peter L. saß ganz ruhig da und ließ die Maßnahmen des Kollegen geduldig über sich ergehen. Er wirkte gefasst, was aber nicht als auffällig zu bezeichnen gewesen wäre. Menschen trauern unterschiedlich. Hunderte Male hatte ich das schon miterleben müssen, sodass mir keine Variation fremd war. Dem äußeren Anschein nach verhielt er sich so, wie man es von einem Mann, der gelernt hat, seine Emotionen im Griff zu behalten, in dieser Situation erwarten würde. Traurig, ruhig, in sich gekehrt und sichtlich betroffen. Oder angstvoll? Oder vorsichtig abwartend? Hatte er die Antennen ausgefahren?
Alles hätte möglich sein können, doch mir fiel nichts Besonderes auf. Oft erregen Täter allein durch auffälliges Verhalten unser Misstrauen. Gute Ermittler werden schnell misstrauisch und verfolgen diese Fährte hartnäckig. Deshalb wollen es die meisten Täter unbedingt vermeiden, bei der Auffindung der Leiche zugegen zu sein, denn dabei verraten sie sich leicht.
Bevor ich mit Peter L. zur Zeugenbefragung ins Präsidium fuhr, durfte er sich in einem separaten Raum umziehen. Da er sich auf die Leiche geworfen und dadurch zum Spurenträger und -verursacher geworden war, sollte seine Kleidung dem Erkennungsdienst übergeben werden. Friedrich O. lieh ihm einen Trainingsanzug.
Nun saß Peter L. auf dem Beifahrersitz meines Dienstwagens und wirkte sehr nachdenklich. Er habe schon viel von der hohen fachlichen Qualität der Münchner Mordkommission gehört, sagte er auf der Fahrt zum Polizeipräsidium. Er schätze unsere Arbeit sehr und sei zuversichtlich, dass wir alles tun würden, um diese Tat aufzuklären. Darauf könne er sich verlassen, versicherte ich ihm.
Mir saß ein Profi gegenüber, ein Jurist in einem großen Unternehmen mit sehr speziellen Aufgaben vorwiegend im Ausland. Obwohl sich der eloquente, ausgesprochen beherrscht wirkende, höfliche Mann während des kurzen Vorgesprächs sehr bescheiden gab und sein berufliches Engagement eher kleinredete, erfuhr ich erst viel später, welch bedeutende Stellung der Einserjurist innehatte. Momentan war er für mich Angehöriger eines Mordopfers. Und mit diesen Menschen geht man besonders behutsam um.
Inzwischen hatte ich Kaffee gekocht und eine Protokollführerin angefordert. Um 21.00 Uhr begann dann die schriftliche Vernehmung des Zeugen Peter L. Da gegen ihn kein Tatverdacht bestand, begannen wir sofort mit der schriftlichen Protokollierung.
Obwohl Peter L. Jurist war, belehrte ich ihn ordnungsgemäß als Zeugen. Ich wollte jeden Fehler vermeiden und wies ihn darauf hin, dass er zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet sei, dass er niemanden bewusst falsch beschuldigen und dass er auch nichts verschweigen dürfe. Gelassen, fast in sich ruhend, nahm er alles zur Kenntnis.
Dass sich diese erste Vernehmung bis 4.00 Uhr am Morgen des nächsten Tages hinziehen würde, war nicht absehbar, aber auch nicht ungewöhnlich. Vernehmungen bei der Mordkommission dauern in der Regel mehrere Stunden. Das hängt damit zusammen, dass jedes Wort sorgfältig protokolliert werden muss. So braucht man vor allem eines: Geduld.
Während der gesamten Dauer der Vernehmung wurde ich mit Informationen durch das Ermittlungsteam versorgt. Ich meinerseits teilte den Kollegen vor Ort neue Erkenntnisse mit, die sich aus der Befragung ergaben. Parallel zu dieser Befragung erfolgte eine ganze Reihe anderer Vernehmungen im Umfeld des Opfers. Zudem arbeitete der Erkennungsdienst auf Hochtouren. Bei aktuellen Mordfällen gibt es keinen Feierabend und kein Wochenende.
Ich schlug Peter L. vor, sofort zur Sache zu kommen und die Fragen zu den persönlichen Verhältnissen zurückzustellen. So begann ich mit jener Frage, mit der alle Vernehmungen dieser Art beginnen:
»Herr L., haben Sie einen bestimmten Tatverdacht?«
»Keinen konkreten. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es mit ihren Handyverkäufen zu tun hat. Meine Frau arbeitete in leitender Position bei einer Telefonfirma und hatte ständig die neuesten Handys zur Verfügung, wobei sie die Vorgängermodelle behalten und verkaufen konnte.«
»Was ist daran so besonders? Wieso sehen Sie da einen Zusammenhang?«
»Sie inserierte in Zeitungen und zog damit immer wieder Interessenten an, die teilweise nicht sehr vertrauenswürdig wirkten.«
»Können Sie das etwas konkretisieren?«
»Mir war das gar nicht recht. Zu uns kamen immer wieder Leute an die Haustür, die teilweise aufdringlich und sogar aggressiv wurden, weil sie den Preis drücken wollten. Meine Frau war aber sehr energisch und konsequent. Manchmal wurde es laut an der Haustür. Ich habe sie oft gebeten, diese Verkaufsgeschäfte zu unterlassen, sie würde noch einmal eins über den Kopf bekommen. Ja, das habe ich wortwörtlich gesagt. Außerdem machte ich mir Sorgen, weil diese Leute damit unsere Adresse kannten. Ich bat sie, sie solle wenigstens an Lisa denken. Aber sie hörte nicht auf mich.«
»Wissen Sie, wie das heute war? Gab es da auch Angebote?«
...
Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Warum Gewalt- oder Gewohnheitsverbrecher zu Mördern werden können, ist weitgehend bekannt. Es liegt an der hohen kriminellen Energie, die sich bei diesen Leuten meist schon von Kindesbeinen an aufgebaut hat, während sich die innere Hemmschwelle sukzessive abbaut. Und ist diese Hemmschwelle erst einmal überschritten, dann wird es von Mord zu Mord immer leichter. Dafür gibt es genügend Beispiele. Trotzdem fällt diese Gruppe bei uns in Deutschland, zumindest statistisch, nicht besonders ins Gewicht und ist auch im Hinblick auf die Erforschung seelischer Abgründe relativ uninteressant. Es mag sich zynisch anhören, aber zum einen gehen allenfalls 10 Prozent aller Tötungsdelikte auf das Konto dieser Leute, zum anderen bringen sie sich meist gegenseitig um. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung wird in solchen Fällen also nicht sonderlich tangiert. Jedenfalls ruft es wenig Mitgefühl und Beunruhigung hervor, wenn ein Zuhälter einen anderen ersticht oder wenn sich Mafiosi wechselseitig eliminieren. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Tötungsarten in diesen Kreisen vielfach auf »kurz und schmerzlos« beschränken, sodass in der Regel nicht einmal das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt ist. Denn grausam handelt nur, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung heraus besondere Schmerzen und Qualen zufügt. Das aber erlebt man ausgerechnet dort, wo sich Menschen nahe, oft sogar sehr nahe standen und wo sich dennoch teuflische Mordpläne entwickelt oder negativ besetzte Emotionen entladen haben.
Während die Motivlagen bei Berufsverbrechern meist klar auf der Hand liegen und keine großen Rätsel aufgeben, ist man regelmäßig ratlos, wenn es sich bei Täterinnen oder Tätern um bislang unbescholtene, anständige Menschen handelt, denen man eine so schreckliche Tat niemals zugetraut hätte. Für Angehörige ist die Suche nach Antworten oft verbunden mit der quälenden Frage, ob sie die verhängnisvolle Entwicklung hätten erkennen oder sogar stoppen können. Nicht selten kommt es zu heftigen Vorwürfen oder Selbstvorwürfen. Was war es, das einen geistig gesunden, friedfertigen, mitten im Leben stehenden, erfolgreichen und eventuell sogar tiefgläubigen Menschen veranlassen konnte, vorsätzlich ein Menschenleben auszulöschen? Die Taten von Triebtätern oder psychisch kranken Menschen nehme ich hier ausdrücklich aus, weil mein Thema nicht Krankheiten, sondern Verbrechen sind.
In meinem Buch Abgründe habe ich die gesetzlich definierten Mordmotive anhand realer Fälle beschrieben. Der Vergleich mit den sieben Todsünden sollte aufzeigen, dass Habgier, Wollust, Mordlust, Eifersucht, Neid, Hass und alle anderen Bösartigkeiten seit Menschengedenken in jedem Winkel dieser Erde beheimatet waren und sind, unabhängig von Religion, Kultur oder sozialem Status. Es wird sie geben, solange es Menschen gibt. Die gesetzlich definierten Mordmotive sind also eine Art Allgemeingut und stellen lediglich eine grobe Einteilung dessen dar, was wir als besonders verwerflich betrachten. Es sind quasi unterschiedlich beschriftete Schubladen, in die sich die individuellen Taten einordnen lassen, wobei das Sortiment mit der Aufschrift »Habgier« am besten gefüllt ist - es sind jene Fälle, in denen es um rational geplanten, eiskalten Mord geht.
Im Bereich der emotionalen Motive dürfte dagegen die »Eifersucht« den Schwerpunkt bilden. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst scheinbar gleich gelagerte Fälle gravierende Unterschiede aufweisen.
In diesem Buch möchte ich etwas tiefer in die Täterseelen eindringen und aufzeigen, dass ausgerechnet das schwerste aller Verbrechen in den wenigsten Fällen mit dem zu tun hat, was man als Wurzel allen Übels ansieht, nämlich frühkindliche Gewalterfahrungen, Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen oder der soziale Status. Diese Faktoren mögen zwar die Entwicklung krimineller Energie begünstigen, aber wenn es um das böseste alles Bösen geht, spielen sie eine eher untergeordnete Rolle, weil sogenannte anständige Bürger mehr Menschen umgebracht haben, umbringen und umbringen werden als alle Berufsverbrecher zusammen.
Täglich werden Menschen zu Mördern, von denen niemand geglaubt hätte, dass sie jemals zu solchen Taten fähig sein könnten - am allerwenigsten sie selbst. Das mag unfassbar klingen, doch für mich war es der Normalfall. Ich hatte es ständig mit Menschen zu tun, die Ungeheuerliches getan haben. Die Begegnungen mit diesen Tätern und den Verbrechen, die sie begingen, lässt letztlich nur einen einzigen Schluss zu: Jeder kann zum Mörder werden.
Um diese zugegebenermaßen provokante These zu veranschaulichen, habe ich mich um ein möglichst breites Spektrum spezieller Fälle bemüht, in denen es um die Tötung nahestehender Menschen ging. Die dabei aufgezeigten Hintergründe mögen vielen bekannt vorkommen. Manche werden sogar feststellen, dass sie selbst schon inmitten eines aufziehenden Unheils stehen.
Vielleicht hilft dieses Buch ja im einen oder anderen Fall, sich dessen bewusst zu werden und zu realisieren, dass Brutalität, Kaltblütigkeit und kriminelle Energie nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt sind. Jeder kann - spontan oder im Verlauf eines längeren Prozesses - in eine Lage geraten, aus der heraus sich bewusst und gewollt der Wille zu töten entwickelt.
Die moralische Bewertung der geschilderten Tathintergründe bleibt selbstverständlich dem Urteil des Einzelnen überlassen. Die Sichtweisen sind ebenso individuell wie die Taten selbst. Da ich weder Psychologe noch Psychiater bin und auch keine philosophischen oder gar theologischen Weisheiten von mir geben möchte, beschränke ich mich auf das, was meinem Status als Praktiker entspricht: Veranschaulichung durch Schilderung realer Fälle.
Denjenigen, denen die Einblicke in die Täterseelen nicht tief genug gehen, möchte ich die Äußerung eines renommierten Gerichtspsychiaters in Bezug auf die Grenzen psychologischer und psychiatrischer Prognosen zu bedenken geben: »Die Einzigen, die in einen Menschen hineinschauen können, sind die Rechtsmediziner.« Wobei wir Ermittler übrigens bei jeder Obduktion mit am Seziertisch stehen, den Ärztinnen und Ärzten über die Schultern schauen und ihnen Fragen stellen. Manchmal lässt sich in den Eingeweiden tatsächlich eine Antwort finden, obwohl die Seele unsichtbar ist.
Trotzdem habe ich mich jedes Mal, wenn ich vor dem geöffneten Leichnam eines Menschen stand, aufs Neue gefragt, wo eigentlich »das« geblieben ist, was dieses Wesen in seiner Kreativität und Individualität einst ausgemacht hat. Eine Frage, die ich mir bei der ersten Obduktion, der ich beiwohnte, ganz spontan stellte und die mich in all den Jahren nicht mehr losließ.
Als Ermittler wären für mich natürlich insbesondere die Gedanken des jeweiligen Mordopfers interessant gewesen, vor allem die letzten. Aber wie soll man Gedanken sehen?
Dass gerade Beziehungstaten an Grausamkeit und Brutalität nicht zu übertreffen sind, ist eine Tatsache. Trotzdem sind detaillierte Schilderungen aus Gründen der Authentizität vor allem im Hinblick auf die Täterpsyche unerlässlich. Dass dabei eventuell auch Voyeure bedient werden, ließe sich nur vermeiden, wenn überhaupt keine Romane, Sachbücher, Filme oder Presseberichte über Verbrechen mehr veröffentlicht würden. Aber das Böse ist nun einmal spannender und interessanter als das Gute.
Die geschilderten Fälle orientieren sich an echten Kriminalfällen. Aus juristischen Gründen mussten Namen, örtliche und zeitliche Gegebenheiten, Berufe oder individuelle Besonderheiten, die einen Rückschluss auf Täter oder Opfer zulassen würden, verändert, anonymisiert und durch fiktive Beschreibungen unkenntlich gemacht werden.
Josef Wilfling
München, im Januar 2012
Der Profi
Friedrich O. war mit Frau und Kindern aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sein erster Gang führte ihn zur benachbarten Doppelhaushälfte, wo ihre Freunde Christine und Peter L. mit ihrer noch nicht sechsjährigen Tochter Lisa wohnten. Er wollte sich mit einer guten Flasche Wein, die er ihnen aus Frankreich mitgebracht hatte, dafür bedanken, dass sie während des Urlaubs ihre Katze gefüttert hatten.
Friedrich O. sah, dass die Haustür spaltbreit offen stand. Wahrscheinlich hat nur jemand vergessen, die Tür fest zuzuziehen, dachte er. Er läutete mehrmals, niemand reagierte. Also drückte er die Tür vorsichtig auf und rief nach drinnen.
»Hallo, ich bin es, Fritz. Wir sind zurück. Ist denn niemand zu Hause?«
Keine Antwort. Dann aber hörte er das Lachen und Kichern von Mädchen im Obergeschoss. Er kannte sich aus in dem Haus, ging hinauf und traf auf Lisa und ihre Freundin Nicole. Die vergnügten Kinder ließen sich nicht ablenken, und Lisa erklärte, sie wisse nicht, wo Papa und Mama seien. Vielleicht sei Papa beim Sport und Mama einkaufen, meinte sie unbekümmert.
Als Friedrich O. wieder nach unten gehen wollte, sah er, dass die Tür zum Büro weit offen stand, die Schreibtischschubladen herausgezogen waren und deren Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Es sah aus wie nach einem Einbruch. Besorgt ging er ins Erdgeschoss, schaute in die Küche und entdeckte auch hier eine gewaltige Unordnung, die auf ein hastiges Durchwühlen von Schränken und Schubladen hindeutete. Besonders auffallend war eine Geldbörse, die aufgeklappt auf dem Küchentisch lag und offensichtlich hastig geleert worden war. Mein Gott, dachte Friedrich O., da muss eingebrochen worden sein! Aber wo sind Christine und Peter?
Friedrich O. trat vor die Haustür, nahm sein Handy und wollte gerade Peter L. anrufen, als er ihn aus der Richtung des Waldes herankommen sah - wie an jedem Abend um diese Zeit, wenn Peter nicht beruflich unterwegs war und im Perlacher Forst joggte. Als er schwitzend auf sein Haus zulief, erklärte ihm sein Nachbar aufgeregt, dass die Haustür offen gewesen und Christine nicht im Haus sei. Da habe er sich schon mal erlaubt, nach ihr zu suchen.
»Was, die Tür stand offen?«, fragte Peter L. sofort alarmiert. »Das gibt es doch nicht. Ich habe sie fest zugezogen, als ich loslief. Allein schon wegen Lisa. Und Christine ist nicht da?«, setzte er nach und wurde panisch. Peter L. stürzte ins Haus und rief nach seiner Frau. Er lief ins Obergeschoss und schaute im Büro nach, rannte wieder hinunter in die Küche und rief: »Das gibt's doch gar nicht, da muss eingebrochen worden sein!«
Dann hetzte er abermals nach oben ins Arbeitszimmer, sodass der Nachbar Mühe hatte, ihm zu folgen, doch abschütteln ließ er sich nicht.
»Das war vorhin noch nicht, als ich losgelaufen bin, da war noch alles in Ordnung. Das müssen Einbrecher gewesen sein. Mein Gott, wo ist Christine?«, rief er mit fast weinerlicher Stimme und schaute seinen Nachbarn hilflos an. Er rannte abermals ins Erdgeschoss, nahm sein Handy, das er aus beruflichen Gründen auch beim Joggen immer dabeihatte, und rief seine Frau an. Deren Handy lag nicht wie üblich in der Küche, also musste sie es eingesteckt haben. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar«, ertönte eine Ansage. Das bedeutete, dass es ausgeschaltet war.
»Sieh doch mal im Keller nach«, schlug Friedrich O. vor, als Peter keine Anstalten machte, auch dort zu suchen.
»Ja klar, dort könnte sie sein«, antwortete dieser, öffnete die Tür zum Keller, die sich im Flur befand, und ging die Treppe hastig nach unten, wobei er mehrmals den Namen seiner Frau rief.
Der Bereitschaftsdienst der Mordkommission war bereits vor Ort, als ich in dem noblen Vorort Grünwald bei München eintraf.
Das Verbrechen hatte sich in der Nachbarschaft in Windeseile herumgesprochen. Vereinzelt standen Anwohner zusammen, während eine Gruppe der Einsatzhundertschaft bereits mit der Nachbarschaftsbefragung begann. Ziel der Aktion war, Zeugen, die sachdienliche Hinweise geben konnten, sofort zu den Ermittlern zu bringen.
Tatsächlich wollten mehrere Anwohner am späten Nachmittag südländisch aussehende Personen im Viertel gesehen haben, zwei oder drei Männer seien es gewesen, möglicherweise Angehörige einer vorwiegend herumziehenden osteuropäischen Volksgruppe. Sie seien aber nicht von Haus zu Haus gegangen, wie das Hausierer üblicherweise tun, sondern hätten eher den Eindruck gemacht, als würden sie etwas Bestimmtes suchen, möglicherweise eine Hausnummer.
Zu diesem frühen Zeitpunkt war dies die erste und einzige Spur. Ihr mussten wir sofort nachgehen. Wie meistens, wenn es um Informationstechnologie geht, wurden Spezialisten des Bayerischen Landeskriminalamtes hinzugezogen.
Bevor ich in den Kellerraum durfte, hatte ich mich in den obligatorischen weißen Overall gehüllt und mich etwas im Wohnzimmer umgesehen. Dort befanden sich Fotos, die eine glückliche Familie zeigten: einen gut aussehenden Vater, eine schöne Mutter und ein süßes Mädchen. Alle lachten fröhlich auf den Bildern und machten einen sorglosen, unbeschwerten Eindruck.
Die Tote im Keller bot einen schlimmen Anblick. Dass es sich bei ihr um jene attraktive Frau auf den Fotos handelte, hätte man nicht mehr erkennen können. Der Kopf war eine einzige blutige Masse ohne erkennbare Gesichtszüge, das ursprünglich hellblonde Haar klebte in Fäden oder Strähnen am Boden und war durch das viele Blut verkrustet und dunkel verfärbt. Wie immer, wenn ich vor einer so entsetzlich malträtierten Leiche stand, empfand ich tiefes Mitleid. Ich konnte nicht umhin, mir den Schmerz und die Todesangst vorzustellen, die dieser Mensch in den letzten Minuten oder Sekunden seines Lebens erlitten haben musste. Diese Frau hier starb jedenfalls eines grausamen Todes. Es war eines jener Tötungsdelikte, bei denen sich Mitleidlosigkeit und abgrundtiefer Hass im Zustand der Leiche widerspiegelten.
Grundsätzlich zeigte sich das klassische Bild einer Beziehungstat: einer Tat, bei der sich lange aufgestauter Hass explosionsartig entladen haben könnte, also im Affekt. Dafür sprach dieses sogenannte Übertöten, welches daran erkennbar ist, dass der Täter mehr getan hatte, als notwendig gewesen wäre, um das Opfer zu töten. Raubmörder, Auftragskiller oder Einbrecher beschränken sich gewöhnlich auf die bloße Tötung ihrer Opfer, da es ihnen in erster Linie darauf ankommt, Beute zu machen, einen Auftrag zu erfüllen oder sich bei Entdeckung der Festnahme zu entziehen.
Christine L. war offensichtlich beim Bügeln ermordet worden, da eine noch ungebügelte Bluse auf dem Bügelbrett lag. Darauf fanden sich zahlreiche Blutspritzer, die keine Zweifel daran ließen, dass die Tötungshandlung hier erfolgt sein musste.
Das Bügeleisen befand sich neben der Leiche am Boden und war offensichtlich mitgerissen worden. Allerdings war es längst erkaltet und das Kabel aus der Steckdose gezogen worden, die sich mindestens zwei Meter entfernt in der Wand befand. Am Stecker sah man Blutantragungen. Wer war da so besorgt, dass etwas in Brand geraten könnte? Und wann wurde diese Vorsichtsmaßnahme von wem durchgeführt?
In diesem Fall konnte man sowohl an der ausgedehnten Blutlache als auch den zahlreichen Blutspritzern an Wänden und am Boden erkennen, dass Auffindungsort und Tatort identisch sein dürften. Christine L. musste hier in diesem Raum überrascht und getötet worden sein. Diesen Rückschluss erlaubte schon die erste Inaugenscheinnahme, ohne den Rechtsmedizinern vorgreifen zu wollen, die auf das Lesen von Blutspurenbildern spezialisiert sind. Sie würden sogar Aussagen darüber treffen können, welche Positionen Opfer und Täter bei den jeweiligen Tatphasen innehatten, wie diese wechselten und wo und in welcher Reihenfolge jeder einzelne Tropfen oder Spritzer entstanden sein musste.
Sie konnten auch einschätzen, ob es sich beim Täter um einen Links- oder Rechtshänder gehandelt haben könnte, aus welcher Richtung und mit welcher Intensität die Schläge geführt wurden und wie viele Personen im Raum gewesen sein mussten.
Peter L. hielt sich im Haus von Friedrich O. auf, wo er von Freunden aus der ganzen Nachbarschaft betreut wurde. Als ich das Haus betrat, war ich in einem Zustand erwartungsvoller Anspannung. Man hatte mir bereits mitgeteilt, dass Peter L. ein 39-jähriger Jurist war, der in einem internationalen Unternehmen arbeitete. Er saß im Wohnzimmer, und ein Kollege des Erkennungsdienstes nahm Spurensicherungsmaßnahmen an ihm vor. Momentan kratzte er ihm gerade die Fingernägel aus, weil er zum Spurenträger geworden war. Hatte er sich doch schreiend auf die Leiche seiner Frau geworfen, als er sie im Keller auffand.
Lisa befand sich derweil in Obhut der Familie ihrer Freundin Nicole, die gleich in der Nähe wohnte. Weil es keine engen Verwandten gab, sollte sie dort auch bleiben. Ein glücklicher Zufall, denn Lisa fühlte sich bei den liebevollen Eltern ihrer besten Freundin wie zu Hause.
Eine Kinderpsychologin übernahm anderntags die Aufgabe, dem Mädchen schonend beizubringen, dass seine Mama nicht mehr wiederkommen werde. Das geschah auf unsere Bitte hin, verbunden mit dem Wunsch einer vorsichtigen Befragung, ob sie etwas mitbekommen haben könnte von dem, was sich im Keller des Hauses zugetragen hatte. Gott sei Dank war das nicht der Fall. Wie sich herausstellte, bemerkten weder Lisa noch ihre Freundin Nicole irgendetwas von den schrecklichen Vorgängen.
Als Ehemann des Tatopfers und Auffindungszeuge war Peter L. unsere wichtigste Informationsquelle. Da seine sofortige, umfassende Vernehmung unabdingbar war und die Ermittler mit anderen wichtigen Dingen beschäftigt waren, übernahm ich diese Aufgabe.
Peter L. saß ganz ruhig da und ließ die Maßnahmen des Kollegen geduldig über sich ergehen. Er wirkte gefasst, was aber nicht als auffällig zu bezeichnen gewesen wäre. Menschen trauern unterschiedlich. Hunderte Male hatte ich das schon miterleben müssen, sodass mir keine Variation fremd war. Dem äußeren Anschein nach verhielt er sich so, wie man es von einem Mann, der gelernt hat, seine Emotionen im Griff zu behalten, in dieser Situation erwarten würde. Traurig, ruhig, in sich gekehrt und sichtlich betroffen. Oder angstvoll? Oder vorsichtig abwartend? Hatte er die Antennen ausgefahren?
Alles hätte möglich sein können, doch mir fiel nichts Besonderes auf. Oft erregen Täter allein durch auffälliges Verhalten unser Misstrauen. Gute Ermittler werden schnell misstrauisch und verfolgen diese Fährte hartnäckig. Deshalb wollen es die meisten Täter unbedingt vermeiden, bei der Auffindung der Leiche zugegen zu sein, denn dabei verraten sie sich leicht.
Bevor ich mit Peter L. zur Zeugenbefragung ins Präsidium fuhr, durfte er sich in einem separaten Raum umziehen. Da er sich auf die Leiche geworfen und dadurch zum Spurenträger und -verursacher geworden war, sollte seine Kleidung dem Erkennungsdienst übergeben werden. Friedrich O. lieh ihm einen Trainingsanzug.
Nun saß Peter L. auf dem Beifahrersitz meines Dienstwagens und wirkte sehr nachdenklich. Er habe schon viel von der hohen fachlichen Qualität der Münchner Mordkommission gehört, sagte er auf der Fahrt zum Polizeipräsidium. Er schätze unsere Arbeit sehr und sei zuversichtlich, dass wir alles tun würden, um diese Tat aufzuklären. Darauf könne er sich verlassen, versicherte ich ihm.
Mir saß ein Profi gegenüber, ein Jurist in einem großen Unternehmen mit sehr speziellen Aufgaben vorwiegend im Ausland. Obwohl sich der eloquente, ausgesprochen beherrscht wirkende, höfliche Mann während des kurzen Vorgesprächs sehr bescheiden gab und sein berufliches Engagement eher kleinredete, erfuhr ich erst viel später, welch bedeutende Stellung der Einserjurist innehatte. Momentan war er für mich Angehöriger eines Mordopfers. Und mit diesen Menschen geht man besonders behutsam um.
Inzwischen hatte ich Kaffee gekocht und eine Protokollführerin angefordert. Um 21.00 Uhr begann dann die schriftliche Vernehmung des Zeugen Peter L. Da gegen ihn kein Tatverdacht bestand, begannen wir sofort mit der schriftlichen Protokollierung.
Obwohl Peter L. Jurist war, belehrte ich ihn ordnungsgemäß als Zeugen. Ich wollte jeden Fehler vermeiden und wies ihn darauf hin, dass er zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet sei, dass er niemanden bewusst falsch beschuldigen und dass er auch nichts verschweigen dürfe. Gelassen, fast in sich ruhend, nahm er alles zur Kenntnis.
Dass sich diese erste Vernehmung bis 4.00 Uhr am Morgen des nächsten Tages hinziehen würde, war nicht absehbar, aber auch nicht ungewöhnlich. Vernehmungen bei der Mordkommission dauern in der Regel mehrere Stunden. Das hängt damit zusammen, dass jedes Wort sorgfältig protokolliert werden muss. So braucht man vor allem eines: Geduld.
Während der gesamten Dauer der Vernehmung wurde ich mit Informationen durch das Ermittlungsteam versorgt. Ich meinerseits teilte den Kollegen vor Ort neue Erkenntnisse mit, die sich aus der Befragung ergaben. Parallel zu dieser Befragung erfolgte eine ganze Reihe anderer Vernehmungen im Umfeld des Opfers. Zudem arbeitete der Erkennungsdienst auf Hochtouren. Bei aktuellen Mordfällen gibt es keinen Feierabend und kein Wochenende.
Ich schlug Peter L. vor, sofort zur Sache zu kommen und die Fragen zu den persönlichen Verhältnissen zurückzustellen. So begann ich mit jener Frage, mit der alle Vernehmungen dieser Art beginnen:
»Herr L., haben Sie einen bestimmten Tatverdacht?«
»Keinen konkreten. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es mit ihren Handyverkäufen zu tun hat. Meine Frau arbeitete in leitender Position bei einer Telefonfirma und hatte ständig die neuesten Handys zur Verfügung, wobei sie die Vorgängermodelle behalten und verkaufen konnte.«
»Was ist daran so besonders? Wieso sehen Sie da einen Zusammenhang?«
»Sie inserierte in Zeitungen und zog damit immer wieder Interessenten an, die teilweise nicht sehr vertrauenswürdig wirkten.«
»Können Sie das etwas konkretisieren?«
»Mir war das gar nicht recht. Zu uns kamen immer wieder Leute an die Haustür, die teilweise aufdringlich und sogar aggressiv wurden, weil sie den Preis drücken wollten. Meine Frau war aber sehr energisch und konsequent. Manchmal wurde es laut an der Haustür. Ich habe sie oft gebeten, diese Verkaufsgeschäfte zu unterlassen, sie würde noch einmal eins über den Kopf bekommen. Ja, das habe ich wortwörtlich gesagt. Außerdem machte ich mir Sorgen, weil diese Leute damit unsere Adresse kannten. Ich bat sie, sie solle wenigstens an Lisa denken. Aber sie hörte nicht auf mich.«
»Wissen Sie, wie das heute war? Gab es da auch Angebote?«
...
Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Josef Wilfling
Josef Wilfling, geboren 1947, war 42 Jahre lang im Polizeidienst tätig, 22 davon bei der Münchner Mordkommission. Der Vernehmungsspezialist klärte spektakuläre Fälle wie den Sedlmayr- und den Moshammer-Mord auf, schnappte Serientäter wie den Frauenmörder Horst David und verhörte Hunderte Kriminelle. Josef Wilfling ist verheiratet und lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Josef Wilfling
- 2012, 304 Seiten, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453193601
- ISBN-13: 9783453193604
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