Unser Schmidt
Der Staatsmann und der Publizist
Theo Sommer im Gespräch mit dem Altbundeskanzler: Schmidts zwei Karrieren als Staatsmann und Publizist
"Politiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie sollen heute schon über Dinge urteilen, die sie erst morgen...
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Produktinformationen zu „Unser Schmidt “
Theo Sommer im Gespräch mit dem Altbundeskanzler: Schmidts zwei Karrieren als Staatsmann und Publizist
"Politiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie sollen heute schon über Dinge urteilen, die sie erst morgen verstehen." Schon hier zeigt Schmidt seine Einstellung zu seinen beiden Berufen. 1983 nimmt der Altkanzler den Posten als Herausgeber bei der "Zeit" an und steht fortan für eine tolerante und weltoffene Zeitung ein. Der Aufstieg Schmidts zur politisch-moralischen Instanz in unterhaltsamen und pointierten Worten!
Klappentext zu „Unser Schmidt “
"Politiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie sollen heute schon über Dinge urteilen, die sie erst morgen verstehen." Helmut Schmidt"Das ist auch nicht schwieriger, als wenn man als Politiker in ein neues Ressort kommt und sich einarbeiten muss", sagte Helmut Schmidt, als er 1983 seinen Herausgeberposten bei der Zeit antrat. Ganz so einfach scheint es dann doch nicht gewesen zu sein, zumindest nicht für diejenigen, die bereits beim Blatt tätig waren. Er schärfte den Ressortleitern schon mal ein, "die Wohngemeinschafts- und Gossensprache der 68er-Generation" zurückzudrängen. Die konterten: "Eine Redaktion ist kein Ministerium." Dennoch: In dem Bestreben, eine tolerante, weltoffene Zeitung zu machen, herrschte Einigkeit. Pointiert und unterhaltsam zeichnet Theo Sommer den Aufstieg Helmut Schmidts zur politisch-moralischen Instanz nach.
"Das ist auch nicht schwieriger, als wenn man als Politiker in ein neues Ressort kommt und sich einarbeiten muss", sagte Helmut Schmidt, als er 1983 seinen Herausgeberposten bei der "Zeit" antrat. Ganz so einfach scheint es dann doch nicht gewesen zu sein, zumindest nicht für diejenigen, die bereits beim Blatt tätig waren. Er schärfte den Ressortleitern schon mal ein, "die Wohngemeinschafts- und Gossensprache der 68er-Generation" zurückzudrängen. Die konterten: "Eine Redaktion ist kein Ministerium". Dennoch: In dem Bestreben, eine tolerante, weltoffene Zeitung zu machen, herrschte Einigkeit. Pointiert und unterhaltsam zeichnet Theo Sommer den Aufstieg Helmut Schmidts zur politisch-moralischen Instanz nach.
Lese-Probe zu „Unser Schmidt “
Unser Schmidt - Der Staatsmann und der Publizist von Theo SommerVorwort
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Darf man ein Buch über einen Freund schreiben, der eine Gestalt der Zeitgeschichte ist? Ich habe mir die Antwort auf diese
Frage lange überlegt, als Dr. Ulrich Ott von der ING-DiBa mit der Idee an mich herantrat, ein Buch über den Publizisten Helmut Schmidt zu schreiben. Die ING-DiBa vergibt seit 1996 jährlich den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis. Die Idee faszi nierte mich, denn ich hatte in den bald achtundzwanzig Jahren, die Schmidt jetzt schon bei der ZEIT ist, eng mit ihm zusammengearbeitet, als Chefredakteur zunächst, dann zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff im Herausgeber-Kollegium, seit 2001 schließlich als Editor-at-Large, eine Art Altchefredakteur neben dem Altbundeskanzler. Nach reiflicher Überlegung sagte ich ja.
Zwei Gründe gaben für meine Entscheidung den Ausschlag. Zum einen war unsere Freundschaft stets eine Freundschaft auf kritische Distanz. Sie schloss weder Objektivität aus noch - bei weitreichender Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen - voneinander abweichende Ansichten. Ich traute mir den gebotenen inneren Abstand zu. Zum anderen war ich mir sicher, als ZEIT-Zeuge das Wirken des Publizisten Schmidt beschreiben und zugleich als studierter Historiker seine Ansichten und seinen fortdauernden Einfluss auf die deutsche Politik wie auf die deutsche öffentliche Meinung sachlich analysieren zu können. Ich hoffe, dass diese Selbsteinschätzung den Lesern dieses Buches gerechtfertigt erscheint.
Ich muss hinzufügen: Es ist ein ganz anderes Buch geworden, als im ersten Ansatz geplant war. Je mehr ich mich vertiefte in die staunenswerte Fülle von Helmut Schmidts Artikeln, je intensiver ich die Mitschnitte seiner Fernsehauftritte studierte und je faszinierter ich mich in seine Vortragstexte einlas, desto klarer wurde mir, dass die Beschränkung des Themas auf das, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt öffentlich von sich gegeben hat, nicht den ganzen Schmidt würde widerspiegeln können. Als er 1983 in den ZEIT-Verlag eintrat, war er ja kein unbeschriebenes Blatt. Seine publizistischen Äußerungen sind nicht zu verstehen, wenn man nicht sein Denken, Handeln und Entscheiden in den Ämtern mit einbezieht, die er vor seinem Seitenwechsel von der Politik in die Publizistik bekleidet hatte. Dies wiederum machte es erforderlich, zum besseren Verständnis den zeitgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten, vor dem der Deutschlandpolitiker, der Europapolitiker, der Sicherheitspolitiker, der Außenpolitiker und der Wirtschaftspolitiker, aber auch der Hanseat und der Philosoph im Politiker Schmidt agierte, reagierte, regierte und räsonierte. Auf diese Weise hat sich das thematische Panorama dieses Buches zwangsläufig ausgeweitet. Aus dem Porträt des Publizisten Schmidt ist eine Darstellung auch des Staatsmanns Schmidt geworden - und darüber hinaus, gespiegelt in einer Person der Zeitgeschichte wie der ZEIT-Geschichte, ein Stück bundesrepublikanischer Historie vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt.
Vielen schulde ich Dank. Ohne ihr Interesse und ihre Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, das Manuskript binnen acht Monaten zu vollenden. Für großzügige Förderung und anregende Begleitung meiner Arbeit danke ich vor allem Dr. Ott und der ING-DiBa, deren Kommunikationschef er ist. Mein Dank gilt den ZEIT-Kollegen, deren Erinnerungen und Erfahrungen mit Helmut Schmidt mir viel Stoff geliefert haben und die es hinnahmen, dass ich eine Zeit lang mehr in meiner Schreibklause zubrachte als in der Redaktion. Er gilt all denen, die mir hilfreiche Kritik und Anregungen haben zuteilwerden lassen, allen voran Haug von Kuenheim, aber auch Giovanni di Lorenzo, Nina Grunenberg und Robert Leicht, ferner Miriam Zimmer und Kerstin Wilhelm von der ZEIT-Dokumentation, deren verlässlicher Findigkeit ich die rasche Auffüllung verschiedenster Beleglücken verdanke. Von besonderem Wert war mir darüber hinaus die Hilfestellung, die mir Mario-Gino Harms bei der Beschaffung von Unterlagen aus dem Archiv der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg unermüdlich geleistet hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Assistentin Barbara Knabbe, die das Manuskript durch all seine mannigfachen Metamorphosen betreut und ihm so nachsichtig wie geduldig an ihrem Computer Gesicht und Gestalt gegeben hat, und Kathrin Liedtke für ihr einfühlsames Lektorat. Um Nachsicht bitte ich auch meine Familie, die unter den Geburtswehen dieses Buchprojekts mehr zu leiden hatte als der Autor selber.
Zu danken habe ich schließlich all denen, die vor mir über Helmut Schmidt geschrieben haben: unter den journalistischen Biographen Sibylle Krause-Burger, Hans-Joachim Noack, Martin Rupps, Michael Schwelien, Mainhardt Graf von Nayhauß, der Brite Jonathan Carr und der Franzose Dominique Pelassy. In erster Linie gilt mein Dank jedoch dem Heidelberger Historiker Hartmut Soell, dessen magistrale zweibändige Schmidt-Biographie eine schier unerschöpfliche Quelle von Fakten und Einsichten ist. An etwaigen Stärken dieses Buches haben sie alle ihren Anteil. Etwaige Schwächen habe ich allein zu verantworten.
Theo Sommer Hamburg, im August 2010
Einleitung
Vor einem halben Jahrhundert, im Sommer 1961, bin ich Helmut Schmidt zum ersten Mal begegnet. Ich reiste von der Jahreskonferenz des Londoner Instituts für Strategische Studien aus Genf nach Hamburg zurück, als der zweiundvierzigjährige SPD-Politiker in mein Schlafwagenabteil zustieg. Er bezog das untere Bett, ich das obere. Wir haben damals die halbe Nacht bei Fürstenberg-Pils miteinander geredet. Gesprächsstoff hatten wir genug. Für strategische Fragen hatte ich mich seit längerem interessiert. Im Herbst 1957 hatte ich für die ZEIT Kissingers Nuclear Weapons and Foreign Policy besprochen und hatte dann im folgenden Jahr für den jungen Harvard-Professor bei einem Auftritt im Hamburger Amerikahaus gedolmetscht, da er sich außerstande sah, Spezialausdrücke wie second-strike capability oder intermediate range missiles in seiner Muttersprache wiederzugeben (»Mit meinem Deutsch ist es wie mit meinem Gepäck: Es kommt erst morgen«, entschuldigte er sich). Auch hatte ich mich im Sommer 1960 in Kissingers International Summer Seminar an der Harvard University und danach als erstes deutsches Council-Mitglied des Londoner Institute for Strategic Studies intensiv mit strategischen Fragen beschäftigt. Schmidt und ich besaßen viele gemeinsame Bekannte in der strategic community. So fanden wir rasch Kontakt zueinander.
In jener Nacht im Schlafwagen habe ich zum ersten Mal Schmidts enorme Sachkenntnis bewundert. 1962 kam dann sein Buch Verteidigung oder Vergeltung heraus. Es verschaffte mir die Chance meines allerersten Fernsehauftritts; in der Wessel-Runde diskutierten Emil Obermann vom Süddeutschen Rundfunk, Hans Schmelz vom Spiegel und ich mit ihm über sein Werk - das erste überhaupt, das sich in Deutschland kompetent und autoritativ mit dem Thema auseinandersetzte. Eine lange Reihe langer Gespräche schloss sich in den folgenden Jahren an.
Im Herbst 1969 lud mich Schmidt ins Frankfurter Interconti am Main, wo er als designierter Verteidigungsminister in Willy Brandts Kabinett seine Mannschaft zusammenstellte. Schon 1966 hatte er mir angeboten, falls er Verteidigungsminister würde, mit ihm auf die Hardthöhe zu gehen, um im Ministerium eine Planungsabteilung aufzubauen und zu leiten. Nun kam er darauf zurück. Abermals bot er mir an, im Verteidigungsministerium einen Planungsstab einzurichten. Außerdem sollte ich eine »kritische Bestandsaufnahme« der Bundeswehr organisieren und das erste Weißbuch schreiben. Ich sagte zu und blieb - so war es von vornherein verabredet - ein knappes Dreivierteljahr. Es war eine kurze und wahnsinnig arbeitsreiche, aber aufregende und fruchtbare Zeit an seiner Seite.
Damals habe ich seine enorme Arbeitskraft zu bewundern gelernt. Ich sehe noch den Stapel von Vorlagen vor mir, auf zwei oder drei Teewagen vor ihm aufgebaut, die er nach all den Sitzungen, Truppenbesuchen und oft auch Parteiterminen bis weit nach Mitternacht durcharbeitete. Manchmal steckte ich frühmorgens um drei, wenn im Ministerbüro noch Licht brannte, den Kopf bei ihm hinein. Wir tranken einen dünnen Whisky und schickten einander dann ins Bett, denn für halb acht war schon wieder der erste Termin angesetzt. Von Schmidts Arbeitsweise habe ich damals übrigens viel gelernt. Problemidentifizierung, Definition der Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Diskussion der Vorschläge, schließlich Beschluss und Umsetzung - das war eine Art von Führung, wie ich sie so nicht wieder erlebt habe, zugleich entschieden, offen für jede vernünftige Anregung, aber auch für jeden vernünftigen Einwand. Diskussion war für ihn ein notwendiges Element der eigenen Meinungsbildung und Beschlussfassung.
Wir blieben auch nach meiner Bonner Zeit in Fühlung. Einmal erlebte ich ihn wenige Jahre später, wie die Öffentlichkeit ihn nie zu sehen bekam: verbittert, wütend und zugleich reuevoll. Das war 1976, im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster. Er hatte ein paar Freunde gebeten, mit ihm den Entwurf der Regierungserklärung zu schmirgeln und zu polieren. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er, unvollkommen informiert oder schlecht beraten, eine Rentenerhöhung versprochen. Neue und unzweideutige Zahlen bewogen ihn dann, die Erhöhung zu verschieben. Das löste im Lande einen Proteststurm aus. Von »Rentenfiasko« und »Rentenlüge« war die Rede. Er machte einen Rückzieher. Im Entwurf der Regierungserklärung war davon nicht ein Wort zu lesen. Er wischte das Beamtenpapier unwirsch beiseite, stellte das Thema ganz an den Anfang und diktierte die großartigen Sätze: »Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich. Hingegen steht es einer demokratischen gut an, wenn sie klarer Kritik folgt.« Zwei Jahre später bekannte er: »Es ist bitter, solche Fehler einsehen zu müssen. Es ist bitter, sie öffentlich eingestehen zu müssen.«
Dann kam 1977 der »deutsche Herbst« des RAF-Terrors, der Mogadischu-Aktion, der Schleyer-Entführung. Helmut Schmidt hatte eine Reihe von Experten in den Kanzlerbungalow eingeladen, um über MBFR zu sprechen - die festgefahrenen Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions in Europa, die er wieder in Gang bringen wollte. Aber er kam nicht, oder lange nicht, denn an diesem Tag wurde bekannt, dass Hanns Martin Schleyer ermordet worden war. Er stieß erst zu unserer Gruppe, nachdem er die Rede aufgesetzt hatte, die er am nächsten Tag im Bundestag halten wollte. Ich habe ihn nie wieder dermaßen erschüttert, so unendlich müde, so schwermütig gesehen. »Ein großes Glas mit Eis und dann so viel Wermut, wie anschließend noch reingeht«, sagte er erschöpft zu der Ordonnanz; ich notierte mir den Satz auf einer Papierserviette. Am nächsten Tag nahm er vor dem Parlament in demutsvollem Bewusstsein von Versäumnis und Schuld die Verantwortung auf sich - ganz im Sinne von Max Webers Satz, dass alles Tun in Tragik verflochten sei. »Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft«, sagte er und fügte hinzu: »Gott helfe uns!«
Einen ähnlich bitteren Moment erlebte ich dann im November 1983 mit, beim Kölner Parteitag der SPD nach Schmidts Abwahl ein Jahr zuvor. Da sprachen sich nur noch ganze sechzehn Delegierte für den von ihm 1977 mit einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies initiierten NATO-Doppelbeschluss aus. Die Geschichte hat Helmut Schmidt freilich recht gegeben. Zehn Jahre nach seiner Londoner Rede ist ihm der späte Triumph zuteilgeworden, dass die Mittelstreckenraketen - die sowjetischen SS-20 im Osten und die amerikanischen Pershings und Marschflugkörper im Westen - auf der Grundlage des von seiner Partei abgelehnten, aber dann von Helmut Kohl ausgeführten Doppelbeschlusses tatsächlich abgeschafft wurden. Seine Weitsicht, seine entschlossene Konsequenz zahlten sich aus.
Im Jahre 1983 kreuzten sich dann unsere Pfade aufs Neue. Im Mai jenes Jahres zog er als ZEIT-Herausgeber ins Pressehaus ein; seitdem sind wir Flurnachbarn. Da saß er nun in seinem bescheidenen Büro und begann eine zweite Karriere, ein zweites Leben. Es schloss sich nahtlos an das erste Leben an.
Als Helmut Schmidt im Mai 1974 unversehens Bundeskanzler geworden war, hatte ich ihn in einem ganzseitigen ZEIT-Artikel im neuen Amt begrüßt. Der Artikel war ungewöhnlicherweise in Briefform abgefasst und mit »Lieber Helmut« überschrieben - der Hamburger Anrede, die den Vornamen mit dem »Sie« verbindet, auf diese Weise zugleich Distanz ausdrückend und Freundschaft. Darin versuchte ich, die Klischees zu entkräften, die über Schmidt im Schwange waren: »Schneller Brüter«, »kühler Macher«, »Erfolgsmensch im Hans-Albers-Stil«, oder ahnungslose Bemerkungen wie: Augenmaß und Zähigkeit seien seine Sache nicht, typisch für ihn seien demonstrative Hektik und zelebrierter Stress; um Gottes willen keine Kontemplation. Der Auffassung, dass er ein reiner Pragmatiker sei, den nicht der Horizont interessiere, sondern nur der Streifen Terrain vor seinen Füßen, hielt ich schon damals entgegen, dass er durchaus in der Lage sei, jedermann die sittlichen Grundlagen seiner Politik sichtbar zu machen, und dass er sich oft von Vorstellungen leiten lasse, die letztlich einer rein philosophischen Wurzel entsprangen. Ich verglich ihn mit Franz Josef Strauß: »derselbe scharfe Intellekt, dieselbe angriffslustige Polemik, dieselbe Kunst der Rede«. Aber ich markierte auch den entscheidenden Unterschied: »Sie sind disziplinierter, konsequenter auch. Und anders als Strauß spielen Sie nicht so dicht am Rande der eigenen seelischen Abgründe. Ihre Selbstkontrollmechanismen funktionieren besser. Ihre Achtung vor dem Gesetz ist stärker entwickelt.« Ich schrieb: »Sie gelten als Atlantiker - und sind es gewiss auch. Aber das heißt nicht, dass Sie den Amerikanern alles durchgehen ließen; Sie haben da schon früher manches offene Wort zu Ihrem alten Bekannten Henry Kissinger gesprochen. [Mit Ihrem Freund Giscard d'Estaing] stehen Sie in der Pflicht, den festgefahrenen EG-Dampfer wieder flottzumachen.« Im Übrigen vertraute ich, was den Stil seiner Amtsführung anging, ganz seinem Instinkt: »Er wird nicht zulassen, dass Sie zum Heiligen stilisiert werden, wo Sie keiner sind.« Und ich schloss mit den Worten: »Seien Sie meiner freundschaftlichen Ergebenheit auch dann, auch dort versichert, wo die andere professionelle Warte mir Kritik abnötigen wird.«
Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, war sein schwarzes Haar noch kaum angegraut; als er achteinhalb Jahre später gestürzt wurde, war es weiß geworden. Wie Metternich mag er sich als Arzt im großen Weltspital empfunden haben, der dem Elend nicht zu steuern vermochte. Er war nicht autoritär wie Adenauer. Er stürmte nicht heilsgewiss voran wie Brandt. Er setzte auf die Vernunft, der er mühsam eine Klientel zu schaffen suchte; ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der das Zerbröseln des gesellschaftlichen Konsenses Führung immer schwieriger machte. Aber Schmidt tat seine Pflicht, und er tat sie mit Anstand, Würde und Stil. Er versuchte, in der Politik einen Begriff von Ratio, Leidenschaftslosigkeit und Augenmaß aufrechtzuerhalten, der über den Parteien stand, auch über der eigenen Partei.
Sein Ausgangspunkt war schwieriger als der seiner Vorgänger. Eigentlich hatte er ja Baumeister werden wollen, aber als er ins Palais Schaumburg einzog, war das Zeitalter der Architektonik zu Ende. Die wesentlichen außenpolitischen Strukturen standen; die Einordnung der Bundesrepublik in das weltpolitische Grundmuster der Epoche war abgeschlossen. Konrad Adenauer hatte das westliche Deutschland erst in den Rahmen des europäischen Einigungswerkes eingepasst, dann in das Atlantische Bündnis. Der deutsch-französischen Versöhnung fügte er den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsvertrag an, beides historische Ausgleichleistungen; im Inneren stellten er und Ludwig Erhard die Anfänge des heutigen Sozialstaates auf das solide Fundament einer marktwirtschaftlichen Ordnung, um deren Leistungsfähigkeit uns die Welt beneidete. Willy Brandt fügte dann in das Kontinuitätsgeflecht westdeutscher Außenpolitik die zweite Determinante ein: das Streben nach Kontakt mit Ostdeutschland und Osteuropa, nach Kooperation auch, wo immer die kommunistische Welt dazu bereit und fähig war; dies bei gleichzeitiger Vorsorge allerdings, dass der fortdauernde Rückhalt im Westen uns instandsetzte, auch Konfrontationen durchzustehen, die uns der Kreml aufzwingen mochte. Brandt beendete den Sonderkonflikt der Westdeutschen mit Osteuropa, indem er die »wirklich bestehende Lage« anerkannte. Ansonsten war er der Mann euphorisch angepackter Reformen, getragen von einer Aufbruchstimmung sondergleichen, die sich in dem hoffärtigen Satz seiner ersten Regierungserklärung widerspiegelte: »Wir fangen erst richtig an.«
Helmut Schmidt gestattete sich solchen draufgängerischen Opportunismus nicht. Die Zeit, in der er als Kanzler antrat, und die Welt, die er vorfand, waren auch nicht danach. Die Ölkrise vom Herbst 1973 hatte die Szenerie von Grund auf verändert. Unter diesen Umständen musste Schmidt allen Baumeister-Ehrgeiz beiseite-schieben und sich ganz aufs Bewahren, Zusammenhalten, Stützen und Stabilisieren verlegen. »Konzentration und Kontinuität« war seine erste Regierungserklärung überschrieben, »Das Erreichte sichern« die zweite (1976), »Mut zur Zukunft« die dritte (1980). Keine Regierung fange bei null an, und keine könne Wunder vollbringen, war seine Antrittsbotschaft: »Das Mögliche aber muss sie mit aller Kraft verwirklichen.«
Von Friedrich Schiller stammt das schöne Wort: »Wer Großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, standhaft beharren.« Nach diesem Maßstab hat Helmut Schmidt Großes geleistet. War er auch ein großer Kanzler? Im Rahmen dessen, was in seiner Ära möglich war, ist er das sicherlich gewesen. »Ein jegliches hat seine Zeit«, sagt der Prediger Salomo, »Pflanzen und Ausrotten, Würgen und Heilen, Brechen und Bauen.« Helmut Schmidts Kanzlerzeit verlangte Bewahren, Weitermachen, Vertrauen sichern. Er verweigerte sich dem nicht. Doch indem er das Werk von Konrad Adenauer und Willy Brandt fortsetzte, umsetzte in Praxis und Alltag, einsetzte für die Lebenszwecke der Bundesrepublik, etablierte er recht eigentlich erst eine bundesrepublikanische Staatsräson und eine fortwirkende Tradition Bonner, später Berliner Regierungshandelns. Wenn er - in einer Festrede zum neunzigsten Geburtstag von Richard von Weizsäcker1 - mit Genugtuung die Kontinuität der deutschen Politik auf allen wesentlichen Feldern hervorhob, zumal ihre Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Europapolitik und der Friedenspolitik, so wird man mit Fug und Recht sagen dürfen, dass er als Kanzler dafür den Grundstein gelegt hat. Seine herausragende Leistung bestand darin, dass er die Westdeutschen in die Normalität einübte, sie an das Unspektakuläre gewöhnte und ihnen Sinn für das Mögliche gab. Was bis dahin parteipolitisch bitter umstritten war, verschmolz unter ihm zu einer erkennbaren und handhabbaren Einheit: Westpolitik und Ostpolitik, Bündnistreue und Nachbarschaftspflege, Verteidigungswille und Abrüstungswille. Und mehr als irgendeiner seiner Vorgänger baute er, die heraufdräuende Globalisierung früh erkennend, die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftskraft in das weltpolitische Konzept der Bundesrepublik ein.
Mit eindringlicher Beredsamkeit vertrat Helmut Schmidt das deutsche Grundinteresse, vermeidbare Konfrontationen zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu vermeiden, da dem Ziel eines möglichst problemlosen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten, geschweige denn dem Fernziel der Wiedervereinigung, mit Krisen nicht genützt wäre. Dabei war ihm klar, dass Neues kaum noch zu konstruieren war, sondern dass es nun darauf ankam, die »stille Einhaltung und volle Anwendung« der Ostverträge durchzusetzen. Den Europäern in beiden Lagern wies er die Aufgabe zu, stets von neuem mäßigend auf ihre jeweilige Vormacht einzuwirken und bei aller Sorge um die eigene Sicherheit doch die Zukunftsperspektive der Zusammenarbeit offenzuhalten. So kämpfte er an der Seite Giscard d'Estaings wie ein Löwe darum, dass die Folgen der sowjetischen Afghanistan-Invasion Ende 1979 nicht auf Europa durchschlugen. Dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau schloss er sich an, doch verweigerte er sich zu Carters Zeiten wie in der Ära Reagan jedem Handelskrieg gegen die Sowjetunion und das unter Kriegsrecht stehende Polen; auch trieb er das westeuropäisch-sowjetische Erdgas-Röhren-Geschäft voran.
Die selbstbewusste Definition unserer vitalen äußeren und inneren Interessen, wie Schmidt sie 1986 in seiner Abschiedsrede vor dem Bundestag zusammenfasste, ist der Mehrheit der Bundesbürger längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Auf der Weltbühne vertrat er die deutschen und europäischen Anliegen mit respektheischender Konsequenz, Eloquenz und Effizienz. Er tat dies in einer Weise, die nicht nur der Bundesrepublik nützte, sondern darüber hinaus auch der Europäischen Gemeinschaft und der Welt jenseits ihrer Grenzen. Wie es sein Freund Giscard in der Zueignung eines Fotos ausdrückte, das in Schmidts Langenhorner Arbeitszimmer steht: »Pour mon ami, le chancelier Helmut Schmidt, dont l'action est bénéfique pour l'Europe et pour le monde«.
Nun ist historische Leistung allemal ambivalent. Den Stärken der Großen entsprechen ihre Schwächen. Adenauer hatte sie, Brandt hatte sie; Schmidt auch. An allen hat die Zeit ihre zermürbende Kraft gezeigt. Adenauer hatte sich selbst überlebt; Brandt verfiel in Lustlosigkeit; Schmidts Physis verweigerte ihm nach dem letzten Wahlsieg den Dienst. Geplagt von wiederkehrenden Ohnmachten und Herzstillständen, die erst ein im Oktober 1981 eingesetzter Schrittmacher beendete, versah er seine Amtsgeschäfte. Angeschlagen, wie er war, misslang ihm Entscheidendes. Er warf nur noch einen schmalen geistigen Schatten. Auf die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Grünen und Alternativen reagierte er viel zu spät. Die notwendige Reform der Reform blieb im Ansatz stecken, die Anpassung der Wirtschaftspolitik an die neuen Umstände hinkte den Umständen hinterher. Eine Kabinettsumbildung brachte nur zutage, dass sich aus dem Unterholz der SPD Hochstämmiges nicht mehr zu entwickeln schien. Mit den Schmidt-Stimmen, die den Freien Demokraten über die Zehn-Prozent-Marke verholfen hatten, begannen Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf eigene Rechnung zu wuchern. Und in der SPD bröckelte die Unterstützung für den Kanzler zusehends ab.
Plagten ihn nie Zweifel an der Richtigkeit seiner Linie? »Nur die Dummen zweifeln nicht«, beschied er einen Frager. Zu spät ging ihm auf, dass er das in der nachdrängenden Generation aufkeimende Bedürfnis nach individueller Emanzipation und kreativem Handeln in der Politik unterschätzt hatte. An den Achtundsechzigern störte ihn deren »Primitiv-Marxismus plus Anarchismus plus Wille zur Gewalt«, ihre Schwärmerei, ihr Alleinseligmachungsanspruch. Die SPD wollte er nicht zu einem »Dachverband von Minderheitengruppen mit Minderheitenmeinungen« verkommen lassen. Er dachte vom Staate, nicht von der Gesellschaft her. Zu arbeitsbesessen, zu gründlich seien er und seine Altersgenossen wohl gewesen, bemerkte er Jahre später einmal, »um die Lockerheit, die Lässigkeit und die Lebenskunst der neuen Generation mitzuerleben und aufnehmen zu können«.2
Die Deutschen haben manchen Exkanzler erlebt, der bloß finster über die Hintergründe seines Sturzes sinnierte und spintisierte.
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by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Darf man ein Buch über einen Freund schreiben, der eine Gestalt der Zeitgeschichte ist? Ich habe mir die Antwort auf diese
Frage lange überlegt, als Dr. Ulrich Ott von der ING-DiBa mit der Idee an mich herantrat, ein Buch über den Publizisten Helmut Schmidt zu schreiben. Die ING-DiBa vergibt seit 1996 jährlich den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis. Die Idee faszi nierte mich, denn ich hatte in den bald achtundzwanzig Jahren, die Schmidt jetzt schon bei der ZEIT ist, eng mit ihm zusammengearbeitet, als Chefredakteur zunächst, dann zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff im Herausgeber-Kollegium, seit 2001 schließlich als Editor-at-Large, eine Art Altchefredakteur neben dem Altbundeskanzler. Nach reiflicher Überlegung sagte ich ja.
Zwei Gründe gaben für meine Entscheidung den Ausschlag. Zum einen war unsere Freundschaft stets eine Freundschaft auf kritische Distanz. Sie schloss weder Objektivität aus noch - bei weitreichender Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen - voneinander abweichende Ansichten. Ich traute mir den gebotenen inneren Abstand zu. Zum anderen war ich mir sicher, als ZEIT-Zeuge das Wirken des Publizisten Schmidt beschreiben und zugleich als studierter Historiker seine Ansichten und seinen fortdauernden Einfluss auf die deutsche Politik wie auf die deutsche öffentliche Meinung sachlich analysieren zu können. Ich hoffe, dass diese Selbsteinschätzung den Lesern dieses Buches gerechtfertigt erscheint.
Ich muss hinzufügen: Es ist ein ganz anderes Buch geworden, als im ersten Ansatz geplant war. Je mehr ich mich vertiefte in die staunenswerte Fülle von Helmut Schmidts Artikeln, je intensiver ich die Mitschnitte seiner Fernsehauftritte studierte und je faszinierter ich mich in seine Vortragstexte einlas, desto klarer wurde mir, dass die Beschränkung des Themas auf das, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt öffentlich von sich gegeben hat, nicht den ganzen Schmidt würde widerspiegeln können. Als er 1983 in den ZEIT-Verlag eintrat, war er ja kein unbeschriebenes Blatt. Seine publizistischen Äußerungen sind nicht zu verstehen, wenn man nicht sein Denken, Handeln und Entscheiden in den Ämtern mit einbezieht, die er vor seinem Seitenwechsel von der Politik in die Publizistik bekleidet hatte. Dies wiederum machte es erforderlich, zum besseren Verständnis den zeitgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten, vor dem der Deutschlandpolitiker, der Europapolitiker, der Sicherheitspolitiker, der Außenpolitiker und der Wirtschaftspolitiker, aber auch der Hanseat und der Philosoph im Politiker Schmidt agierte, reagierte, regierte und räsonierte. Auf diese Weise hat sich das thematische Panorama dieses Buches zwangsläufig ausgeweitet. Aus dem Porträt des Publizisten Schmidt ist eine Darstellung auch des Staatsmanns Schmidt geworden - und darüber hinaus, gespiegelt in einer Person der Zeitgeschichte wie der ZEIT-Geschichte, ein Stück bundesrepublikanischer Historie vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt.
Vielen schulde ich Dank. Ohne ihr Interesse und ihre Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, das Manuskript binnen acht Monaten zu vollenden. Für großzügige Förderung und anregende Begleitung meiner Arbeit danke ich vor allem Dr. Ott und der ING-DiBa, deren Kommunikationschef er ist. Mein Dank gilt den ZEIT-Kollegen, deren Erinnerungen und Erfahrungen mit Helmut Schmidt mir viel Stoff geliefert haben und die es hinnahmen, dass ich eine Zeit lang mehr in meiner Schreibklause zubrachte als in der Redaktion. Er gilt all denen, die mir hilfreiche Kritik und Anregungen haben zuteilwerden lassen, allen voran Haug von Kuenheim, aber auch Giovanni di Lorenzo, Nina Grunenberg und Robert Leicht, ferner Miriam Zimmer und Kerstin Wilhelm von der ZEIT-Dokumentation, deren verlässlicher Findigkeit ich die rasche Auffüllung verschiedenster Beleglücken verdanke. Von besonderem Wert war mir darüber hinaus die Hilfestellung, die mir Mario-Gino Harms bei der Beschaffung von Unterlagen aus dem Archiv der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg unermüdlich geleistet hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Assistentin Barbara Knabbe, die das Manuskript durch all seine mannigfachen Metamorphosen betreut und ihm so nachsichtig wie geduldig an ihrem Computer Gesicht und Gestalt gegeben hat, und Kathrin Liedtke für ihr einfühlsames Lektorat. Um Nachsicht bitte ich auch meine Familie, die unter den Geburtswehen dieses Buchprojekts mehr zu leiden hatte als der Autor selber.
Zu danken habe ich schließlich all denen, die vor mir über Helmut Schmidt geschrieben haben: unter den journalistischen Biographen Sibylle Krause-Burger, Hans-Joachim Noack, Martin Rupps, Michael Schwelien, Mainhardt Graf von Nayhauß, der Brite Jonathan Carr und der Franzose Dominique Pelassy. In erster Linie gilt mein Dank jedoch dem Heidelberger Historiker Hartmut Soell, dessen magistrale zweibändige Schmidt-Biographie eine schier unerschöpfliche Quelle von Fakten und Einsichten ist. An etwaigen Stärken dieses Buches haben sie alle ihren Anteil. Etwaige Schwächen habe ich allein zu verantworten.
Theo Sommer Hamburg, im August 2010
Einleitung
Vor einem halben Jahrhundert, im Sommer 1961, bin ich Helmut Schmidt zum ersten Mal begegnet. Ich reiste von der Jahreskonferenz des Londoner Instituts für Strategische Studien aus Genf nach Hamburg zurück, als der zweiundvierzigjährige SPD-Politiker in mein Schlafwagenabteil zustieg. Er bezog das untere Bett, ich das obere. Wir haben damals die halbe Nacht bei Fürstenberg-Pils miteinander geredet. Gesprächsstoff hatten wir genug. Für strategische Fragen hatte ich mich seit längerem interessiert. Im Herbst 1957 hatte ich für die ZEIT Kissingers Nuclear Weapons and Foreign Policy besprochen und hatte dann im folgenden Jahr für den jungen Harvard-Professor bei einem Auftritt im Hamburger Amerikahaus gedolmetscht, da er sich außerstande sah, Spezialausdrücke wie second-strike capability oder intermediate range missiles in seiner Muttersprache wiederzugeben (»Mit meinem Deutsch ist es wie mit meinem Gepäck: Es kommt erst morgen«, entschuldigte er sich). Auch hatte ich mich im Sommer 1960 in Kissingers International Summer Seminar an der Harvard University und danach als erstes deutsches Council-Mitglied des Londoner Institute for Strategic Studies intensiv mit strategischen Fragen beschäftigt. Schmidt und ich besaßen viele gemeinsame Bekannte in der strategic community. So fanden wir rasch Kontakt zueinander.
In jener Nacht im Schlafwagen habe ich zum ersten Mal Schmidts enorme Sachkenntnis bewundert. 1962 kam dann sein Buch Verteidigung oder Vergeltung heraus. Es verschaffte mir die Chance meines allerersten Fernsehauftritts; in der Wessel-Runde diskutierten Emil Obermann vom Süddeutschen Rundfunk, Hans Schmelz vom Spiegel und ich mit ihm über sein Werk - das erste überhaupt, das sich in Deutschland kompetent und autoritativ mit dem Thema auseinandersetzte. Eine lange Reihe langer Gespräche schloss sich in den folgenden Jahren an.
Im Herbst 1969 lud mich Schmidt ins Frankfurter Interconti am Main, wo er als designierter Verteidigungsminister in Willy Brandts Kabinett seine Mannschaft zusammenstellte. Schon 1966 hatte er mir angeboten, falls er Verteidigungsminister würde, mit ihm auf die Hardthöhe zu gehen, um im Ministerium eine Planungsabteilung aufzubauen und zu leiten. Nun kam er darauf zurück. Abermals bot er mir an, im Verteidigungsministerium einen Planungsstab einzurichten. Außerdem sollte ich eine »kritische Bestandsaufnahme« der Bundeswehr organisieren und das erste Weißbuch schreiben. Ich sagte zu und blieb - so war es von vornherein verabredet - ein knappes Dreivierteljahr. Es war eine kurze und wahnsinnig arbeitsreiche, aber aufregende und fruchtbare Zeit an seiner Seite.
Damals habe ich seine enorme Arbeitskraft zu bewundern gelernt. Ich sehe noch den Stapel von Vorlagen vor mir, auf zwei oder drei Teewagen vor ihm aufgebaut, die er nach all den Sitzungen, Truppenbesuchen und oft auch Parteiterminen bis weit nach Mitternacht durcharbeitete. Manchmal steckte ich frühmorgens um drei, wenn im Ministerbüro noch Licht brannte, den Kopf bei ihm hinein. Wir tranken einen dünnen Whisky und schickten einander dann ins Bett, denn für halb acht war schon wieder der erste Termin angesetzt. Von Schmidts Arbeitsweise habe ich damals übrigens viel gelernt. Problemidentifizierung, Definition der Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Diskussion der Vorschläge, schließlich Beschluss und Umsetzung - das war eine Art von Führung, wie ich sie so nicht wieder erlebt habe, zugleich entschieden, offen für jede vernünftige Anregung, aber auch für jeden vernünftigen Einwand. Diskussion war für ihn ein notwendiges Element der eigenen Meinungsbildung und Beschlussfassung.
Wir blieben auch nach meiner Bonner Zeit in Fühlung. Einmal erlebte ich ihn wenige Jahre später, wie die Öffentlichkeit ihn nie zu sehen bekam: verbittert, wütend und zugleich reuevoll. Das war 1976, im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster. Er hatte ein paar Freunde gebeten, mit ihm den Entwurf der Regierungserklärung zu schmirgeln und zu polieren. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er, unvollkommen informiert oder schlecht beraten, eine Rentenerhöhung versprochen. Neue und unzweideutige Zahlen bewogen ihn dann, die Erhöhung zu verschieben. Das löste im Lande einen Proteststurm aus. Von »Rentenfiasko« und »Rentenlüge« war die Rede. Er machte einen Rückzieher. Im Entwurf der Regierungserklärung war davon nicht ein Wort zu lesen. Er wischte das Beamtenpapier unwirsch beiseite, stellte das Thema ganz an den Anfang und diktierte die großartigen Sätze: »Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich. Hingegen steht es einer demokratischen gut an, wenn sie klarer Kritik folgt.« Zwei Jahre später bekannte er: »Es ist bitter, solche Fehler einsehen zu müssen. Es ist bitter, sie öffentlich eingestehen zu müssen.«
Dann kam 1977 der »deutsche Herbst« des RAF-Terrors, der Mogadischu-Aktion, der Schleyer-Entführung. Helmut Schmidt hatte eine Reihe von Experten in den Kanzlerbungalow eingeladen, um über MBFR zu sprechen - die festgefahrenen Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions in Europa, die er wieder in Gang bringen wollte. Aber er kam nicht, oder lange nicht, denn an diesem Tag wurde bekannt, dass Hanns Martin Schleyer ermordet worden war. Er stieß erst zu unserer Gruppe, nachdem er die Rede aufgesetzt hatte, die er am nächsten Tag im Bundestag halten wollte. Ich habe ihn nie wieder dermaßen erschüttert, so unendlich müde, so schwermütig gesehen. »Ein großes Glas mit Eis und dann so viel Wermut, wie anschließend noch reingeht«, sagte er erschöpft zu der Ordonnanz; ich notierte mir den Satz auf einer Papierserviette. Am nächsten Tag nahm er vor dem Parlament in demutsvollem Bewusstsein von Versäumnis und Schuld die Verantwortung auf sich - ganz im Sinne von Max Webers Satz, dass alles Tun in Tragik verflochten sei. »Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft«, sagte er und fügte hinzu: »Gott helfe uns!«
Einen ähnlich bitteren Moment erlebte ich dann im November 1983 mit, beim Kölner Parteitag der SPD nach Schmidts Abwahl ein Jahr zuvor. Da sprachen sich nur noch ganze sechzehn Delegierte für den von ihm 1977 mit einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies initiierten NATO-Doppelbeschluss aus. Die Geschichte hat Helmut Schmidt freilich recht gegeben. Zehn Jahre nach seiner Londoner Rede ist ihm der späte Triumph zuteilgeworden, dass die Mittelstreckenraketen - die sowjetischen SS-20 im Osten und die amerikanischen Pershings und Marschflugkörper im Westen - auf der Grundlage des von seiner Partei abgelehnten, aber dann von Helmut Kohl ausgeführten Doppelbeschlusses tatsächlich abgeschafft wurden. Seine Weitsicht, seine entschlossene Konsequenz zahlten sich aus.
Im Jahre 1983 kreuzten sich dann unsere Pfade aufs Neue. Im Mai jenes Jahres zog er als ZEIT-Herausgeber ins Pressehaus ein; seitdem sind wir Flurnachbarn. Da saß er nun in seinem bescheidenen Büro und begann eine zweite Karriere, ein zweites Leben. Es schloss sich nahtlos an das erste Leben an.
Als Helmut Schmidt im Mai 1974 unversehens Bundeskanzler geworden war, hatte ich ihn in einem ganzseitigen ZEIT-Artikel im neuen Amt begrüßt. Der Artikel war ungewöhnlicherweise in Briefform abgefasst und mit »Lieber Helmut« überschrieben - der Hamburger Anrede, die den Vornamen mit dem »Sie« verbindet, auf diese Weise zugleich Distanz ausdrückend und Freundschaft. Darin versuchte ich, die Klischees zu entkräften, die über Schmidt im Schwange waren: »Schneller Brüter«, »kühler Macher«, »Erfolgsmensch im Hans-Albers-Stil«, oder ahnungslose Bemerkungen wie: Augenmaß und Zähigkeit seien seine Sache nicht, typisch für ihn seien demonstrative Hektik und zelebrierter Stress; um Gottes willen keine Kontemplation. Der Auffassung, dass er ein reiner Pragmatiker sei, den nicht der Horizont interessiere, sondern nur der Streifen Terrain vor seinen Füßen, hielt ich schon damals entgegen, dass er durchaus in der Lage sei, jedermann die sittlichen Grundlagen seiner Politik sichtbar zu machen, und dass er sich oft von Vorstellungen leiten lasse, die letztlich einer rein philosophischen Wurzel entsprangen. Ich verglich ihn mit Franz Josef Strauß: »derselbe scharfe Intellekt, dieselbe angriffslustige Polemik, dieselbe Kunst der Rede«. Aber ich markierte auch den entscheidenden Unterschied: »Sie sind disziplinierter, konsequenter auch. Und anders als Strauß spielen Sie nicht so dicht am Rande der eigenen seelischen Abgründe. Ihre Selbstkontrollmechanismen funktionieren besser. Ihre Achtung vor dem Gesetz ist stärker entwickelt.« Ich schrieb: »Sie gelten als Atlantiker - und sind es gewiss auch. Aber das heißt nicht, dass Sie den Amerikanern alles durchgehen ließen; Sie haben da schon früher manches offene Wort zu Ihrem alten Bekannten Henry Kissinger gesprochen. [Mit Ihrem Freund Giscard d'Estaing] stehen Sie in der Pflicht, den festgefahrenen EG-Dampfer wieder flottzumachen.« Im Übrigen vertraute ich, was den Stil seiner Amtsführung anging, ganz seinem Instinkt: »Er wird nicht zulassen, dass Sie zum Heiligen stilisiert werden, wo Sie keiner sind.« Und ich schloss mit den Worten: »Seien Sie meiner freundschaftlichen Ergebenheit auch dann, auch dort versichert, wo die andere professionelle Warte mir Kritik abnötigen wird.«
Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, war sein schwarzes Haar noch kaum angegraut; als er achteinhalb Jahre später gestürzt wurde, war es weiß geworden. Wie Metternich mag er sich als Arzt im großen Weltspital empfunden haben, der dem Elend nicht zu steuern vermochte. Er war nicht autoritär wie Adenauer. Er stürmte nicht heilsgewiss voran wie Brandt. Er setzte auf die Vernunft, der er mühsam eine Klientel zu schaffen suchte; ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der das Zerbröseln des gesellschaftlichen Konsenses Führung immer schwieriger machte. Aber Schmidt tat seine Pflicht, und er tat sie mit Anstand, Würde und Stil. Er versuchte, in der Politik einen Begriff von Ratio, Leidenschaftslosigkeit und Augenmaß aufrechtzuerhalten, der über den Parteien stand, auch über der eigenen Partei.
Sein Ausgangspunkt war schwieriger als der seiner Vorgänger. Eigentlich hatte er ja Baumeister werden wollen, aber als er ins Palais Schaumburg einzog, war das Zeitalter der Architektonik zu Ende. Die wesentlichen außenpolitischen Strukturen standen; die Einordnung der Bundesrepublik in das weltpolitische Grundmuster der Epoche war abgeschlossen. Konrad Adenauer hatte das westliche Deutschland erst in den Rahmen des europäischen Einigungswerkes eingepasst, dann in das Atlantische Bündnis. Der deutsch-französischen Versöhnung fügte er den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsvertrag an, beides historische Ausgleichleistungen; im Inneren stellten er und Ludwig Erhard die Anfänge des heutigen Sozialstaates auf das solide Fundament einer marktwirtschaftlichen Ordnung, um deren Leistungsfähigkeit uns die Welt beneidete. Willy Brandt fügte dann in das Kontinuitätsgeflecht westdeutscher Außenpolitik die zweite Determinante ein: das Streben nach Kontakt mit Ostdeutschland und Osteuropa, nach Kooperation auch, wo immer die kommunistische Welt dazu bereit und fähig war; dies bei gleichzeitiger Vorsorge allerdings, dass der fortdauernde Rückhalt im Westen uns instandsetzte, auch Konfrontationen durchzustehen, die uns der Kreml aufzwingen mochte. Brandt beendete den Sonderkonflikt der Westdeutschen mit Osteuropa, indem er die »wirklich bestehende Lage« anerkannte. Ansonsten war er der Mann euphorisch angepackter Reformen, getragen von einer Aufbruchstimmung sondergleichen, die sich in dem hoffärtigen Satz seiner ersten Regierungserklärung widerspiegelte: »Wir fangen erst richtig an.«
Helmut Schmidt gestattete sich solchen draufgängerischen Opportunismus nicht. Die Zeit, in der er als Kanzler antrat, und die Welt, die er vorfand, waren auch nicht danach. Die Ölkrise vom Herbst 1973 hatte die Szenerie von Grund auf verändert. Unter diesen Umständen musste Schmidt allen Baumeister-Ehrgeiz beiseite-schieben und sich ganz aufs Bewahren, Zusammenhalten, Stützen und Stabilisieren verlegen. »Konzentration und Kontinuität« war seine erste Regierungserklärung überschrieben, »Das Erreichte sichern« die zweite (1976), »Mut zur Zukunft« die dritte (1980). Keine Regierung fange bei null an, und keine könne Wunder vollbringen, war seine Antrittsbotschaft: »Das Mögliche aber muss sie mit aller Kraft verwirklichen.«
Von Friedrich Schiller stammt das schöne Wort: »Wer Großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, standhaft beharren.« Nach diesem Maßstab hat Helmut Schmidt Großes geleistet. War er auch ein großer Kanzler? Im Rahmen dessen, was in seiner Ära möglich war, ist er das sicherlich gewesen. »Ein jegliches hat seine Zeit«, sagt der Prediger Salomo, »Pflanzen und Ausrotten, Würgen und Heilen, Brechen und Bauen.« Helmut Schmidts Kanzlerzeit verlangte Bewahren, Weitermachen, Vertrauen sichern. Er verweigerte sich dem nicht. Doch indem er das Werk von Konrad Adenauer und Willy Brandt fortsetzte, umsetzte in Praxis und Alltag, einsetzte für die Lebenszwecke der Bundesrepublik, etablierte er recht eigentlich erst eine bundesrepublikanische Staatsräson und eine fortwirkende Tradition Bonner, später Berliner Regierungshandelns. Wenn er - in einer Festrede zum neunzigsten Geburtstag von Richard von Weizsäcker1 - mit Genugtuung die Kontinuität der deutschen Politik auf allen wesentlichen Feldern hervorhob, zumal ihre Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Europapolitik und der Friedenspolitik, so wird man mit Fug und Recht sagen dürfen, dass er als Kanzler dafür den Grundstein gelegt hat. Seine herausragende Leistung bestand darin, dass er die Westdeutschen in die Normalität einübte, sie an das Unspektakuläre gewöhnte und ihnen Sinn für das Mögliche gab. Was bis dahin parteipolitisch bitter umstritten war, verschmolz unter ihm zu einer erkennbaren und handhabbaren Einheit: Westpolitik und Ostpolitik, Bündnistreue und Nachbarschaftspflege, Verteidigungswille und Abrüstungswille. Und mehr als irgendeiner seiner Vorgänger baute er, die heraufdräuende Globalisierung früh erkennend, die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftskraft in das weltpolitische Konzept der Bundesrepublik ein.
Mit eindringlicher Beredsamkeit vertrat Helmut Schmidt das deutsche Grundinteresse, vermeidbare Konfrontationen zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu vermeiden, da dem Ziel eines möglichst problemlosen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten, geschweige denn dem Fernziel der Wiedervereinigung, mit Krisen nicht genützt wäre. Dabei war ihm klar, dass Neues kaum noch zu konstruieren war, sondern dass es nun darauf ankam, die »stille Einhaltung und volle Anwendung« der Ostverträge durchzusetzen. Den Europäern in beiden Lagern wies er die Aufgabe zu, stets von neuem mäßigend auf ihre jeweilige Vormacht einzuwirken und bei aller Sorge um die eigene Sicherheit doch die Zukunftsperspektive der Zusammenarbeit offenzuhalten. So kämpfte er an der Seite Giscard d'Estaings wie ein Löwe darum, dass die Folgen der sowjetischen Afghanistan-Invasion Ende 1979 nicht auf Europa durchschlugen. Dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau schloss er sich an, doch verweigerte er sich zu Carters Zeiten wie in der Ära Reagan jedem Handelskrieg gegen die Sowjetunion und das unter Kriegsrecht stehende Polen; auch trieb er das westeuropäisch-sowjetische Erdgas-Röhren-Geschäft voran.
Die selbstbewusste Definition unserer vitalen äußeren und inneren Interessen, wie Schmidt sie 1986 in seiner Abschiedsrede vor dem Bundestag zusammenfasste, ist der Mehrheit der Bundesbürger längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Auf der Weltbühne vertrat er die deutschen und europäischen Anliegen mit respektheischender Konsequenz, Eloquenz und Effizienz. Er tat dies in einer Weise, die nicht nur der Bundesrepublik nützte, sondern darüber hinaus auch der Europäischen Gemeinschaft und der Welt jenseits ihrer Grenzen. Wie es sein Freund Giscard in der Zueignung eines Fotos ausdrückte, das in Schmidts Langenhorner Arbeitszimmer steht: »Pour mon ami, le chancelier Helmut Schmidt, dont l'action est bénéfique pour l'Europe et pour le monde«.
Nun ist historische Leistung allemal ambivalent. Den Stärken der Großen entsprechen ihre Schwächen. Adenauer hatte sie, Brandt hatte sie; Schmidt auch. An allen hat die Zeit ihre zermürbende Kraft gezeigt. Adenauer hatte sich selbst überlebt; Brandt verfiel in Lustlosigkeit; Schmidts Physis verweigerte ihm nach dem letzten Wahlsieg den Dienst. Geplagt von wiederkehrenden Ohnmachten und Herzstillständen, die erst ein im Oktober 1981 eingesetzter Schrittmacher beendete, versah er seine Amtsgeschäfte. Angeschlagen, wie er war, misslang ihm Entscheidendes. Er warf nur noch einen schmalen geistigen Schatten. Auf die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Grünen und Alternativen reagierte er viel zu spät. Die notwendige Reform der Reform blieb im Ansatz stecken, die Anpassung der Wirtschaftspolitik an die neuen Umstände hinkte den Umständen hinterher. Eine Kabinettsumbildung brachte nur zutage, dass sich aus dem Unterholz der SPD Hochstämmiges nicht mehr zu entwickeln schien. Mit den Schmidt-Stimmen, die den Freien Demokraten über die Zehn-Prozent-Marke verholfen hatten, begannen Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf eigene Rechnung zu wuchern. Und in der SPD bröckelte die Unterstützung für den Kanzler zusehends ab.
Plagten ihn nie Zweifel an der Richtigkeit seiner Linie? »Nur die Dummen zweifeln nicht«, beschied er einen Frager. Zu spät ging ihm auf, dass er das in der nachdrängenden Generation aufkeimende Bedürfnis nach individueller Emanzipation und kreativem Handeln in der Politik unterschätzt hatte. An den Achtundsechzigern störte ihn deren »Primitiv-Marxismus plus Anarchismus plus Wille zur Gewalt«, ihre Schwärmerei, ihr Alleinseligmachungsanspruch. Die SPD wollte er nicht zu einem »Dachverband von Minderheitengruppen mit Minderheitenmeinungen« verkommen lassen. Er dachte vom Staate, nicht von der Gesellschaft her. Zu arbeitsbesessen, zu gründlich seien er und seine Altersgenossen wohl gewesen, bemerkte er Jahre später einmal, »um die Lockerheit, die Lässigkeit und die Lebenskunst der neuen Generation mitzuerleben und aufnehmen zu können«.2
Die Deutschen haben manchen Exkanzler erlebt, der bloß finster über die Hintergründe seines Sturzes sinnierte und spintisierte.
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Inhaltsverzeichnis zu „Unser Schmidt “
VorspannVorwortEinleitungVom Kanzleramt ins PressehausDer Staatslenker und StaatsdenkerEin Gespräch mit Helmut SchmidtAnmerkungenLiteratur
Autoren-Porträt von Theo Sommer
Theo Sommer, geboren 1930 in Konstanz, Studium der Geschichte und politischer Wissenschaften in Tübingen und den USA, seit 1958 Tätigkeit bei der "Zeit", zunächst als politischer, dann zwanzig Jahre als Chefredakteur. Von 1992 bis 2000 Herausgeber und heute Editor-at-Large.
Bibliographische Angaben
- Autor: Theo Sommer
- 2010, 1, 416 Seiten, Maße: 14,5 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455501761
- ISBN-13: 9783455501766
- Erscheinungsdatum: 25.10.2010
Pressezitat
»Zum Leckerbissen für viele Hamburger Spurensucher auf schmidtschen Pfaden wird das erste Buchkapitel, das das Wirken des Altbundeskanzlers 'von innen' beleuchtet.« Hamburger Abendblatt, 12.11.2010
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