Vampire Souls - Nachtrausch
Roman. Deutsche Erstausgabe
Es ist Ciaras erster Tag beim Radiosender WMMP, als sie diesen attraktiven Moderator kennenlernt. Was ist das in seinen Augen, was sie so magisch an ihm anzieht? Und auch die anderen DJs im Sender wirken so seltsam. Ciara fragt sich: was geht hier ab?
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Produktinformationen zu „Vampire Souls - Nachtrausch “
Es ist Ciaras erster Tag beim Radiosender WMMP, als sie diesen attraktiven Moderator kennenlernt. Was ist das in seinen Augen, was sie so magisch an ihm anzieht? Und auch die anderen DJs im Sender wirken so seltsam. Ciara fragt sich: was geht hier ab?
Klappentext zu „Vampire Souls - Nachtrausch “
Ciara ist wie gelähmt, als sie in diese Augen schaut. Es ist ihr erster Tag bei dem Radiosender WMMP. Der attraktive Typ vor ihr moderiert eine Grunge-Show, und eigentlich wirkt er ziemlich normal. Doch etwas in seinen Augen zieht Ciaramagisch an. Und die anderen DJs sehen aus, als wäre jeder von ihnen aus einer anderen Zeitmaschine gekrochen. Ciara stellt sich nur die Frage: Was geht hier ab? Und die Antwort darauf gefällt ihr gar nicht ...
Lese-Probe zu „Vampire Souls - Nachtrausch “
Vampire Souls - Nachtrausch von Jeri Smith-Ready Aus dem Amerikanischen von Beke Ritgen
1
It's only Rock 'n' Roll (but I Like It)
Der Fluch, der auf einer Familie liegt, stirbt nie; er existiert auf immer und ewig. Die griechische Mythologie erzählt vom Fluch, der auf dem Geschlecht der Atriden lastete: Alles begann mit einer Suppe. Der Ahnherr der Familie kredenzte den Göttern den ersten Gang der Tageskarte in bester Klugscheißermanier: Die Fleischeinlage war der eigene Sohn. Seitdem ging es mit den Atriden ständig bergab. Heute bringt der Fluch die Mitglieder dieser Familie vielleicht nur noch dazu, sich gegenseitig keine Geburtstagskarten mehr zu schicken.
Ich weiß nicht, wie finster der Fluch, der auf dem Geschlecht der Griffin lastet, in der Alten Welt einst begonnen hat. Mich jedenfalls schlägt er im Hier und Jetzt mit einer besonderen Gabe. Ich beherrsche die Kunst der Verführung. Im Alltag unserer normalen Welt heißt das: Verkauf und Vertrieb oder stylisch gesprochen: Sales und Marketing. Ich nenne es daher gern: S&M.
Der schlacksige Typ in den Dreißigern hinter dem Schreibtisch überfliegt meinen Lebenslauf. Viel zu lesen hat er nicht; der Lebenslauf ist knapp ausgefallen. Während der Typ im Takt der Blues-Rhythmen nickt, die aus dem Lautsprecher an der Wand kommen, wippt sein kurzes dunkles Haar ihm gegen die Stirn. Unbewusst klopft er mit den Fingern synchron denselben Takt auf der Holzplatte des Schreibtisches, der uns voneinander trennt.
Die Andenkensammlung in diesem winzigen Büro würde jedes Hard Rock Café beschämen. Neben dem einzigen, allerdings verrammelten Fenster steht ein lebensgroßer John Lennon. Er blickt mir direkt in die Seele - und gleich daneben ein Jerry Lee Lewis ebenso direkt in den Ausschnitt.
»Also, Ciara ...« David, so hat er sich vorgestellt, wirft mir einen ernsten Blick zu.
... mehr
»Wa rum wollen Sie ...«
»Es wird Kih-ra, nicht Ssi-eera ausgesprochen.« Mechanisch leiere ich die Aussprache-Korrektur he runter. Dabei versuche ich, so höflich wie möglich zu klingen. »Nicht so wie die Gebirgskette also.«
»Entschuldigung. Ich bin mir ziemlich sicher, das passiert Ihnen ständig.« Er dreht das Blatt um, um einen Blick auf die zweite Seite meines Lebenslaufes zu werfen. Gähnende Leere. Er lüpft meine Bewerbungsmappe, wahrscheinlich auf der Suche nach einem weiteren Blatt. »Wo findet sich denn Ihre weitere Berufserfahrung?«
Ich schenke ihm mein entwaffnendstes Lächeln. »In der Zukunft, hoffe ich.«
Er blinzelt. Dann schaut er wieder auf den Lebenslauf und hebt dabei seine Augenbrauen. »Tja, jedenfalls liest sich Ihre Bewerbung flüssig.«
Das liegt zweifellos an der Sechzehn-Punkt-Schriftgröße, die ich gewählt habe, um die eine Seite auch wirklich voll zu bekommen.
David inspiziert die Zeilen erneut: Seine grünen Augen huschen hin und her, verzweifelt auf der Suche nach einem Aufhänger für ein Vorstellungsgespräch. »Ciara. Interessante Schreibweise.«
»Ist irischen Ursprungs. Es bedeutet so viel wie ›dunkel und geheimnisvoll‹.« Ich drücke den Rücken durch und setze mich so in Szene: helles, rotbraunes Haar, geflissentlich harmloser Blick. »Auf mich allerdings trifft weder das eine noch das andere zu.«
Davids Mundwinkel verziehen sich zu einem kurz angedeuteten Lächeln. Dann legt er den Lebenslauf beiseite und schlägt meine Bewerbungsmappe auf. Während er den Inhalt durch geht, drückt er mit dem Daumen unablässig auf das Ende seines Kugelschreibers. Mine rein, Mine raus, ein Stakkato von Klicklauten, das mein Nervenkostüm ziemlich verschleißt. Ich widerstehe dem Drang, meine feuchten Handflächen an meinem einzigen Outfit für Bewerbungsgespräche abzuwischen.
Die Klimaanlage surrt und klackert vor sich hin. In ihrem Luftstrom flattern gleich über meinem Kopf Backstage-Ausweise. Sie hängen wie Weihnachtsdekoration am Geweih eines Hirsches, der stocksauer dreinblickt.
»Ihr erstes Studienprojekt liegt bereits sechs Jahre zurück«, sagt David. »Ich gehe davon aus, dass Sie das Sherwood College seitdem nicht regelmäßig besucht haben. Das ist doch richtig, oder?«
Meine Schultern verspannen sich. »Ich habe mir eine Auszeit genommen.« Upps, eigentlich sollte das hier eine Übung in Ehrlichkeit werden. »Ich meine, ich habe das Studium unterbrechen müssen, um Geld für die Studiengebühren zu verdienen.«
Er nickt mitfühlend. »Studieren ist eine teure Angelegenheit. Ich habe der Army vier Jahre meines Lebens gegeben - im Tausch gegen einen Hochschulabschluss.«
»Die Army, wow! Haben Sie in der Zeit jemanden töten müssen? «
Er sieht mich mit einem Mal scharf an. Und mich lässt meine Idiotie zusammenschrecken. Diese Idiotie ist ganz klar eine Folge meines angeschlagenen Nervenkostüms. Normalerweise ist es Absicht, wenn ich ein Bewerbungsgespräch verpatze. Die Tatsache, dass ich dieses Mal den Job tatsächlich haben möchte, bereitet mir Magenschmerzen.
Davids Gesicht entspannt sich wieder. Er grinst. »Sollte nicht ich hier die Fragen stellen?«
»Entschuldigung. Tut mir echt leid. Fragen Sie, was immer Sie wollen!« Solange Sie nichts über mich wissen wollen.
»Wa rum möchten Sie gern bei WMMP arbeiten?«
Natürlich habe ich gewusst, dass diese Frage kommen würde. Daher habe ich an einer überzeugenden Antwort gefeilt, seitdem David über die Jobbörse meines Colleges auf mich aufmerksam geworden ist.
»Ich stehe einfach auf Rock 'n' Roll.« Scheiße, klingt das abgedroschen! Ich reibe mir die Nase und blicke in eine andere Richtung. »Ich durfte solche Musik als Teenager nicht hören. Aber ich habe es trotzdem getan. Nachts habe ich unter meiner Decke mit dem Walkman Kassetten angehört, die ich geklau... äh, die ... ich mir geliehen ... na ja, die ich eben geklaut habe.« Diese Sag-die-Wahrheit-Kiste ist schwieriger als erwartet. »Na, jedenfalls habe ich mir gedacht, bei einem Lokalsender bin ich vielleicht nicht gezwungen, gleich meine Seele zu verkaufen, anders als bei einem der großen Unternehmen in der Unterhaltungsbranche. Außerdem ist morgen ja schon der erste Juni, und ich bin wirklich verzweifelt. Wenn ich nach diesem Sommer kein Praktikum vorweisen kann, kann ich meinen Abschluss nicht machen. Und wenn ich nicht bald raus aus dieser Stadt komme, dann ...« Ich klappe den Mund zu, etwa drei Sätze zu spät.
David blinzelt, blinzelt noch einmal und noch einmal. Gerade beginne ich mich zu fragen, ob die Klimaanlage seine Kontaktlinsen ausgetrocknet hat. Er seufzt, quasi durch die Nase, und gibt dabei einen Laut von sich, der wohl sagen soll: Wa rum nur verschwende ich meine Zeit mit diesem Mädchen? Verzweifelt und in aller Hast suche ich nach einem neuen Aufhänger für das Gespräch.
Auf dem Schreibtisch zwischen uns steht ein Foto von einem mit Auszeichnungen geschmückten Chihuahua gleich neben einem Kalender mit dreihundertfünfundsechzig Oscar-Wilde-Zitaten. Ich schiele auf das heutige und lese: Mir sind Menschen lieber als Prinzipien, und Menschen ohne Prinzipien sind mir das Liebste auf der Welt.
Ich blicke auf, schaue David an, dann wieder das Foto und den Kalender. »Niedlicher Hund.«
»Oh. Äh, das ist nicht mein Schreibtisch.« Er stößt sich mit dem Drehstuhl ein paar Zentimeter von der Tischkante ab. »Das ist Franks Schreibtisch. Er ist der Leiter für Verkauf und Vertrieb, der Marketing-Chef also.« David schiebt den herzförmigen Rahmen des Chihuahua-Fotos hin und her. »Ich bin nicht ... Sie wissen schon ... nun ...«
Ich nehme an, das Wort, nach dem er sucht, ist ›schwul‹.
»Gehört Ihnen der Sender?«
»Ich bin der Geschäftsführer. Die Eigentümerin ist ...«, Davids Blick wandert über meine Schulter, hin zu einer geschlossenen Bürotür, »... nicht anwesend. Tja, Terminprobleme.«
Einen Moment warte ich da rauf, dass er etwas ausführlicher wird. Aber David zupft nur an den Hemdärmeln unter seinem Sportsakko und wechselt das Thema.
»Ich bin außerdem der Programmleiter. Sicher wissen Sie bereits, dass WMMP tagsüber vorproduzierte Talk-Shows, Infomercials und Shopping-Sendungen bringt. Nachts aber ...« David blickt auf den Lautsprecher an der Wand, als ob dieser eine heilige Reliquie wäre. »Da erwacht WMMP zum Leben. «
Soso. »Möchte Frank denn auch noch ein Vorstellungsgespräch mit mir führen?«
»Die Personalentscheidungen des Senders treffe ich. Frank wäre gern zu uns gestoßen. Aber er verabscheut die ...« Wieder huscht Davids Blick zur Treppe hinter mir. »Er verabscheut es, abends oder nachts zu arbeiten.«
Ich werfe einen prüfenden Blick auf die wuchtige Uhr mit Holzgehäuse, die auf dem gemauerten Kaminsims steht. 21.30 Uhr. »Wa rum haben Sie denn das Vorstellungsgespräch auf eine so späte Zeit gelegt?«
»Ich möchte, dass jeder Bewerber für das Praktikum die Moderatoren unserer Sendungen kennenlernen kann. Und nur um diese Zeit sind sie alle ... hier.«
Aha. Meine erste Amtshandlung als Praktikantin der Marketing- Abteilung würde der Vorschlag sein, Musik dann zu senden, wenn die potenzielle Hörerschaft auch wach ist, um sie zu hören.
David schiebt Lebenslauf und Bewerbungsmappe ineinander und stößt die Kanten auf der Schreibtischplatte zusammen. Die Bewegung hat etwas Endgültiges, ganz so, als wolle er mir gleich dafür danken, dass ich vorbeigekommen bin.
Die aufkeimende Panik sorgt für einen Schnellstart meiner Sprechwerkzeuge. »Ich weiß, mein Lebenslauf ist ein bisschen kurz, aber ich kann das erklären.«
»Nicht nötig.« Er faltet die Hände, die Finger bilden ein Dach, die Daumen klopfen gegeneinander. »Wissen Sie eigentlich, warum ich gerade Sie wegen des Jobs angerufen habe?«
Ich war zu ängstlich gewesen, ihm diese Frage zu stellen. Jetzt zögere ich, einfach draufloszuraten.
David fährt fort: »Ihre Lebensgeschichte weist da rauf hin, dass Sie Verständnis für - wie soll ich es ausdrücken? - nun, für die Sichtweise von gesellschaftlichen Außenseitern haben.«
Meine Eingeweide werden bleischwer. Er hat meinen Hintergrund geprüft.
»Für welche Art von Außenseitern?«, frage ich unschuldig.
»Für Außenseiter, denen es an Rücksichtnahme auf ...«, er spreizt die Daumen ab, »... auf die bürgerlichen Moralvorstellungen mangelt.«
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück. Meine Bewegungen sind langsam - als zöge ich mich vor einer Giftschlange zurück. »Man hat mir nie etwas zur Last legen können.«
»Das weiß ich.« Beschwichtigend streckt David die Hände aus, Handflächen nach unten, so als wolle er mich auf die Sitzfläche pressen. »Was ich meine, ist ...«
»Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.« Ich stehe auf, greife nach meiner Handtasche an der Rückenlehne des Besuchersessels. »Ich habe unsere kleine Unterhaltung wirklich genossen. Aber ich glaube, ein anderes Stellenangebot dürfte besser zu mir passen.« Ich steuere den Ausgang an.
»Warten Sie!« Er fängt mich ab, hat die Hand auf der Tür, ehe ich sie öffnen kann. »Was ich sagen wollte, ist, dass mir Ihre Vergangenheit egal ist. Niemand hier interessiert sich dafür.«
Mein Verstand wägt ab, wie viel David wissen kann. Eine Recherche auf legaler Basis erbrächte nichts allzu Belastendes. Meine Strafakte mit Jugendvergehen ist gelöscht worden, als ich achtzehn wurde. In den sechs Jahren, die seitdem vergangen sind, bin ich nie erwischt worden. So in etwa jedenfalls.
»Wir können Ihnen leider nicht sonderlich viel zahlen.« David macht eine Handbewegung in Richtung meines Lebenslaufs. »Aber ausgehend von Ihrer Adresse dürften Sie auch nicht viel brauchen.«
Hat er da gerade meine Nachbarschaft beleidigt? Begreift er nicht, dass ich über dem besten Pfandhaus der ganzen Stadt wohne?
»Sie würden dann dort drüben sitzen.« David zeigt auf einen kleinen Schreibtisch in Kaminnähe, genau gegenüber von Franks. Hinter dem Schreibtisch steht ein Kopierer, der so alt ist, dass ich glatt davon ausgehe, er funktioniere per Handkurbel.
»Kommen Sie!« Plötzlich ist David so schnell an mir vorbeigegangen, dass ich vor Schreck zusammenfahre.
Er steigt die knarrende Holztreppe hinunter, die zwischen zwei geschlossenen Bürotüren ins Untergeschoss des Senders führt. Ich folge ihm, wobei ich versuche, mir nicht allzu viele Hoffnungen zu machen. Vielleicht war sein ganzes Gerede da rüber, mich einzustellen, nur hypothetisch gemeint, also in etwa wie: Klar, würden Sie an diesem Schreibtisch arbeiten, wenn all die anderen Bewerber für den Job von einer Riesenkakerlake gefressen werden. Ich zwinge mich, nicht an die Dinge zu denken, die ich würde tun müssen, wenn ich für diesen Sommer keinen Job kriege. Dinge, die man nicht in einen Lebenslauf packen sollte.
Am Fuß der Treppe legt David die Hand auf den Knauf einer geschlossenen Tür. Er holt rasch, aber tief Luft, als wolle er etwas Bedeutsames von sich geben. Aber die Worte kommen ihm nicht über die Lippen. Stattdessen schüttelt er den Kopf.
»Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn Sie ihnen ganz unvoreingenommen begegnen. Wenn die DJs einverstanden sind, haben Sie den Job.«
Ich nicke. Klar, also alles schön zwanglos und ohne Druck.
David öffnet die Tür und lässt mich in eine schmal geschnittene, nur schlecht beleuchtete Lounge vorgehen. Eine dicke Wolke aus kaltem Zigarettenrauch wabert vor der Halogen- Lampe in der gegenüberliegenden linken Ecke. Das Licht der Lampe nimmt dem Raum ein wenig von seiner schattenhaftfahlen Dunkelheit.
Meine brennenden Augen brauchen einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ich strenge mich an und werfe einen ersten Blick auf eine Gruppe von ...
Freaks.
Auf eine Gruppe besonders erlesener Freaks allerdings. Es sind alles herzzerreißend schöne Menschen. Dass Radio nur etwas für die Ohren ist, wird so geradezu zu einer Tragödie. Und jeder dieser Freaks sieht aus, als sei er aus einer anderen Zeitmaschine gekrochen.
David schiebt mich von der Türschwelle, auf der meine Füße ihren Dienst versagten, in den Raum hin ein. »Ciara Griffin, darf ich Ihnen den Stolz von WMMP vorstellen!«
Drei Männer und eine Frau spielen Poker an einem Tisch, der von Plastik-Jetons und leeren Flaschen übersät ist. Die vier mustern mich; ihr Misstrauen lässt sich mit Händen greifen. Vielleicht liegt das an meinem Bewerbungsoutfit: In Marineblau sehe ich aus wie eine FBI-Agentin.
»Spencer, Jim, Noah, Regina.« David geht die Tischrunde von links nach rechts durch. »Sie können sie duzen, die DJs legen keinen Wert auf Förmlichkeiten. Ach, und das da hinten ist Shane.«
Auf dem schmalen Zweiersofa gleich unter der Lampe liegt ein Typ in ausgeblichenen, zerschlissenen Jeans. Er scheint zu schlafen. Der rechte Arm liegt über seinem Gesicht. Ein Bein ist angewinkelt, der zugehörige Fuß liegt auf einem Kissen; das andere Bein hängt vom Sofa he runter.
David greift meinen Ellbogen, um mich noch ein paar Schritte in den Raum hin einzuführen. »Ich hoffe, Ciara wird unsere neue Praktikantin im Marketing.«
Die offenkundige Feindseligkeit verschwindet aus den Gesichtern der vier wachen Djs und wird durch eine distanzierte Höflichkeit ersetzt. Versuchsweise setze ich ein Lächeln auf, ermutigt von der geringfügigen Bereitschaft, mir gegenüber aufzutauen.
»Spencer macht unsere Fünfziger-Jahre-Sendung«, erklärt David. »Die Zeit, in der der Rock 'n' Roll geboren wurde.«
Ein Kerl in weißem Oberhemd und schwarzen Hosen steht auf, um mich zu begrüßen. Dabei faltet er schier endlos lange Beine, bisher unter dem Tisch versteckt, auseinander. Sein tiefrotes Haar ist zu einer Elvistolle zurechtgegelt. Er drückt die Hand, die ich ihm entgegenstrecke.
»Na, Baby, wie geht's, wie steht's?« Spencers gedehnte Südstaaten- Sprechweise und seine tadellose Kleidung verleihen ihm den Anstrich eines Gentlemans, was allerdings nicht recht zur ungezähmten Wildheit seines Blicks passen will.
»Passt schon, Daddy-O.« Es rutscht mir einfach so he raus. Anstatt mir die Antwort krummzunehmen, lächelt Spencer und nickt zufrieden.
Der Nächste am Tisch springt auf, und ich habe mich gerade genug unter Kontrolle, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Das ist unser Jim«, meint David.
»Hi! Du, deine Mappe war 'ne Schau, Mann.« Jim umarmt mich. Seine langen braunen Locken und das Batikhemd riechen nach Marihuana und Patschuli. »Ich kann's beurteilen. Ich war auch auf der Kunstakademie.«
»Danke, aber ich bin keine Künstlerin.« Schnüffelt er da an mir?
Jim tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich aus einer Armlänge Entfernung. »Aber wie hast du dann die Entwürfe so dufte hingekriegt?«
»Die Entwürfe für meine Kursprojekte am College? Na, die habe ich natürlich am Computer gemacht.«
Er kneift die Augen zusammen, so verwirrt ist er. »Am was ...?«
David räuspert sich laut genug, um mein Bullshit-Frühwarnsystem auf Alarmstufe Gelb gehen zu lassen. Was zum Teufel geht hier ab?!
Plötzlich huscht Erleuchtung über Jims Gesicht. Er schnippt mit den Fingern. »Ach, genau! Na, zu meiner Zeit haben wir das alles noch mit der Hand machen müssen.«
Mit gerunzelter Stirn schaue ich ihn prüfend an. Er sieht nicht mehr als ein paar Jahre älter aus als ich. Sie sehen alle nicht viel älter aus als ich.
»Zu deiner Zeit?«
Der dritte Typ lässt die Stuhlbeine über den Boden kratzen, als er aufsteht. Ich wende mich ihm zu, erleichtert, Jim zu entkommen, dessen raumgreifende Art offenkundig keine Grenzen kennt.
»Ich bin Noah.« Die Stimme des Mannes rollt über mich hinweg und hüllt mich ein wie eine warme jamaikanische Brise. »Is' mir 'n Vergnügen, dich kennenzulernen, hübsche Lady.« Er streckt die Hand über den Tisch aus, greift sich meine und zieht sie an seine vollen Lippen. Er trägt eine dunkel eingefasste Brille, die ziemlich weit unten auf dem Nasenrücken sitzt und seinen Blick weicher macht. Unter diesem Blick wird mir ganz unprofessionell träumerisch zumute. Eine Strickmütze in den Farben Grün, Gelb und Rot balanciert auf seiner stattlichen Fülle von Dreadlocks, die ihm weit über die Schulter reichen. Ich bin erleichtert, dass die Siebziger hier durch den Reggae und nicht die Discomusik repräsentiert werden.
»Also, ich bitte dich! Lass sie verdammt noch mal in Ruhe, du Wanker!« Trotz des britischen Ausdrucks spricht die Punk-Goth- Frau - zweifellos Regina - mit echt breitem Mittelwest-Akzent. Unter einem dichten Schopf aus schwarzem, stachelig abstehendem Haar befindet sich ein Gesicht, das als Studie für Einfarbigkeit dienen könnte: schwarzer Eyeliner und schwarzer Lippenstift, die die Perfektion ihres Porzellanteints nur noch unterstreichen.
Regina bedenkt mich mit einem stylischen Chin-Tilt, einem kurzen Aufwärtsrucken des Kinns zur Begrüßung, und einem »Jou!«. Erst dann dreht sie sich zu Shane um. »Du könntest jetzt so tun, als würdest du aufwachen.«
Er lässt den in Flanell steckenden Arm vom Gesicht gleiten und wendet uns den Kopf zu. Zum ersten Mal an diesem Abend hole ich tief Luft. Shanes warmer Blick und sein schiefes Lächeln geben mir das Gefühl, als wäre ich wirklich da und nicht bloß Dreck, den jemand auf dem Teppich hinterlassen hat.
»Hey.« Shane lässt seine abgewetzten Doc Martens vom Sofa rutschen und steht langsam auf. Selbst mit der lässigen Haltung der Grunge-Anhänger ist er größer als die anderen DJs. Während er auf mich zukommt, wirft er den Kopf zurück, um eine Strähne seines nackenlangen, hellbraunen Haars aus der Stirn zu bekommen.
Als sich unsere Hände berühren, schreckt er zusammen, als ob ich ihm einen Schlag versetzt hätte. Er spricht meinen Namen ganz korrekt aus und sagt ihn so leise, dass ich mich frage, ob noch jemand in diesem Raum gerade schläft. Dann wird sein Blick kühler, und er wendet sich halb von mir ab, die Hände in den Taschen.
Oh, er ist schüchtern. Wie liebenswert, zum Knuddeln schön, zum In-die-Tasche-stecken-und-mit-nach-Hause-tragen!
Oder besser doch nicht, als mein Blick auf Regina fällt, deren Augen mich gerade in dünne Streifen schneiden. Shane muss wohl ihr Typ sein. Wahrscheinlich kann sie in Sekundenbruchteilen jedes der sechs Gesicht-Piercings in eine Waffe verwandeln.
Ein enormer Stapel Jetons türmt sich vor ihr auf, gleich neben einer offenen Flasche Tequila. »Wer gewinnt denn?«, frage ich in dem Versuch, sie auf meine Seite zu ziehen.
»Ich habe 292 Dollar«, erwidert Regina. »Jim hat 46, Noah 167 und Spencer 98. Nein, Moment ... 99.«
»Shane war früh raus aus dem Spiel«, erklärt Jim. »Nicht, dass er viel Startkapital gehabt hätte.«
Der Flanellhemd tragende Typ, um den es geht, wendet sich an David. »Sie ist in Ordnung. Kann ich jetzt gehen?«
»Klar. Danke fürs Kommen.«
Jim fischt einen Schlüsselbund aus der Tasche und wirft ihn Shane zu. »Gute Jagd. Und denk da ran, nichts von dem NiedrigOktan- Scheiß dieses Mal!«
Shane geht in Richtung Tür und wirft mir dabei einen anerkennenden Blick zu. Mein Blick folgt ihm, aber ich wende nicht den Kopf. Ich gratuliere mir zu so viel Selbstbeherrschung.
»Und was denkt der Rest von euch?«, fragt David. »Sollen wir sie engagieren?«
Der Rest von ihnen mustert mich, als wäre ich eine Kuh auf einer Landgut-Auktion. Ich bemühe mich, nicht zu muhen.
Die vier Moderatoren tauschen Blicke, dann nicken sie, mehr oder weniger im Einklang miteinander. David reibt sich die Hände und setzt zu einer Erklärung an.
»Moment!«, stoppt ihn Spencer. »Was ist mit Monroe?«
David verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich möchte seine Sendung nicht unterbrechen.«
»Wer ist Monroe?«, frage ich David.
Er zeigt auf eine geschlossene Tür in der Ecke, über der das Schild AUF SENDUNG rot leuchtet. »Er moderiert die Midnight Blues Show.«
»Aber es ist doch erst halb zehn.«
»Die Sendung beginnt um neun und endet um Mitternacht. Dann übernimmt Spencer, schließlich Jim von drei bis sechs. Allerdings passiert das im Wechsel mit der anderen Schicht, also sind's die drei in jeder zweiten Nacht. In den anderen Nächten sind Noah, Regina und Shane dran, nach demselben Zeitplan.«
Die DJs nehmen ihre Karten wieder auf und machen uns damit deutlich, dass wir entlassen sind. David winkt mich zur Treppe, die uns wieder nach oben führt.
Er schließt die Tür hinter uns und deutet mit dem Daumen über seine Schulter. »Haben Sie begriffen, was sie sind?«, flüstert er.
Es klingt wie eine Fangfrage, also schüttele ich den Kopf.
»Eine echte Revolution!« David bekommt große Kulleraugen, so begeistert ist er. »Jeder von ihnen kommt aus einer Zeit, in der ein neuer Sound den Zeitgeist einer ganzen Generation verkörpert und die Welt glatt umgehauen hat!«
Wieder Alarmstufe Gelb. »Was meinen Sie damit, dass die DJs aus einer Zeit kommen ...«
»Musikalisch gesehen.«
»Was soll dann die Verkleidung? Ist das jetzt mir zuliebe gewesen oder sind die gerade alle auf dem Weg zu einer Klischee- Convention?«
David schenkt mir ein verschlagenes Lächeln. Anscheinend ist er der Meinung, sein Name sollte ›dunkel und geheimnisvoll‹ bedeuten.
»Das wird Ihnen alles noch klar werden.« Er stapft die Treppe hi nauf. »Wichtig ist nur, dass Sie Verständnis für die Musik haben, für die diese DJs da drinnen leben, und auch für die Geschichte, die dahintersteckt.«
Ich beeile mich, David einzuholen. Die weiße Farbe blättert vom Geländer, als ich mit der Hand da rüberfahre. »Ich bin nicht gerade das, was man einen Rockologen nennen könnte ...«
»Machen Sie sich keine Sorgen deswegen! Unwissenheit ist die Krankheit unserer Welt, die sich am leichtesten kurieren lässt.« Auf der obersten Stufe angelangt, wendet er sich nach rechts und öffnet die Tür zu einem geradezu winzigen Eckbüro. Licht flackert auf.
Ich stelle mich neben David und sehe, wie er mit dem Finger an Buchrücken entlangfährt, die eng an eng auf einem die ganze Wand einnehmenden Regal stehen. Er zieht einen alten Schinken nach dem anderen he raus und stapelt sie auf einem kleinen runden Tisch. David hört erst auf, als der Stapel größer ist als ich.
»Oh.« Er legt seine Hände auf den Stapel Bücher. »Sie haben noch gar nicht Ja gesagt. Zu dem Job.«
Ich kann es mir nicht leisten, zu hinterfragen, warum sie mich nach einem solch nichts sagenden, oberflächlichen Einstellungsgespräch haben wollen. Es ist geradezu hirnrissig. Das Ganze ist so seltsam, dass ich eine Frage doch noch loswerden muss.
»Was ist eigentlich mit der Zukunft?« Ich zeige auf den gerahmten Flyer des 69er-Konzerts der Grateful Dead im Fillmore West. »Das hier ist ein richtiges Museum. Was ist denn mit der Gegenwart? Und mit dem Morgen?«
David seufzt. »Haben Sie in letzter Zeit Radio gehört? Ganz ehrlich.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Zu viel Werbung.«
»Und?«
»Die Musik ist langweilig.« Ich ziehe meinen MP3-Player aus der Handtasche. »Bei diesem Ding weiß ich wenigstens, dass ich richtig gute Sachen zu hören kriege.«
»Genau. Die Musik aus dem Radio klingt immer gleich, weil große Konzerne die Radiosender übernommen haben und überall denselben weichgespülten Mist über den Äther jagen.« David beugt sich vor, seine Stimme ist leise, klingt gelassen. »Auf WMMP läuft nie weichgespülter Mist, ganz egal welcher Art. Hier legen die DJs auf, was sie und nur sie wollen, nicht was irgendein Firmenmanager oder Promoter einer Plattenfirma ihnen vorschreibt. Wissen Sie, wie selten das ist?«
»Lassen Sie mich raten: extrem selten, richtig?«
David nimmt das oberste Buch vom Stapel, The Rock Snob's Dictionary, und streicht liebevoll über den brüchigen Rücken. »Dieser Ort ist ein Geschenk für Leute, die Musik lieben. Das ist nicht mein Verdienst. Alles hier gehört denen da unten.« Er zeigt auf den Boden. »Aber die Leute draußen wissen nichts von ihnen, jedenfalls noch nicht. Die Eigentümerin ist gerade dabei, ein Vermögen auszugeben, um unsere Reichweite zu vergrößern, damit auch Hörer in D. C., Baltimore und Harrisburg uns empfangen können.«
»Das ist doch gut, oder nicht?«
»Vielleicht nicht.« David klopft mit dem Buchrücken auf den Tisch. »Sie macht es, um den Sender für Käufer attraktiver zu machen. Ein Großkonzern aus der Kommunikationsbranche namens Skywave hat das ganze letzte Jahrzehnt damit zugebracht, Hunderte von Radiosendern zu schlucken.«
»Und WMMP ist der nächste?«
David nickt. »Die Eigentümerin droht damit, an Skywave zu verkaufen, sollten sich die Umsätze nicht bis zum Labor Day vervierfachen. Und dann sitzen wir ab September alle auf der Straße.« David wirft das Buch zurück auf den Stapel. »Frank braucht ein weiteres Paar Beine bei der Laufarbeit fürs letzte Gefecht in Sachen Marketing. Ausgehend von dem, was Sie im College gemacht haben, Ihrer Mappe und Ihrer Energie halte ich Sie für die perfekte Besetzung.«
Bloß kein Druck, wieder mal. Ich werfe einen Blick auf den Bücherstapel. »Die sind für mich?«
»Wenn Sie erfolgreich verkaufen wollen, müssen Sie das Produkt kennen.« Beim Wort ›Produkt‹ verzieht David den Mund. Anscheinend berührt es ihn schmerzlich, von Musik als Ware zu sprechen.
»Sie haben meine Frage, was mit der Gegenwart und der Zukunft ist, noch nicht beantwortet.«
Er wendet den Blick ab, das Gesicht starr. »Wenn Skywave die Zukunft ist, sollten wir wohl alle besser in der Vergangenheit bleiben.«
Unschlüssig und ein wenig verzweifelt schnappe ich mir den Stapel Bücher. »Machen Sie mir bitte die Tür auf?«
»Warten Sie!« Er streckt mir die Hand entgegen. Ich will schon danach greifen, um unseren Handel zu besiegeln, aber er schlägt meine Hand aus. »Nein! Geben Sie mir das Ding da!« Er zeigt auf den MP3-Player, der aus meiner Handtasche ragt.
»Machen Sie Witze?!«
»Hören Sie stattdessen lieber mal zwei Wochen unseren Sender! Mit Ihrem ersten Gehaltsscheck bekommen Sie von mir einen besseren Player, mit mehr Speicher und anderen Songs - als kleine Aufmerksamkeit des Hauses.«
Ich reiche David den Player. »Einer, der Videos abspielen kann, wäre großartig.«
Er lacht und schiebt meinen Player in eine Lücke auf einem der Regalbretter. »Wir sehen uns dann morgen früh um 8.30 Uhr.«
Ich schleppe die Bücher raus auf den Parkplatz. Dabei versuche ich, nicht allzu sehr unter deren Gewicht zu schwanken.
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
»Es wird Kih-ra, nicht Ssi-eera ausgesprochen.« Mechanisch leiere ich die Aussprache-Korrektur he runter. Dabei versuche ich, so höflich wie möglich zu klingen. »Nicht so wie die Gebirgskette also.«
»Entschuldigung. Ich bin mir ziemlich sicher, das passiert Ihnen ständig.« Er dreht das Blatt um, um einen Blick auf die zweite Seite meines Lebenslaufes zu werfen. Gähnende Leere. Er lüpft meine Bewerbungsmappe, wahrscheinlich auf der Suche nach einem weiteren Blatt. »Wo findet sich denn Ihre weitere Berufserfahrung?«
Ich schenke ihm mein entwaffnendstes Lächeln. »In der Zukunft, hoffe ich.«
Er blinzelt. Dann schaut er wieder auf den Lebenslauf und hebt dabei seine Augenbrauen. »Tja, jedenfalls liest sich Ihre Bewerbung flüssig.«
Das liegt zweifellos an der Sechzehn-Punkt-Schriftgröße, die ich gewählt habe, um die eine Seite auch wirklich voll zu bekommen.
David inspiziert die Zeilen erneut: Seine grünen Augen huschen hin und her, verzweifelt auf der Suche nach einem Aufhänger für ein Vorstellungsgespräch. »Ciara. Interessante Schreibweise.«
»Ist irischen Ursprungs. Es bedeutet so viel wie ›dunkel und geheimnisvoll‹.« Ich drücke den Rücken durch und setze mich so in Szene: helles, rotbraunes Haar, geflissentlich harmloser Blick. »Auf mich allerdings trifft weder das eine noch das andere zu.«
Davids Mundwinkel verziehen sich zu einem kurz angedeuteten Lächeln. Dann legt er den Lebenslauf beiseite und schlägt meine Bewerbungsmappe auf. Während er den Inhalt durch geht, drückt er mit dem Daumen unablässig auf das Ende seines Kugelschreibers. Mine rein, Mine raus, ein Stakkato von Klicklauten, das mein Nervenkostüm ziemlich verschleißt. Ich widerstehe dem Drang, meine feuchten Handflächen an meinem einzigen Outfit für Bewerbungsgespräche abzuwischen.
Die Klimaanlage surrt und klackert vor sich hin. In ihrem Luftstrom flattern gleich über meinem Kopf Backstage-Ausweise. Sie hängen wie Weihnachtsdekoration am Geweih eines Hirsches, der stocksauer dreinblickt.
»Ihr erstes Studienprojekt liegt bereits sechs Jahre zurück«, sagt David. »Ich gehe davon aus, dass Sie das Sherwood College seitdem nicht regelmäßig besucht haben. Das ist doch richtig, oder?«
Meine Schultern verspannen sich. »Ich habe mir eine Auszeit genommen.« Upps, eigentlich sollte das hier eine Übung in Ehrlichkeit werden. »Ich meine, ich habe das Studium unterbrechen müssen, um Geld für die Studiengebühren zu verdienen.«
Er nickt mitfühlend. »Studieren ist eine teure Angelegenheit. Ich habe der Army vier Jahre meines Lebens gegeben - im Tausch gegen einen Hochschulabschluss.«
»Die Army, wow! Haben Sie in der Zeit jemanden töten müssen? «
Er sieht mich mit einem Mal scharf an. Und mich lässt meine Idiotie zusammenschrecken. Diese Idiotie ist ganz klar eine Folge meines angeschlagenen Nervenkostüms. Normalerweise ist es Absicht, wenn ich ein Bewerbungsgespräch verpatze. Die Tatsache, dass ich dieses Mal den Job tatsächlich haben möchte, bereitet mir Magenschmerzen.
Davids Gesicht entspannt sich wieder. Er grinst. »Sollte nicht ich hier die Fragen stellen?«
»Entschuldigung. Tut mir echt leid. Fragen Sie, was immer Sie wollen!« Solange Sie nichts über mich wissen wollen.
»Wa rum möchten Sie gern bei WMMP arbeiten?«
Natürlich habe ich gewusst, dass diese Frage kommen würde. Daher habe ich an einer überzeugenden Antwort gefeilt, seitdem David über die Jobbörse meines Colleges auf mich aufmerksam geworden ist.
»Ich stehe einfach auf Rock 'n' Roll.« Scheiße, klingt das abgedroschen! Ich reibe mir die Nase und blicke in eine andere Richtung. »Ich durfte solche Musik als Teenager nicht hören. Aber ich habe es trotzdem getan. Nachts habe ich unter meiner Decke mit dem Walkman Kassetten angehört, die ich geklau... äh, die ... ich mir geliehen ... na ja, die ich eben geklaut habe.« Diese Sag-die-Wahrheit-Kiste ist schwieriger als erwartet. »Na, jedenfalls habe ich mir gedacht, bei einem Lokalsender bin ich vielleicht nicht gezwungen, gleich meine Seele zu verkaufen, anders als bei einem der großen Unternehmen in der Unterhaltungsbranche. Außerdem ist morgen ja schon der erste Juni, und ich bin wirklich verzweifelt. Wenn ich nach diesem Sommer kein Praktikum vorweisen kann, kann ich meinen Abschluss nicht machen. Und wenn ich nicht bald raus aus dieser Stadt komme, dann ...« Ich klappe den Mund zu, etwa drei Sätze zu spät.
David blinzelt, blinzelt noch einmal und noch einmal. Gerade beginne ich mich zu fragen, ob die Klimaanlage seine Kontaktlinsen ausgetrocknet hat. Er seufzt, quasi durch die Nase, und gibt dabei einen Laut von sich, der wohl sagen soll: Wa rum nur verschwende ich meine Zeit mit diesem Mädchen? Verzweifelt und in aller Hast suche ich nach einem neuen Aufhänger für das Gespräch.
Auf dem Schreibtisch zwischen uns steht ein Foto von einem mit Auszeichnungen geschmückten Chihuahua gleich neben einem Kalender mit dreihundertfünfundsechzig Oscar-Wilde-Zitaten. Ich schiele auf das heutige und lese: Mir sind Menschen lieber als Prinzipien, und Menschen ohne Prinzipien sind mir das Liebste auf der Welt.
Ich blicke auf, schaue David an, dann wieder das Foto und den Kalender. »Niedlicher Hund.«
»Oh. Äh, das ist nicht mein Schreibtisch.« Er stößt sich mit dem Drehstuhl ein paar Zentimeter von der Tischkante ab. »Das ist Franks Schreibtisch. Er ist der Leiter für Verkauf und Vertrieb, der Marketing-Chef also.« David schiebt den herzförmigen Rahmen des Chihuahua-Fotos hin und her. »Ich bin nicht ... Sie wissen schon ... nun ...«
Ich nehme an, das Wort, nach dem er sucht, ist ›schwul‹.
»Gehört Ihnen der Sender?«
»Ich bin der Geschäftsführer. Die Eigentümerin ist ...«, Davids Blick wandert über meine Schulter, hin zu einer geschlossenen Bürotür, »... nicht anwesend. Tja, Terminprobleme.«
Einen Moment warte ich da rauf, dass er etwas ausführlicher wird. Aber David zupft nur an den Hemdärmeln unter seinem Sportsakko und wechselt das Thema.
»Ich bin außerdem der Programmleiter. Sicher wissen Sie bereits, dass WMMP tagsüber vorproduzierte Talk-Shows, Infomercials und Shopping-Sendungen bringt. Nachts aber ...« David blickt auf den Lautsprecher an der Wand, als ob dieser eine heilige Reliquie wäre. »Da erwacht WMMP zum Leben. «
Soso. »Möchte Frank denn auch noch ein Vorstellungsgespräch mit mir führen?«
»Die Personalentscheidungen des Senders treffe ich. Frank wäre gern zu uns gestoßen. Aber er verabscheut die ...« Wieder huscht Davids Blick zur Treppe hinter mir. »Er verabscheut es, abends oder nachts zu arbeiten.«
Ich werfe einen prüfenden Blick auf die wuchtige Uhr mit Holzgehäuse, die auf dem gemauerten Kaminsims steht. 21.30 Uhr. »Wa rum haben Sie denn das Vorstellungsgespräch auf eine so späte Zeit gelegt?«
»Ich möchte, dass jeder Bewerber für das Praktikum die Moderatoren unserer Sendungen kennenlernen kann. Und nur um diese Zeit sind sie alle ... hier.«
Aha. Meine erste Amtshandlung als Praktikantin der Marketing- Abteilung würde der Vorschlag sein, Musik dann zu senden, wenn die potenzielle Hörerschaft auch wach ist, um sie zu hören.
David schiebt Lebenslauf und Bewerbungsmappe ineinander und stößt die Kanten auf der Schreibtischplatte zusammen. Die Bewegung hat etwas Endgültiges, ganz so, als wolle er mir gleich dafür danken, dass ich vorbeigekommen bin.
Die aufkeimende Panik sorgt für einen Schnellstart meiner Sprechwerkzeuge. »Ich weiß, mein Lebenslauf ist ein bisschen kurz, aber ich kann das erklären.«
»Nicht nötig.« Er faltet die Hände, die Finger bilden ein Dach, die Daumen klopfen gegeneinander. »Wissen Sie eigentlich, warum ich gerade Sie wegen des Jobs angerufen habe?«
Ich war zu ängstlich gewesen, ihm diese Frage zu stellen. Jetzt zögere ich, einfach draufloszuraten.
David fährt fort: »Ihre Lebensgeschichte weist da rauf hin, dass Sie Verständnis für - wie soll ich es ausdrücken? - nun, für die Sichtweise von gesellschaftlichen Außenseitern haben.«
Meine Eingeweide werden bleischwer. Er hat meinen Hintergrund geprüft.
»Für welche Art von Außenseitern?«, frage ich unschuldig.
»Für Außenseiter, denen es an Rücksichtnahme auf ...«, er spreizt die Daumen ab, »... auf die bürgerlichen Moralvorstellungen mangelt.«
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück. Meine Bewegungen sind langsam - als zöge ich mich vor einer Giftschlange zurück. »Man hat mir nie etwas zur Last legen können.«
»Das weiß ich.« Beschwichtigend streckt David die Hände aus, Handflächen nach unten, so als wolle er mich auf die Sitzfläche pressen. »Was ich meine, ist ...«
»Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.« Ich stehe auf, greife nach meiner Handtasche an der Rückenlehne des Besuchersessels. »Ich habe unsere kleine Unterhaltung wirklich genossen. Aber ich glaube, ein anderes Stellenangebot dürfte besser zu mir passen.« Ich steuere den Ausgang an.
»Warten Sie!« Er fängt mich ab, hat die Hand auf der Tür, ehe ich sie öffnen kann. »Was ich sagen wollte, ist, dass mir Ihre Vergangenheit egal ist. Niemand hier interessiert sich dafür.«
Mein Verstand wägt ab, wie viel David wissen kann. Eine Recherche auf legaler Basis erbrächte nichts allzu Belastendes. Meine Strafakte mit Jugendvergehen ist gelöscht worden, als ich achtzehn wurde. In den sechs Jahren, die seitdem vergangen sind, bin ich nie erwischt worden. So in etwa jedenfalls.
»Wir können Ihnen leider nicht sonderlich viel zahlen.« David macht eine Handbewegung in Richtung meines Lebenslaufs. »Aber ausgehend von Ihrer Adresse dürften Sie auch nicht viel brauchen.«
Hat er da gerade meine Nachbarschaft beleidigt? Begreift er nicht, dass ich über dem besten Pfandhaus der ganzen Stadt wohne?
»Sie würden dann dort drüben sitzen.« David zeigt auf einen kleinen Schreibtisch in Kaminnähe, genau gegenüber von Franks. Hinter dem Schreibtisch steht ein Kopierer, der so alt ist, dass ich glatt davon ausgehe, er funktioniere per Handkurbel.
»Kommen Sie!« Plötzlich ist David so schnell an mir vorbeigegangen, dass ich vor Schreck zusammenfahre.
Er steigt die knarrende Holztreppe hinunter, die zwischen zwei geschlossenen Bürotüren ins Untergeschoss des Senders führt. Ich folge ihm, wobei ich versuche, mir nicht allzu viele Hoffnungen zu machen. Vielleicht war sein ganzes Gerede da rüber, mich einzustellen, nur hypothetisch gemeint, also in etwa wie: Klar, würden Sie an diesem Schreibtisch arbeiten, wenn all die anderen Bewerber für den Job von einer Riesenkakerlake gefressen werden. Ich zwinge mich, nicht an die Dinge zu denken, die ich würde tun müssen, wenn ich für diesen Sommer keinen Job kriege. Dinge, die man nicht in einen Lebenslauf packen sollte.
Am Fuß der Treppe legt David die Hand auf den Knauf einer geschlossenen Tür. Er holt rasch, aber tief Luft, als wolle er etwas Bedeutsames von sich geben. Aber die Worte kommen ihm nicht über die Lippen. Stattdessen schüttelt er den Kopf.
»Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn Sie ihnen ganz unvoreingenommen begegnen. Wenn die DJs einverstanden sind, haben Sie den Job.«
Ich nicke. Klar, also alles schön zwanglos und ohne Druck.
David öffnet die Tür und lässt mich in eine schmal geschnittene, nur schlecht beleuchtete Lounge vorgehen. Eine dicke Wolke aus kaltem Zigarettenrauch wabert vor der Halogen- Lampe in der gegenüberliegenden linken Ecke. Das Licht der Lampe nimmt dem Raum ein wenig von seiner schattenhaftfahlen Dunkelheit.
Meine brennenden Augen brauchen einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ich strenge mich an und werfe einen ersten Blick auf eine Gruppe von ...
Freaks.
Auf eine Gruppe besonders erlesener Freaks allerdings. Es sind alles herzzerreißend schöne Menschen. Dass Radio nur etwas für die Ohren ist, wird so geradezu zu einer Tragödie. Und jeder dieser Freaks sieht aus, als sei er aus einer anderen Zeitmaschine gekrochen.
David schiebt mich von der Türschwelle, auf der meine Füße ihren Dienst versagten, in den Raum hin ein. »Ciara Griffin, darf ich Ihnen den Stolz von WMMP vorstellen!«
Drei Männer und eine Frau spielen Poker an einem Tisch, der von Plastik-Jetons und leeren Flaschen übersät ist. Die vier mustern mich; ihr Misstrauen lässt sich mit Händen greifen. Vielleicht liegt das an meinem Bewerbungsoutfit: In Marineblau sehe ich aus wie eine FBI-Agentin.
»Spencer, Jim, Noah, Regina.« David geht die Tischrunde von links nach rechts durch. »Sie können sie duzen, die DJs legen keinen Wert auf Förmlichkeiten. Ach, und das da hinten ist Shane.«
Auf dem schmalen Zweiersofa gleich unter der Lampe liegt ein Typ in ausgeblichenen, zerschlissenen Jeans. Er scheint zu schlafen. Der rechte Arm liegt über seinem Gesicht. Ein Bein ist angewinkelt, der zugehörige Fuß liegt auf einem Kissen; das andere Bein hängt vom Sofa he runter.
David greift meinen Ellbogen, um mich noch ein paar Schritte in den Raum hin einzuführen. »Ich hoffe, Ciara wird unsere neue Praktikantin im Marketing.«
Die offenkundige Feindseligkeit verschwindet aus den Gesichtern der vier wachen Djs und wird durch eine distanzierte Höflichkeit ersetzt. Versuchsweise setze ich ein Lächeln auf, ermutigt von der geringfügigen Bereitschaft, mir gegenüber aufzutauen.
»Spencer macht unsere Fünfziger-Jahre-Sendung«, erklärt David. »Die Zeit, in der der Rock 'n' Roll geboren wurde.«
Ein Kerl in weißem Oberhemd und schwarzen Hosen steht auf, um mich zu begrüßen. Dabei faltet er schier endlos lange Beine, bisher unter dem Tisch versteckt, auseinander. Sein tiefrotes Haar ist zu einer Elvistolle zurechtgegelt. Er drückt die Hand, die ich ihm entgegenstrecke.
»Na, Baby, wie geht's, wie steht's?« Spencers gedehnte Südstaaten- Sprechweise und seine tadellose Kleidung verleihen ihm den Anstrich eines Gentlemans, was allerdings nicht recht zur ungezähmten Wildheit seines Blicks passen will.
»Passt schon, Daddy-O.« Es rutscht mir einfach so he raus. Anstatt mir die Antwort krummzunehmen, lächelt Spencer und nickt zufrieden.
Der Nächste am Tisch springt auf, und ich habe mich gerade genug unter Kontrolle, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
»Das ist unser Jim«, meint David.
»Hi! Du, deine Mappe war 'ne Schau, Mann.« Jim umarmt mich. Seine langen braunen Locken und das Batikhemd riechen nach Marihuana und Patschuli. »Ich kann's beurteilen. Ich war auch auf der Kunstakademie.«
»Danke, aber ich bin keine Künstlerin.« Schnüffelt er da an mir?
Jim tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich aus einer Armlänge Entfernung. »Aber wie hast du dann die Entwürfe so dufte hingekriegt?«
»Die Entwürfe für meine Kursprojekte am College? Na, die habe ich natürlich am Computer gemacht.«
Er kneift die Augen zusammen, so verwirrt ist er. »Am was ...?«
David räuspert sich laut genug, um mein Bullshit-Frühwarnsystem auf Alarmstufe Gelb gehen zu lassen. Was zum Teufel geht hier ab?!
Plötzlich huscht Erleuchtung über Jims Gesicht. Er schnippt mit den Fingern. »Ach, genau! Na, zu meiner Zeit haben wir das alles noch mit der Hand machen müssen.«
Mit gerunzelter Stirn schaue ich ihn prüfend an. Er sieht nicht mehr als ein paar Jahre älter aus als ich. Sie sehen alle nicht viel älter aus als ich.
»Zu deiner Zeit?«
Der dritte Typ lässt die Stuhlbeine über den Boden kratzen, als er aufsteht. Ich wende mich ihm zu, erleichtert, Jim zu entkommen, dessen raumgreifende Art offenkundig keine Grenzen kennt.
»Ich bin Noah.« Die Stimme des Mannes rollt über mich hinweg und hüllt mich ein wie eine warme jamaikanische Brise. »Is' mir 'n Vergnügen, dich kennenzulernen, hübsche Lady.« Er streckt die Hand über den Tisch aus, greift sich meine und zieht sie an seine vollen Lippen. Er trägt eine dunkel eingefasste Brille, die ziemlich weit unten auf dem Nasenrücken sitzt und seinen Blick weicher macht. Unter diesem Blick wird mir ganz unprofessionell träumerisch zumute. Eine Strickmütze in den Farben Grün, Gelb und Rot balanciert auf seiner stattlichen Fülle von Dreadlocks, die ihm weit über die Schulter reichen. Ich bin erleichtert, dass die Siebziger hier durch den Reggae und nicht die Discomusik repräsentiert werden.
»Also, ich bitte dich! Lass sie verdammt noch mal in Ruhe, du Wanker!« Trotz des britischen Ausdrucks spricht die Punk-Goth- Frau - zweifellos Regina - mit echt breitem Mittelwest-Akzent. Unter einem dichten Schopf aus schwarzem, stachelig abstehendem Haar befindet sich ein Gesicht, das als Studie für Einfarbigkeit dienen könnte: schwarzer Eyeliner und schwarzer Lippenstift, die die Perfektion ihres Porzellanteints nur noch unterstreichen.
Regina bedenkt mich mit einem stylischen Chin-Tilt, einem kurzen Aufwärtsrucken des Kinns zur Begrüßung, und einem »Jou!«. Erst dann dreht sie sich zu Shane um. »Du könntest jetzt so tun, als würdest du aufwachen.«
Er lässt den in Flanell steckenden Arm vom Gesicht gleiten und wendet uns den Kopf zu. Zum ersten Mal an diesem Abend hole ich tief Luft. Shanes warmer Blick und sein schiefes Lächeln geben mir das Gefühl, als wäre ich wirklich da und nicht bloß Dreck, den jemand auf dem Teppich hinterlassen hat.
»Hey.« Shane lässt seine abgewetzten Doc Martens vom Sofa rutschen und steht langsam auf. Selbst mit der lässigen Haltung der Grunge-Anhänger ist er größer als die anderen DJs. Während er auf mich zukommt, wirft er den Kopf zurück, um eine Strähne seines nackenlangen, hellbraunen Haars aus der Stirn zu bekommen.
Als sich unsere Hände berühren, schreckt er zusammen, als ob ich ihm einen Schlag versetzt hätte. Er spricht meinen Namen ganz korrekt aus und sagt ihn so leise, dass ich mich frage, ob noch jemand in diesem Raum gerade schläft. Dann wird sein Blick kühler, und er wendet sich halb von mir ab, die Hände in den Taschen.
Oh, er ist schüchtern. Wie liebenswert, zum Knuddeln schön, zum In-die-Tasche-stecken-und-mit-nach-Hause-tragen!
Oder besser doch nicht, als mein Blick auf Regina fällt, deren Augen mich gerade in dünne Streifen schneiden. Shane muss wohl ihr Typ sein. Wahrscheinlich kann sie in Sekundenbruchteilen jedes der sechs Gesicht-Piercings in eine Waffe verwandeln.
Ein enormer Stapel Jetons türmt sich vor ihr auf, gleich neben einer offenen Flasche Tequila. »Wer gewinnt denn?«, frage ich in dem Versuch, sie auf meine Seite zu ziehen.
»Ich habe 292 Dollar«, erwidert Regina. »Jim hat 46, Noah 167 und Spencer 98. Nein, Moment ... 99.«
»Shane war früh raus aus dem Spiel«, erklärt Jim. »Nicht, dass er viel Startkapital gehabt hätte.«
Der Flanellhemd tragende Typ, um den es geht, wendet sich an David. »Sie ist in Ordnung. Kann ich jetzt gehen?«
»Klar. Danke fürs Kommen.«
Jim fischt einen Schlüsselbund aus der Tasche und wirft ihn Shane zu. »Gute Jagd. Und denk da ran, nichts von dem NiedrigOktan- Scheiß dieses Mal!«
Shane geht in Richtung Tür und wirft mir dabei einen anerkennenden Blick zu. Mein Blick folgt ihm, aber ich wende nicht den Kopf. Ich gratuliere mir zu so viel Selbstbeherrschung.
»Und was denkt der Rest von euch?«, fragt David. »Sollen wir sie engagieren?«
Der Rest von ihnen mustert mich, als wäre ich eine Kuh auf einer Landgut-Auktion. Ich bemühe mich, nicht zu muhen.
Die vier Moderatoren tauschen Blicke, dann nicken sie, mehr oder weniger im Einklang miteinander. David reibt sich die Hände und setzt zu einer Erklärung an.
»Moment!«, stoppt ihn Spencer. »Was ist mit Monroe?«
David verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich möchte seine Sendung nicht unterbrechen.«
»Wer ist Monroe?«, frage ich David.
Er zeigt auf eine geschlossene Tür in der Ecke, über der das Schild AUF SENDUNG rot leuchtet. »Er moderiert die Midnight Blues Show.«
»Aber es ist doch erst halb zehn.«
»Die Sendung beginnt um neun und endet um Mitternacht. Dann übernimmt Spencer, schließlich Jim von drei bis sechs. Allerdings passiert das im Wechsel mit der anderen Schicht, also sind's die drei in jeder zweiten Nacht. In den anderen Nächten sind Noah, Regina und Shane dran, nach demselben Zeitplan.«
Die DJs nehmen ihre Karten wieder auf und machen uns damit deutlich, dass wir entlassen sind. David winkt mich zur Treppe, die uns wieder nach oben führt.
Er schließt die Tür hinter uns und deutet mit dem Daumen über seine Schulter. »Haben Sie begriffen, was sie sind?«, flüstert er.
Es klingt wie eine Fangfrage, also schüttele ich den Kopf.
»Eine echte Revolution!« David bekommt große Kulleraugen, so begeistert ist er. »Jeder von ihnen kommt aus einer Zeit, in der ein neuer Sound den Zeitgeist einer ganzen Generation verkörpert und die Welt glatt umgehauen hat!«
Wieder Alarmstufe Gelb. »Was meinen Sie damit, dass die DJs aus einer Zeit kommen ...«
»Musikalisch gesehen.«
»Was soll dann die Verkleidung? Ist das jetzt mir zuliebe gewesen oder sind die gerade alle auf dem Weg zu einer Klischee- Convention?«
David schenkt mir ein verschlagenes Lächeln. Anscheinend ist er der Meinung, sein Name sollte ›dunkel und geheimnisvoll‹ bedeuten.
»Das wird Ihnen alles noch klar werden.« Er stapft die Treppe hi nauf. »Wichtig ist nur, dass Sie Verständnis für die Musik haben, für die diese DJs da drinnen leben, und auch für die Geschichte, die dahintersteckt.«
Ich beeile mich, David einzuholen. Die weiße Farbe blättert vom Geländer, als ich mit der Hand da rüberfahre. »Ich bin nicht gerade das, was man einen Rockologen nennen könnte ...«
»Machen Sie sich keine Sorgen deswegen! Unwissenheit ist die Krankheit unserer Welt, die sich am leichtesten kurieren lässt.« Auf der obersten Stufe angelangt, wendet er sich nach rechts und öffnet die Tür zu einem geradezu winzigen Eckbüro. Licht flackert auf.
Ich stelle mich neben David und sehe, wie er mit dem Finger an Buchrücken entlangfährt, die eng an eng auf einem die ganze Wand einnehmenden Regal stehen. Er zieht einen alten Schinken nach dem anderen he raus und stapelt sie auf einem kleinen runden Tisch. David hört erst auf, als der Stapel größer ist als ich.
»Oh.« Er legt seine Hände auf den Stapel Bücher. »Sie haben noch gar nicht Ja gesagt. Zu dem Job.«
Ich kann es mir nicht leisten, zu hinterfragen, warum sie mich nach einem solch nichts sagenden, oberflächlichen Einstellungsgespräch haben wollen. Es ist geradezu hirnrissig. Das Ganze ist so seltsam, dass ich eine Frage doch noch loswerden muss.
»Was ist eigentlich mit der Zukunft?« Ich zeige auf den gerahmten Flyer des 69er-Konzerts der Grateful Dead im Fillmore West. »Das hier ist ein richtiges Museum. Was ist denn mit der Gegenwart? Und mit dem Morgen?«
David seufzt. »Haben Sie in letzter Zeit Radio gehört? Ganz ehrlich.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Zu viel Werbung.«
»Und?«
»Die Musik ist langweilig.« Ich ziehe meinen MP3-Player aus der Handtasche. »Bei diesem Ding weiß ich wenigstens, dass ich richtig gute Sachen zu hören kriege.«
»Genau. Die Musik aus dem Radio klingt immer gleich, weil große Konzerne die Radiosender übernommen haben und überall denselben weichgespülten Mist über den Äther jagen.« David beugt sich vor, seine Stimme ist leise, klingt gelassen. »Auf WMMP läuft nie weichgespülter Mist, ganz egal welcher Art. Hier legen die DJs auf, was sie und nur sie wollen, nicht was irgendein Firmenmanager oder Promoter einer Plattenfirma ihnen vorschreibt. Wissen Sie, wie selten das ist?«
»Lassen Sie mich raten: extrem selten, richtig?«
David nimmt das oberste Buch vom Stapel, The Rock Snob's Dictionary, und streicht liebevoll über den brüchigen Rücken. »Dieser Ort ist ein Geschenk für Leute, die Musik lieben. Das ist nicht mein Verdienst. Alles hier gehört denen da unten.« Er zeigt auf den Boden. »Aber die Leute draußen wissen nichts von ihnen, jedenfalls noch nicht. Die Eigentümerin ist gerade dabei, ein Vermögen auszugeben, um unsere Reichweite zu vergrößern, damit auch Hörer in D. C., Baltimore und Harrisburg uns empfangen können.«
»Das ist doch gut, oder nicht?«
»Vielleicht nicht.« David klopft mit dem Buchrücken auf den Tisch. »Sie macht es, um den Sender für Käufer attraktiver zu machen. Ein Großkonzern aus der Kommunikationsbranche namens Skywave hat das ganze letzte Jahrzehnt damit zugebracht, Hunderte von Radiosendern zu schlucken.«
»Und WMMP ist der nächste?«
David nickt. »Die Eigentümerin droht damit, an Skywave zu verkaufen, sollten sich die Umsätze nicht bis zum Labor Day vervierfachen. Und dann sitzen wir ab September alle auf der Straße.« David wirft das Buch zurück auf den Stapel. »Frank braucht ein weiteres Paar Beine bei der Laufarbeit fürs letzte Gefecht in Sachen Marketing. Ausgehend von dem, was Sie im College gemacht haben, Ihrer Mappe und Ihrer Energie halte ich Sie für die perfekte Besetzung.«
Bloß kein Druck, wieder mal. Ich werfe einen Blick auf den Bücherstapel. »Die sind für mich?«
»Wenn Sie erfolgreich verkaufen wollen, müssen Sie das Produkt kennen.« Beim Wort ›Produkt‹ verzieht David den Mund. Anscheinend berührt es ihn schmerzlich, von Musik als Ware zu sprechen.
»Sie haben meine Frage, was mit der Gegenwart und der Zukunft ist, noch nicht beantwortet.«
Er wendet den Blick ab, das Gesicht starr. »Wenn Skywave die Zukunft ist, sollten wir wohl alle besser in der Vergangenheit bleiben.«
Unschlüssig und ein wenig verzweifelt schnappe ich mir den Stapel Bücher. »Machen Sie mir bitte die Tür auf?«
»Warten Sie!« Er streckt mir die Hand entgegen. Ich will schon danach greifen, um unseren Handel zu besiegeln, aber er schlägt meine Hand aus. »Nein! Geben Sie mir das Ding da!« Er zeigt auf den MP3-Player, der aus meiner Handtasche ragt.
»Machen Sie Witze?!«
»Hören Sie stattdessen lieber mal zwei Wochen unseren Sender! Mit Ihrem ersten Gehaltsscheck bekommen Sie von mir einen besseren Player, mit mehr Speicher und anderen Songs - als kleine Aufmerksamkeit des Hauses.«
Ich reiche David den Player. »Einer, der Videos abspielen kann, wäre großartig.«
Er lacht und schiebt meinen Player in eine Lücke auf einem der Regalbretter. »Wir sehen uns dann morgen früh um 8.30 Uhr.«
Ich schleppe die Bücher raus auf den Parkplatz. Dabei versuche ich, nicht allzu sehr unter deren Gewicht zu schwanken.
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Autoren-Porträt von Jeri Smith-Ready
Jeri Smith-Ready ist Autorin von Urban Fantasy und Romantic Fantasy. Wenn sie gerade nicht schreibt, findet man sie bei Twitter - oder beim Nachdenken übers Schreiben. VAMPIRE SOULS - NACHTRAUSCH ist der erste Teil ihrer Urban-Fantasy- Serie über den Vampir-Radiosender WVMP. Smith-Ready lebt mit ihrem Ehemann, mit zwei Katzen und ihrem Windhund in Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeri Smith-Ready
- 2012, 475 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Ritgen, Beke
- Übersetzer: Beke Ritgen
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340420641X
- ISBN-13: 9783404206414
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