Unter dem Baum des Vergessens
Ein Leben in Afrika
Die beeindruckende Geschichte einer mutigen Frau, die mit ihrer Familie in Afrika das Glück sucht...
Alexandra Fuller kehrt in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die Geschichte ihrer unvergesslichen Familie. Sie...
Alexandra Fuller kehrt in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die Geschichte ihrer unvergesslichen Familie. Sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Unter dem Baum des Vergessens “
Die beeindruckende Geschichte einer mutigen Frau, die mit ihrer Familie in Afrika das Glück sucht...
Alexandra Fuller kehrt in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die Geschichte ihrer unvergesslichen Familie. Sie berichtet von Unfällen und Tragödien, politischen Unruhen und Bürgerkriegen. Im Zentrum ihrer Erzählungen: Alexandras Mutter, eine humorvolle, entschlossene Frau.
Alexandra Fuller kehrt in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die Geschichte ihrer unvergesslichen Familie. Sie berichtet von Unfällen und Tragödien, politischen Unruhen und Bürgerkriegen. Im Zentrum ihrer Erzählungen: Alexandras Mutter, eine humorvolle, entschlossene Frau.
Klappentext zu „Unter dem Baum des Vergessens “
Die beeindruckende Geschichte einer mutigen Frau, die mit ihrer Familie in Afrika das Glück suchtAlexandra Fuller kehrt in das Afrika ihrer Kindheit zurück und erzählt die ebenso bewegte wie bewegende Geschichte ihrer Eltern. Nicola und Tim Fuller wanderten Anfang der Siebzigerjahre nach Afrika aus. Doch schon nach kurzer Zeit ereigneten sich Tragödien innerhalb der Familie, und politische Unruhen erschütterten den Kontinent. Im Zentrum des Buches steht Alexandra Fullers Mutter, die es auf unnachahmliche Weise immer wieder schaffte, den Widrigkeiten des Lebens mit Mut und Entschlossenheit zu begegnen. Eine ganz besondere Hommage an eine ganz besondere Frau - und an ein Afrika, das unter die Haut geht.
Lese-Probe zu „Unter dem Baum des Vergessens “
Unter dem Baum des Vergessens von Alexandra FullersDeutsch von Walter Ahlers
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Nicola Fuller of Central Africa lernt fliegen
Unsere Mum - oder auch Nicola Fuller of Central Africa, wie sie sich gelegentlich vorzustellen pflegt - hat sich einen Schriftsteller in der Familie gewünscht, solange wir denken können. Einmal, weil sie Bücher liebt und deshalb schon immer in einem auftreten wollte (so wie sie große, teure Hüte liebt und gerne in ihnen auftritt), aber auch, weil sie von jeher den Plan hegte, ein sagenhaft romantisches Leben zu führen, und dafür brauchte sie einen halbwegs gefügigen Zeugen als Chronisten.
»Wenigstens hat sie dir nicht schon im Mutterleib Shakespeare vorgelesen«, sagt meine Schwester. »Ich glaube, da hab ich meinen Dachschaden her.«
»Du hast keinen Dachschaden«, sage ich.
»Das sieht Mum anders.«
»Ach, hör einfach nicht hin. Du kennst sie doch.«
»Eben.«
»Neuerdings will sie mir weismachen, man hätte mich bei der Geburt vertauscht«, sage ich.
»Tatsächlich?« Vanessa reckt den Hals, legt den Kopf schief, um mein Gesicht besser sehen zu können. »Zeig deine Nase mal von der anderen Seite.«
»Hör auf.« Ich verdecke meine Nase.
»Du hast selber Schuld«, sagt Vanessa und zündet sich eine Zigarette an. »Warum musstest du auch dieses grässliche Buch über sie schreiben?«
Zum hunderttausendsten Mal erkläre ich Vanessa, dass das nicht stimmt: »Es ist nicht grässlich, und es ist nicht über sie.«
... mehr
Vanessa bläst ungerührt den Rauch gen Himmel. »Da ist Mum aber anderer Meinung. Mich darfst du nicht fragen. Ich hab's nicht gelesen. Werd ich auch nicht. Kann's nicht. Hab einen Dachschaden. Frag Mum.«
Wir sitzen vor Vanessas Steinhaus nahe der Stadt Kafue. Vanessa war so klug, zu einer unergründlichen Künstlerin heranzuwachsen - Stoffe, Grafiken, Leinwände in überbordenden, tropischen Farben, alles verarbeitet zu einer Art unverbindlichem Chaos, damit keiner sie auf irgendetwas festnageln kann. Überhaupt kann passieren, was will, Vanessa tut so, als wäre alles kein Problem, solange keiner ein Drama macht. So wächst zum Beispiel in ihrem Badezimmer ein Baum mitten durch das schilfgedeckte Dach - sehr romantisch und malerisch, aber als Schutz gegen Regen und Reptilien total ungeeignet. »Ach«, sagt Vanessa leichthin, »wenn du die Schuhe anbehältst und aufpasst, wo du dich hinsetzt, geht das schon.«
Das restliche Haus, angebaut an das wahnsinnig unpraktische Bad, hat insgesamt nur drei winzige Zimmer für Vanessa, ihren Ehemann und ihre diversen Kinder, aber es steht auf dem Gipfel eines Kopje, und das macht es zu etwas Besonderem. Es ist, als würde eine Kleiderkammer über eine Kathedra len decke verfügen. Wir sitzen draußen, die Luft duftet nach Miombowald, wir rauchen und blicken hinunter auf die anheimelnden Lichter der vielen Herdfeuer, die in den umliegenden Dörfern glimmen. Hin und wieder ist von den Tavernen an der Kafue Road Hundegebell zu hören, oder die Soldaten drüben im Armeelager rufen sich etwas zu oder ballern ein bisschen in die Luft. Es ist alles sehr friedlich.
»Trink noch ein Glas Wein«, empfiehlt Vanessa mir zum Trost. »Wer weiß, irgendwann vergibt sie dir vielleicht.«
Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass das grässliche Buch, dessen voller und korrekter Titel in Gegenwart meiner Familie nicht ausgesprochen werden darf, nicht allein auf meinem Mist gewachsen ist. Ich habe mich von Nicola Fuller of Central Africa höchstpersönlich dazu ermutigt, um nicht zu sagen genötigt gefühlt. Nachdem sie meine ältere Schwester ob ihrer beharrlichen Weigerung, lesen und schreiben zu lernen, als poten tielle Autorin abschreiben musste, richtete Mum ihre literarischen Ambitionen auf mich. Ich war fünf, als sie die Mathematik- Lektionen in unserem wöchentlichen Rhodesischen Fernunterrichts-Paket ausließ. »Weißt du, Bobo«, erklärte sie mir, »Zahlen sind langweilig. Außerdem kannst du immer jemanden anstellen, der für dich das Rechnen übernimmt, aber du kannst niemanden anstellen, der für dich schreibt. Also?« Mum schwieg und bedachte mich mit ihrem beängstigenden Lächeln. »Was meinst du, worüber möchtest du schreiben?« Worauf sie genüsslich ihren Tee austrank, sich ein paar Hunde vom Schoß fegte und loszog in ein Leben, das der schönsten Literatur würdig war.
Zwölf Jahre später ließ sie dieses Leben Revue passieren und maß es an der Biografie, die ihr vorschwebte, etwas im Stil von West with the Night, The Flame Trees of Thika oder Out of Africa. Alles in allem war sie mit dem Ergebnis ganz zufrieden, auch wenn sie das Gefühl hatte, in manchen Bereichen vielleicht etwas zu viel durchgemacht zu haben (Schicksalsschläge zum Beispiel oder Krieg und Armut). Ein zentraler Posten aber fehlte noch in ihrem Portfolio: Es kamen keine Flugzeuge darin vor, und im Leben von Mums literarischen Vorbildern hatten Flugzeuge durchweg eine tragende Rolle gespielt.
»Und dann tauchte plötzlich, wie ein Geschenk des Himmels, mein schneidiger kleiner Sri-Lanker auf.« Streng genommen war es nicht ihr schneidiger kleiner Sri-Lanker - auch wenn man im Lauf ihrer Beziehung durchaus auf diesen Gedanken kommen konnte -, und innerhalb der Familie wurde zuweilen recht erbittert darüber debattiert, ob er schneidig war. Einigkeit dagegen bestand darüber, dass der Sri-Lanker klein war. Sein richtiger Name war Mr. Vaas, und er war nach Sambia gekommen, sagte er, um dem Elend und der Gewalt in seinem Heimatland zu entfliehen.
»Dann müssten Sie sich bei uns ganz zu Hause fühlen«, sagte Dad, worauf ihn Mr. Vaas misstrauisch ansah. Aber mein Vater sagte nichts weiter, sondern wandte sich in aller Ruhe wieder seinem Farmer's Weekly zu. Letzten Endes musste ich meinem Vater Recht geben. »Wie immer«, sagte Mum.
»Hat nicht der letzte Pilot, den wir hier hatten, seine Maschine gegen einen Strommasten gesetzt?«, fragte ich und schenkte mir Tee nach.
Ohne den Blick von seiner Zeitschrift zu heben, sagte mein Vater: »Ich fürchte ja.«
Mr. Vaas sank ein bisschen in sich zusammen.
»Am besten gar nicht hinhören«, sagte Mum, schob Mr. Vaas energisch von der Veranda und trieb ihn quer durch ihren Garten - ein kühnes Durcheinander von Bougainvillea und Passionsfrucht-Ranken, Lilienbeeten und Strelitzien, Fliederbüschen und Caladien, die über Fleißige-Lieschen-Rabatten aufragten. Mums Hunde tollten ihnen um die Füße. »Meine Familie schikaniert mich, wo sie kann«, sagte sie. Mr. Vaas tätschelte ihr mitfühlend den Arm und wurde mit einem gierigen Grinsen belohnt. »Sie und ich«, prophezeite Mum, »wir werden allen zeigen, was echter Mut ist. Lassen Sie uns die Blixen und der Finch Hatton von Sambia sein.«
Mr. Vaas blinzelte aus der Abenddämmerung in Dads und meine Richtung.
»Was macht der Tee, Bobo?«, fragte Dad. »Noch heiß?«
»Brühend heiß.«
Jetzt verschwand Mr. Vaas und nach ihm Mum in unserem Pferch, wo das Milchvieh ins Freie gekommen war, um den abendlichen Stechmücken zu entgehen. »Come fly with me«, hörte ich Mum singen, »let's fly, let's fly away. If you can use some exotic booze, there's a bar in far Bombay. Come fly with me, let's fly, let's fly away.«
Dad ist so gut wie taub von all den Gewehrschüssen, die in seinem Leben um ihn herum abgefeuert wurden (nicht alle von Mum), deshalb hörte er nichts vom Gesang der Nicola Fuller of Central Africa, und ich hielt es für meine Pflicht, ihn zu warnen, dass Frank Sinatra soeben die Bühne betreten hatte. Dad legte die Zeitschrift hin. »Na, da kann man dem kleinen Inder nur die Daumen drücken«, sagte er.
»Sri-Lanker«, verbesserte ich ihn.
Dad zündete sich eine Zigarette an.
»Come fly with me«, trällerte Mum - ihre Stimme schien jetzt aus Richtung der Tabakschuppen zu uns herüberzuwehen -, »let's float down to Peru.«
Und so parkte Mr. Vaas, angespornt durch Mums beinahe schon angriffslustige Begeisterung, seine betagte, sehr primitive Cessna auf dem Rollfeld neben dem Mkushi Country Club (auf dessen Tennisplätzen kleine Bäume wuchsen und in dessen Bar Fledermäuse unterm Dach nisteten) und bot offiziell seine Dienste als Fluglehrer an. Wäre in dieser Geschichte jemand ums Leben gekommen, hätte sie sich sicherlich in mein Gedächtnis eingeprägt. So aber weiß ich nicht mehr genau, wer noch alles an dem Flugkurs teilgenommen hat; es müssen ein, zwei Farmer und vielleicht noch ein paar andere Frauen gewesen sein. Doch wie bei so vielen Geschichten, die sich um Mum drehen, spielt das sowieso keine große Rolle.
»Wie ein Vogel« fand Mum zum Fliegen - nur mit den technischen Formalien, die für einen halbwegs reibungslosen Flug nötig waren, hatte sie so ihre Probleme. »Diese blöden Zahlen«, musste sie finster einräumen. »Vielleicht hätte ich doch besser aufpassen sollen, als diese verfluchten Nonnen mir das Rechnen beibringen wollten.« Navigation und Treibstoff- Füllmengen zum Beispiel fand sie »sehr verirrend«. Trotzdem konnte eine Bagatelle wie Mums absolute Unfähigkeit, über die zehn Finger an ihren Händen hinaus zu zählen, weder sie noch Mr. Vaas daran hindern, auf die Erfüllung ihres Traums hinzuarbeiten. Den ganzen dunstigen Winter hindurch bis in die ersten heißen Frühlingstage hinein waren die beiden zugange.
Der Zufall wollte es, dass der Tag, auf den sie ihre ersten Start- und Landeversuche terminiert hatte, auf einen Vollmond fiel. Die Tragflächen ruckelten ächzend in der sackenden Spätnachmittagshitze, als Mum und Mr. Vaas die Cessna ans Ende der Startbahn rollten. Sie drehte sich in den Wind, dem Jägermond zu, der blutrot in einem rauchdurchwehten Himmel aufging. Mr. Vaas dirigierte Mum durch den allerletzten Instrumentencheck, und dann schaute sie noch einmal kurz zu der kleinen Wellblechhütte hinüber, in der die anderen Flugschüler warteten, und zeigte der Welt den hochgerichteten Daumen.
Roter Sand wirbelte auf, als das Flugzeug durch die Ameisenbärenlöcher der Startbahn rumpelte. Ein, zwei kleine Hopser, dann schwang es sich empor, kippte nach links und nach rechts, bevor es die Wipfel der Msasa-Bäume unter sich ließ, deren frische Frühlingsblätter kurioserweise orange, rot und gelb leuchteten. Mr. Vaas schaute hinüber zu Mum. »Wie fühlen wir uns, Mrs. Fuller?«
Für die anderen Flugschüler in der kleinen Wellblechhütte neben der Startbahn war zunächst nur ein Knistern zu hören, dann kam die Stimme von Nicola Fuller of Central Africa, noch leicht zittrig von dem wahnwitzigen Mut, der sie in die Lage versetzte, Abenteuer und Möglichkeiten zu erblicken, wo andere nur Katastrophen und Tragödien sahen. »Fly me to the moon«, sang sie, noch nicht ganz fest, aber klar und deutlich, »let me play among the stars.«
Eine Pause. Mit beunruhigendem Lächeln schaute Mum Mr. Vaas an. Auf seiner Stirn perlten winzige Schweißtropfen. »Und es gehört schon was dazu, einen Sri-Lanker ins Schwitzen zu bringen«, sagte sie hinterher.
»Immer sachte«, sagte Mr. Vaas.
Mums Stimme kam wieder über Funk, lauter jetzt: »Let me see what spring is like on Jupiter and Mars.«
Aber als das kleine Flugzeug entschlossen auf die untergehende Sonne zuhielt, ein tapferes, dunkelviolettes Ausrufezeichen in einem glühend roten Himmel, fing Mr. Vaas wild zu gestikulieren an. »Umdrehen! Drehen Sie sofort um!«
Mum wollte über das Flakgeschütz auf der Mkushi River Bridge hinwegfliegen. Die Rhodesier hatten die Brücke während des Rhodesischen Buschkriegs gesprengt, was selbst aus heutiger Sicht noch übertrieben erscheint - schließlich lag die Brücke, so, wie die Straßen beschaffen waren, mindestens ein, zwei Tage Fahrt von der rhodesischen Frontlinie entfernt. Die Vergeltung der sambischen Armee sah so aus, dass sie, als der Krieg schon vorbei war, auf der Nordseite der Brücke einen ständigen Maschinengewehrposten gegen die South African Defense Forces installierte. Da Südafrika Tausende von Kilometern weit wegliegt und die eigentlichen Kämpfe wie üblich anderswo stattfanden, boten sich den sambischen Schützen nicht viele Ziele. Vor lauter Langeweile schossen sie, mit Bier aufgetankt, auf alles, was in Reichweite war: Krähen, Eukalyptusbäume, Hühner. Wer hätte da vorhersagen wollen, wie sie auf den absolut außerplanmäßigen Anflug eines echten Flugzeugs reagieren würden?
Mr. Vaas wurde autoritär. »Ich habe keine Freigabe für die Brücke. Drehen Sie um!«
»In other words«, trällerte Mum, »hold my hand.«
Mr. Vaas betrachtete sie grimmig. »Wir landen. Wir starten. Wir landen. Wir starten. Bums. Bums. Bums. Bums. Keine Brücken, keine Gesänge, verflixt und zugenäht.«
Mum betrachtete ihren kleinen Sri-Lanker mit bekümmertem Tadel. »Wir könnten nach Zaire fliegen«, bot sie an. »Das liegt gleich hinter den kleinen Hügeln.«
Der Grimm in Mr. Vaas' Blick wurde bedrohlicher. »Wir kehren jetzt schleunigst zum Rollfeld zurück«, sagte er.
Ein Schleier fiel über Mums Augen, aber sie nickte. »Roger«, sagte sie. In dem Moment sei ihr klar geworden, sagte sie später, dass sie nie allein über das sambische Hochplateau fliegen würde, an den Felsklippen entlang und den Luangwa River hinauf, ausfächernde Elefantenherden vor sich herjagend, das Licht von Höhe und Adrenalin so ausgedünnt, dass es dem perfekten Licht ihrer Kindheit nahekam. »Also flog ich die Cessna zurück, setzte sie auf der Piste auf und begrub auch diesen Traum«, sagte sie.
Im Gedenken an ihren zerstörten Traum stellte Mum Trevor Thoms' dreibändiges Pilotenhandbuch auf ihr Badezimmerregal, neben Charles Berlitz' German Step-by-Step und Commander F.J. Hewetts Sailing a Small Boat. »Man kann nicht alles haben«, sagte sie. Und mit der ihr eigenen anfallartigen Großherzigkeit verzieh sie ihrem schneidigen kleinen Sri- Lanker trotz seiner - zumindest sah sie es so - grandiosen ...
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Vanessa bläst ungerührt den Rauch gen Himmel. »Da ist Mum aber anderer Meinung. Mich darfst du nicht fragen. Ich hab's nicht gelesen. Werd ich auch nicht. Kann's nicht. Hab einen Dachschaden. Frag Mum.«
Wir sitzen vor Vanessas Steinhaus nahe der Stadt Kafue. Vanessa war so klug, zu einer unergründlichen Künstlerin heranzuwachsen - Stoffe, Grafiken, Leinwände in überbordenden, tropischen Farben, alles verarbeitet zu einer Art unverbindlichem Chaos, damit keiner sie auf irgendetwas festnageln kann. Überhaupt kann passieren, was will, Vanessa tut so, als wäre alles kein Problem, solange keiner ein Drama macht. So wächst zum Beispiel in ihrem Badezimmer ein Baum mitten durch das schilfgedeckte Dach - sehr romantisch und malerisch, aber als Schutz gegen Regen und Reptilien total ungeeignet. »Ach«, sagt Vanessa leichthin, »wenn du die Schuhe anbehältst und aufpasst, wo du dich hinsetzt, geht das schon.«
Das restliche Haus, angebaut an das wahnsinnig unpraktische Bad, hat insgesamt nur drei winzige Zimmer für Vanessa, ihren Ehemann und ihre diversen Kinder, aber es steht auf dem Gipfel eines Kopje, und das macht es zu etwas Besonderem. Es ist, als würde eine Kleiderkammer über eine Kathedra len decke verfügen. Wir sitzen draußen, die Luft duftet nach Miombowald, wir rauchen und blicken hinunter auf die anheimelnden Lichter der vielen Herdfeuer, die in den umliegenden Dörfern glimmen. Hin und wieder ist von den Tavernen an der Kafue Road Hundegebell zu hören, oder die Soldaten drüben im Armeelager rufen sich etwas zu oder ballern ein bisschen in die Luft. Es ist alles sehr friedlich.
»Trink noch ein Glas Wein«, empfiehlt Vanessa mir zum Trost. »Wer weiß, irgendwann vergibt sie dir vielleicht.«
Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass das grässliche Buch, dessen voller und korrekter Titel in Gegenwart meiner Familie nicht ausgesprochen werden darf, nicht allein auf meinem Mist gewachsen ist. Ich habe mich von Nicola Fuller of Central Africa höchstpersönlich dazu ermutigt, um nicht zu sagen genötigt gefühlt. Nachdem sie meine ältere Schwester ob ihrer beharrlichen Weigerung, lesen und schreiben zu lernen, als poten tielle Autorin abschreiben musste, richtete Mum ihre literarischen Ambitionen auf mich. Ich war fünf, als sie die Mathematik- Lektionen in unserem wöchentlichen Rhodesischen Fernunterrichts-Paket ausließ. »Weißt du, Bobo«, erklärte sie mir, »Zahlen sind langweilig. Außerdem kannst du immer jemanden anstellen, der für dich das Rechnen übernimmt, aber du kannst niemanden anstellen, der für dich schreibt. Also?« Mum schwieg und bedachte mich mit ihrem beängstigenden Lächeln. »Was meinst du, worüber möchtest du schreiben?« Worauf sie genüsslich ihren Tee austrank, sich ein paar Hunde vom Schoß fegte und loszog in ein Leben, das der schönsten Literatur würdig war.
Zwölf Jahre später ließ sie dieses Leben Revue passieren und maß es an der Biografie, die ihr vorschwebte, etwas im Stil von West with the Night, The Flame Trees of Thika oder Out of Africa. Alles in allem war sie mit dem Ergebnis ganz zufrieden, auch wenn sie das Gefühl hatte, in manchen Bereichen vielleicht etwas zu viel durchgemacht zu haben (Schicksalsschläge zum Beispiel oder Krieg und Armut). Ein zentraler Posten aber fehlte noch in ihrem Portfolio: Es kamen keine Flugzeuge darin vor, und im Leben von Mums literarischen Vorbildern hatten Flugzeuge durchweg eine tragende Rolle gespielt.
»Und dann tauchte plötzlich, wie ein Geschenk des Himmels, mein schneidiger kleiner Sri-Lanker auf.« Streng genommen war es nicht ihr schneidiger kleiner Sri-Lanker - auch wenn man im Lauf ihrer Beziehung durchaus auf diesen Gedanken kommen konnte -, und innerhalb der Familie wurde zuweilen recht erbittert darüber debattiert, ob er schneidig war. Einigkeit dagegen bestand darüber, dass der Sri-Lanker klein war. Sein richtiger Name war Mr. Vaas, und er war nach Sambia gekommen, sagte er, um dem Elend und der Gewalt in seinem Heimatland zu entfliehen.
»Dann müssten Sie sich bei uns ganz zu Hause fühlen«, sagte Dad, worauf ihn Mr. Vaas misstrauisch ansah. Aber mein Vater sagte nichts weiter, sondern wandte sich in aller Ruhe wieder seinem Farmer's Weekly zu. Letzten Endes musste ich meinem Vater Recht geben. »Wie immer«, sagte Mum.
»Hat nicht der letzte Pilot, den wir hier hatten, seine Maschine gegen einen Strommasten gesetzt?«, fragte ich und schenkte mir Tee nach.
Ohne den Blick von seiner Zeitschrift zu heben, sagte mein Vater: »Ich fürchte ja.«
Mr. Vaas sank ein bisschen in sich zusammen.
»Am besten gar nicht hinhören«, sagte Mum, schob Mr. Vaas energisch von der Veranda und trieb ihn quer durch ihren Garten - ein kühnes Durcheinander von Bougainvillea und Passionsfrucht-Ranken, Lilienbeeten und Strelitzien, Fliederbüschen und Caladien, die über Fleißige-Lieschen-Rabatten aufragten. Mums Hunde tollten ihnen um die Füße. »Meine Familie schikaniert mich, wo sie kann«, sagte sie. Mr. Vaas tätschelte ihr mitfühlend den Arm und wurde mit einem gierigen Grinsen belohnt. »Sie und ich«, prophezeite Mum, »wir werden allen zeigen, was echter Mut ist. Lassen Sie uns die Blixen und der Finch Hatton von Sambia sein.«
Mr. Vaas blinzelte aus der Abenddämmerung in Dads und meine Richtung.
»Was macht der Tee, Bobo?«, fragte Dad. »Noch heiß?«
»Brühend heiß.«
Jetzt verschwand Mr. Vaas und nach ihm Mum in unserem Pferch, wo das Milchvieh ins Freie gekommen war, um den abendlichen Stechmücken zu entgehen. »Come fly with me«, hörte ich Mum singen, »let's fly, let's fly away. If you can use some exotic booze, there's a bar in far Bombay. Come fly with me, let's fly, let's fly away.«
Dad ist so gut wie taub von all den Gewehrschüssen, die in seinem Leben um ihn herum abgefeuert wurden (nicht alle von Mum), deshalb hörte er nichts vom Gesang der Nicola Fuller of Central Africa, und ich hielt es für meine Pflicht, ihn zu warnen, dass Frank Sinatra soeben die Bühne betreten hatte. Dad legte die Zeitschrift hin. »Na, da kann man dem kleinen Inder nur die Daumen drücken«, sagte er.
»Sri-Lanker«, verbesserte ich ihn.
Dad zündete sich eine Zigarette an.
»Come fly with me«, trällerte Mum - ihre Stimme schien jetzt aus Richtung der Tabakschuppen zu uns herüberzuwehen -, »let's float down to Peru.«
Und so parkte Mr. Vaas, angespornt durch Mums beinahe schon angriffslustige Begeisterung, seine betagte, sehr primitive Cessna auf dem Rollfeld neben dem Mkushi Country Club (auf dessen Tennisplätzen kleine Bäume wuchsen und in dessen Bar Fledermäuse unterm Dach nisteten) und bot offiziell seine Dienste als Fluglehrer an. Wäre in dieser Geschichte jemand ums Leben gekommen, hätte sie sich sicherlich in mein Gedächtnis eingeprägt. So aber weiß ich nicht mehr genau, wer noch alles an dem Flugkurs teilgenommen hat; es müssen ein, zwei Farmer und vielleicht noch ein paar andere Frauen gewesen sein. Doch wie bei so vielen Geschichten, die sich um Mum drehen, spielt das sowieso keine große Rolle.
»Wie ein Vogel« fand Mum zum Fliegen - nur mit den technischen Formalien, die für einen halbwegs reibungslosen Flug nötig waren, hatte sie so ihre Probleme. »Diese blöden Zahlen«, musste sie finster einräumen. »Vielleicht hätte ich doch besser aufpassen sollen, als diese verfluchten Nonnen mir das Rechnen beibringen wollten.« Navigation und Treibstoff- Füllmengen zum Beispiel fand sie »sehr verirrend«. Trotzdem konnte eine Bagatelle wie Mums absolute Unfähigkeit, über die zehn Finger an ihren Händen hinaus zu zählen, weder sie noch Mr. Vaas daran hindern, auf die Erfüllung ihres Traums hinzuarbeiten. Den ganzen dunstigen Winter hindurch bis in die ersten heißen Frühlingstage hinein waren die beiden zugange.
Der Zufall wollte es, dass der Tag, auf den sie ihre ersten Start- und Landeversuche terminiert hatte, auf einen Vollmond fiel. Die Tragflächen ruckelten ächzend in der sackenden Spätnachmittagshitze, als Mum und Mr. Vaas die Cessna ans Ende der Startbahn rollten. Sie drehte sich in den Wind, dem Jägermond zu, der blutrot in einem rauchdurchwehten Himmel aufging. Mr. Vaas dirigierte Mum durch den allerletzten Instrumentencheck, und dann schaute sie noch einmal kurz zu der kleinen Wellblechhütte hinüber, in der die anderen Flugschüler warteten, und zeigte der Welt den hochgerichteten Daumen.
Roter Sand wirbelte auf, als das Flugzeug durch die Ameisenbärenlöcher der Startbahn rumpelte. Ein, zwei kleine Hopser, dann schwang es sich empor, kippte nach links und nach rechts, bevor es die Wipfel der Msasa-Bäume unter sich ließ, deren frische Frühlingsblätter kurioserweise orange, rot und gelb leuchteten. Mr. Vaas schaute hinüber zu Mum. »Wie fühlen wir uns, Mrs. Fuller?«
Für die anderen Flugschüler in der kleinen Wellblechhütte neben der Startbahn war zunächst nur ein Knistern zu hören, dann kam die Stimme von Nicola Fuller of Central Africa, noch leicht zittrig von dem wahnwitzigen Mut, der sie in die Lage versetzte, Abenteuer und Möglichkeiten zu erblicken, wo andere nur Katastrophen und Tragödien sahen. »Fly me to the moon«, sang sie, noch nicht ganz fest, aber klar und deutlich, »let me play among the stars.«
Eine Pause. Mit beunruhigendem Lächeln schaute Mum Mr. Vaas an. Auf seiner Stirn perlten winzige Schweißtropfen. »Und es gehört schon was dazu, einen Sri-Lanker ins Schwitzen zu bringen«, sagte sie hinterher.
»Immer sachte«, sagte Mr. Vaas.
Mums Stimme kam wieder über Funk, lauter jetzt: »Let me see what spring is like on Jupiter and Mars.«
Aber als das kleine Flugzeug entschlossen auf die untergehende Sonne zuhielt, ein tapferes, dunkelviolettes Ausrufezeichen in einem glühend roten Himmel, fing Mr. Vaas wild zu gestikulieren an. »Umdrehen! Drehen Sie sofort um!«
Mum wollte über das Flakgeschütz auf der Mkushi River Bridge hinwegfliegen. Die Rhodesier hatten die Brücke während des Rhodesischen Buschkriegs gesprengt, was selbst aus heutiger Sicht noch übertrieben erscheint - schließlich lag die Brücke, so, wie die Straßen beschaffen waren, mindestens ein, zwei Tage Fahrt von der rhodesischen Frontlinie entfernt. Die Vergeltung der sambischen Armee sah so aus, dass sie, als der Krieg schon vorbei war, auf der Nordseite der Brücke einen ständigen Maschinengewehrposten gegen die South African Defense Forces installierte. Da Südafrika Tausende von Kilometern weit wegliegt und die eigentlichen Kämpfe wie üblich anderswo stattfanden, boten sich den sambischen Schützen nicht viele Ziele. Vor lauter Langeweile schossen sie, mit Bier aufgetankt, auf alles, was in Reichweite war: Krähen, Eukalyptusbäume, Hühner. Wer hätte da vorhersagen wollen, wie sie auf den absolut außerplanmäßigen Anflug eines echten Flugzeugs reagieren würden?
Mr. Vaas wurde autoritär. »Ich habe keine Freigabe für die Brücke. Drehen Sie um!«
»In other words«, trällerte Mum, »hold my hand.«
Mr. Vaas betrachtete sie grimmig. »Wir landen. Wir starten. Wir landen. Wir starten. Bums. Bums. Bums. Bums. Keine Brücken, keine Gesänge, verflixt und zugenäht.«
Mum betrachtete ihren kleinen Sri-Lanker mit bekümmertem Tadel. »Wir könnten nach Zaire fliegen«, bot sie an. »Das liegt gleich hinter den kleinen Hügeln.«
Der Grimm in Mr. Vaas' Blick wurde bedrohlicher. »Wir kehren jetzt schleunigst zum Rollfeld zurück«, sagte er.
Ein Schleier fiel über Mums Augen, aber sie nickte. »Roger«, sagte sie. In dem Moment sei ihr klar geworden, sagte sie später, dass sie nie allein über das sambische Hochplateau fliegen würde, an den Felsklippen entlang und den Luangwa River hinauf, ausfächernde Elefantenherden vor sich herjagend, das Licht von Höhe und Adrenalin so ausgedünnt, dass es dem perfekten Licht ihrer Kindheit nahekam. »Also flog ich die Cessna zurück, setzte sie auf der Piste auf und begrub auch diesen Traum«, sagte sie.
Im Gedenken an ihren zerstörten Traum stellte Mum Trevor Thoms' dreibändiges Pilotenhandbuch auf ihr Badezimmerregal, neben Charles Berlitz' German Step-by-Step und Commander F.J. Hewetts Sailing a Small Boat. »Man kann nicht alles haben«, sagte sie. Und mit der ihr eigenen anfallartigen Großherzigkeit verzieh sie ihrem schneidigen kleinen Sri- Lanker trotz seiner - zumindest sah sie es so - grandiosen ...
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Alexandra Fuller
Alexandra Fuller wurde 1969 in England geboren. Als sie zwei Jahre alt war, wanderte ihre Familie nach Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, aus. Auf der Flucht vor den Bürgerkriegsunruhen verschlug es die Fullers 1981 zunächst nach Malawi, dann nach Sambia. 1994 verließ Alexandra Fuller Afrika, um in Kanada und Schottland zu studieren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Wyoming, USA. »Unter afrikanischer Sonne« ist ihr erstes Buch, das in Amerika eine euphorische Presseresonanz auslöste und als ein neuer Klassiker autobiographischer Literatur gefeiert wurde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alexandra Fuller
- 2013, 288 Seiten, 23 Abbildungen, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Ahlers, Walter
- Übersetzer: Walter Ahlers
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442479843
- ISBN-13: 9783442479849
- Erscheinungsdatum: 18.11.2013
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