Vergiftete Seelen
Ein Karen-Sharpe-Roman. Deutsche Erstausgabe
Dieser Thriller lässt das Blut gefrieren dunkel, abgründig, atemberaubend.Als Sophie Kenyon, die Tochter eines Richters, gekidnappt wird, herrscht bei der Polizei von West Yorkshire sofort Großalarm. Mit einem gewaltigen Aufgebot beginnt die fieberhafte...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vergiftete Seelen “
Klappentext zu „Vergiftete Seelen “
Dieser Thriller lässt das Blut gefrieren dunkel, abgründig, atemberaubend.Als Sophie Kenyon, die Tochter eines Richters, gekidnappt wird, herrscht bei der Polizei von West Yorkshire sofort Großalarm. Mit einem gewaltigen Aufgebot beginnt die fieberhafte Suche nach dem Mädchen und ihren Entführern. Gleichzeitig geht Detective Karen Sharpe einem alten Fall von Kindesmissbrauch nach, in den vor zehn Jahren angeblich ein hochrangiger Politiker verwickelt war. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf Verbindungen zu Sophies Entführung und auf Verbrechen, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen ...
Lese-Probe zu „Vergiftete Seelen “
1987Sie war wieder bei ihrer Mami. Sie saß auf dem Tisch im Esszimmer, ihre Mama beugte sich zu ihr vor und lachte. Sie konnte das Lachen hören, hörte die Leichtigkeit darin und die Wärme. Ihre Mama hatte einen Lampenschirm auf dem Kopf, der zu der Lampe über dem Tisch gehörte. Sie hatte ihn aufgesetzt und machte Späße, zog Grimassen und redete mit komischer Stimme. Der Schirm sah aus wie aus den Sechzigern, groß und flach wie ein chinesischer Bauernhut, und ihre Mutter machte Schlitzaugen und spielte Chinesin.
Es war ein Gefühl, als könnte niemand auf der ganzen Welt ihr wehtun. Sie lachte, wie nur Zweijährige lachen können, ohne jede Erinnerung an einen Schmerz. Die Wohnung war warm und gemütlich. Es waren keine Männer da, keine Vaterfiguren, niemand, der sie schlug oder sie zwang, Sachen zu tun, die sie nicht tun wollte.
Die Bilder liefen in ihrem Kopf ab. Sie hatte keine Schmerzen mehr, kein Hämmern im Kopf, ihr Mund war nicht mehr trocken, kein Stechen im Bauch mehr. All das war weg. Die Bilder gaben ihr Schutz. Sie fühlte sich, als würde sie schweben. Es war das erste Mal, dass sie diese Erinnerung hatte. Bevor sie hierhergebracht worden war, war ihre erste Erinnerung immer die gleiche gewesen. Sie war fünf oder sechs Jahre alt, und ihre Mutter bürstete ihr die Haare. Ihre Mutter konnte ihre Haare nicht ausstehen, sie fand sie zu kraus und hässlich. Sie hatte sie immer zu bändigen versucht, hatte sie abgeschnitten oder zu Zöpfen gebunden. Sie stand da und weinte, während ihre Mutter ihr das Haar nach hinten zerrte und durch ein Gummiband zog, damit es ihr nicht in die Augen hing. Sie zog so fest daran, dass etliche Haare an den Wurzeln ausrissen.
Die Erinnerung versetzte sie in Panik. Sofort fielen ihr auch andere Sachen wieder ein, die nicht so gut waren. Vor einem Jahr erst hatte ihre Mutter ihr verboten, sich mit dem Jungen aus der Nachbarschaft zu treffen. Er war nett zu ihr gewesen, hatte ihr gesagt, wie hübsch sie sei, hatte ihr im Laden an
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der Ecke Süßigkeiten gekauft. Aber ihre Mutter hatte ihr Tagebuch gelesen und herausgefunden, was sie für den Jungen empfand. Als sie ihre Mutter dabei erwischt hatte, wie sie ihre geheimsten Gedanken las, hatte sie sie geschlagen. Nicht richtig stark, hatte ihr nur auf den Arm gehauen und Tränen der Wut und des Verrats geweint.
Seitdem war es ziemlich schlimm gewesen zwischen ihnen beiden. So schlimm, dass sie nicht darüber nachdenken wollte. Manchmal hatte sie gedacht, dass mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung sei.
Ihre Mutter hatte sie an diesen Mann abgegeben, der sie hierhergebracht hatte, in dieses Erdloch. Sie hatte den Blick in ihren Augen gesehen, als sie sich zu ihr vorgebeugt und ihr gesagt hatte, sie solle nett zu ihm sein. Sie hatte ihr nicht in die Augen gesehen. Hatte sie gewusst, was passieren würde? Als sie noch hatte schreien können, hatte sie so lange nach ihrer Mama gerufen, bis es ihr die Kehle zugeschnürt hatte und sie verstummt war.
Sie konnte nicht mehr weinen, konnte nicht einmal mehr die Augen öffnen. Ihr ganzer Körper war ausgetrocknet, als würde er sich auflösen. Sie war sich seiner nur noch vage bewusst. Alles lief nur noch in ihrem Kopf ab, hinter den Augenlidern. Sie konnte sich nicht bewegen. Es waren noch zwei andere mit ihr hier unten gewesen. Zwei kleine Mädchen. Bevor der Schmerz sie alle gelähmt hatte, bevor sie zu schwach geworden waren, hatten sie verzweifelt versucht rauszukommen, hatten mit den bloßen Händen an den feuchten Wänden aus Erde gegraben, bis sie sich die Fingernägel abgebrochen hatten und ihre Hände sich anfühlten wie riesige Ballons und vor Schmerzen brannten.
Es hatte nichts genutzt, denn sie waren ziemlich bald auf Stein und Fels gestoßen. Es war so dunkel, dass sie nicht einmal erkennen konnten, wo sie am besten graben sollten. Dann hatte sie Durst gekriegt. Die Schmerzen in ihrem Kopf waren immer größer geworden, so dass sie nichts anderes mehr tun konnte, als auf dem Erdboden der Grube zu liegen und sich an die anderen zu schmiegen, um sich warm zu halten und um sie zu trösten. Den beiden war es noch schlechter gegangen als ihr, sie hatten mehr Angst gehabt.
Sie hielt sich auch jetzt noch an den beiden fest. Ihre Namen hatte sie vergessen, sie wusste nur noch, dass sie zwölf waren, ein Jahr jünger als sie, und dass sie einmal warm gewesen waren und sie warm gehalten hatten. Sie hatte versucht, ihnen zu helfen, hatte ihnen immer und immer wieder gesagt, dass sie hier rauskommen würden, dass sie nur schlafen sollten und abwarten.
Jetzt waren ihre Körper, die rechts und links neben ihr an der Wand lehnten, kalt und steif. Sie bewegten sich nicht mehr, sprachen nicht mehr, atmeten nicht einmal mehr. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie schon so waren, aber sie wusste, was es bedeutete. Bevor sie ganz benommen geworden war, hatte sie sie riechen können.
Es bedeutete, dass sie allein war. Allein in der Dunkelheit, und dass sie langsam zu ihnen hinabgleiten würde. Schon bald würde sie bei ihnen sein.
Sie versuchte, sich die Erinnerung an den chinesischen Hut zurückzurufen, an ihre Mutter, wie sie lachte. Sie wollte nicht in Panik geraten. Sie glaubte immer noch daran, dass das hier irgendwann vorbei sein würde, dass sie rauskommen würde. Ihre Mutter würde die Falltür über ihr öffnen und oben stehen und lachen. Sie würde den Arm zu ihr in die Grube strecken und sie rausziehen, würde sie an sich drücken, ihr übers Haar streicheln, ihr ins Ohr flüstern, dass sie sie liebte, dass sie in Sicherheit war, dass alles nur ein Scherz gewesen war.
Sie lag zwischen zwei toten Mädchen in einer ein Meter achtzig tiefen Grube unter dem Keller eines Hauses. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war friedlich, ihre trockenen Lippen bluteten, als sie sie zu dem schönsten Lächeln verzog, das sie zuwege brachte.
West Yorkshire 1997
Der gelbe Schulbus setzte Sophie Kenyon wie immer am Fuße von The Grove ab. Doch statt nach Hause zu gehen, spazierte sie langsam an ihrer Straße vorbei und die Wells Road hinauf zum Moor, ihren Schulranzen hielt sie an den Gurten fest, so dass er fast auf dem Boden schleifte. Den Blick hatte sie gesenkt, und als sie ein Stück den Berg hinaufgegangen war, fing sie an zu weinen.
Eine Frau mittleren Alters mit großem Hut und einem braunen Spaniel an der Leine ging an ihr vorüber, ohne sie anzusehen. Der Hund blieb kurz stehen und schnüffelte an ihrem Bein, doch Sophie bemerkte es nicht. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Aus dem gleichen Grund bemerkte sie auch den Lieferwagen nicht, der von hinten näher kam, von The Grove. Erst als er schon ganz nah war, hörte sie den Motor langsamer werden und schaute auf. Ein Mann lehnte sich aus dem offenen Fahrerfenster und sprach sie an. Durch die Tränen konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber er fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Seine Stimme klang freundlich und besorgt, aber sie kannte ihn nicht, deshalb wandte sie sich ab, ohne zu antworten, und ging weiter, ein wenig schneller. Erst als sie das Tor zum Moor öffnete, machte es Klick in ihrem Kopf, und ihr wurde klar, dass sie den Lieferwagen schon einmal gesehen hatte.
Sie blieb stehen, drehte sich um und schaute die Straße entlang, wischte sich die Augen trocken, damit sie richtig sehen konnte. Der Lieferwagen war verschwunden.
Sie schaute sich um. Sie stand am Ortsrand von Ilkley, am Eingang zum Moor. Es war eine wohlhabende Gegend mit vielen großen Häusern, die um die Jahrhundertwende erbaut worden waren. Weiter unten und zu beiden Seiten standen hohe Mauern um die großen Gärten, die nach hinten ans Moor angrenzten. In manchen Häusern wohnten Schulfreunde oder Bekannte ihres Vaters. Die Gegend war ihr vertraut, sie war sicher. Sie schaute hoch zu den Kiefern, die sich wie Zacken vorm Horizont abzeichneten. Es war ein strahlender Sommertag, zu warm für Jacke oder Pullover, der 23. Juni 1997, ihr dreizehnter Geburtstag. Eigentlich ein Grund zum Feiern.
Sie trat auf den Pfad hoch zum "Bergsee", wie die Leute hier ihn nannten. Die Erde unter ihren glänzenden schwarzen Schuhen war nach einer Woche Hitze ohne Regen ganz hart geworden. Sie trug ihren marineblauen Schulkittel, kurze weiße Socken und eine lockere weiße Bluse, die am Hals offen war - die Krawatte hatte sie am Nachmittag im Kunstunterricht abgenommen. Sie hatte immer noch Farbkleckse an den Fingern.
Im Gehen erinnerte sie sich, dass sie den Lieferwagen schon letzte Woche gesehen hatte, als sie aus dem Bus gestiegen war. Er war ihr aufgefallen, weil sie ihn schon zwei Abende in Folge gesehen hatte. Er war hinter ihr in die Eaton Road eingebogen. Ein weißer Lieferwagen mit einem hellblauen Streifen an der Seite, als wäre es früher ein Polizeiwagen gewesen, bei dem man den Streifen übermalt hatte. Diese Erinnerung weckte irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf ein leises Unbehagen, aber nicht so sehr, dass sie ihre Pläne geändert hätte.
Als sie am "Bergsee" ankam, sah sie mit matter Freude, dass sie ihn ganz für sich hatte. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie war am liebsten allein in letzter Zeit. Sie setzte sich auf eine Bank.
Zeit ihres Leben war sie hierhergekommen, erst mit ihrer Mutter, dann mit dem Kindermädchen, dann allein. Der "Bergsee" war ein Ententeich, der von niedrigen Bäumen und Büschen umstanden und von den Faltungen des Moors den Blicken entzogen war. Vieles an diesem See gefiel ihr, besonders die Erinnerungen, die er weckte: an ihre Mutter, wie sie am Ufer stand und Brotkrümel ins Wasser warf; wie es sich anfühlte, wenn ihre Mama ihre langen Finger mit ihren verschränkte, an die aufgeregten Enten, die alle auf das gleiche Stück Brot aus waren. Sie konnte das alles jetzt vor sich sehen, als wäre ihre Mama ihr nie weggenommen worden, und kriegte einen Kloß in der Kehle. Tapfer versuchte sie ihn zu ignorieren und an etwas anderes zu denken. Es gab noch andere Gründe, warum sie gern hier war. Sie liebte es, still am Wasser zu sitzen, den Enten zuzusehen und zu träumen, sie wäre woanders.
Doch der Kloß war stärker als sie, und sie fing wieder an zu weinen. Es war einfach ein schrecklicher Tag. Zu Hause hatten sie ein Fest für sie vorbereitet. Bestimmt fragten sie sich schon, wo sie steckte. Es sollte eine Überraschungsparty sein, aber sie wusste Bescheid, weil sie gehört hatte, wie sie sich eines Abends im Bett darüber unterhalten hatten. Das war nicht das Einzige, was sie aus deren Bett zu hören kriegte. Es gab da noch lautere, seltsamere Geräusche, über die Trisha Merrington im Naturkundeunterricht erzählt hatte.
Sie hasste die neue Frau ihres Vaters, wie sie noch nie in ihrem Leben irgendetwas gehasst hatte. Sie war zu jung, zu dumm, zu hübsch. Sie konnte nicht einmal richtig Englisch. Sie wusste, warum er mit ihr zusammen war, sie wusste, was da lief, und fand es ziemlich erbärmlich. Wegen dieser Frau, weil er mit ihr zusammen war und weil er ständig zu ihr hielt, fing sie an, auch ihren Vater zu hassen.
Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, was zu Hause auf sie wartete. Bunte Fähnchen und Luftballons, Partyspiele, Reise nach Jerusalem und Apfelschnappen - wie für eine Achtjährige. Um der Sache die Krone aufzusetzen, hatten sie heimlich alle ihre Freunde eingeladen. Es würde furchtbar peinlich und kindisch werden. Sie sah auf die Uhr. Zehn vor fünf. Bestimmt machten sie sich langsam Sorgen um sie. Seufzend stand sie auf.
Er stand direkt vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen.
"Sophie?", fragte er.
Sie erkannte die Stimme auf Anhieb. Es war der Fahrer des Lieferwagens.
"Ich arbeite für deinen Vater."
Sie runzelte die Stirn. "Wie meinen Sie das?" Er stand viel zu dicht vor ihr, versperrte ihr den Weg. Hastig schaute sie nach rechts und links. Die Wege waren noch immer verlassen. "Mein Vater hat keine Leute, die für ihn arbeiten", sagte sie. Sie wollte hinzufügen: "Er ist Richter", überlegte es sich aber rasch anders. Womöglich gehörte dieser Mann zu denen, die ihr Vater ins Gefängnis geschickt hatte, vielleicht war er gefährlich.
"Ich passe auf ihn auf", sagte der Mann. "Genau genommen arbeite ich für die Polizei."
Sie schaute zu ihm auf, ein wenig beruhigt, aber noch nicht ganz. "Wieso passen Sie auf ihn auf?"
"Ich arbeite für eine Abteilung namens Innere Sicherheit. Dein Vater hat bei der Arbeit mit vielen bösen Menschen zu tun. Das weißt du doch bestimmt. Ich habe ein Auge auf ihn. Es ist meine Aufgabe, ihn vor diesen Leuten zu beschützen."
Wieder runzelte sie die Stirn. Ihr Vater hatte ihr nie davon erzählt. Sie trat einen Schritt nach hinten. "Was wollen Sie? Haben Sie einen Ausweis?"
Er kam auf sie zu, gleichzeitig kramte er in seiner Hosentasche und hielt ihr kurz einen Ausweis hin, eine laminierte Visitenkarte mit einem Foto drauf. Sie konnte das Gesicht erkennen - seines - und das Logo der Polizei von West Yorkshire, dann war die Karte wieder weg. Ihr fiel auf, dass er einen dunkelgrauen Anzug trug. "Es ist was Schlimmes passiert", sagte er. "Dein Vater ist in Bradford, in Sicherheit. Du kannst jetzt nicht nach Hause. Man hat mich geschickt, um dich zu ihm zu bringen."
Ihr Herz schlug schneller. "Was ist passiert?"
Er lächelte sie an. "Wir müssen uns beeilen, Sophie", sagte er. "Lass uns zum Wagen gehen, und ich erzähle dir alles auf dem Weg." Er ging voran.
Sie folgte ihm, plötzlich war sie ängstlich, panisch. "Was ist passiert?"
"Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst." Er war zwei Schritte voraus, er ging schnell. "Wir können nur nicht zu euch nach Hause gehen. Im Moment jedenfalls nicht."
"Warum?"
"Da sind ein paar Männer. Sie wollen deinen Vater umbringen."
Sie schnappte nach Luft vor Schreck und blieb stehen.
Er hielt ebenfalls an und beugte sich zu ihr herunter, legte ihr einen Arm um die Schulter. "Das hätte ich nicht sagen sollen", sagte er. Seine Stimme klang sanft. "Du musst nur eines wissen: Dein Vater ist in Sicherheit, und wir kümmern uns um die Angelegenheit. Ich bringe dich zu ihm, und später, wenn alles vorbei ist, könnt ihr feiern."
Ihr Blick fiel auf seine Hand, die auf ihrem Oberarm lag. Die Fingernägel waren abgekaut und eingerissen, er hatte gelbe Flecken an den Fingern. Sie ekelte sich.
"Na los, komm", sagte er, ohne sie loszulassen.
Sie musste ziemlich schnell gehen, um mit ihm mitzuhalten. So wie er den Arm um sie gelegt hatte, würde sie hinfallen, wenn sie nicht Schritt hielt. Sie versuchte, die Angst um ihren Vater unter Kontrolle zu halten, bis sie wieder auf der Wells Road waren. Dort sah sie neben dem Tor zum Moor den Lieferwagen stehen.
Er ging zur Beifahrertür und nahm den Arm von ihren Schultern, dann hielt er inne.
"Am besten, du sitzt hinten", sagte er. "Wir wollen doch nicht, dass sie dich sehen."
Sie nickte und folgte ihm nach hinten. Als er die Türen öffnete, sagte sie mit zittriger Stimme: "Und meinem Papa geht es auch bestimmt gut?"
Er hielt die Tür auf und lächelte sie an. Er hatte ein schönes, ein beruhigendes Lächeln. "Er ist in Sicherheit", sagte er und deutete in den Wagen, damit sie einstieg. Sie sah, dass der Laderaum bis auf eine Matratze auf dem Boden leer war. Die Matratze sah dreckig aus. Es gab keine Fenster. "Und du wirst auch bald in Sicherheit sein", sagte er. "Wenn wir dich hier rausgebracht haben."
Das mit der Matratze kam ihr komisch vor, und sie zögerte. Aber nur eine Sekunde lang.
Sie kletterte in den Wagen und drehte sich zu ihm um, aber da hatte er die Tür schon zugeworfen.
Detective Constable Karen Sharpe musterte die Frau namens Pamela Mathews. Sie saßen in einem Vernehmungsraum des CPT - des Child Protection and Domestic Violence Team, das für Kindesmisshandlungen und häusliche Gewalt zuständig war - in der Polizeiwache Eccleshill. Vor Karen auf dem Tisch lagen neun Din-A4-Blätter, beschrieben mit ihrer engen, praktisch unleserlichen Handschrift.
Auf die übliche Erklärung, dass die folgenden Aussagen freiwillig gemacht wurden und eine Falschaussage strafrechtlich verfolgt werden könne, folgte eine Einleitung, die Karen für jede Aussage verwendete, die sie aufnahm. Sie enthielt den Namen des Zeugen und einige Angaben zur Person: Lebensumstände, Familienstand etc. Pamela hatte ihr Alter mit dreiundzwanzig und eine Anschrift in Otley angegeben. Auf die Einleitung folgte die eigentliche Geschichte.
Es gab bei ihren Kollegen drei Methoden, eine Aussage aufzunehmen. Entweder man schrieb mit, was gesagt wurde (und erhielt in der Regel ein chaotisches Durcheinander), oder man gab den Zeugen Papier und Stift und bat sie, selbst alles aufzuschreiben (was meist noch schlimmer war), oder aber man setzte sich mit ihnen hin und ließ sie alles von Anfang bis Ende erzählen, wie es ihnen in den Sinn kam, machte sich Notizen und fragte hier und da nach, ging zum Schluss alles noch einmal gemeinsam durch und brachte die Aussage schließlich zu Papier.
Karen bevorzugte letztere Methode. Sie hörte genau zu, machte sich ein Bild von der Sachlage und ließ sich unklare Passagen zweimal erklären. Dann erzählte sie die Geschichte von vorn bis hinten nach, lenkte dabei die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Aspekte und schrieb gleichzeitig mit. Zu guter Letzt las sie alles laut vor und ließ sich die Aussage von den Zeugen unterschreiben. Sie fing an, Pamela vorzulesen, was sie aufgeschrieben hatte:
Ich weiß noch genau, dass der Mann mir erzählt hat, meine Eltern seien in Gefahr. Deshalb bin ich zu ihm in den Lieferwagen gestiegen. Es war ein junger Mann - nicht so alt wie mein Vater -, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Er konnte sich gut ausdrücken, nicht wie einer ohne Bildung. Als ich schon im Lieferwagen saß, sprach er immer weiter mit mir und machte dabei die Türen zu. Wir waren hinten im Laderaum. Ich habe mich gewundert, dass er zu mir einstieg, und habe ihn danach gefragt. Er drehte sich zu mir und schlug mir mit irgendetwas ins Gesicht. Was es war, weiß ich nicht. Ich bin gestürzt, ich habe am Kopf geblutet und geweint.
Dann habe ich gemerkt, dass er sich an meinem Arm zu schaffen machte, danach bin ich eingeschlafen oder bewusstlos geworden. Während ich das Bewusstsein verlor, hat er sanft auf mich eingeredet, als ob er mich gern hätte, er strich mir übers Haar, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war gelähmt von dem Zeug, das er mir gegeben hatte, der Droge, die er mir in den Arm gespritzt hatte. Er sagte, ich brauchte keine Angst zu haben, dass er mich an einen sicheren Ort bringt. Das ist das Einzige, was ich noch weiß.
Ich war dreizehn Jahre alt, und ich hatte schreckliche Angst. Ich weiß noch genau, wie viel Angst ich hatte, selbst heute noch. Ich hatte solche Angst, weil ich nicht wusste, was los war. Ich schrie nach meiner Mutter, aber er stopfte mir irgendetwas in den Mund. So fest, dass ich würgen musste und nicht mehr atmen konnte. Dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder aufwachte, war es ganz dunkel um mich herum, und ich hatte Kopfschmerzen. Als ich etwas sehen konnte, stellte ich fest, dass ich auf einem Bett festgeschnallt war. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich fing an zu schreien, ich weinte und flehte um Hilfe. Ich hatte keine Decke, mir war kalt. Ich weiß noch, dass ich die Wand mit den Fingern berühren konnte: Sie war rau und feucht, mehr wie in einer Höhle als wie in einem richtigen Haus. Ich weiß nicht, wie lange ich geschrien habe, aber es hat mich niemand gehört, und niemand ist gekommen. Ich habe gezittert, und ich hatte Angst, und ich habe ins Bett gemacht, aber es ist immer noch keiner gekommen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da allein festgehalten wurde. Ich glaube, ich bin immer wieder eingeschlafen. Wenn ich wach war, habe ich entweder geweint oder nach meiner Mutter gerufen. Manchmal habe ich auch nur dagelegen und gelauscht und gezittert.
Als er das erste Mal zurückkam, muss ich wohl geschlafen haben, ich wachte auf und war ganz geblendet von dem starken Licht, und er spritzte mir wieder irgendetwas in den Arm. Heute weiß ich das, aber in dem Moment habe ich nur einen stechenden Schmerz gespürt und später dann die Wirkung. Ich wollte mich wehren, aber die Fesseln waren ziemlich eng. Ich weiß nicht, was er mir gegeben hat, aber ich bin nicht bewusstlos geworden, nur ganz schwach. Mein Herz raste, ich konnte alles sehen und hören, aber ich hatte überhaupt keine Energie, ich konnte mich nicht mehr bewegen oder schreien oder auch nur sprechen.
Als ich so war, so stumm und gelähmt, band er mich los, setzte mich auf und fing an, mich aus einer Nuckelflasche zu füttern. Ich musste irgendeine Flüssigkeit daraus saugen, aber ich konnte kaum saugen. Ich musste mich voll darauf konzentrieren, meinen Mund zu bewegen. Ich konnte überhaupt nichts schmecken, aber ich hatte so großen Durst, dass ich so viel wie möglich trinken wollte. Die ganze Zeit sprach er mit mir, aber ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Ich hatte Angst vor ihm. Als ich genug getrunken hatte, rollte er mich auf den Bauch. Er zog mir mein neues Kleid aus. Meine Mutter hatte mir das Kleid zum Geburtstag geschenkt. Er hat es zerrissen. Dann spürte ich, dass er irgendetwas mit meinem Po machte, von hinten. Aber alles war ganz taub, und ich konnte mich nicht bewegen. Ich spürte, dass er auf mir lag. Er war so schwer, dass ich kaum atmen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, was er da tat. Ich hörte ihn keuchen und irgendwas schreien, aber ich wusste nicht, warum. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, was er da mit mir gemacht hat. Es hat nicht wehgetan, wahrscheinlich wegen der Drogen.Irgendwann wurde ich woandershin gebracht. Ich glaube, für die Fahrt hat er mir wieder Drogen gegeben, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Vielleicht hat er mich auch nur von einem Zimmer ins andere gebracht. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, dass ich ganz betäubt dagelegen habe. Ich war nicht gefesselt, aber ich war so träge, dass ich mich kaum bewegen konnte. Zu dem Zeitpunkt muss ich wohl schon ganz abgestumpft gewesen sein. Die Angst war weg, ich weiß nämlich noch, dass ich irgendwo auf einem großen Bett lag, ich hatte eine Bettdecke, und es war warm und hell. Und ich weiß noch, dass ich mich sehr glücklich fühlte. Ich glaube, sie haben mir Heroin gegeben oder Kokain oder irgendeine andere Droge. Ich kann mich nicht daran erinnern, gebadet worden zu sein, aber so muss es gewesen sein, weil ich anders roch, das habe ich sogar selbst gemerkt. Vielleicht haben sie mich sogar einparfümiert.
Seitdem war es ziemlich schlimm gewesen zwischen ihnen beiden. So schlimm, dass sie nicht darüber nachdenken wollte. Manchmal hatte sie gedacht, dass mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung sei.
Ihre Mutter hatte sie an diesen Mann abgegeben, der sie hierhergebracht hatte, in dieses Erdloch. Sie hatte den Blick in ihren Augen gesehen, als sie sich zu ihr vorgebeugt und ihr gesagt hatte, sie solle nett zu ihm sein. Sie hatte ihr nicht in die Augen gesehen. Hatte sie gewusst, was passieren würde? Als sie noch hatte schreien können, hatte sie so lange nach ihrer Mama gerufen, bis es ihr die Kehle zugeschnürt hatte und sie verstummt war.
Sie konnte nicht mehr weinen, konnte nicht einmal mehr die Augen öffnen. Ihr ganzer Körper war ausgetrocknet, als würde er sich auflösen. Sie war sich seiner nur noch vage bewusst. Alles lief nur noch in ihrem Kopf ab, hinter den Augenlidern. Sie konnte sich nicht bewegen. Es waren noch zwei andere mit ihr hier unten gewesen. Zwei kleine Mädchen. Bevor der Schmerz sie alle gelähmt hatte, bevor sie zu schwach geworden waren, hatten sie verzweifelt versucht rauszukommen, hatten mit den bloßen Händen an den feuchten Wänden aus Erde gegraben, bis sie sich die Fingernägel abgebrochen hatten und ihre Hände sich anfühlten wie riesige Ballons und vor Schmerzen brannten.
Es hatte nichts genutzt, denn sie waren ziemlich bald auf Stein und Fels gestoßen. Es war so dunkel, dass sie nicht einmal erkennen konnten, wo sie am besten graben sollten. Dann hatte sie Durst gekriegt. Die Schmerzen in ihrem Kopf waren immer größer geworden, so dass sie nichts anderes mehr tun konnte, als auf dem Erdboden der Grube zu liegen und sich an die anderen zu schmiegen, um sich warm zu halten und um sie zu trösten. Den beiden war es noch schlechter gegangen als ihr, sie hatten mehr Angst gehabt.
Sie hielt sich auch jetzt noch an den beiden fest. Ihre Namen hatte sie vergessen, sie wusste nur noch, dass sie zwölf waren, ein Jahr jünger als sie, und dass sie einmal warm gewesen waren und sie warm gehalten hatten. Sie hatte versucht, ihnen zu helfen, hatte ihnen immer und immer wieder gesagt, dass sie hier rauskommen würden, dass sie nur schlafen sollten und abwarten.
Jetzt waren ihre Körper, die rechts und links neben ihr an der Wand lehnten, kalt und steif. Sie bewegten sich nicht mehr, sprachen nicht mehr, atmeten nicht einmal mehr. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie schon so waren, aber sie wusste, was es bedeutete. Bevor sie ganz benommen geworden war, hatte sie sie riechen können.
Es bedeutete, dass sie allein war. Allein in der Dunkelheit, und dass sie langsam zu ihnen hinabgleiten würde. Schon bald würde sie bei ihnen sein.
Sie versuchte, sich die Erinnerung an den chinesischen Hut zurückzurufen, an ihre Mutter, wie sie lachte. Sie wollte nicht in Panik geraten. Sie glaubte immer noch daran, dass das hier irgendwann vorbei sein würde, dass sie rauskommen würde. Ihre Mutter würde die Falltür über ihr öffnen und oben stehen und lachen. Sie würde den Arm zu ihr in die Grube strecken und sie rausziehen, würde sie an sich drücken, ihr übers Haar streicheln, ihr ins Ohr flüstern, dass sie sie liebte, dass sie in Sicherheit war, dass alles nur ein Scherz gewesen war.
Sie lag zwischen zwei toten Mädchen in einer ein Meter achtzig tiefen Grube unter dem Keller eines Hauses. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war friedlich, ihre trockenen Lippen bluteten, als sie sie zu dem schönsten Lächeln verzog, das sie zuwege brachte.
West Yorkshire 1997
Der gelbe Schulbus setzte Sophie Kenyon wie immer am Fuße von The Grove ab. Doch statt nach Hause zu gehen, spazierte sie langsam an ihrer Straße vorbei und die Wells Road hinauf zum Moor, ihren Schulranzen hielt sie an den Gurten fest, so dass er fast auf dem Boden schleifte. Den Blick hatte sie gesenkt, und als sie ein Stück den Berg hinaufgegangen war, fing sie an zu weinen.
Eine Frau mittleren Alters mit großem Hut und einem braunen Spaniel an der Leine ging an ihr vorüber, ohne sie anzusehen. Der Hund blieb kurz stehen und schnüffelte an ihrem Bein, doch Sophie bemerkte es nicht. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Aus dem gleichen Grund bemerkte sie auch den Lieferwagen nicht, der von hinten näher kam, von The Grove. Erst als er schon ganz nah war, hörte sie den Motor langsamer werden und schaute auf. Ein Mann lehnte sich aus dem offenen Fahrerfenster und sprach sie an. Durch die Tränen konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber er fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Seine Stimme klang freundlich und besorgt, aber sie kannte ihn nicht, deshalb wandte sie sich ab, ohne zu antworten, und ging weiter, ein wenig schneller. Erst als sie das Tor zum Moor öffnete, machte es Klick in ihrem Kopf, und ihr wurde klar, dass sie den Lieferwagen schon einmal gesehen hatte.
Sie blieb stehen, drehte sich um und schaute die Straße entlang, wischte sich die Augen trocken, damit sie richtig sehen konnte. Der Lieferwagen war verschwunden.
Sie schaute sich um. Sie stand am Ortsrand von Ilkley, am Eingang zum Moor. Es war eine wohlhabende Gegend mit vielen großen Häusern, die um die Jahrhundertwende erbaut worden waren. Weiter unten und zu beiden Seiten standen hohe Mauern um die großen Gärten, die nach hinten ans Moor angrenzten. In manchen Häusern wohnten Schulfreunde oder Bekannte ihres Vaters. Die Gegend war ihr vertraut, sie war sicher. Sie schaute hoch zu den Kiefern, die sich wie Zacken vorm Horizont abzeichneten. Es war ein strahlender Sommertag, zu warm für Jacke oder Pullover, der 23. Juni 1997, ihr dreizehnter Geburtstag. Eigentlich ein Grund zum Feiern.
Sie trat auf den Pfad hoch zum "Bergsee", wie die Leute hier ihn nannten. Die Erde unter ihren glänzenden schwarzen Schuhen war nach einer Woche Hitze ohne Regen ganz hart geworden. Sie trug ihren marineblauen Schulkittel, kurze weiße Socken und eine lockere weiße Bluse, die am Hals offen war - die Krawatte hatte sie am Nachmittag im Kunstunterricht abgenommen. Sie hatte immer noch Farbkleckse an den Fingern.
Im Gehen erinnerte sie sich, dass sie den Lieferwagen schon letzte Woche gesehen hatte, als sie aus dem Bus gestiegen war. Er war ihr aufgefallen, weil sie ihn schon zwei Abende in Folge gesehen hatte. Er war hinter ihr in die Eaton Road eingebogen. Ein weißer Lieferwagen mit einem hellblauen Streifen an der Seite, als wäre es früher ein Polizeiwagen gewesen, bei dem man den Streifen übermalt hatte. Diese Erinnerung weckte irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf ein leises Unbehagen, aber nicht so sehr, dass sie ihre Pläne geändert hätte.
Als sie am "Bergsee" ankam, sah sie mit matter Freude, dass sie ihn ganz für sich hatte. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie war am liebsten allein in letzter Zeit. Sie setzte sich auf eine Bank.
Zeit ihres Leben war sie hierhergekommen, erst mit ihrer Mutter, dann mit dem Kindermädchen, dann allein. Der "Bergsee" war ein Ententeich, der von niedrigen Bäumen und Büschen umstanden und von den Faltungen des Moors den Blicken entzogen war. Vieles an diesem See gefiel ihr, besonders die Erinnerungen, die er weckte: an ihre Mutter, wie sie am Ufer stand und Brotkrümel ins Wasser warf; wie es sich anfühlte, wenn ihre Mama ihre langen Finger mit ihren verschränkte, an die aufgeregten Enten, die alle auf das gleiche Stück Brot aus waren. Sie konnte das alles jetzt vor sich sehen, als wäre ihre Mama ihr nie weggenommen worden, und kriegte einen Kloß in der Kehle. Tapfer versuchte sie ihn zu ignorieren und an etwas anderes zu denken. Es gab noch andere Gründe, warum sie gern hier war. Sie liebte es, still am Wasser zu sitzen, den Enten zuzusehen und zu träumen, sie wäre woanders.
Doch der Kloß war stärker als sie, und sie fing wieder an zu weinen. Es war einfach ein schrecklicher Tag. Zu Hause hatten sie ein Fest für sie vorbereitet. Bestimmt fragten sie sich schon, wo sie steckte. Es sollte eine Überraschungsparty sein, aber sie wusste Bescheid, weil sie gehört hatte, wie sie sich eines Abends im Bett darüber unterhalten hatten. Das war nicht das Einzige, was sie aus deren Bett zu hören kriegte. Es gab da noch lautere, seltsamere Geräusche, über die Trisha Merrington im Naturkundeunterricht erzählt hatte.
Sie hasste die neue Frau ihres Vaters, wie sie noch nie in ihrem Leben irgendetwas gehasst hatte. Sie war zu jung, zu dumm, zu hübsch. Sie konnte nicht einmal richtig Englisch. Sie wusste, warum er mit ihr zusammen war, sie wusste, was da lief, und fand es ziemlich erbärmlich. Wegen dieser Frau, weil er mit ihr zusammen war und weil er ständig zu ihr hielt, fing sie an, auch ihren Vater zu hassen.
Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, was zu Hause auf sie wartete. Bunte Fähnchen und Luftballons, Partyspiele, Reise nach Jerusalem und Apfelschnappen - wie für eine Achtjährige. Um der Sache die Krone aufzusetzen, hatten sie heimlich alle ihre Freunde eingeladen. Es würde furchtbar peinlich und kindisch werden. Sie sah auf die Uhr. Zehn vor fünf. Bestimmt machten sie sich langsam Sorgen um sie. Seufzend stand sie auf.
Er stand direkt vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen.
"Sophie?", fragte er.
Sie erkannte die Stimme auf Anhieb. Es war der Fahrer des Lieferwagens.
"Ich arbeite für deinen Vater."
Sie runzelte die Stirn. "Wie meinen Sie das?" Er stand viel zu dicht vor ihr, versperrte ihr den Weg. Hastig schaute sie nach rechts und links. Die Wege waren noch immer verlassen. "Mein Vater hat keine Leute, die für ihn arbeiten", sagte sie. Sie wollte hinzufügen: "Er ist Richter", überlegte es sich aber rasch anders. Womöglich gehörte dieser Mann zu denen, die ihr Vater ins Gefängnis geschickt hatte, vielleicht war er gefährlich.
"Ich passe auf ihn auf", sagte der Mann. "Genau genommen arbeite ich für die Polizei."
Sie schaute zu ihm auf, ein wenig beruhigt, aber noch nicht ganz. "Wieso passen Sie auf ihn auf?"
"Ich arbeite für eine Abteilung namens Innere Sicherheit. Dein Vater hat bei der Arbeit mit vielen bösen Menschen zu tun. Das weißt du doch bestimmt. Ich habe ein Auge auf ihn. Es ist meine Aufgabe, ihn vor diesen Leuten zu beschützen."
Wieder runzelte sie die Stirn. Ihr Vater hatte ihr nie davon erzählt. Sie trat einen Schritt nach hinten. "Was wollen Sie? Haben Sie einen Ausweis?"
Er kam auf sie zu, gleichzeitig kramte er in seiner Hosentasche und hielt ihr kurz einen Ausweis hin, eine laminierte Visitenkarte mit einem Foto drauf. Sie konnte das Gesicht erkennen - seines - und das Logo der Polizei von West Yorkshire, dann war die Karte wieder weg. Ihr fiel auf, dass er einen dunkelgrauen Anzug trug. "Es ist was Schlimmes passiert", sagte er. "Dein Vater ist in Bradford, in Sicherheit. Du kannst jetzt nicht nach Hause. Man hat mich geschickt, um dich zu ihm zu bringen."
Ihr Herz schlug schneller. "Was ist passiert?"
Er lächelte sie an. "Wir müssen uns beeilen, Sophie", sagte er. "Lass uns zum Wagen gehen, und ich erzähle dir alles auf dem Weg." Er ging voran.
Sie folgte ihm, plötzlich war sie ängstlich, panisch. "Was ist passiert?"
"Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst." Er war zwei Schritte voraus, er ging schnell. "Wir können nur nicht zu euch nach Hause gehen. Im Moment jedenfalls nicht."
"Warum?"
"Da sind ein paar Männer. Sie wollen deinen Vater umbringen."
Sie schnappte nach Luft vor Schreck und blieb stehen.
Er hielt ebenfalls an und beugte sich zu ihr herunter, legte ihr einen Arm um die Schulter. "Das hätte ich nicht sagen sollen", sagte er. Seine Stimme klang sanft. "Du musst nur eines wissen: Dein Vater ist in Sicherheit, und wir kümmern uns um die Angelegenheit. Ich bringe dich zu ihm, und später, wenn alles vorbei ist, könnt ihr feiern."
Ihr Blick fiel auf seine Hand, die auf ihrem Oberarm lag. Die Fingernägel waren abgekaut und eingerissen, er hatte gelbe Flecken an den Fingern. Sie ekelte sich.
"Na los, komm", sagte er, ohne sie loszulassen.
Sie musste ziemlich schnell gehen, um mit ihm mitzuhalten. So wie er den Arm um sie gelegt hatte, würde sie hinfallen, wenn sie nicht Schritt hielt. Sie versuchte, die Angst um ihren Vater unter Kontrolle zu halten, bis sie wieder auf der Wells Road waren. Dort sah sie neben dem Tor zum Moor den Lieferwagen stehen.
Er ging zur Beifahrertür und nahm den Arm von ihren Schultern, dann hielt er inne.
"Am besten, du sitzt hinten", sagte er. "Wir wollen doch nicht, dass sie dich sehen."
Sie nickte und folgte ihm nach hinten. Als er die Türen öffnete, sagte sie mit zittriger Stimme: "Und meinem Papa geht es auch bestimmt gut?"
Er hielt die Tür auf und lächelte sie an. Er hatte ein schönes, ein beruhigendes Lächeln. "Er ist in Sicherheit", sagte er und deutete in den Wagen, damit sie einstieg. Sie sah, dass der Laderaum bis auf eine Matratze auf dem Boden leer war. Die Matratze sah dreckig aus. Es gab keine Fenster. "Und du wirst auch bald in Sicherheit sein", sagte er. "Wenn wir dich hier rausgebracht haben."
Das mit der Matratze kam ihr komisch vor, und sie zögerte. Aber nur eine Sekunde lang.
Sie kletterte in den Wagen und drehte sich zu ihm um, aber da hatte er die Tür schon zugeworfen.
Detective Constable Karen Sharpe musterte die Frau namens Pamela Mathews. Sie saßen in einem Vernehmungsraum des CPT - des Child Protection and Domestic Violence Team, das für Kindesmisshandlungen und häusliche Gewalt zuständig war - in der Polizeiwache Eccleshill. Vor Karen auf dem Tisch lagen neun Din-A4-Blätter, beschrieben mit ihrer engen, praktisch unleserlichen Handschrift.
Auf die übliche Erklärung, dass die folgenden Aussagen freiwillig gemacht wurden und eine Falschaussage strafrechtlich verfolgt werden könne, folgte eine Einleitung, die Karen für jede Aussage verwendete, die sie aufnahm. Sie enthielt den Namen des Zeugen und einige Angaben zur Person: Lebensumstände, Familienstand etc. Pamela hatte ihr Alter mit dreiundzwanzig und eine Anschrift in Otley angegeben. Auf die Einleitung folgte die eigentliche Geschichte.
Es gab bei ihren Kollegen drei Methoden, eine Aussage aufzunehmen. Entweder man schrieb mit, was gesagt wurde (und erhielt in der Regel ein chaotisches Durcheinander), oder man gab den Zeugen Papier und Stift und bat sie, selbst alles aufzuschreiben (was meist noch schlimmer war), oder aber man setzte sich mit ihnen hin und ließ sie alles von Anfang bis Ende erzählen, wie es ihnen in den Sinn kam, machte sich Notizen und fragte hier und da nach, ging zum Schluss alles noch einmal gemeinsam durch und brachte die Aussage schließlich zu Papier.
Karen bevorzugte letztere Methode. Sie hörte genau zu, machte sich ein Bild von der Sachlage und ließ sich unklare Passagen zweimal erklären. Dann erzählte sie die Geschichte von vorn bis hinten nach, lenkte dabei die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Aspekte und schrieb gleichzeitig mit. Zu guter Letzt las sie alles laut vor und ließ sich die Aussage von den Zeugen unterschreiben. Sie fing an, Pamela vorzulesen, was sie aufgeschrieben hatte:
Ich weiß noch genau, dass der Mann mir erzählt hat, meine Eltern seien in Gefahr. Deshalb bin ich zu ihm in den Lieferwagen gestiegen. Es war ein junger Mann - nicht so alt wie mein Vater -, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Er konnte sich gut ausdrücken, nicht wie einer ohne Bildung. Als ich schon im Lieferwagen saß, sprach er immer weiter mit mir und machte dabei die Türen zu. Wir waren hinten im Laderaum. Ich habe mich gewundert, dass er zu mir einstieg, und habe ihn danach gefragt. Er drehte sich zu mir und schlug mir mit irgendetwas ins Gesicht. Was es war, weiß ich nicht. Ich bin gestürzt, ich habe am Kopf geblutet und geweint.
Dann habe ich gemerkt, dass er sich an meinem Arm zu schaffen machte, danach bin ich eingeschlafen oder bewusstlos geworden. Während ich das Bewusstsein verlor, hat er sanft auf mich eingeredet, als ob er mich gern hätte, er strich mir übers Haar, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war gelähmt von dem Zeug, das er mir gegeben hatte, der Droge, die er mir in den Arm gespritzt hatte. Er sagte, ich brauchte keine Angst zu haben, dass er mich an einen sicheren Ort bringt. Das ist das Einzige, was ich noch weiß.
Ich war dreizehn Jahre alt, und ich hatte schreckliche Angst. Ich weiß noch genau, wie viel Angst ich hatte, selbst heute noch. Ich hatte solche Angst, weil ich nicht wusste, was los war. Ich schrie nach meiner Mutter, aber er stopfte mir irgendetwas in den Mund. So fest, dass ich würgen musste und nicht mehr atmen konnte. Dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder aufwachte, war es ganz dunkel um mich herum, und ich hatte Kopfschmerzen. Als ich etwas sehen konnte, stellte ich fest, dass ich auf einem Bett festgeschnallt war. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich fing an zu schreien, ich weinte und flehte um Hilfe. Ich hatte keine Decke, mir war kalt. Ich weiß noch, dass ich die Wand mit den Fingern berühren konnte: Sie war rau und feucht, mehr wie in einer Höhle als wie in einem richtigen Haus. Ich weiß nicht, wie lange ich geschrien habe, aber es hat mich niemand gehört, und niemand ist gekommen. Ich habe gezittert, und ich hatte Angst, und ich habe ins Bett gemacht, aber es ist immer noch keiner gekommen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da allein festgehalten wurde. Ich glaube, ich bin immer wieder eingeschlafen. Wenn ich wach war, habe ich entweder geweint oder nach meiner Mutter gerufen. Manchmal habe ich auch nur dagelegen und gelauscht und gezittert.
Als er das erste Mal zurückkam, muss ich wohl geschlafen haben, ich wachte auf und war ganz geblendet von dem starken Licht, und er spritzte mir wieder irgendetwas in den Arm. Heute weiß ich das, aber in dem Moment habe ich nur einen stechenden Schmerz gespürt und später dann die Wirkung. Ich wollte mich wehren, aber die Fesseln waren ziemlich eng. Ich weiß nicht, was er mir gegeben hat, aber ich bin nicht bewusstlos geworden, nur ganz schwach. Mein Herz raste, ich konnte alles sehen und hören, aber ich hatte überhaupt keine Energie, ich konnte mich nicht mehr bewegen oder schreien oder auch nur sprechen.
Als ich so war, so stumm und gelähmt, band er mich los, setzte mich auf und fing an, mich aus einer Nuckelflasche zu füttern. Ich musste irgendeine Flüssigkeit daraus saugen, aber ich konnte kaum saugen. Ich musste mich voll darauf konzentrieren, meinen Mund zu bewegen. Ich konnte überhaupt nichts schmecken, aber ich hatte so großen Durst, dass ich so viel wie möglich trinken wollte. Die ganze Zeit sprach er mit mir, aber ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Ich hatte Angst vor ihm. Als ich genug getrunken hatte, rollte er mich auf den Bauch. Er zog mir mein neues Kleid aus. Meine Mutter hatte mir das Kleid zum Geburtstag geschenkt. Er hat es zerrissen. Dann spürte ich, dass er irgendetwas mit meinem Po machte, von hinten. Aber alles war ganz taub, und ich konnte mich nicht bewegen. Ich spürte, dass er auf mir lag. Er war so schwer, dass ich kaum atmen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, was er da tat. Ich hörte ihn keuchen und irgendwas schreien, aber ich wusste nicht, warum. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, was er da mit mir gemacht hat. Es hat nicht wehgetan, wahrscheinlich wegen der Drogen.Irgendwann wurde ich woandershin gebracht. Ich glaube, für die Fahrt hat er mir wieder Drogen gegeben, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Vielleicht hat er mich auch nur von einem Zimmer ins andere gebracht. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, dass ich ganz betäubt dagelegen habe. Ich war nicht gefesselt, aber ich war so träge, dass ich mich kaum bewegen konnte. Zu dem Zeitpunkt muss ich wohl schon ganz abgestumpft gewesen sein. Die Angst war weg, ich weiß nämlich noch, dass ich irgendwo auf einem großen Bett lag, ich hatte eine Bettdecke, und es war warm und hell. Und ich weiß noch, dass ich mich sehr glücklich fühlte. Ich glaube, sie haben mir Heroin gegeben oder Kokain oder irgendeine andere Droge. Ich kann mich nicht daran erinnern, gebadet worden zu sein, aber so muss es gewesen sein, weil ich anders roch, das habe ich sogar selbst gemerkt. Vielleicht haben sie mich sogar einparfümiert.
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Autoren-Porträt von John Connor
John Connor ist Strafverteidiger der britischen Staatsanwaltschaft. Während seiner fünfzehnjährigen Karriere hat er über vierzig Mordfälle bearbeitet und der Polizei als Berater in zahllosen verdeckten Drogenermittlungen zur Seite gestanden. Zuletzt leitete er eine Sondereinheit, die das organisierte Verbrechen in der Gegend um Leeds bekämpft. John Connor lebt und arbeitet in West Yorkshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Connor
- 2007, 474 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Heike Steffen
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442460336
- ISBN-13: 9783442460335
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