Verkauft
"Die traurige Geschichte lässt einen auch nicht los, wenn man das Buch schon ausgelesen hat, sie hüllt einen immer wieder mit ihrer Intensität ein."
Bücherkinder
Das Mädchen Lakshmi aus Nepal ist erst 13 Jahre...
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Weltbild Ausgabe
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Produktinformationen zu „Verkauft “
"Die traurige Geschichte lässt einen auch nicht los, wenn man das Buch schon ausgelesen hat, sie hüllt einen immer wieder mit ihrer Intensität ein."
Bücherkinder
Das Mädchen Lakshmi aus Nepal ist erst 13 Jahre alt, als sie von ihrem skrupellosen Stiefvater an eine Mädchenhändlerin verkauft wird. Ein heruntergekommenes Bordell in Kalkutta ist fortan ihr Zuhause. Sie wird dort brutal geschlagen und unter Drogen gesetzt - bis sie sich irgendwann fügt. Egal, wieviele Männer sie mit auf ihr Zimmer nimmt, sie wird nie genug Geld haben, um sich freizukaufen. Erst nach Jahren bietet ihr ein Fremder Hilfe an. Kann Lakshmi endlich ihren Peinigern entfliehen?
Ein schockierender Roman.
Lese-Probe zu „Verkauft “
Verkauft von Patricia McCormickEIN BLECHDACH
Noch eine Regenzeit wird unser Dach nicht überleben, sagt Ama.
Meine Mutter steht auf einer Holzleiter und begutachtet das Strohdach, und ich stehe unten und reiche ihr die Wäsche hinauf, damit sie in der Nachmittagssonne trocknen kann. Keine Wolke weit und breit. Keine Spur von Regen, kein Hauch von Feuchtigkeit, und so wird es noch wochenlang bleiben.
Aber es hat keinen Sinn, Ama dies zu sagen. Sie schaut den Berg hinab auf die Reisterrassen, die sich Stufe um Stufe hinunter zum Dorf erstrecken, schaut auf die Blechdächer der Nachbarn, die schadenfroh zu ihr emporblinzeln.
Ein Blechdach heißt, dass die Familie einen Vater hat, der nicht das Geld für die Pacht in der Teestube beim Kartenspiel verliert. Ein Blechdach heißt, dass die Familie einen Sohn hat, der in der Ziegelei in der Stadt arbeitet. Ein Blechdach heißt, dass bei Regen das Feuer nicht ausgeht und das Baby gesund bleibt.
»Lass mich in die Stadt gehen«, sage ich. »Ich kann für eine reiche Familie arbeiten, wie Gita, und dir meinen Lohn schicken.«
Ama streicht mir über die Wange. Die Haut ihrer abgearbeiteten Hand ist so rau wie die Zunge einer neugeborenen Ziege. »Lakshmi, mein Kind«, sagt sie. »Du musst in der Schule bleiben, egal, was dein Stiefvater sagt.«
Ich will ihr sagen, dass mich mein Stiefvater seit kurzem mit dem gleichen Blick betrachtet wie die Gurken, die ich vor unserer Hütte gepfl anzt habe. Er schnippt die Asche von seiner Zigarette und kneift die Augen zusammen. »Hoffentlich bekommst du einen guten Preis dafür«, sagt er.
Wenn er sie anschaut, sieht er Zigaretten und Reisbier, eine neue Weste für sich.
Ich sehe ein Blechdach.
BEVOR GITA WEGGING
... mehr
Wir haben Vierecke auf den Trampelpfad zwischen unseren Hütten gemalt und das Spiel gespielt, bei dem man auf einem Bein hüpft. Wir haben einander die Haare mit hundert Bürstenstrichen gebürstet und davon geträumt, welche Namen wir unseren Söhnen und Töchtern geben würden. Wir haben uns die Nasen zugehalten, wenn die Frau des Dorfoberhaupts vorbeiging, weil wir nicht vergessen konnten, wie sie einmal eine Blähung hatte abgehen lassen, als sie am Frühlingsfest vor uns herstolziert war.
Jedes Mal, wenn wir in der Schule etwas auswendig aufsagen mussten, rieben wir vorher die Kerbe mit den rauen Kanten in der Schulbank, damit sie uns Glück bringen sollte. An den langen Nachmittagen, wenn wir mit gebeugten Rücken in den Reisfeldern standen, bewarfen wir uns mit Schlamm und lachten Tränen, als einer von Gitas Schlammklumpen ihre hochnäsige ältere Schwester am Hinterkopf traf.
Und im Herbst, als die Ziegenhirten von den Weiden im Himalaja herunterkamen, versteckten wir uns im Elefantengras, um einen Blick auf Krishna zu erhaschen, den Jungen mit den schläfrigen Katzenaugen, dem ich versprochen bin.
Jetzt, da Gita weg ist und als Dienstmädchen für eine reiche Frau in der Stadt arbeitet, hat ihre Familie eine winzige Glassonne, die mitten im Raum an einem Draht von der Decke herabhängt, neue Kochtöpfe für Gitas Mutter, eine Brille für ihren Vater, ein Brautkleid aus Brokat für ihre ältere Schwester und das Schulgeld für ihren kleinen Bruder.
In der Hütte von Gitas Familie ist es immer Tag, auch nachts.
Aber für mich ist es Nacht ohne meine Freundin, selbst unter der strahlenden Sonne.
DIE NEUE SCHÜLERIN
Jeden Morgen, wenn ich meine Arbeit verrichte - das Reiswasser abgießen, die Gewürze mahlen, den Hof ausfegen - klebt mir Tali, meine kleine, schwarzweiß gefl eckte Ziege, an den Fersen.
»Diese dumme Ziege«, sagt Ama. »Sie denkt, du bist ihre Mutter.«
Tali schiebt ihren Kopf in meine Handfl äche und meckert zustimmend. Und so bringe ich ihr bei, was ich weiß.
Ich wische den hartgetretenen Lehmboden mit Dungwasser ab und erkläre ihr: »Das hält unsere Hütte kühl und wehrt böse Geister ab.« Ich zeige ihr, wie ich den Wasserkrug auf den Korb auf meinem Rücken schnalle und damit den steilen Hang vom Dorfbrunnen zu unserer Hütte hinaufklettere, ohne einen Tropfen zu verschütten. Und wenn ich meine Zähne mit einem Zweig des Niembaums putze, ahmt Tali mich nach und knabbert so ernsthaft wie ein Mönch an ihrem eigenen Zweig.
Wenn ich zur Schule gehen muss, bereite ich ihr in der sonnigen Ecke des Vorbaus ein Bett aus Stroh. Ich küsse sie zwischen die Ohren und verspreche ihr, dass ich zum Mittagessen wieder zu Hause bin.
Sie drückt ihre feuchte rosafarbene Nase in meine Rocktasche und sucht nach einem versteckten Korn. Dann legt sie sich hin, ein Durcheinander aus Ellbogen und Knien, und kuschelt sich in das Stroh, um zu dösen.
»Was für ein komisches Tier«, sagt Ama. »Sie denkt, sie ist ein Mensch.« Ama hat wohl recht, denn letzte Woche, als ich im Schulzimmer saß, hörte ich das Läuten ihres Glöckchens. Ich schaute auf und sah meine kleine gefl eckte Ziege im Schulhof herumlaufen, wo sie verzweifelt meckerte.
Als sie mich schließlich durch das Fenster entdeckte, stieß sie ein lautes Bahh voll verletztem Stolz aus, empört darüber, dass ich sie zurückgelassen hatte. Sie marschierte quer über den Hof, stellte ihre Hufe auf den Fenstersims und schaute mit aufmerksamen und neugierigen Augen zu, wie die Lehrerin den Unterricht beendete.
Nachdem die Schule vorbei war und wir den Hügel zu unserer Hütte hinaufstiegen, trottete Tali mit hoch erhobenem Stummelschwanz voraus.
»Nächste Woche«, versprach ich ihr, »werden wir das Buchstabieren üben.«
ETWAS SCHÖNES
Morgens beugt sich Ama nieder, um das Herdfeuer zu entfachen und um mein Haar zu fl echten, bevor ich zur Schule gehe. Jeden Tag, während sie den Berg hinauf- und hinabläuft, immer einen schweren Korb auf dem Rücken, der mit einem Seil quer über ihrer Stirn befestigt ist, geht sie gebeugt unter dem Gewicht ihrer Last.
Und am Abend, wenn sie meinen Stiefvater beim Essen bedient, kniet sie zu seinen Füßen.
Selbst wenn sie aufrecht dasteht und den Himmel nach Regenwolken absucht, ist der Rücken meiner Ama gebeugt.
Die Menschen, die auf unserem Berg leben - in einer Siedlung aus zusammengewürfelten Hütten aus rotem Lehm, die sich an den Abhang klammern -, beten die Göttin an, die hier lebt, auf dem Schwalbenschwanz-Gipfel. Sie beten zu der Göttin, deren Stirn wild und edel und deren Brust breit und großzügig ist und die ihre schneeigen Röcke weit über uns ausbreitet.
Sie ist schön, mächtig und herrlich.
Aber meine Ama, mit ihren krähenschwarzen Haaren, in die sie Fetzen aus rotem Tuch und Perlen hineingeflochten hat, mit ihrer zimtfarbenen Haut und ihren Ohren, an denen der fröhliche Klang von Goldstücken klimpert, ist in meinen Augen lieblicher als die Göttin.
Und ihr schmaler Rücken, der unsere Sorgen trägt - und all unsere Hoffnung -, ist noch viel schöner.
DER UNTERSCHIED ZWISCHEN EINEM SOHN UND EINER TOCHTER
Der Arm meines Stiefvaters ist ein verkümmertes und nutzloses Ding. Er brach ihn, als er noch ein Kind war, und seine Eltern hatten kein Geld für einen Arzt. Sein bemitleidenswerter, schlaffer Arm verursacht ihm während der Regenzeit große Schmerzen und ist für ihn eine große Schande.
Die meisten Männer in seinem Alter verlassen ihr Zuhause oft monatelang, um in weit entfernten Fabriken oder Arbeitskolonnen Geld zu verdienen. Aber niemand, behauptet er, wird einen einarmigen Mann einstellen. Und so ölt er sein Haar, zieht seine Weste an und eine Armbanduhr, die schon vor langer Zeit stehen geblieben ist, und geht jeden Tag den Hügel hinauf, um mit den alten Männern Karten zu spielen, über Politik zu reden und Tee zu trinken.
Ama sagte, es ist ein Glück, dass wir überhaupt einen Mann haben. Sie sagt, dass ich ihn ehren und preisen muss, ihn respektieren und ihm dafür danken, dass er uns aufnahm, nachdem mein Vater gestorben war.
Und so benehme ich mich wie eine pfl ichtbewusste Tochter. Ich bringe ihm morgens seinen Tee und massiere ihm abends die Füße. Ich tue so, als ob ich nicht bemerken würde, dass er mitlacht, wenn die Männer in der Teestube über den Unterschied zwischen der Zeugung eines Sohns und der Verheiratung einer Tochter Witze machen.
Ein Sohn wird immer ein Sohn sein, sagen sie. Aber ein Mädchen ist wie eine Ziege. Sie ist so lange gut, wie sie dir Milch und Butter gibt. Aber keiner weint ihr eine Träne nach, wenn die Zeit zum Schlachten gekommen ist.
JENSEITS DES HIMALAJAS
In der Morgendämmerung ist unsere Hütte, die hoch oben auf dem Hügel steht, schon in Sonnenlicht gebadet, während das Dorf unten am Hang bis zum späten Morgen unter dem Mantel des langen, dunkelroten Bergschattens liegt.
Am Mittag werden die gelbbraunen Felder mit den fröhlichen Farbfl ecken von Frauenkleidern gepunktet sein, so rot wie die Poinsettien, die die windigen Pfade säumen. Schlummernde Babys werden in Weidenkörben schaukeln, und die Eidechsen werden aus ihren Löchern kommen, um sich zu sonnen.
Abends werden sich die prächtigen gelben Kürbisblüten schließen, trunken von Sonnenschein, während der milchweiße Jasmin seine schlanken Hälse öffnen und die kühle Himalaja-Luft schlürfen wird.
In der Nacht werden die glimmenden Herdfeuer ihre schmalen Rauchfähnchen in den Himmel schieben, erfüllt vom Duft unzähliger Abendessen, und die Dunkelheit wird das Land einhüllen.
Außer in Nächten, in denen der Vollmond am Himmel steht. In diesen Nächten ist der Abhang und das Tal darunter in ein magisches weißes Licht gebadet, in das Schimmern des ewigen Schnees, der die Berggipfel zudeckt. In diesen Nächten liege ich schlaflos auf meinem Lager und frage mich, wie die Welt jenseits meiner Bergheimat aussieht.
KALENDER
In der Schule gibt es einen Kalender, an dem meine junge, mondgesichtige Lehrerin die Tage mit einem roten Stift ausstreicht.
Auf dem Berg messen wir die Zeit an der Arbeit der Männer und den Klagen der Frauen.
In den kalten Monaten steigen die Frauen hoch hinauf auf den Bergrücken, um nach Feuerholz zu suchen. Sie nehmen das Essen aus ihren Schalen und füttern damit ihre Kinder und gemahnen ihre eigenen verkrampften Mägen zu schweigen.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die am Fieber sterben.
In den trockenen Monaten sammeln die Frauen Körbe voller Dung, den sie fl ach klopfen, damit er in der Sonne hart und trocken wird - ein kostbarer Brennstoff für das abendliche Herdfeuer. Sie binden Tücher um die Augen ihrer Kinder, um sie vor dem Staub zu schützen, der aus dem ausgetrockneten Flussbett aufgewirbelt wird.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die an der Hustenkrankheit sterben. In den Regenmonaten fl icken sie die bröckelnden Wände der Hütten und lassen das Feuer nicht ausgehen, damit der Brei von gestern bis zum nächsten Abend reicht. Sie sehen zu, wie sich der Fluss in ein donnerndes Tier verwandelt. Sie pfl ücken Blutegel von den Füßen ihrer Kinder und fl ößen ihnen Tee ein gegen die Krankheit der Gedärme.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die man nicht zum anderen Flussufer bringen kann, wo der Arzt wohnt.
In den kühlen Monaten kochen sie besondere Mahlzeiten für die Feste. Sie brauen Reisbier für die Männer und hören zu, wenn sie sich über Politik streiten. Sie bringen den Kindern, die überlebt haben, bei, wie man Tinte für die Schule aus dem blauschwarzen Saft des Tintenbaums macht.
Das ist auch die Zeit, in der die Frauen den blauschwarzen Saft des Tintenbaums trinken, um die Babys in ihren Bäuchen wegzumachen - diejenigen, die sonst geboren werden würden, nur um in der nächsten Jahreszeit zu sterben.
Übersetzung: Alexandra Ernst
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wir haben Vierecke auf den Trampelpfad zwischen unseren Hütten gemalt und das Spiel gespielt, bei dem man auf einem Bein hüpft. Wir haben einander die Haare mit hundert Bürstenstrichen gebürstet und davon geträumt, welche Namen wir unseren Söhnen und Töchtern geben würden. Wir haben uns die Nasen zugehalten, wenn die Frau des Dorfoberhaupts vorbeiging, weil wir nicht vergessen konnten, wie sie einmal eine Blähung hatte abgehen lassen, als sie am Frühlingsfest vor uns herstolziert war.
Jedes Mal, wenn wir in der Schule etwas auswendig aufsagen mussten, rieben wir vorher die Kerbe mit den rauen Kanten in der Schulbank, damit sie uns Glück bringen sollte. An den langen Nachmittagen, wenn wir mit gebeugten Rücken in den Reisfeldern standen, bewarfen wir uns mit Schlamm und lachten Tränen, als einer von Gitas Schlammklumpen ihre hochnäsige ältere Schwester am Hinterkopf traf.
Und im Herbst, als die Ziegenhirten von den Weiden im Himalaja herunterkamen, versteckten wir uns im Elefantengras, um einen Blick auf Krishna zu erhaschen, den Jungen mit den schläfrigen Katzenaugen, dem ich versprochen bin.
Jetzt, da Gita weg ist und als Dienstmädchen für eine reiche Frau in der Stadt arbeitet, hat ihre Familie eine winzige Glassonne, die mitten im Raum an einem Draht von der Decke herabhängt, neue Kochtöpfe für Gitas Mutter, eine Brille für ihren Vater, ein Brautkleid aus Brokat für ihre ältere Schwester und das Schulgeld für ihren kleinen Bruder.
In der Hütte von Gitas Familie ist es immer Tag, auch nachts.
Aber für mich ist es Nacht ohne meine Freundin, selbst unter der strahlenden Sonne.
DIE NEUE SCHÜLERIN
Jeden Morgen, wenn ich meine Arbeit verrichte - das Reiswasser abgießen, die Gewürze mahlen, den Hof ausfegen - klebt mir Tali, meine kleine, schwarzweiß gefl eckte Ziege, an den Fersen.
»Diese dumme Ziege«, sagt Ama. »Sie denkt, du bist ihre Mutter.«
Tali schiebt ihren Kopf in meine Handfl äche und meckert zustimmend. Und so bringe ich ihr bei, was ich weiß.
Ich wische den hartgetretenen Lehmboden mit Dungwasser ab und erkläre ihr: »Das hält unsere Hütte kühl und wehrt böse Geister ab.« Ich zeige ihr, wie ich den Wasserkrug auf den Korb auf meinem Rücken schnalle und damit den steilen Hang vom Dorfbrunnen zu unserer Hütte hinaufklettere, ohne einen Tropfen zu verschütten. Und wenn ich meine Zähne mit einem Zweig des Niembaums putze, ahmt Tali mich nach und knabbert so ernsthaft wie ein Mönch an ihrem eigenen Zweig.
Wenn ich zur Schule gehen muss, bereite ich ihr in der sonnigen Ecke des Vorbaus ein Bett aus Stroh. Ich küsse sie zwischen die Ohren und verspreche ihr, dass ich zum Mittagessen wieder zu Hause bin.
Sie drückt ihre feuchte rosafarbene Nase in meine Rocktasche und sucht nach einem versteckten Korn. Dann legt sie sich hin, ein Durcheinander aus Ellbogen und Knien, und kuschelt sich in das Stroh, um zu dösen.
»Was für ein komisches Tier«, sagt Ama. »Sie denkt, sie ist ein Mensch.« Ama hat wohl recht, denn letzte Woche, als ich im Schulzimmer saß, hörte ich das Läuten ihres Glöckchens. Ich schaute auf und sah meine kleine gefl eckte Ziege im Schulhof herumlaufen, wo sie verzweifelt meckerte.
Als sie mich schließlich durch das Fenster entdeckte, stieß sie ein lautes Bahh voll verletztem Stolz aus, empört darüber, dass ich sie zurückgelassen hatte. Sie marschierte quer über den Hof, stellte ihre Hufe auf den Fenstersims und schaute mit aufmerksamen und neugierigen Augen zu, wie die Lehrerin den Unterricht beendete.
Nachdem die Schule vorbei war und wir den Hügel zu unserer Hütte hinaufstiegen, trottete Tali mit hoch erhobenem Stummelschwanz voraus.
»Nächste Woche«, versprach ich ihr, »werden wir das Buchstabieren üben.«
ETWAS SCHÖNES
Morgens beugt sich Ama nieder, um das Herdfeuer zu entfachen und um mein Haar zu fl echten, bevor ich zur Schule gehe. Jeden Tag, während sie den Berg hinauf- und hinabläuft, immer einen schweren Korb auf dem Rücken, der mit einem Seil quer über ihrer Stirn befestigt ist, geht sie gebeugt unter dem Gewicht ihrer Last.
Und am Abend, wenn sie meinen Stiefvater beim Essen bedient, kniet sie zu seinen Füßen.
Selbst wenn sie aufrecht dasteht und den Himmel nach Regenwolken absucht, ist der Rücken meiner Ama gebeugt.
Die Menschen, die auf unserem Berg leben - in einer Siedlung aus zusammengewürfelten Hütten aus rotem Lehm, die sich an den Abhang klammern -, beten die Göttin an, die hier lebt, auf dem Schwalbenschwanz-Gipfel. Sie beten zu der Göttin, deren Stirn wild und edel und deren Brust breit und großzügig ist und die ihre schneeigen Röcke weit über uns ausbreitet.
Sie ist schön, mächtig und herrlich.
Aber meine Ama, mit ihren krähenschwarzen Haaren, in die sie Fetzen aus rotem Tuch und Perlen hineingeflochten hat, mit ihrer zimtfarbenen Haut und ihren Ohren, an denen der fröhliche Klang von Goldstücken klimpert, ist in meinen Augen lieblicher als die Göttin.
Und ihr schmaler Rücken, der unsere Sorgen trägt - und all unsere Hoffnung -, ist noch viel schöner.
DER UNTERSCHIED ZWISCHEN EINEM SOHN UND EINER TOCHTER
Der Arm meines Stiefvaters ist ein verkümmertes und nutzloses Ding. Er brach ihn, als er noch ein Kind war, und seine Eltern hatten kein Geld für einen Arzt. Sein bemitleidenswerter, schlaffer Arm verursacht ihm während der Regenzeit große Schmerzen und ist für ihn eine große Schande.
Die meisten Männer in seinem Alter verlassen ihr Zuhause oft monatelang, um in weit entfernten Fabriken oder Arbeitskolonnen Geld zu verdienen. Aber niemand, behauptet er, wird einen einarmigen Mann einstellen. Und so ölt er sein Haar, zieht seine Weste an und eine Armbanduhr, die schon vor langer Zeit stehen geblieben ist, und geht jeden Tag den Hügel hinauf, um mit den alten Männern Karten zu spielen, über Politik zu reden und Tee zu trinken.
Ama sagte, es ist ein Glück, dass wir überhaupt einen Mann haben. Sie sagt, dass ich ihn ehren und preisen muss, ihn respektieren und ihm dafür danken, dass er uns aufnahm, nachdem mein Vater gestorben war.
Und so benehme ich mich wie eine pfl ichtbewusste Tochter. Ich bringe ihm morgens seinen Tee und massiere ihm abends die Füße. Ich tue so, als ob ich nicht bemerken würde, dass er mitlacht, wenn die Männer in der Teestube über den Unterschied zwischen der Zeugung eines Sohns und der Verheiratung einer Tochter Witze machen.
Ein Sohn wird immer ein Sohn sein, sagen sie. Aber ein Mädchen ist wie eine Ziege. Sie ist so lange gut, wie sie dir Milch und Butter gibt. Aber keiner weint ihr eine Träne nach, wenn die Zeit zum Schlachten gekommen ist.
JENSEITS DES HIMALAJAS
In der Morgendämmerung ist unsere Hütte, die hoch oben auf dem Hügel steht, schon in Sonnenlicht gebadet, während das Dorf unten am Hang bis zum späten Morgen unter dem Mantel des langen, dunkelroten Bergschattens liegt.
Am Mittag werden die gelbbraunen Felder mit den fröhlichen Farbfl ecken von Frauenkleidern gepunktet sein, so rot wie die Poinsettien, die die windigen Pfade säumen. Schlummernde Babys werden in Weidenkörben schaukeln, und die Eidechsen werden aus ihren Löchern kommen, um sich zu sonnen.
Abends werden sich die prächtigen gelben Kürbisblüten schließen, trunken von Sonnenschein, während der milchweiße Jasmin seine schlanken Hälse öffnen und die kühle Himalaja-Luft schlürfen wird.
In der Nacht werden die glimmenden Herdfeuer ihre schmalen Rauchfähnchen in den Himmel schieben, erfüllt vom Duft unzähliger Abendessen, und die Dunkelheit wird das Land einhüllen.
Außer in Nächten, in denen der Vollmond am Himmel steht. In diesen Nächten ist der Abhang und das Tal darunter in ein magisches weißes Licht gebadet, in das Schimmern des ewigen Schnees, der die Berggipfel zudeckt. In diesen Nächten liege ich schlaflos auf meinem Lager und frage mich, wie die Welt jenseits meiner Bergheimat aussieht.
KALENDER
In der Schule gibt es einen Kalender, an dem meine junge, mondgesichtige Lehrerin die Tage mit einem roten Stift ausstreicht.
Auf dem Berg messen wir die Zeit an der Arbeit der Männer und den Klagen der Frauen.
In den kalten Monaten steigen die Frauen hoch hinauf auf den Bergrücken, um nach Feuerholz zu suchen. Sie nehmen das Essen aus ihren Schalen und füttern damit ihre Kinder und gemahnen ihre eigenen verkrampften Mägen zu schweigen.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die am Fieber sterben.
In den trockenen Monaten sammeln die Frauen Körbe voller Dung, den sie fl ach klopfen, damit er in der Sonne hart und trocken wird - ein kostbarer Brennstoff für das abendliche Herdfeuer. Sie binden Tücher um die Augen ihrer Kinder, um sie vor dem Staub zu schützen, der aus dem ausgetrockneten Flussbett aufgewirbelt wird.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die an der Hustenkrankheit sterben. In den Regenmonaten fl icken sie die bröckelnden Wände der Hütten und lassen das Feuer nicht ausgehen, damit der Brei von gestern bis zum nächsten Abend reicht. Sie sehen zu, wie sich der Fluss in ein donnerndes Tier verwandelt. Sie pfl ücken Blutegel von den Füßen ihrer Kinder und fl ößen ihnen Tee ein gegen die Krankheit der Gedärme.
Das ist die Zeit, in der die Frauen die Kinder begraben, die man nicht zum anderen Flussufer bringen kann, wo der Arzt wohnt.
In den kühlen Monaten kochen sie besondere Mahlzeiten für die Feste. Sie brauen Reisbier für die Männer und hören zu, wenn sie sich über Politik streiten. Sie bringen den Kindern, die überlebt haben, bei, wie man Tinte für die Schule aus dem blauschwarzen Saft des Tintenbaums macht.
Das ist auch die Zeit, in der die Frauen den blauschwarzen Saft des Tintenbaums trinken, um die Babys in ihren Bäuchen wegzumachen - diejenigen, die sonst geboren werden würden, nur um in der nächsten Jahreszeit zu sterben.
Übersetzung: Alexandra Ernst
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Patricia McCormick
Patricia McCormick ist freie Journalistin. Sie studierte kreatives Schreiben an der New School und rezensiert Jugendbücher und Familienfilme für die New York Times und die Zeitschrift "Parents". Die Autorin lebt in New York. 2009 erhielt sie den Gustav-Heinemann Friedenspreis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia McCormick
- 312 Seiten, Maße: 13,2 x 19,2 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996914
- ISBN-13: 9783828996915
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