Verlockende Täuschung
Thomasina Waxton, Viscountess von Greenborough, bleibt nur die Flucht: Sie hat ihren Mann erschossen - in Notwehr. In London will Thomasina ein neues Leben beginnen, und Männern die kalte Schulter zeigen.
Ein Vorsatz, der nichts mehr wert...
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Produktinformationen zu „Verlockende Täuschung “
Thomasina Waxton, Viscountess von Greenborough, bleibt nur die Flucht: Sie hat ihren Mann erschossen - in Notwehr. In London will Thomasina ein neues Leben beginnen, und Männern die kalte Schulter zeigen.
Ein Vorsatz, der nichts mehr wert ist, als sie dem charmanten Gavin Merrick begegnet, der eine Mörderin jagt. Doch um Gavin rankt ein Geheimnis.
Lese-Probe zu „Verlockende Täuschung “
Verlockende Täuschung von Colleen FaulknerProlog
Gut Havering, Essex, England,
Januar 1654
Thomasina richtete sich ihre schwarze Puritanerhaube, während sie in die Bibliothek ihres Vaters hineinhuschte. »Sie haben nach mir gerufen, Sir?« Ihr Vater, Viscount Greenborough, stand vor den Bücherregalen und blätterte in einem vergilbten Buch. Er stand mit dem Rücken zu seiner Tochter. Seine schmalen Schultern, die sich unter seinem schwarzen Gehrock abzeichneten, waren deutlich in die Höhe gezogen. Thomasina musste die gebrechliche Hand ihres Vaters nicht sehen, um zu wissen, dass sie zitterte, als er eine Seite aus Florpostpapier umblätterte. In der Bibliothek war es düster. Lediglich eine Hand voll ranziger Talgkerzen spendete fahles, gelbliches Licht. Abgesehen von dem schaurigen Geräusch, das von einem Ast herrührte, der an die Fensterscheibe kratzte, herrschte absolute Stille. Thomasina rang unruhig mit ihren Händen. »Sir?« Der Viscount stellte das in Leder gebundene Buch an seinen angestammten Platz zurück und wandte sich seinem einzigen Sprössling zu. Als er Thomasina anblickte, war er jedoch tunlichst darauf bedacht, direkten Augenkontakt zu vermeiden. »Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden, meine Tochter. Es gibt schlechte Neuigkeiten aus London.« Thomasina hob das Kinn. Ihre dunklen Augen ruhten auf ihrem von Erschöpfung gezeichneten Vater. »Sie haben Ihre Ländereien verloren«, flüsterte sie bestürzt, wenngleich nicht sonderlich überrascht. Greenborough zupfte sich verlegen am Spitzbart. »So ist es.«
»Wie steht es mit Graf Waxtons Versprechen?«, erkundigte sie sich. Graf Waxton, eine herausragende Persönlichkeit im Parlament, hatte sich vor über einem Jahr ihres Vaters angenommen und ihm seine Unterstützung zugesichert.
... mehr
Der Graf war ein regelmäßiger Gast auf Gut Havering geworden, obwohl er Thomasina immer noch eine Gänsehaut bescherte, wenn sie ihn sah. Ihre Warnungen, dass die Absichten des Grafen höchstwahrscheinlich unehrenwerter Natur waren, waren bei ihrem Vater auf taube Ohren gestoßen. »Aber Sie sagten doch, er habe geschworen, Sie seien in Sicherheit, wenn Sie der Kirche abschwören und Cromwell Ihre Loyalität beeiden.« Thomasinas Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und wieder einmal dachte sie an ihre verstorbene Mutter und den unsäglichen Schmerz, den sie durch ihren Gemahl erlitten hatte, als dieser die Kapelle des Guts schließen lassen und den Priester des Hauses verwiesen hatte. Unfähig, ihren Glauben zu praktizieren, war Lady Greenborough in kürzester Zeit zugrunde gegangen. Es hatte keine sechs Monate gedauert, ehe sie vor ihren Schöpfer getreten war. »Sie haben Ihren Glauben verraten, um die Ländereien zu retten!« »Ich habe meinen Glauben nicht verraten, Tochter. Ich habe lediglich eine wichtige politische Entscheidung getroffen. Es stünde dir übrigens gut zu Gesicht, deine Zunge etwas mehr im Zaum zu halten.« Zornig biss Thomasina die Zähne aufeinander. Selbst wenn sie erst dreizehn Lenze zählte, war sie erwachsen genug, um zu wissen, was es bedeutete, Hab und Gut an einen Potentaten wie Cromwell zu verlieren. Es war ihr nicht verborgen geblieben, wie es Nachbarn und Freunden der Familie ergangen war, die sich nach der Enthauptung von Charles I. geweigert hatten, dem Lordprotektor die Treue zu schwören. Jene, denen Fortuna halbwegs hold war, schlugen sich bei Verwandten durch, waren stets auf der Flucht und auf der Suche nach einem sicheren Schlafplatz und ein paar Krümeln zu essen. Alle anderen waren enthauptet worden. Thomasinas Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich wieder zu Wort meldete. »Aber der Graf hat doch versprochen, unseren Familiensitz zu beschützen. Graf Waxton . . .« Greenborough machte eine wegwerfende Handbewegung, die Thomasina untersagte, weiterzusprechen.
»Sei still, Weib! Graf Waxton hat mir das Leben gerettet. Mehr stand nun mal nicht in seiner Macht!« »Aber Vater« Thomasina ballte die Hände zu Fäusten »seit wie vielen Jahrhunderten ist das Land in Familienbesitz? Wie können Sie nur so kampflos aufgeben? Es muss doch Mittel und Wege geben, um . . .«
»Schweig, sagte ich!« Das Gesicht des Viscounts lief puterrot an, und er hielt seiner Tochter einen langen, knochigen Finger unter die Nase. »Es ist an der Zeit, dass du dich in Demut übst. Ein zänkisches Weib gibt keine sonderlich begehrenswerte Braut ab.« Thomasina spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, erschien sie ihr eigentümlich fremd. »Eine Braut, sagten Sie? Was ist mit dem Versprechen, das Sie meiner Mutter gaben? Haben Sie nicht geschworen, mich nicht zu verkaufen, nur um Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen?«
Mit zitternden Fingern berührte Thomasina die Spitze, die aus dem Ärmel des Gehrocks ihres Vaters hervorschaute. Voller Verzweiflung suchte sie in seinem hageren Gesicht nach dem Mann, der er vor den Kriegen gewesen war. »Sie haben es ihr geschworen, Sir.«
»Überstürzte Versprechen am Sterbebett hat schon so mancher bereut.« Der Viscount zog die Hand zurück. Die Berührung seiner Tochter bereitete ihm sichtlich Unbehagen. »Was ich getan habe, geschah einzig zu deinem Wohl. Es gab keine andere Möglichkeit, um dich zu beschützen.« Fast schon tröstend fügte er hinzu: »Du bist bald im heiratsfähigen Alter. Die Vereinbarung dürfte dich also nicht sonderlich erschüttern.« Wie betäubt senkte Thomasina den Blick auf den grauen Schieferboden. »Ich nehme an, dass dem Mann, dem Ihre Ländereien zufallen, auch meine Jungfräulichkeit zugesichert wurde.« »Welch derbe Worte für eine junge Dame, aber ja, so ist es.« Thomasinas Hand suchte das Kruzifix, das sie an der Innenseite ihres Kleides festgesteckt trug. Sie war zwar nicht annähernd so gläubig wie ihre verstorbene Mutter, aber das kleine güldene Kreuz war das Einzige, das Thomasina von ihr geblieben war. »Dürfte ich erfahren, wer der Glückliche ist, oder soll seine Identität eine Überraschung sein?« Doch Thomasina kannte die Antwort längst. Seit rund einem Jahr ahnte sie, welches Schicksal sie erwartete. Einzig ihr Vater war nicht willens gewesen, zu erkennen, was aus ihnen werden würde. »Graf Waxton.« Thomasina raffte die Röcke und machte sich für den Rückzug bereit. »Ich werde ihn nicht heiraten!«, rief sie voller Entsetzen und kniff die dunklen Augen zusammen. »Bevor ich diesen ältlichen Gimpel heirate, gehe ich lieber ins Kloster.« Von der hohen Decke hallte das laute Lachen ihres Vaters wider. »Du kannst gar keine Nonne werden, meine Tochter. Die von deiner Mutter so heiß und innig geliebte katholische Kirche existiert hierzulande nicht mehr.« Noch immer dröhnte Thomasina das herzlose Lachen ihres Vaters in den Ohren. Ihr wurde schwarz vor den Augen, und sie musste gegen die brennenden Tränen aus Schmerz und Wut ankämpfen. Sie richtete den Blick zum Kuppeldach, das ein italienisches Fresko zierte. Selbst die verblichenen Putten und die gehörnten Ungeheuer, die hoch über ihrem Kopf schwebten, schienen sie zu verhöhnen. Mit einem Mal erschien Thomasina das Haus, das ihr stets wie ein sicherer Hafen vorgekommen war, wie ein Gefängnis. Ihr Vater, der Mann, der sie all die Jahre beschützt hatte, war zu ihrem Kuppler geworden. »Ich . . . ich werde das nicht zulassen, Sir. Ich schwöre Ihnen, das werde ich nicht.« Sie hob ihre steifen Röcke an und schoss herum. »Ich werde fortlaufen!«, rief sie ihrem Vater über die Schulter zu und marschierte auf die Tür zu. »Gott steh' mir bei, lieber bereite ich meinem eigenen Leben ein Ende, als dass ich einen Widerling wie Waxton heirate!« »Einen Widerling, Madam?« In ihrer Aufregung hatte Thomasina die Ankunft von Graf Waxton nicht bemerkt. Noch rechtzeitig blieb sie vor ihm stehen, ohne gegen ihn zu prallen. Der lange Saum ihres schlichten, blass olivenfarbenen Kleides streifte die Spitze seiner polierten Halbschuhe. »Treten Sie beiseite, Sir«, zischte sie und hielt den Blick gesenkt. Sie wollte sich am Grafen vorbeischieben, doch er packte eine Strähne ihres kräftigen glänzenden Haars und zog so fest daran, dass es ihr beinahe den Kopf von den Schultern riss. Ihre Augen blitzten auf. Es lag eine Mischung aus Furcht, Schmerz und zutiefst empfundener Verachtung in ihrem Blick. Ihre Unterlippe bebte. Der Graf, der rund vier Jahrzehnte älter war als sie, war von großer und beängstigend schlanker Statur. Er hatte eine Hakennase, und seine pechschwarzen Augen erinnerten an ein Nagetier. Auf dem Kopf trug er stets eine ausladende, gepuderte Perücke, und seine prächtige Robe wies ihn als Anhänger Cromwells und aktives Regierungsmitglied aus. Am Arm trug er einen verzierten Gehstock mit poliertem Silberknauf. Waxtons Augen funkelte Thomasina an. Er gab sich keine Mühe, seine wollüstigen Gedanken zu verbergen, ehe er den nervösen Blick des Viscounts erwiderte. »Gibt es Probleme, Greenborough?« »Probleme? Mitnichten, Mylord.« Die Stimme ihres Vaters klang hölzern. Es war unverkennbar, dass er Angst vor Graf Waxton und seinem politischen Einfluss hatte. »Nichts weiter als ein hysterischer Anfall, nicht wahr, Töchterchen?« Als Thomasina nicht sofort antwortete, klopfte Waxton, der sie noch immer besitzergreifend bei den Haaren hielt, ungeduldig mit dem Stock auf den kalten Schieferboden. »Komm schon, Weib. Der eheliche Bund zwischen uns wird vor allem von Vernunft geprägt sein. Es wird ohnehin noch ein Weilchen dauern, ehe wir heiraten. Erst einmal muss der Fluss deiner Weiblichkeit eingesetzt haben. Mit der Zeit wirst du schon noch lernen, mich zu akzeptieren.« Thomasina war sich weder des körperlichen Schmerzes bewusst, der ihr die Tränen in die Augen trieb, noch der fürchterlichen Worte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und blickte dem Grafen in die Augen. »Nein, Sir«, murmelte sie widerspenstig. »Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass ich Sie noch weitaus mehr verachten werde, als ich es in diesem Augenblick bereits tue.«
Kapitel 1
Gut Havering, Essex, England
Januar 1662
Thomasina blieb auf der Steintreppe stehen und drückte sich flach mit dem Rücken gegen die Wand. Wenn sie stolperte, so wusste sie, würde sie den Sturz in die Dunkelheit nicht überleben. Die Wendeltreppe in den Turm besaß kein Geländer. Die feuchte und glitschige Mauer war ihr einziger Schutz. Sie legte sich die Hand auf die Brust und spürte, wie ihr Herz raste. Außer ihrem Atem und dem Quieken der Mäuse, die über die abbröckelnden Stufen huschten, war nichts zu hören. Das Treppenhaus war düster und feucht, und selbst durch ihren dicken, mit Hermelin besetzten Umhang kroch die beißende Kälte des Januarwindes. Nur wenige Male hatte sie im Lauf der letzten acht Jahre den gefährlichen Aufstieg in den Turm gewagt, dessen Spitze vier Stockwerke über dem Grund lag. In der Turmspitze befand sich Waxtons Laboratorium, in dem seiner Meinung nach Weibsbilder nichts zu suchen hatten. Doch die Zeit war reif. Thomasina wusste, dass sie in die Offensive gehen musste. Sie stand kurz davor, Graf Waxton einen Handel vorzuschlagen. Seit acht langen Jahren ertrug sie die Farce einer Ehe, fristete ein freudloses Leben. Sie war eine Gefangene im eigenen Elternhaus. Es war ihr nicht gestattet, auch nur einen Fuß über die Grenzen der Ländereien zu setzen. Sie durfte keine Freundschaften mit den Nachbarsfrauen schließen, kranken Dorfbewohnern einen Besuch abstatten oder Besorgungen erledigen. Seit ihrer Vermählung und dem Freitod ihres Vaters, der sich kurz nach der Eheschließung zugetragen hatte, war Thomasina eine Gefangene. Nur weil ihr Gemahl von der fixen Idee besessen war, sie könnte ihn hintergehen. Für gewöhnlich hielt sie sich in ihren Räumen im Seitenflügel des Hauses auf. Hin und wieder kam es vor, dass ihr Ehemann sie seinen Freunden und Bekannten vorführte, als wäre sie ein exotisches Tier. Seit acht Jahren ließ sie sich von ihm peinigen, vor allem, wenn er versuchte sich zu nehmen, wozu er nicht imstande war. Doch am schwersten traf sie die unentwegte Einsamkeit. Die ganzen Jahre über hatte Thomasina nach einer Möglichkeit gesucht, ihrem Schicksal auf Gut Havering zu entkommen. Kurz bevor sie jegliche Hoffnung aufgeben wollte, waren ihre Gebete erhört worden. Die Erlösung kam in Gestalt eines Briefes. Durch puren Zufall war sie auf das Geheimfach im Schreibtisch ihres Gatten gestoßen. Der Brief enthielt eine kurze Botschaft, gefolgt von einer Liste mit zwölf Namen von Adelsmännern, die den erst kürzlich gekrönten König des Landes stürzen wollten. Auf Hochverrat, egal ob bewiesen oder nicht, stand Enthauptung. Wie die meisten Anhänger Cromwells hatte Graf Waxton das Lager nach dem Tod des Lordprotektors von einer Sekunde auf die andere gewechselt und den neuen Monarchen mit offenen Armen begrüßt. Doch auch König Charles hatte im Zuge der Restauration des Thrones die einst abtrünnigen Schafe ohne Murren wieder in die Herde aufgenommen. Gemeinsam mit vielen anderen ehemaligen Cromwell-Anhängern hatte Waxton dem König seine uneingeschränkte Loyalität beteuert und geschworen, die Krone bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Die beiden Jahre anarchischer Zustände, die dem Tode Cromwells gefolgt waren, hatten seine Anhänger veranlasst, sich des lieben Frieden willens den einstigen Erzfeinden, den Royalisten, anzuschließen, um die Wiedereinführung der Monarchie zu beschleunigen. Doch Thomasina wusste, dass der Graf einen falschen Treueid geleistet hatte. Der Brief war nicht nur der ultimative Beweis für ihre Vermutung, sondern auch die lang ersehnte Chance, dem eisernen Griff ihres Gatten zu entkommen. Thomasina hielt den Atem an und nahm all ihren Mut zusammen. Sie raffte die schweren Samtröcke und trat vor das lieblos gezimmerte Holzportal des Laboratoriums. Eine Kerze, die in einem Wandhalter steckte, ergoss ihr trübes Licht. Kraftvoll pochte Thomasina gegen die Tür. Just in dem Moment, in dem sie die Hand wieder unter dem Umhang verschwinden ließ, schwang die schwere Eichentür nach innen auf. Doch zu ihrer Überraschung stand nicht ihr Gemahl, sondern der Herzog von Hunt vor ihr. Thomasina schluckte. Sie kämpfte gegen die aufwallende Angst an und wich einen Schritt zurück. Hätte sie geahnt, dass der Herzog im Hause weilte, wäre sie in ihrem Gemach geblieben. »Sieh einer an«, murmelte der Herzog und musterte Thomasina eingehend. »Ich hatte gehofft, heute noch in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen, aber Ihr werter Gemahl meinte, Sie hätten sich bereits für die Nacht zurückgezogen.« Thomasina starrte in Hunts blutleeres Gesicht und auf seine schlohweißen Haare. Wenn es einen Mann gab, den sie noch mehr fürchtete als ihren Gatten, so war es dieser Albino. Als enger Vertrauter Waxtons hatte Hunt ihr unmissverständlich klargemacht, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, ehe er sie ihrer Jungfräulichkeit berauben würde, wenn Waxton schon nicht dazu in der Lage war. Seit fast einem halben Jahr stellte er ihr bereits nach. Er schien nur auf den richtigen Moment zu warten, um seinem Freund Waxton zu nehmen, was ihm lieb und teuer war. Allein der Anblick von Hunts durchscheinender Haut und seiner unmenschlich roten Augen löste in ihr Unbehagen aus. Doch es war das blutrünstige Wesen des Mannes, das hinter der bleichen Fassade steckte, das noch viel angsteinflößender war. Der Herzog bekleidete eine machtvolle Position am Hofe. Er war ein enger Vertrauter des Königs und im ganzen Land dafür bekannt, dass er bekam, was er wollte, und jeden vernichtete, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. »Lady Waxton?« Mit gereizter Miene trat Thomasinas Gemahl neben Hunt. »Was gibt es so Dringendes, dass Sie mich in meinem Laboratorium stören? Sie hätten Warren schicken können, wenn Sie etwas von mir wünschen.« »Ich . . . Es tut mir leid, Sir.« Thomasina wollte nichts sehnlicher, als den Rückzug anzutreten. »Ich . . . ich werde später mit Ihnen sprechen.« »Nonsens.« Hunt legte sich das Albinofrettchen, das er stets in der Tasche des Gehrocks mit sich führte, auf die Schulter. »Treten Sie doch ein, Verehrteste. Ich war ohnehin gerade im Begriff, die Gastgemächer aufzusuchen. Die Anreise aus London war sehr anstrengend, die Straßen schlammig und die Fahrt alles andere als bequem.« Thomasina senkte den Blick. Sie wurde das Gefühl nicht los, als säße sie im Netz einer Spinne. Solange Hunt im Hause weilte, täte sie besser daran, das Gespräch mit Waxton zu vertagen. Vor allem, weil Hunts Name an oberster Stelle auf der Liste stand. »Angenehme Nachtruhe«, sagte Waxton an seinen Gast gewandt. »Ich werde Warren auftragen, alles für die Jagd in der Früh vorzubereiten.« Hunt nickte und ging an Thomasina vorbei. Ohne dass Waxton es sehen konnte, streifte seine Hand ihre Brust. Thomasina sog tief die Luft ein und spürte stärker denn je das unbändige Verlangen, dem maroden Leben auf Gut Havering zu entfliehen. Die Schritte des Herzogs hallten dumpf von den Steinstufen wider, als er nach unten stieg. Waxton trat beiseite und gab Thomasina ein Zeichen, sie möge eintreten. Er schloss hinter ihr die Tür. Das Laboratorium war ein übel riechender, von Schwefelgestank durchsetzter Raum mit unzähligen Tischen, auf denen sich diverse Objekte wissenschaftlichen Interesses türmten. Darunter menschliche Knochen, an denen Schilder baumelten, Gläser mit präparierten Überresten von Mensch und Tier, unzählige Drahtkäfige mit Mäusen und Fledermäusen sowie Hunderte von Flakons mit medizinischen Tinkturen aus Kuhdung und Essig, die einzig zusammengemischt worden waren, um die Impotenz des Grafen zu kurieren. Waxton stellte sich hinter einen verschrammten Holztisch und streute grünes Pulver in eine Waagschale. »Was gibt es, Madam? Wie Sie sehen, bin ich beschäftigt.« Der Graf zog eine brennende Kerze zu sich und beugte sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck über den Tisch. Thomasina atmete tief durch und zog sich den Hermelinumhang enger um die zitternden Schultern. Sie wurde von einer eisigen Kälte gepackt, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Jetzt oder nie, raunte eine innere Stimme. Sag's ihm, solange du den Mut aufbringst. Thomasina ließ den Blick umherschweifen, um Zeit zu gewinnen. Vor den vielen Fenstern des rund gebauten Laboratoriums hingen schwere, purpurne Vorhänge, die an der Decke befestigt waren. Auf einigen Fensterbänken standen Kerzen, die die Glasscheiben zu Spiegelflächen werden ließen und gespenstische Bilder von ihr und Waxton kreierten. Thomasina konnte das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens hören, der gegen die gewellten Scheiben schlug. Der modrige Geruch der klammen Steinmauern vermengte sich mit den säuerlichen Duftnoten von Waxtons Ingredienzien. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen und drehte sich von einem menschlichen Schädel weg, der auf einem Sockel thronte. »Ich . . . ich bin gekommen, um Sie um die Annullierung der Ehe zu bitten, Sir.« Thomasina hörte ihre eigene Stimme, die die gewichtigen Worte klar und deutlich ausgesprochen hatte. Einige Augenblicke lang senkte sich bleierne Stille über den Raum, die nur vom Trommeln des Regens und dem Ticken der Standuhr unterbrochen wurde. Thomasina fragte sich, ob ihr Gemahl sie womöglich nicht gehört hatte. »Sie sind gekommen, um mich um was zu bitten?« Der Graf hatte weder aufgeblickt noch damit aufgehört, das Pulver abzuwiegen, doch seine Stimme klang wie flüssiger Stahl. Thomasina schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und wiederholte ihre Botschaft ein wenig lauter. »Ich sagte, ich bin gekommen, um Sie um die Annullierung unserer Ehe zu bitten. Ich möchte Gut Havering verlassen. Die Ländereien und die Mitgift dürfen Sie behalten.« Sie wusste, dass sie auf jegliche finanzielle Sicherheit würde verzichten müssen, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Doch im Augenblick ging es darum, ihr Leben und ihre Seele vor Waxton zu retten. Mit einem dröhnenden Lachen warf Waxton den Kopf in den Nacken. Seine laute Stimme hallte unheilvoll von den kahlen Steinwänden wieder. »Sie« er schien sich derart zu amüsieren, dass er kaum sprechen konnte »sind gekommen, um mich um die Annullierung der Ehe zu bitten?« »Es ist nicht zu übersehen, dass wir nichts füreinander empfinden.« Thomasina zwang sich, zu ihm aufzublicken. »Ferner ist unabstreitbar, dass aus unserer Verbindung niemals Kinder hervorgehen werden.« Der Graf schleuderte den Messlöffel auf den Tisch und blickte seine junge Gemahlin zornig an, als er sich zu ihr hinüberlehnte. »Und was gibt Ihnen Anlass zu glauben, ich würde Sie einfach so in die Freiheit entlassen, Sie törichtes Ding? Auf einmal, nach all den Jahren? Sie gehören mir, und ich kann mit Ihnen machen, wonach mir der Sinn steht. Ich glaube kaum, dass ich Sie schlecht behandle. Sie tragen die feinsten Roben, trinken die edelsten Weine und speisen wie eine Königin.« Triumphierend hielt Thomasina seinem Blick stand. »Ich bin im Besitz von Informationen . . . Informationen, von denen ich fürchte, dass sie an die Öffentlichkeit dringen könnten.«
Übersetzung: Nicole Friedrich
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
»Sei still, Weib! Graf Waxton hat mir das Leben gerettet. Mehr stand nun mal nicht in seiner Macht!« »Aber Vater« Thomasina ballte die Hände zu Fäusten »seit wie vielen Jahrhunderten ist das Land in Familienbesitz? Wie können Sie nur so kampflos aufgeben? Es muss doch Mittel und Wege geben, um . . .«
»Schweig, sagte ich!« Das Gesicht des Viscounts lief puterrot an, und er hielt seiner Tochter einen langen, knochigen Finger unter die Nase. »Es ist an der Zeit, dass du dich in Demut übst. Ein zänkisches Weib gibt keine sonderlich begehrenswerte Braut ab.« Thomasina spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, erschien sie ihr eigentümlich fremd. »Eine Braut, sagten Sie? Was ist mit dem Versprechen, das Sie meiner Mutter gaben? Haben Sie nicht geschworen, mich nicht zu verkaufen, nur um Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen?«
Mit zitternden Fingern berührte Thomasina die Spitze, die aus dem Ärmel des Gehrocks ihres Vaters hervorschaute. Voller Verzweiflung suchte sie in seinem hageren Gesicht nach dem Mann, der er vor den Kriegen gewesen war. »Sie haben es ihr geschworen, Sir.«
»Überstürzte Versprechen am Sterbebett hat schon so mancher bereut.« Der Viscount zog die Hand zurück. Die Berührung seiner Tochter bereitete ihm sichtlich Unbehagen. »Was ich getan habe, geschah einzig zu deinem Wohl. Es gab keine andere Möglichkeit, um dich zu beschützen.« Fast schon tröstend fügte er hinzu: »Du bist bald im heiratsfähigen Alter. Die Vereinbarung dürfte dich also nicht sonderlich erschüttern.« Wie betäubt senkte Thomasina den Blick auf den grauen Schieferboden. »Ich nehme an, dass dem Mann, dem Ihre Ländereien zufallen, auch meine Jungfräulichkeit zugesichert wurde.« »Welch derbe Worte für eine junge Dame, aber ja, so ist es.« Thomasinas Hand suchte das Kruzifix, das sie an der Innenseite ihres Kleides festgesteckt trug. Sie war zwar nicht annähernd so gläubig wie ihre verstorbene Mutter, aber das kleine güldene Kreuz war das Einzige, das Thomasina von ihr geblieben war. »Dürfte ich erfahren, wer der Glückliche ist, oder soll seine Identität eine Überraschung sein?« Doch Thomasina kannte die Antwort längst. Seit rund einem Jahr ahnte sie, welches Schicksal sie erwartete. Einzig ihr Vater war nicht willens gewesen, zu erkennen, was aus ihnen werden würde. »Graf Waxton.« Thomasina raffte die Röcke und machte sich für den Rückzug bereit. »Ich werde ihn nicht heiraten!«, rief sie voller Entsetzen und kniff die dunklen Augen zusammen. »Bevor ich diesen ältlichen Gimpel heirate, gehe ich lieber ins Kloster.« Von der hohen Decke hallte das laute Lachen ihres Vaters wider. »Du kannst gar keine Nonne werden, meine Tochter. Die von deiner Mutter so heiß und innig geliebte katholische Kirche existiert hierzulande nicht mehr.« Noch immer dröhnte Thomasina das herzlose Lachen ihres Vaters in den Ohren. Ihr wurde schwarz vor den Augen, und sie musste gegen die brennenden Tränen aus Schmerz und Wut ankämpfen. Sie richtete den Blick zum Kuppeldach, das ein italienisches Fresko zierte. Selbst die verblichenen Putten und die gehörnten Ungeheuer, die hoch über ihrem Kopf schwebten, schienen sie zu verhöhnen. Mit einem Mal erschien Thomasina das Haus, das ihr stets wie ein sicherer Hafen vorgekommen war, wie ein Gefängnis. Ihr Vater, der Mann, der sie all die Jahre beschützt hatte, war zu ihrem Kuppler geworden. »Ich . . . ich werde das nicht zulassen, Sir. Ich schwöre Ihnen, das werde ich nicht.« Sie hob ihre steifen Röcke an und schoss herum. »Ich werde fortlaufen!«, rief sie ihrem Vater über die Schulter zu und marschierte auf die Tür zu. »Gott steh' mir bei, lieber bereite ich meinem eigenen Leben ein Ende, als dass ich einen Widerling wie Waxton heirate!« »Einen Widerling, Madam?« In ihrer Aufregung hatte Thomasina die Ankunft von Graf Waxton nicht bemerkt. Noch rechtzeitig blieb sie vor ihm stehen, ohne gegen ihn zu prallen. Der lange Saum ihres schlichten, blass olivenfarbenen Kleides streifte die Spitze seiner polierten Halbschuhe. »Treten Sie beiseite, Sir«, zischte sie und hielt den Blick gesenkt. Sie wollte sich am Grafen vorbeischieben, doch er packte eine Strähne ihres kräftigen glänzenden Haars und zog so fest daran, dass es ihr beinahe den Kopf von den Schultern riss. Ihre Augen blitzten auf. Es lag eine Mischung aus Furcht, Schmerz und zutiefst empfundener Verachtung in ihrem Blick. Ihre Unterlippe bebte. Der Graf, der rund vier Jahrzehnte älter war als sie, war von großer und beängstigend schlanker Statur. Er hatte eine Hakennase, und seine pechschwarzen Augen erinnerten an ein Nagetier. Auf dem Kopf trug er stets eine ausladende, gepuderte Perücke, und seine prächtige Robe wies ihn als Anhänger Cromwells und aktives Regierungsmitglied aus. Am Arm trug er einen verzierten Gehstock mit poliertem Silberknauf. Waxtons Augen funkelte Thomasina an. Er gab sich keine Mühe, seine wollüstigen Gedanken zu verbergen, ehe er den nervösen Blick des Viscounts erwiderte. »Gibt es Probleme, Greenborough?« »Probleme? Mitnichten, Mylord.« Die Stimme ihres Vaters klang hölzern. Es war unverkennbar, dass er Angst vor Graf Waxton und seinem politischen Einfluss hatte. »Nichts weiter als ein hysterischer Anfall, nicht wahr, Töchterchen?« Als Thomasina nicht sofort antwortete, klopfte Waxton, der sie noch immer besitzergreifend bei den Haaren hielt, ungeduldig mit dem Stock auf den kalten Schieferboden. »Komm schon, Weib. Der eheliche Bund zwischen uns wird vor allem von Vernunft geprägt sein. Es wird ohnehin noch ein Weilchen dauern, ehe wir heiraten. Erst einmal muss der Fluss deiner Weiblichkeit eingesetzt haben. Mit der Zeit wirst du schon noch lernen, mich zu akzeptieren.« Thomasina war sich weder des körperlichen Schmerzes bewusst, der ihr die Tränen in die Augen trieb, noch der fürchterlichen Worte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und blickte dem Grafen in die Augen. »Nein, Sir«, murmelte sie widerspenstig. »Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass ich Sie noch weitaus mehr verachten werde, als ich es in diesem Augenblick bereits tue.«
Kapitel 1
Gut Havering, Essex, England
Januar 1662
Thomasina blieb auf der Steintreppe stehen und drückte sich flach mit dem Rücken gegen die Wand. Wenn sie stolperte, so wusste sie, würde sie den Sturz in die Dunkelheit nicht überleben. Die Wendeltreppe in den Turm besaß kein Geländer. Die feuchte und glitschige Mauer war ihr einziger Schutz. Sie legte sich die Hand auf die Brust und spürte, wie ihr Herz raste. Außer ihrem Atem und dem Quieken der Mäuse, die über die abbröckelnden Stufen huschten, war nichts zu hören. Das Treppenhaus war düster und feucht, und selbst durch ihren dicken, mit Hermelin besetzten Umhang kroch die beißende Kälte des Januarwindes. Nur wenige Male hatte sie im Lauf der letzten acht Jahre den gefährlichen Aufstieg in den Turm gewagt, dessen Spitze vier Stockwerke über dem Grund lag. In der Turmspitze befand sich Waxtons Laboratorium, in dem seiner Meinung nach Weibsbilder nichts zu suchen hatten. Doch die Zeit war reif. Thomasina wusste, dass sie in die Offensive gehen musste. Sie stand kurz davor, Graf Waxton einen Handel vorzuschlagen. Seit acht langen Jahren ertrug sie die Farce einer Ehe, fristete ein freudloses Leben. Sie war eine Gefangene im eigenen Elternhaus. Es war ihr nicht gestattet, auch nur einen Fuß über die Grenzen der Ländereien zu setzen. Sie durfte keine Freundschaften mit den Nachbarsfrauen schließen, kranken Dorfbewohnern einen Besuch abstatten oder Besorgungen erledigen. Seit ihrer Vermählung und dem Freitod ihres Vaters, der sich kurz nach der Eheschließung zugetragen hatte, war Thomasina eine Gefangene. Nur weil ihr Gemahl von der fixen Idee besessen war, sie könnte ihn hintergehen. Für gewöhnlich hielt sie sich in ihren Räumen im Seitenflügel des Hauses auf. Hin und wieder kam es vor, dass ihr Ehemann sie seinen Freunden und Bekannten vorführte, als wäre sie ein exotisches Tier. Seit acht Jahren ließ sie sich von ihm peinigen, vor allem, wenn er versuchte sich zu nehmen, wozu er nicht imstande war. Doch am schwersten traf sie die unentwegte Einsamkeit. Die ganzen Jahre über hatte Thomasina nach einer Möglichkeit gesucht, ihrem Schicksal auf Gut Havering zu entkommen. Kurz bevor sie jegliche Hoffnung aufgeben wollte, waren ihre Gebete erhört worden. Die Erlösung kam in Gestalt eines Briefes. Durch puren Zufall war sie auf das Geheimfach im Schreibtisch ihres Gatten gestoßen. Der Brief enthielt eine kurze Botschaft, gefolgt von einer Liste mit zwölf Namen von Adelsmännern, die den erst kürzlich gekrönten König des Landes stürzen wollten. Auf Hochverrat, egal ob bewiesen oder nicht, stand Enthauptung. Wie die meisten Anhänger Cromwells hatte Graf Waxton das Lager nach dem Tod des Lordprotektors von einer Sekunde auf die andere gewechselt und den neuen Monarchen mit offenen Armen begrüßt. Doch auch König Charles hatte im Zuge der Restauration des Thrones die einst abtrünnigen Schafe ohne Murren wieder in die Herde aufgenommen. Gemeinsam mit vielen anderen ehemaligen Cromwell-Anhängern hatte Waxton dem König seine uneingeschränkte Loyalität beteuert und geschworen, die Krone bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Die beiden Jahre anarchischer Zustände, die dem Tode Cromwells gefolgt waren, hatten seine Anhänger veranlasst, sich des lieben Frieden willens den einstigen Erzfeinden, den Royalisten, anzuschließen, um die Wiedereinführung der Monarchie zu beschleunigen. Doch Thomasina wusste, dass der Graf einen falschen Treueid geleistet hatte. Der Brief war nicht nur der ultimative Beweis für ihre Vermutung, sondern auch die lang ersehnte Chance, dem eisernen Griff ihres Gatten zu entkommen. Thomasina hielt den Atem an und nahm all ihren Mut zusammen. Sie raffte die schweren Samtröcke und trat vor das lieblos gezimmerte Holzportal des Laboratoriums. Eine Kerze, die in einem Wandhalter steckte, ergoss ihr trübes Licht. Kraftvoll pochte Thomasina gegen die Tür. Just in dem Moment, in dem sie die Hand wieder unter dem Umhang verschwinden ließ, schwang die schwere Eichentür nach innen auf. Doch zu ihrer Überraschung stand nicht ihr Gemahl, sondern der Herzog von Hunt vor ihr. Thomasina schluckte. Sie kämpfte gegen die aufwallende Angst an und wich einen Schritt zurück. Hätte sie geahnt, dass der Herzog im Hause weilte, wäre sie in ihrem Gemach geblieben. »Sieh einer an«, murmelte der Herzog und musterte Thomasina eingehend. »Ich hatte gehofft, heute noch in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen, aber Ihr werter Gemahl meinte, Sie hätten sich bereits für die Nacht zurückgezogen.« Thomasina starrte in Hunts blutleeres Gesicht und auf seine schlohweißen Haare. Wenn es einen Mann gab, den sie noch mehr fürchtete als ihren Gatten, so war es dieser Albino. Als enger Vertrauter Waxtons hatte Hunt ihr unmissverständlich klargemacht, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, ehe er sie ihrer Jungfräulichkeit berauben würde, wenn Waxton schon nicht dazu in der Lage war. Seit fast einem halben Jahr stellte er ihr bereits nach. Er schien nur auf den richtigen Moment zu warten, um seinem Freund Waxton zu nehmen, was ihm lieb und teuer war. Allein der Anblick von Hunts durchscheinender Haut und seiner unmenschlich roten Augen löste in ihr Unbehagen aus. Doch es war das blutrünstige Wesen des Mannes, das hinter der bleichen Fassade steckte, das noch viel angsteinflößender war. Der Herzog bekleidete eine machtvolle Position am Hofe. Er war ein enger Vertrauter des Königs und im ganzen Land dafür bekannt, dass er bekam, was er wollte, und jeden vernichtete, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. »Lady Waxton?« Mit gereizter Miene trat Thomasinas Gemahl neben Hunt. »Was gibt es so Dringendes, dass Sie mich in meinem Laboratorium stören? Sie hätten Warren schicken können, wenn Sie etwas von mir wünschen.« »Ich . . . Es tut mir leid, Sir.« Thomasina wollte nichts sehnlicher, als den Rückzug anzutreten. »Ich . . . ich werde später mit Ihnen sprechen.« »Nonsens.« Hunt legte sich das Albinofrettchen, das er stets in der Tasche des Gehrocks mit sich führte, auf die Schulter. »Treten Sie doch ein, Verehrteste. Ich war ohnehin gerade im Begriff, die Gastgemächer aufzusuchen. Die Anreise aus London war sehr anstrengend, die Straßen schlammig und die Fahrt alles andere als bequem.« Thomasina senkte den Blick. Sie wurde das Gefühl nicht los, als säße sie im Netz einer Spinne. Solange Hunt im Hause weilte, täte sie besser daran, das Gespräch mit Waxton zu vertagen. Vor allem, weil Hunts Name an oberster Stelle auf der Liste stand. »Angenehme Nachtruhe«, sagte Waxton an seinen Gast gewandt. »Ich werde Warren auftragen, alles für die Jagd in der Früh vorzubereiten.« Hunt nickte und ging an Thomasina vorbei. Ohne dass Waxton es sehen konnte, streifte seine Hand ihre Brust. Thomasina sog tief die Luft ein und spürte stärker denn je das unbändige Verlangen, dem maroden Leben auf Gut Havering zu entfliehen. Die Schritte des Herzogs hallten dumpf von den Steinstufen wider, als er nach unten stieg. Waxton trat beiseite und gab Thomasina ein Zeichen, sie möge eintreten. Er schloss hinter ihr die Tür. Das Laboratorium war ein übel riechender, von Schwefelgestank durchsetzter Raum mit unzähligen Tischen, auf denen sich diverse Objekte wissenschaftlichen Interesses türmten. Darunter menschliche Knochen, an denen Schilder baumelten, Gläser mit präparierten Überresten von Mensch und Tier, unzählige Drahtkäfige mit Mäusen und Fledermäusen sowie Hunderte von Flakons mit medizinischen Tinkturen aus Kuhdung und Essig, die einzig zusammengemischt worden waren, um die Impotenz des Grafen zu kurieren. Waxton stellte sich hinter einen verschrammten Holztisch und streute grünes Pulver in eine Waagschale. »Was gibt es, Madam? Wie Sie sehen, bin ich beschäftigt.« Der Graf zog eine brennende Kerze zu sich und beugte sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck über den Tisch. Thomasina atmete tief durch und zog sich den Hermelinumhang enger um die zitternden Schultern. Sie wurde von einer eisigen Kälte gepackt, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Jetzt oder nie, raunte eine innere Stimme. Sag's ihm, solange du den Mut aufbringst. Thomasina ließ den Blick umherschweifen, um Zeit zu gewinnen. Vor den vielen Fenstern des rund gebauten Laboratoriums hingen schwere, purpurne Vorhänge, die an der Decke befestigt waren. Auf einigen Fensterbänken standen Kerzen, die die Glasscheiben zu Spiegelflächen werden ließen und gespenstische Bilder von ihr und Waxton kreierten. Thomasina konnte das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens hören, der gegen die gewellten Scheiben schlug. Der modrige Geruch der klammen Steinmauern vermengte sich mit den säuerlichen Duftnoten von Waxtons Ingredienzien. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen und drehte sich von einem menschlichen Schädel weg, der auf einem Sockel thronte. »Ich . . . ich bin gekommen, um Sie um die Annullierung der Ehe zu bitten, Sir.« Thomasina hörte ihre eigene Stimme, die die gewichtigen Worte klar und deutlich ausgesprochen hatte. Einige Augenblicke lang senkte sich bleierne Stille über den Raum, die nur vom Trommeln des Regens und dem Ticken der Standuhr unterbrochen wurde. Thomasina fragte sich, ob ihr Gemahl sie womöglich nicht gehört hatte. »Sie sind gekommen, um mich um was zu bitten?« Der Graf hatte weder aufgeblickt noch damit aufgehört, das Pulver abzuwiegen, doch seine Stimme klang wie flüssiger Stahl. Thomasina schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und wiederholte ihre Botschaft ein wenig lauter. »Ich sagte, ich bin gekommen, um Sie um die Annullierung unserer Ehe zu bitten. Ich möchte Gut Havering verlassen. Die Ländereien und die Mitgift dürfen Sie behalten.« Sie wusste, dass sie auf jegliche finanzielle Sicherheit würde verzichten müssen, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Doch im Augenblick ging es darum, ihr Leben und ihre Seele vor Waxton zu retten. Mit einem dröhnenden Lachen warf Waxton den Kopf in den Nacken. Seine laute Stimme hallte unheilvoll von den kahlen Steinwänden wieder. »Sie« er schien sich derart zu amüsieren, dass er kaum sprechen konnte »sind gekommen, um mich um die Annullierung der Ehe zu bitten?« »Es ist nicht zu übersehen, dass wir nichts füreinander empfinden.« Thomasina zwang sich, zu ihm aufzublicken. »Ferner ist unabstreitbar, dass aus unserer Verbindung niemals Kinder hervorgehen werden.« Der Graf schleuderte den Messlöffel auf den Tisch und blickte seine junge Gemahlin zornig an, als er sich zu ihr hinüberlehnte. »Und was gibt Ihnen Anlass zu glauben, ich würde Sie einfach so in die Freiheit entlassen, Sie törichtes Ding? Auf einmal, nach all den Jahren? Sie gehören mir, und ich kann mit Ihnen machen, wonach mir der Sinn steht. Ich glaube kaum, dass ich Sie schlecht behandle. Sie tragen die feinsten Roben, trinken die edelsten Weine und speisen wie eine Königin.« Triumphierend hielt Thomasina seinem Blick stand. »Ich bin im Besitz von Informationen . . . Informationen, von denen ich fürchte, dass sie an die Öffentlichkeit dringen könnten.«
Übersetzung: Nicole Friedrich
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
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Bibliographische Angaben
- Autor: Colleen Faulkner
- 2010, 1, 445 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003053
- ISBN-13: 9783868003055
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