Verführung
Die Frauen von Belfield Hall. Deutsche Erstausgabe
Belfield Hall, 1920:
In einem Erbschafsstreit um den Landsitz macht ihre Herrin der Küchenmagd Sophie ein Angebot: Sie soll sich dem Erben als Geschenk präsentieren. Doch Sophie kennt den neuen Herrn nur allzu gut: Er verschaffte ihr einst die...
In einem Erbschafsstreit um den Landsitz macht ihre Herrin der Küchenmagd Sophie ein Angebot: Sie soll sich dem Erben als Geschenk präsentieren. Doch Sophie kennt den neuen Herrn nur allzu gut: Er verschaffte ihr einst die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Verführung “
Belfield Hall, 1920:
In einem Erbschafsstreit um den Landsitz macht ihre Herrin der Küchenmagd Sophie ein Angebot: Sie soll sich dem Erben als Geschenk präsentieren. Doch Sophie kennt den neuen Herrn nur allzu gut: Er verschaffte ihr einst die Stelle in Belfield Hall und sie liebt ihn von ganzem Herzen.
In einem Erbschafsstreit um den Landsitz macht ihre Herrin der Küchenmagd Sophie ein Angebot: Sie soll sich dem Erben als Geschenk präsentieren. Doch Sophie kennt den neuen Herrn nur allzu gut: Er verschaffte ihr einst die Stelle in Belfield Hall und sie liebt ihn von ganzem Herzen.
Klappentext zu „Verführung “
Ihr Platz ist unten in der Küche ...Belfield Hall, 1920: Voller Sehnsucht verfasst die junge Sophie Briefe an einen Herrn, der ihr einst in größter Not zur Seite sprang. Ihm verdankt sie ihre Stelle als Küchenmagd in Belfield Hall. Insgeheim aber träumt sie davon, ihre Anstellung aufzugeben und in London Tänzerin zu werden.
... doch oben warten Liebe, Luxus und Verrat
Als ein Erbschaftsstreit um den Landsitz entbrennt, macht ihre Herrin Sophie ein Angebot: Sie soll sich in ihrer Unschuld dem Erben als Geschenk präsentieren - als Lohn winkt die Erfüllung ihres Traums. Doch Sophie kennt den neuen Herrn nur allzu gut. Soll sie sich ihm hingeben? Oder soll sie sich aus Stolz dem Mann verweigern, den sie von ganzem Herzen liebt?
Ein fesselnder und sinnlicher Roman über Liebe und Verlangen in der "Downton Abbey"-Ära
Lese-Probe zu „Verführung “
Verführung von Elizabeth AnthonAus dem Englischen von Anja Schünemann
Prolog
«Ach, Belfield Hall!», rufen die Leute auf den schicken Londoner Partys und in den Restaurants, wo ich dieser Tage verkehre, gern aus. «Das ist wirklich ein prachtvolles Anwesen. Es ist schon seit Jahrhunderten der Sitz der Herzöge von Belfield - wahrhaftig eins der herrschaftlichsten Häuser in ganz England ...»
Nach einer Weile beginnen meine Gedanken schließlich abzuschweifen, und ich höre nicht mehr auf das Geplauder. Dann bin ich dort. Ich sehe, wie die grünenden Birken an einem Frühlingsmorgen in einem friedlichen Tal in Oxfordshire ihre Blätter entfalten. Ich sehe den Fluss, der sich zwischen Schafweiden hindurchschlängelt, die vertraute zufahrt, die durch den Wald zum Herrenhaus führt. Die glatten Steine seiner Mauern leuchten in der Sonne, und die Fenster glänzen.
Als Kind war Belfield Hall für mich ein geheimnisvoller Ort. Meine Familie war alles andere als wohlhabend, und so stellte ich mir vor, dass die Menschen, die im Herrenhaus lebten, in jeder Hinsicht anders sein müssten: stärker, klüger, schöner als wir gewöhnlichen Leute. Das war das Bild, das ich mir machte. Doch später, als ich dort als Küchenmagd zu arbeiten begann, zerbrachen meine Illusionen. Damals war ich dreizehn Jahre alt.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, jeden Morgen vor Tagesanbruch aufzustehen, um bis nach zehn Uhr abends Fußböden zu schrubben, Feuer zu machen und Töpfe zu scheuern, während jene, die in den oberen Stockwerken ein herrschaftliches Leben führten, von meiner kümmerlichen Existenz keinerlei Notiz nahmen. Ich lernte so viel, so rasch. Aber nichts in der Welt hätte mich auf das vorbereiten können, was mir dann widerfuhr.
... mehr
Denn ich lernte, dass sämtliche vertrauten Gesetze des Daseins völlig außer Kraft gesetzt werden, wenn einen die Liebe - körperliche Liebe, körperliches Begehren - überkommt. Man tut Dinge, lässt Dinge geschehen; es gibt eine zeit - vielleicht ein Jahr oder einen Monat, manchmal nur eine Nacht -, die unvergesslich wird. Die sich für immer ins Gedächtnis einbrennt.
Als ich ihm begegnete, war es ein Erwachen. Danach war für mich nichts mehr so wie früher. Der Mann, den ich liebte und für unerreichbar hielt, war von tiefen Narben an Körper und Seele gezeichnet. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass meine Liebe ihn heilte. Tatsächlich glaubte ich, meine Liebe könnte ihn heilen, und deshalb gab ich mich ihm völlig hin. «Du gehörst mir», sagte er, wenn er im Dunkeln neben mir lag, wenn ich seinen göttlichen, erregten Körper an meiner feinen Unterwäsche fühlte, an meiner Haut. Manchmal, wenn er in heiterer Stimmung war, tanzten wir gemeinsam, denn er liebte Musik ebenso wie ich. «Ich habe es dir gesagt: Du gehörst mir», flüsterte er, während er mich zärtlich in den Armen hielt. «Verlass mich nicht.» Und ich erwiderte: «Nie. Niemals, mein Liebster.» Auch wenn seine Augen von Geheimnissen überschattet wirkten und oft so undurchdringlich waren, dass ich mich schaudernd abwenden musste, hätte ich dennoch alles für ihn getan. Alles.
All I want is you - ich will nur dich, wie es in dem Lied heißt. Wenn er nicht bei mir war, rief ich in einsamen Nächten sehnsüchtig seinen Namen: Ich hörte seine Stimme, sah sein Gesicht. Ach, ich hatte so lange auf ihn gewartet. So furchtbar lange.
Kapitel eins
Ich heiße Sophia, aber die meisten Leute nennen mich Sophie. Mein Vater Philip nannte mich seinen kleinen Spatz, weil ich, wie er sagte, ständig plapperte und sang. Er arbeitete in der Dorfschmiede, und manchmal, wenn in Belfield Hall eine Feier bevorstand, brachten die Stallknechte die edlen Pferde zum Beschlagen zu ihm. Dann liefen Will und ich hin, um sie anzusehen. Wir bewunderten ihre Schönheit.
Meine Mutter arbeitete vier Tage die Woche als Wäscherin im Herrenhaus, und ich weiß noch, wie ich mich darüber aufregte, dass ihre schönen Hände von der Arbeit wund waren. Doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf und entgegnete, andere Bedienstete müssten sieben Tage dieWoche arbeiten, von sechs Uhr früh bis halb elf abends.
«Stell dir das nur vor, Sophie», sagte sie, während ich auf ihrem Schoß saß und sie mein langes blondes Haar bürstete. «Stell dir das nur vor.»
Ich wurde 1903 geboren. Mit fünf Jahren fing ich an, die Dorfschule zu besuchen. Auf dem Schulweg sah ich jeden Tag die Tore zum Anwesen Belfield Hall. Das Herrenhaus selbst war natürlich nicht auszumachen, denn es lag hinter Bäumen verborgen. Aber im Sommer lief ich manchmal auf den Hügel Win Hill ganz in der Nähe. Von dort oben konnte ich die Fenster und Türmchen sehen, die in der Sonne glänzten, und in meiner Phantasie verwandelte sich Belfield Hall in ein Märchenschloss.
Will Baxter und mich verband eine enge Freundschaft. zwei Jahre älter als ich, war er für mich stets wie ein Bruder, denn ich hatte keine Geschwister, und die Baxters waren unsere Nachbarn. Wenn wir auf dem Schulweg um die Wette liefen, hüpfte er manchmal auf einem Bein, damit ich gewann. Will war nett und brachte mich zum Lachen. Dafür half ich ihm im Unterricht mit den Buchstaben, weil ich schneller lernte als er. Manchmal war ihm das unangenehm.
Mein Vater legte keinen Wert aufs Lernen. Er fand, Leute wie wir bräuchten das nicht. Aber meine Mutter besaß ein paar Bücher, die sie hütete wie einen Schatz, und als ich klein war, las sie mir manchmal aus den Legenden von König Artus vor. Dann lauschte ich ihrer ruhigen, klaren Stimme, betrachtete die Bilder und dachte, so müssten die Menschen im Herrenhaus sein: die Damen so schön wie die Prinzessinnen, die Herren tapfer wie König Artus' edle Ritter.
Eines heißen Junitages, damals war ich acht, gab der Herzog von Belfield im Park des Herrenhauses ein Fest zu Ehren des neuen Königs, der in London gekrönt worden war. Alle Bediensteten waren mitsamt ihren Familien eingeladen. Auf dem Rasen vor dem Haus hatte man Bocktische aufgebaut, die sich unter dem Gewicht der Speisen bogen, und für die Männer gab es Bier. Eine Musikkapelle spielte zum Tanz auf. Dann hielt der Herzog, ein Mann mit buschigem Schnauzbart, eine Rede. Allerdings bekam ich davon kein Wort mit, weil ich derweil die Schmetterlinge beobachtete, die im Kräutergarten tanzten. Auch ich tanzte und bildete mir ein, niemand könne mich dort, zwischen den Lavendelsträuchern, sehen. Aber ein Gärtnerbursche verjagte mich, und ich flüchtete in ein Wäldchen, wo ich mich verlief.
Ich erinnere mich daran, dass ich mich ein wenig fürchtete. In der Hitze schien der Geruch der Kräuter, die ich mit meinem Rock gestreift hatte, plötzlich zu intensiv. Auf einmal hörte ich ganz in der Nähe eine Männerstimme leise rufen. «Wo steckst du? Wo steckst du, du durchtriebenes Ding?»
Ich verbarg mich hinter einem Baum, weil ich dachte, er riefe nach mir. Dann sah ich, dass es sich bei dem Mann um Lord Charlwood handelte, den Sohn des Herzogs. Er galt allgemein als gut aussehend, aber mir gefiel er nicht mit seinem schwarzen Oberlippenbärtchen und dem glänzenden schwarzen Haar. Er lachte und sagte: «Ah, da bist du ja, Florence. Du kleine Kokette, läufst mir davon, wo ich mich gerade so nett mit dir unterhalten wollte.»
In diesem Moment wurde mir klar, dass er meine Mutter meinte.
Sie trug ihre beste weiße Bluse, und ihr langes Haar, ebenso blond wie das meine, hatte sich ein wenig aus der Frisur gelöst. Für mich war sie die schönste Frau der Welt. Aber ich verstand nicht, was hier vor sich ging. zwar schien es, als liefe sie vor Lord Charlwood davon, doch zugleich legte sie es offensichtlich darauf an, dass er sie einholte. Im nächsten Moment strauchelte sie ein wenig, und Lord Charlwood fing sie auf und schloss sie in die Arme.
Zuerst küsste er sie auf den Mund, dann glitt seine Hand zwischen die Knöpfe ihrer Bluse. Als sie ihn lachend von sich schob, bückte er sich, hob ihren Rock an und strich mit seiner Hand an ihrem Bein aufwärts.
Ich bekam es mit der Angst, denn obwohl ich noch ein Kind war, begriff ich doch, dass ich das hier nicht mit ansehen sollte. Er drückte sie rücklings gegen einen Baum und küsste sie noch einmal.
Ich kniff die Augen zu, aber noch immer hörte ich die seltsam kehligen Laute, die meine Mutter ausstieß. Und obwohl sie die Arme um ihn gelegt hatte, fürchtete ich, er könnte ihr weh tun. Seine Lordschaft atmete schwer und nannte sie seine süße Florrie, seine reizende Florrie.
Ich dachte: Ihre schöne Bluse wird von der Baumrinde Flecken bekommen. Ich lief davon, rannte blindlings durch den Wald, bis ich auf Will Baxter traf. «Will, er tut ihr weh!», schluchzte ich. «Meine Mutter ... Lord Charlwood tut ihr weh.»
Wills Gesichtsausdruck veränderte sich - ich glaube, er wusste bereits über meine Mutter und Lord Charlwood Bescheid. Verschämt legte er mir eine Hand auf den Arm. «Das ist schon in ordnung, Sophie. Es ist eine Art Spiel, ein geheimes Spiel. Die Erwachsenen würden nicht wollen, dass wir davon wissen, verstehst du?»
Damals verstand ich überhaupt nichts. Aber Wills Mutter brachte fast jedes Jahr ein Kind zur Welt, also musste er über solche Dinge besser Bescheid wissen als ich. Wills Vater war Landarbeiter und hasste die Reichen - die feinen Pinkel, wie er sie nannte. Manchmal, wenn ich Will auf dem Schulweg abholte, sah ich, wie schmutzig ihre enge Hütte war, in der sich die Kinderschar tummelte. Es war mir peinlich, doch der verdreckte Boden und die zerbrochenen Fensterscheiben, die nie ausgetauscht wurden, stachen mir jedes Mal ins Auge.
Wills Vater sagte immer, bald werde sich alles ändern. Ich fragte mich, wie das zugehen sollte. Vielleicht würde es ein großes Unwetter geben, wie in der Bibel, und der Sturm würde all die reichen Leute davonwehen? Mir war jedoch klar, dass das nicht wirklich geschehen konnte, denn den Reichen gehörte die Welt. Und zudem predigte der Pfarrer uns jeden Sonntag in der Kirche, wir müssten unsere Herrschaften ehren und ihnen gehorchen, um am Ende im Himmel unseren Lohn zu empfangen.
In der Kirche gab es zahlreiche Trauergottesdienste, viele davon für kleine Kinder. Der Pfarrer sagte, sie kämen in den Himmel. Doch insgeheim dachte ich, dass sie sicher viel lieber auf den Auen in der Sonne gespielt hätten, wie ich und Will.
Wenn die Erntezeit kam, fuhr mein Vater mit mir auf dem alten Karren des Schmieds hinaus auf die Felder, und ich trug den Leinenbeutel mit unserem Mittagessen, Brot und Käse. Ich bekam eine Gerte, um die Fliegen von den Köpfen der Pferde zu verscheuchen, die geduldig dastanden, während die Männer und Jungen mit nackten Oberkörpern in der Hitze die Garben aufluden.
Manchmal kam Will, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten. Wahrscheinlich tat er das, damit ich mich nicht einsam fühlte, aber in jener Zeit war ich nie einsam. Einmal, als ich von einer Wespe gestochen wurde, rannte Will nach Hause und holte ein Fläschchen Essig. Er tränkte mein sauberes Taschentuch damit und drückte es auf die Stelle. «Tapferes Mädchen», sagte er. «Tapferes Mädchen, musst nicht weinen.»
Als der Krieg anfing, nahm ich es kaum wahr. Ich war elf, und alle sagten, der Krieg werde bald vorüber sein. Außerdem hatte ich anderes im Kopf, denn meine Mutter sah in letzter Zeit elend aus, und ich sorgte mich schrecklich um sie. Wenn sie zur Arbeit ins Herrenhaus ging, trug sie stets ein schwarzes Kleid und versteckte ihr schönes blondes Haar unter einer Haube. Aber ich bemerkte, wie weit ihr das Kleid neuerdings war, und das Schwarz ängstigte mich plötzlich, weil es mich an die Trauergottesdienste in der Kirche erinnerte.
«Zieh das Kleid nicht an», bat ich sie immer wieder. «Es ist hässlich.»
«Liebes», erwiderte sie und gab mir einen Kuss, «ich muss zur Arbeit Schwarz tragen. Alle Mägde tragen Schwarz.»
Mein Vater sprach weniger denn je. Abends saß er oft schweigend vor unserer Hütte und rauchte seine Pfeife.
An einem Herbsttag kam die Nachricht, der Herzog habe der Armee das Land um das Herrenhaus als Übungsgelände zur Verfügung gestellt. Mein Vater und ich liefen mit den anderen Dorfbewohnern auf den Win Hill, um zuzusehen, wie die Kavallerie über die gepflegten Rasenflächen galoppierte und kräftige Pferde die Lafetten zogen.
In ihren roten Uniformen sahen die Männer prächtig aus. Man munkelte, der Herzog habe zu Ehren des Vaterlandes Tausende von Pfund für Ausstattung und Pferde gespendet. An jenem Tag hörten wir auch, Lord Charlwood, der Erbe des Herzogs, der stolz und selbstzufrieden mit der Kavallerie ritt, werde nach Frankreich in den Krieg ziehen. Erst kürzlich hatte er geheiratet. Die Trauung war in London vollzogen worden, und wegen des Krieges hatte keine große Feier im Herrenhaus stattgefunden. Ich für meinen Teil wäre sowieso nicht hingegangen - seit ich Lord Charlwood damals mit meiner Mutter im Park beobachtet hatte, hasste ich ihn.
Meine Mutter hatte sich nicht stark genug gefühlt, um mit auf den Hügel zu steigen und die Parade der Kavallerie anzusehen. Aber als mein Vater und ich zurückkehrten, erwartete sie uns gespannt vor unserer Hütte. Es war ein warmer oktobertag, und in dem kleinen Gärtchen vor dem Haus blühten ein paar späte Rosen. Doch ich erinnere mich, dass sie sich in ein warmes Umschlagtuch gehüllt hatte. «Wie war es?», fragte sie. «Sophie, Liebes, hast du die Soldaten gesehen?»
Ich erzählte ihr alles. Mein Vater hörte zu, sprach jedoch kein Wort.
Als ich zwölf war, verlor meine Mutter ihre Stellung im Herrenhaus. Da der Lohn meines Vaters nicht ausreichte, um uns zu ernähren, arbeitete sie von da an zu Hause als Wäscherin. Ich hatte inzwischen die Schule verlassen, und so ging ich ihr zur Hand. Aber meine Mutter wurde immer blasser und hustete viel, auch wenn sie es in meiner Gegenwart unterdrückte. So vergingen die Monate, und ihre Krankheit ängstigte mich immer mehr. Der Krieg war nicht, wie alle gesagt hatten, in ein paar Monaten vorbei. Eines Tages im nächsten Frühjahr, kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag, verkündete mein Vater, er werde uns verlassen. «Ich melde mich zur Armee», teilte er uns mit. Er sagte das, als wollte er nur ein wenig in unserem kleinen Gemüsegarten arbeiten oder ins Wirtshaus des Dorfes hinübergehen. «In Oxford rekrutieren sie. Ich packe ein paar Sachen und breche heute Abend auf.»
Ich weiß noch, wie er mich zum Abschied fest in die Arme schloss und mir einen Kuss auf die Stirn drückte. Ich sah ihn nie wieder. Meine Mutter sagte nichts, tat nichts, dabei wünschte ich mir, sie möge ihn zurückhalten. Aber sie stand nur mit bleichem Gesicht da und zitterte am ganzen Körper.
Dieser Abschied erschütterte mich bis ins Mark. Ich erinnere mich noch, dass ich meiner Mutter einen Tee kochte, doch sie wollte ihn nicht trinken. «Lies mir etwas vor, Liebes », flüsterte sie, und das tat ich. Ich las ihr eine Geschichte aus den Legenden von König Artus vor, aber meine Stimme war erstickt vor Kummer, weil mein Vater fortgegangen war - hatte er uns denn nicht lieb? Hatte er mich nicht lieb? Ich fragte mich, ob er wusste, dass Lord Charlwood damals auf dem Sommerfest meine Mutter geküsst hatte. Wie sollten wir jetzt ohne Vater zurechtkommen?
«Morgen, Sophie», flüsterte meine Mutter, «morgen gehen wir nach Oxford, du und ich. Dort kaufen wir dir etwas Hübsches - vielleicht ein paar Bänder und neue Taschentücher mit Spitze.»
«Nein, Mama», widersprach ich. «Du darfst dich nicht anstrengen.»
Ein Hustenkrampf schüttelte ihren Körper. Sie drückte meine Hand. «Bitte, Sophie.»
Als wir das letzte Mal in Oxford gewesen waren, hatten wir ein Zigeunermädchen gesehen, das für Geld zu einer schnellen, mitreißenden Melodie tanzte, die ein Mann auf der Geige spielte. Ich sehnte mich danach, so zu tanzen wie das Mädchen mit seinem weit schwingenden roten Rock, und ich hoffte, es möge diesmal wieder dort sein. Doch stattdessen stand auf dem Marktplatz ein Flötenspieler. Während meine Mutter sich an einem Stand anstellte, um ein paar Bänder zu kaufen, ging ich zu ihm und hörte zu. Dann begann ich auf einem sonnigen Fleck, etwas abseits von dem Flötenspieler, zu tanzen, und schon bald hatte ich ein paar Zuschauer. Manche lächelten, ein paar warfen mir sogar kleine Münzen hin. Ich weiß nicht, was der Flötenspieler dachte; ich jedenfalls bewegte mich zu seiner Musik, summte leise mit, während meine Füße mühelos dem Rhythmus folgten.
Plötzlich bemerkte ich, dass meine Mutter mich beobachtete. Sie lächelte stolz, aber dabei wirkte sie so krank, dass mich plötzliche Angst überkam. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen, und ihre Augen glänzten fiebrig.
Ich lief hin und wollte sie zu einer Bank führen, doch obwohl ihr das Atmen schwerfiel, blieb sie nur ein paar Minuten sitzen. «Wir müssen weiter, Sophie», sagte sie und legte mir eine Hand auf den Arm. «Ich will dir noch mehr hübsche Sachen kaufen.»
Sie erhob sich, aber im nächsten Moment brach sie zusammen. Mit geschlossenen Augen blieb sie reglos auf dem Pflaster liegen, dort auf dem Marktplatz, inmitten des Getümmels. Ich rief den Leuten zu: «Bitte, helfen Sie meiner Mutter. Bitte!», aber niemand beachtete mich. Als ich neben ihr in die Hocke ging, bemerkte ich etwas Dunkles, das sie ausgehustet hatte. Es sah aus wie Blut; ihre weißen Baumwollhandschuhe, mit denen sie zur Feier des Tages ihre armen, geschundenen Hände bedeckt hatte, waren befleckt.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Denn ich lernte, dass sämtliche vertrauten Gesetze des Daseins völlig außer Kraft gesetzt werden, wenn einen die Liebe - körperliche Liebe, körperliches Begehren - überkommt. Man tut Dinge, lässt Dinge geschehen; es gibt eine zeit - vielleicht ein Jahr oder einen Monat, manchmal nur eine Nacht -, die unvergesslich wird. Die sich für immer ins Gedächtnis einbrennt.
Als ich ihm begegnete, war es ein Erwachen. Danach war für mich nichts mehr so wie früher. Der Mann, den ich liebte und für unerreichbar hielt, war von tiefen Narben an Körper und Seele gezeichnet. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass meine Liebe ihn heilte. Tatsächlich glaubte ich, meine Liebe könnte ihn heilen, und deshalb gab ich mich ihm völlig hin. «Du gehörst mir», sagte er, wenn er im Dunkeln neben mir lag, wenn ich seinen göttlichen, erregten Körper an meiner feinen Unterwäsche fühlte, an meiner Haut. Manchmal, wenn er in heiterer Stimmung war, tanzten wir gemeinsam, denn er liebte Musik ebenso wie ich. «Ich habe es dir gesagt: Du gehörst mir», flüsterte er, während er mich zärtlich in den Armen hielt. «Verlass mich nicht.» Und ich erwiderte: «Nie. Niemals, mein Liebster.» Auch wenn seine Augen von Geheimnissen überschattet wirkten und oft so undurchdringlich waren, dass ich mich schaudernd abwenden musste, hätte ich dennoch alles für ihn getan. Alles.
All I want is you - ich will nur dich, wie es in dem Lied heißt. Wenn er nicht bei mir war, rief ich in einsamen Nächten sehnsüchtig seinen Namen: Ich hörte seine Stimme, sah sein Gesicht. Ach, ich hatte so lange auf ihn gewartet. So furchtbar lange.
Kapitel eins
Ich heiße Sophia, aber die meisten Leute nennen mich Sophie. Mein Vater Philip nannte mich seinen kleinen Spatz, weil ich, wie er sagte, ständig plapperte und sang. Er arbeitete in der Dorfschmiede, und manchmal, wenn in Belfield Hall eine Feier bevorstand, brachten die Stallknechte die edlen Pferde zum Beschlagen zu ihm. Dann liefen Will und ich hin, um sie anzusehen. Wir bewunderten ihre Schönheit.
Meine Mutter arbeitete vier Tage die Woche als Wäscherin im Herrenhaus, und ich weiß noch, wie ich mich darüber aufregte, dass ihre schönen Hände von der Arbeit wund waren. Doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf und entgegnete, andere Bedienstete müssten sieben Tage dieWoche arbeiten, von sechs Uhr früh bis halb elf abends.
«Stell dir das nur vor, Sophie», sagte sie, während ich auf ihrem Schoß saß und sie mein langes blondes Haar bürstete. «Stell dir das nur vor.»
Ich wurde 1903 geboren. Mit fünf Jahren fing ich an, die Dorfschule zu besuchen. Auf dem Schulweg sah ich jeden Tag die Tore zum Anwesen Belfield Hall. Das Herrenhaus selbst war natürlich nicht auszumachen, denn es lag hinter Bäumen verborgen. Aber im Sommer lief ich manchmal auf den Hügel Win Hill ganz in der Nähe. Von dort oben konnte ich die Fenster und Türmchen sehen, die in der Sonne glänzten, und in meiner Phantasie verwandelte sich Belfield Hall in ein Märchenschloss.
Will Baxter und mich verband eine enge Freundschaft. zwei Jahre älter als ich, war er für mich stets wie ein Bruder, denn ich hatte keine Geschwister, und die Baxters waren unsere Nachbarn. Wenn wir auf dem Schulweg um die Wette liefen, hüpfte er manchmal auf einem Bein, damit ich gewann. Will war nett und brachte mich zum Lachen. Dafür half ich ihm im Unterricht mit den Buchstaben, weil ich schneller lernte als er. Manchmal war ihm das unangenehm.
Mein Vater legte keinen Wert aufs Lernen. Er fand, Leute wie wir bräuchten das nicht. Aber meine Mutter besaß ein paar Bücher, die sie hütete wie einen Schatz, und als ich klein war, las sie mir manchmal aus den Legenden von König Artus vor. Dann lauschte ich ihrer ruhigen, klaren Stimme, betrachtete die Bilder und dachte, so müssten die Menschen im Herrenhaus sein: die Damen so schön wie die Prinzessinnen, die Herren tapfer wie König Artus' edle Ritter.
Eines heißen Junitages, damals war ich acht, gab der Herzog von Belfield im Park des Herrenhauses ein Fest zu Ehren des neuen Königs, der in London gekrönt worden war. Alle Bediensteten waren mitsamt ihren Familien eingeladen. Auf dem Rasen vor dem Haus hatte man Bocktische aufgebaut, die sich unter dem Gewicht der Speisen bogen, und für die Männer gab es Bier. Eine Musikkapelle spielte zum Tanz auf. Dann hielt der Herzog, ein Mann mit buschigem Schnauzbart, eine Rede. Allerdings bekam ich davon kein Wort mit, weil ich derweil die Schmetterlinge beobachtete, die im Kräutergarten tanzten. Auch ich tanzte und bildete mir ein, niemand könne mich dort, zwischen den Lavendelsträuchern, sehen. Aber ein Gärtnerbursche verjagte mich, und ich flüchtete in ein Wäldchen, wo ich mich verlief.
Ich erinnere mich daran, dass ich mich ein wenig fürchtete. In der Hitze schien der Geruch der Kräuter, die ich mit meinem Rock gestreift hatte, plötzlich zu intensiv. Auf einmal hörte ich ganz in der Nähe eine Männerstimme leise rufen. «Wo steckst du? Wo steckst du, du durchtriebenes Ding?»
Ich verbarg mich hinter einem Baum, weil ich dachte, er riefe nach mir. Dann sah ich, dass es sich bei dem Mann um Lord Charlwood handelte, den Sohn des Herzogs. Er galt allgemein als gut aussehend, aber mir gefiel er nicht mit seinem schwarzen Oberlippenbärtchen und dem glänzenden schwarzen Haar. Er lachte und sagte: «Ah, da bist du ja, Florence. Du kleine Kokette, läufst mir davon, wo ich mich gerade so nett mit dir unterhalten wollte.»
In diesem Moment wurde mir klar, dass er meine Mutter meinte.
Sie trug ihre beste weiße Bluse, und ihr langes Haar, ebenso blond wie das meine, hatte sich ein wenig aus der Frisur gelöst. Für mich war sie die schönste Frau der Welt. Aber ich verstand nicht, was hier vor sich ging. zwar schien es, als liefe sie vor Lord Charlwood davon, doch zugleich legte sie es offensichtlich darauf an, dass er sie einholte. Im nächsten Moment strauchelte sie ein wenig, und Lord Charlwood fing sie auf und schloss sie in die Arme.
Zuerst küsste er sie auf den Mund, dann glitt seine Hand zwischen die Knöpfe ihrer Bluse. Als sie ihn lachend von sich schob, bückte er sich, hob ihren Rock an und strich mit seiner Hand an ihrem Bein aufwärts.
Ich bekam es mit der Angst, denn obwohl ich noch ein Kind war, begriff ich doch, dass ich das hier nicht mit ansehen sollte. Er drückte sie rücklings gegen einen Baum und küsste sie noch einmal.
Ich kniff die Augen zu, aber noch immer hörte ich die seltsam kehligen Laute, die meine Mutter ausstieß. Und obwohl sie die Arme um ihn gelegt hatte, fürchtete ich, er könnte ihr weh tun. Seine Lordschaft atmete schwer und nannte sie seine süße Florrie, seine reizende Florrie.
Ich dachte: Ihre schöne Bluse wird von der Baumrinde Flecken bekommen. Ich lief davon, rannte blindlings durch den Wald, bis ich auf Will Baxter traf. «Will, er tut ihr weh!», schluchzte ich. «Meine Mutter ... Lord Charlwood tut ihr weh.»
Wills Gesichtsausdruck veränderte sich - ich glaube, er wusste bereits über meine Mutter und Lord Charlwood Bescheid. Verschämt legte er mir eine Hand auf den Arm. «Das ist schon in ordnung, Sophie. Es ist eine Art Spiel, ein geheimes Spiel. Die Erwachsenen würden nicht wollen, dass wir davon wissen, verstehst du?»
Damals verstand ich überhaupt nichts. Aber Wills Mutter brachte fast jedes Jahr ein Kind zur Welt, also musste er über solche Dinge besser Bescheid wissen als ich. Wills Vater war Landarbeiter und hasste die Reichen - die feinen Pinkel, wie er sie nannte. Manchmal, wenn ich Will auf dem Schulweg abholte, sah ich, wie schmutzig ihre enge Hütte war, in der sich die Kinderschar tummelte. Es war mir peinlich, doch der verdreckte Boden und die zerbrochenen Fensterscheiben, die nie ausgetauscht wurden, stachen mir jedes Mal ins Auge.
Wills Vater sagte immer, bald werde sich alles ändern. Ich fragte mich, wie das zugehen sollte. Vielleicht würde es ein großes Unwetter geben, wie in der Bibel, und der Sturm würde all die reichen Leute davonwehen? Mir war jedoch klar, dass das nicht wirklich geschehen konnte, denn den Reichen gehörte die Welt. Und zudem predigte der Pfarrer uns jeden Sonntag in der Kirche, wir müssten unsere Herrschaften ehren und ihnen gehorchen, um am Ende im Himmel unseren Lohn zu empfangen.
In der Kirche gab es zahlreiche Trauergottesdienste, viele davon für kleine Kinder. Der Pfarrer sagte, sie kämen in den Himmel. Doch insgeheim dachte ich, dass sie sicher viel lieber auf den Auen in der Sonne gespielt hätten, wie ich und Will.
Wenn die Erntezeit kam, fuhr mein Vater mit mir auf dem alten Karren des Schmieds hinaus auf die Felder, und ich trug den Leinenbeutel mit unserem Mittagessen, Brot und Käse. Ich bekam eine Gerte, um die Fliegen von den Köpfen der Pferde zu verscheuchen, die geduldig dastanden, während die Männer und Jungen mit nackten Oberkörpern in der Hitze die Garben aufluden.
Manchmal kam Will, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten. Wahrscheinlich tat er das, damit ich mich nicht einsam fühlte, aber in jener Zeit war ich nie einsam. Einmal, als ich von einer Wespe gestochen wurde, rannte Will nach Hause und holte ein Fläschchen Essig. Er tränkte mein sauberes Taschentuch damit und drückte es auf die Stelle. «Tapferes Mädchen», sagte er. «Tapferes Mädchen, musst nicht weinen.»
Als der Krieg anfing, nahm ich es kaum wahr. Ich war elf, und alle sagten, der Krieg werde bald vorüber sein. Außerdem hatte ich anderes im Kopf, denn meine Mutter sah in letzter Zeit elend aus, und ich sorgte mich schrecklich um sie. Wenn sie zur Arbeit ins Herrenhaus ging, trug sie stets ein schwarzes Kleid und versteckte ihr schönes blondes Haar unter einer Haube. Aber ich bemerkte, wie weit ihr das Kleid neuerdings war, und das Schwarz ängstigte mich plötzlich, weil es mich an die Trauergottesdienste in der Kirche erinnerte.
«Zieh das Kleid nicht an», bat ich sie immer wieder. «Es ist hässlich.»
«Liebes», erwiderte sie und gab mir einen Kuss, «ich muss zur Arbeit Schwarz tragen. Alle Mägde tragen Schwarz.»
Mein Vater sprach weniger denn je. Abends saß er oft schweigend vor unserer Hütte und rauchte seine Pfeife.
An einem Herbsttag kam die Nachricht, der Herzog habe der Armee das Land um das Herrenhaus als Übungsgelände zur Verfügung gestellt. Mein Vater und ich liefen mit den anderen Dorfbewohnern auf den Win Hill, um zuzusehen, wie die Kavallerie über die gepflegten Rasenflächen galoppierte und kräftige Pferde die Lafetten zogen.
In ihren roten Uniformen sahen die Männer prächtig aus. Man munkelte, der Herzog habe zu Ehren des Vaterlandes Tausende von Pfund für Ausstattung und Pferde gespendet. An jenem Tag hörten wir auch, Lord Charlwood, der Erbe des Herzogs, der stolz und selbstzufrieden mit der Kavallerie ritt, werde nach Frankreich in den Krieg ziehen. Erst kürzlich hatte er geheiratet. Die Trauung war in London vollzogen worden, und wegen des Krieges hatte keine große Feier im Herrenhaus stattgefunden. Ich für meinen Teil wäre sowieso nicht hingegangen - seit ich Lord Charlwood damals mit meiner Mutter im Park beobachtet hatte, hasste ich ihn.
Meine Mutter hatte sich nicht stark genug gefühlt, um mit auf den Hügel zu steigen und die Parade der Kavallerie anzusehen. Aber als mein Vater und ich zurückkehrten, erwartete sie uns gespannt vor unserer Hütte. Es war ein warmer oktobertag, und in dem kleinen Gärtchen vor dem Haus blühten ein paar späte Rosen. Doch ich erinnere mich, dass sie sich in ein warmes Umschlagtuch gehüllt hatte. «Wie war es?», fragte sie. «Sophie, Liebes, hast du die Soldaten gesehen?»
Ich erzählte ihr alles. Mein Vater hörte zu, sprach jedoch kein Wort.
Als ich zwölf war, verlor meine Mutter ihre Stellung im Herrenhaus. Da der Lohn meines Vaters nicht ausreichte, um uns zu ernähren, arbeitete sie von da an zu Hause als Wäscherin. Ich hatte inzwischen die Schule verlassen, und so ging ich ihr zur Hand. Aber meine Mutter wurde immer blasser und hustete viel, auch wenn sie es in meiner Gegenwart unterdrückte. So vergingen die Monate, und ihre Krankheit ängstigte mich immer mehr. Der Krieg war nicht, wie alle gesagt hatten, in ein paar Monaten vorbei. Eines Tages im nächsten Frühjahr, kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag, verkündete mein Vater, er werde uns verlassen. «Ich melde mich zur Armee», teilte er uns mit. Er sagte das, als wollte er nur ein wenig in unserem kleinen Gemüsegarten arbeiten oder ins Wirtshaus des Dorfes hinübergehen. «In Oxford rekrutieren sie. Ich packe ein paar Sachen und breche heute Abend auf.»
Ich weiß noch, wie er mich zum Abschied fest in die Arme schloss und mir einen Kuss auf die Stirn drückte. Ich sah ihn nie wieder. Meine Mutter sagte nichts, tat nichts, dabei wünschte ich mir, sie möge ihn zurückhalten. Aber sie stand nur mit bleichem Gesicht da und zitterte am ganzen Körper.
Dieser Abschied erschütterte mich bis ins Mark. Ich erinnere mich noch, dass ich meiner Mutter einen Tee kochte, doch sie wollte ihn nicht trinken. «Lies mir etwas vor, Liebes », flüsterte sie, und das tat ich. Ich las ihr eine Geschichte aus den Legenden von König Artus vor, aber meine Stimme war erstickt vor Kummer, weil mein Vater fortgegangen war - hatte er uns denn nicht lieb? Hatte er mich nicht lieb? Ich fragte mich, ob er wusste, dass Lord Charlwood damals auf dem Sommerfest meine Mutter geküsst hatte. Wie sollten wir jetzt ohne Vater zurechtkommen?
«Morgen, Sophie», flüsterte meine Mutter, «morgen gehen wir nach Oxford, du und ich. Dort kaufen wir dir etwas Hübsches - vielleicht ein paar Bänder und neue Taschentücher mit Spitze.»
«Nein, Mama», widersprach ich. «Du darfst dich nicht anstrengen.»
Ein Hustenkrampf schüttelte ihren Körper. Sie drückte meine Hand. «Bitte, Sophie.»
Als wir das letzte Mal in Oxford gewesen waren, hatten wir ein Zigeunermädchen gesehen, das für Geld zu einer schnellen, mitreißenden Melodie tanzte, die ein Mann auf der Geige spielte. Ich sehnte mich danach, so zu tanzen wie das Mädchen mit seinem weit schwingenden roten Rock, und ich hoffte, es möge diesmal wieder dort sein. Doch stattdessen stand auf dem Marktplatz ein Flötenspieler. Während meine Mutter sich an einem Stand anstellte, um ein paar Bänder zu kaufen, ging ich zu ihm und hörte zu. Dann begann ich auf einem sonnigen Fleck, etwas abseits von dem Flötenspieler, zu tanzen, und schon bald hatte ich ein paar Zuschauer. Manche lächelten, ein paar warfen mir sogar kleine Münzen hin. Ich weiß nicht, was der Flötenspieler dachte; ich jedenfalls bewegte mich zu seiner Musik, summte leise mit, während meine Füße mühelos dem Rhythmus folgten.
Plötzlich bemerkte ich, dass meine Mutter mich beobachtete. Sie lächelte stolz, aber dabei wirkte sie so krank, dass mich plötzliche Angst überkam. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen, und ihre Augen glänzten fiebrig.
Ich lief hin und wollte sie zu einer Bank führen, doch obwohl ihr das Atmen schwerfiel, blieb sie nur ein paar Minuten sitzen. «Wir müssen weiter, Sophie», sagte sie und legte mir eine Hand auf den Arm. «Ich will dir noch mehr hübsche Sachen kaufen.»
Sie erhob sich, aber im nächsten Moment brach sie zusammen. Mit geschlossenen Augen blieb sie reglos auf dem Pflaster liegen, dort auf dem Marktplatz, inmitten des Getümmels. Ich rief den Leuten zu: «Bitte, helfen Sie meiner Mutter. Bitte!», aber niemand beachtete mich. Als ich neben ihr in die Hocke ging, bemerkte ich etwas Dunkles, das sie ausgehustet hatte. Es sah aus wie Blut; ihre weißen Baumwollhandschuhe, mit denen sie zur Feier des Tages ihre armen, geschundenen Hände bedeckt hatte, waren befleckt.
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Autoren-Porträt von Elizabeth Anthony
Anthony, ElizabethBereits als Teenager entdeckte Elizabeth Anthony ihre Leidenschaft für historische Romane. Nach ihrem Studienabschluss an der Nottingham University arbeitete sie als Dozentin für Anglistik - doch insgeheim träumte sie immer vom Schreiben. Ihr Herzenswunsch erfüllte sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans, einem historischen Thriller, der in neun Sprachen übersetzt und von der Kritik hochgelobt wurde. Außerdem verfasste sie mehrere erotische Romane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Anthony
- 2014, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schünemann, Anja
- Übersetzer: Anja Schünemann
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499228602
- ISBN-13: 9783499228605
- Erscheinungsdatum: 02.01.2014
Rezension zu „Verführung “
Eine mitreißende Liebesgeschichte ... eine wunderbare, süchtig machende Romanze im England der Zwanzigerjahre. lifebetweenpages.net
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