Vermächtnis
Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können
Was wir von traditionellen Gesellschaften
lernen können ein wegweisendes Werk des Evolutionsbiologen und Bestseller-Autors
Jared Diamond (»Kollaps«). Von der Kindererziehung über staatliche Konflikte bis zum Umgang mit Alter und Tod: Im Alltag der...
lernen können ein wegweisendes Werk des Evolutionsbiologen und Bestseller-Autors
Jared Diamond (»Kollaps«). Von der Kindererziehung über staatliche Konflikte bis zum Umgang mit Alter und Tod: Im Alltag der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vermächtnis “
Was wir von traditionellen Gesellschaften
lernen können ein wegweisendes Werk des Evolutionsbiologen und Bestseller-Autors
Jared Diamond (»Kollaps«). Von der Kindererziehung über staatliche Konflikte bis zum Umgang mit Alter und Tod: Im Alltag der letzten Naturvölker findet Diamond verblüffende Lösungen für unsere Probleme.
lernen können ein wegweisendes Werk des Evolutionsbiologen und Bestseller-Autors
Jared Diamond (»Kollaps«). Von der Kindererziehung über staatliche Konflikte bis zum Umgang mit Alter und Tod: Im Alltag der letzten Naturvölker findet Diamond verblüffende Lösungen für unsere Probleme.
Klappentext zu „Vermächtnis “
Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können:Seit Jahrzehnten unternimmt Jared Diamond Expeditionen zu Stämmen, die noch traditionell als Jäger und Sammler leben so, wie wir Menschen die längste und prägendste Zeit unserer Entwicklung gelebt haben. Fasziniert von der Fremdartigkeit ihrer Kultur führt er uns plastisch und unterhaltsam vor Augen, wie grundverschieden Menschen mit allen Facetten des Lebens umgehen und ihr Zusammenleben organisieren. Seine These: Wir können heute von diesen Kulturen viel lernen und so unsere aktuellen privaten und gesellschaftlichen Probleme lösen, von der Kindererziehung über staatliche Konflikte bis zum Umgang mit Alter und Tod. Ein spannender Blick auf die Vielfalt der menschlichen Kulturen und eine überraschende Perspektive auf unser modernes Selbstverständnis.
"Jared Diamond schreibt mit Witz, Esprit und großem Sachverstand."
Die Welt
Lese-Probe zu „Vermächtnis “
Vermächtnis von Jared DiamondKapitel 1
Freunde, Feinde, Fremde und Kaufleute
Eine Grenze / Einander ausschließende Territorien / Nichtexklusive Landnutzung / Freunde, Feinde, Fremde / Erste Kontakte / Handel und Händler / Marktwirtschaften / Traditionelle Formen des Handels / Traditionelle Handelswaren / Wer handelt womit? / Winzige Nationen
Eine Grenze
... mehr
In großen Teilen der Welt können die Bürger vieler Staaten heute ungehindert reisen. In unserem eigenen Land unterliegen wir keinen Beschränkungen. Wenn wir die Grenze zu einem anderen Staat überschreiten wollen, kommen wir entweder unangemeldet hin und zeigen einfach unseren Pass vor, oder wir müssen uns im Voraus ein Visum besorgen, können uns dann aber in dem anderen Land ebenfalls ungehindert bewegen. Um uns auf Straßen und auf öffentlichen Flächen fortzubewegen, müssen wir nicht um Erlaubnis fragen, und in manchen Staaten gewähren die Gesetze sogar den Zugang zu manchen Privatgrundstücken. In Schweden beispielsweise kann ein Grundbesitzer die Öffentlichkeit zwar von seinen Feldern und Gärten fernhalten, nicht aber aus seinen Wäldern. Jeden Tag begegnen uns Tausende von Fremden, ohne dass wir uns dabei etwas denken. Alle diese Rechte halten wir für selbstverständlich. Wir denken nicht darüber nach, wie unvorstellbar sie während der Menschheitsgeschichte nahezu überall auf der Welt waren und in manchen Regionen noch heute sind. Um deutlich zu machen, welchen Bedingungen der Zugang zu Land traditionell unterlag, möchte ich meine Erfahrungen beim Besuch eines Bergdorfes in Neuguinea schildern. Solche traditionellen Bedingungen bilden die Kulisse, wenn man Krieg und Frieden, Kindheit und Alter, Gefahren und alle anderen Aspekte traditioneller Gesellschaften verstehen will, mit denen wir uns in diesem Buch noch beschäftigen werden.
Ich war in das Dorf gekommen, weil ich eine Bestandsaufnahme der Vögel auf einem Bergrücken machen wollte, der sich unmittelbar südlich davon erhob. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft boten einige Dorfbewohner mir an, mich über einen ausgetretenen Pfad zum Kamm des Bergrückens zu führen, damit ich mir dort einen Lagerplatz für meine Untersuchungen aussuchen konnte. Der Pfad stieg oberhalb des Dorfes zwischen Gärten an und führte dann in einen hohen Primärwald. Nachdem wir eineinhalb Stunden steil bergauf gestiegen waren, kamen wir an einer verlassenen Hütte vorüber. Sie stand mitten in einem verwilderten Garten knapp unterhalb der Kammlinie, wo unser Aufstiegspfad in einer T-Kreuzung endete. Rechts von der Einmündung setzte sich ein breiter Weg entlang des Bergkammes fort.
Nachdem ich auf diesem Weg ein paar hundert Meter gegangen war, suchte ich mir einen Lagerplatz unmittelbar nördlich der Kammlinie aus, also auf der Seite in Richtung des Dorfes meiner neuen Freunde. Auf der anderen Seite, südlich des Kammes und des Weges, fiel der Bergrücken sanft ab; dort zog sich ein Graben durch den hohen Wald, und von unten konnte ich das Geräusch eines Baches hören. Ich war begeistert, dass ich einen so schönen und bequemen Platz gefunden hatte: Er lag auf der höchsten Erhebung im Umkreis und bot deshalb die beste Möglichkeit, auch jene Vogelarten ausfindig zu machen, die in großer Höhe leben. Er ermöglichte sehr einfach den Zugang zu sanft geneigtem Gelände zur Vogelbeobachtung, und in der Nähe gab es Wasser zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden. Also erklärte ich meinen Begleitern, ich würde am nächsten Tag zu dem Lagerplatz umziehen und zusammen mit zwei Männern, die mich auf Vögel aufmerksam machen und das Lager in Ordnung halten sollten, ein paar Tage dort bleiben.
Meine Freunde nickten zustimmend, bis ich erwähnte, dass nur zwei Männer bei mir im Lager bleiben sollten. An dieser Stelle schüttelten sie den Kopf. Sie behaupteten steif und fest, dies sei ein gefährliches Gebiet und mein Lager müsse von vielen Bewaffneten geschützt werden. Was für eine entsetzliche Vorstellung für einen Vogelbeobachter! Wenn es viele Männer waren, würden sie zwangläufig Lärm machen, sich ständig unterhalten und die Vögel verscheuchen. Warum, so erkundigte ich mich, brauchte ich eine so große Begleitmannschaft, und was war an diesem wunderschönen, harmlos aussehenden Wald so gefährlich?
Die Antwort kam prompt: Am Fuß der anderen (südlichen) Seite des Bergrückens seien die Dörfer böser Menschen; sie wurden als Flussleute bezeichnet und waren die Feinde meiner Freunde aus den Bergen. Flussleute töteten die Gebirgsleute meistens nicht im offenen Kampf mit Waffen, sondern vor allem mit Gift und Zauberei. Aber der Urgroßvater eines jungen Menschen aus den Bergen sei mit Pfeilen erschossen worden, als er ein Stück vom Bergdorf entfernt in seiner Gartenhütte schlief. Der älteste Mann, der bei unserem Gespräch anwesend war, konnte sich noch erinnern: Er hatte als Kind die Leiche des Urgroßvaters gesehen. Die Pfeile steckten noch darin, als man ihn ins Dorf brachte, die Leute hatten um den Toten geweint, und er selbst hatte Angst gehabt.
Hatten wir denn, so erkundigte ich mich, das »Recht«, oben auf dem Bergrücken ein Lager einzurichten? Darauf erwiderten die Bergbewohner, die Kammlinie selbst sei die Grenze zwischen ihrem Gebiet am Nordhang und dem Revier der bösen Flussleute am Südabhang. Aber die Flussleute beanspruchten auch ein Stück vom Land der Bergbewohner auf der Nordseite, jenseits des Bergkammes. Ob ich mich noch an die verlassene Hütte und den verwilderten Garten unmittelbar unterhalb des Kammes erinnerte? Diese Hütte und der Garten seien von den bösen Flussleuten angelegt worden, weil sie damit ihren Anspruch auf das Land nicht nur im Süden, sondern auch am Nordhang des Bergrückens anmelden wollten.
Nach meinen früheren unangenehmen Erfahrungen mit dem Betreten vermeintlich verbotenen Geländes in Neuguinea wurde mir klar, dass ich die Lage am besten ernst nehmen sollte. Ohnehin würden die Bergbewohner mich auf dem Bergrücken nicht ohne starke Eskorte lagern lassen, ganz gleich, wie ich selbst die Gefahr einschätzte. Sie verlangten, dass ich mich von zwölf Leuten beschützen ließ, und ich machte einen Gegenvorschlag: sieben Männer. Am Ende schlossen wir einen »Kompromiss« zwischen sieben und zwölf: Als das Lager eingerichtet war, zählte ich ungefähr 20 Mann, die bei mir geblieben waren. Alle waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet, und dann kamen noch Frauen hinzu, die kochten, Wasser holten und Brennholz sammelten. Außerdem wurde ich gewarnt, ich solle nicht von dem Weg auf dem Kamm abweichen und keinesfalls den hübsch aussehenden Wald am Südabhang betreten. Dieser Wald gehörte unbestritten den Leuten vom Fluss, und wenn sie mich dort erwischten, würde es Ärger, richtig großen Ärger geben, selbst wenn ich nur Vögel beobachtete. Außerdem konnten die Bergbewohnerinnen auch kein Wasser aus dem nahen Bach am Südhang holen, denn damit würden sie nicht nur das fremde Territorium betreten, sondern auch noch eine wertvolle Ressource entnehmen, und wenn man dieses Problem dann überhaupt noch friedlich beilegen könne, wäre eine Entschädigungszahlung fällig. Stattdessen gingen die Frauen jeden Tag den ganzen Weg hinunter ins Dorf und schleppten die 20-Liter-Wasserkanister über 500 Höhenmeter zur Lagerstelle.
Am zweiten Morgen im Lager erlebte ich etwas Aufregendes. Es verursachte mir Herzklopfen und lehrte mich, dass die Territorialbeziehungen zwischen Gebirgs- und Flussleuten komplizierter waren als das Schwarzweißprinzip, sich gegenseitig das Betreten zu verbieten. Ich ging mit einem der Gebirgsbewohner zurück zu der T-Kreuzung der Pfade und dann weiter nach links den Bergkamm entlang. Wir wollten einen alten, überwachsenen Weg roden. Meinem Begleiter machte es offenbar keine Sorgen, dass wir dort waren, und ich erfuhr auch, warum: Selbst wenn die Flussleute uns entdeckten, würden sie nichts dagegen haben, dass wir auf der Kammlinie standen, so lange wir nicht auf ihre Seite hinüberkamen. Aber dann hörten wir Stimmen, die auf der Südseite den Berg hinaufkamen. Oh, oh! Flussleute! Wenn sie bis zur Kammlinie und der T-Kreuzung kamen, würden sie den frisch gerodeten Weg sehen und uns verfolgen. Dann säßen wir dort in der Falle, sie würden uns eine Verletzung ihres Territoriums vorwerfen, und wer weiß, was sie dann unternehmen würden.
Ich lauschte ängstlich und gab mir Mühe, die Bewegungen der Stimmen zu verfolgen und ihren Ort abzuschätzen. Ja, sie stiegen tatsächlich von ihrer Seite in Richtung des Bergkammes. Jetzt mussten sie an der T-Kreuzung sein, und dort waren die Anzeichen unseres frischen Weges nicht zu übersehen. Waren sie hinter uns her? Ich verfolgte die Stimmen weiter, während sie anscheinend lauter wurden und das Herzklopfen in meinen Ohren übertönten. Aber dann kamen die Stimmen nicht mehr näher; sie wurden eindeutig leiser. Waren sie auf dem Rückweg zum Dorf der Flussleute auf der Südseite? Nein! Sie stiegen auf der Nordseite in Richtung unseres Bergdorfes hinunter. Unglaublich! War das ein Überfall? Es hörte sich aber nur nach zwei oder drei Stimmen an, und sie sprachen laut - wohl kaum ein Verhalten, das man von einem geheimen Überfallkommando erwarten würde!
Mein Begleiter erklärte mir, man müsse sich keine Sorgen machen; alles sei völlig in Ordnung. Wir Gebirgsleute (so sagte er) erkennen das Recht der Flussleute an, friedlich den Weg zu unserem Dorf hinunterzugehen und von dort zur Küste zu wandern, um Handel zu treiben. Die Flussleute dürfen dabei nicht vom Weg abweichen und weder Nahrung sammeln noch Holz schneiden, aber nur den Weg entlangzugehen ist erlaubt. Und das war noch nicht alles: Zwei Männer vom Fluss hatten sogar Frauen aus dem Gebirge geheiratet und sich in dem Bergdorf niedergelassen. Mit anderen Worten: Zwischen den beiden Gruppen herrschte nicht schlichte Feindschaft, sondern eine Art angespannter Waffenstillstand. Manche Dinge waren nach gemeinsamer Übereinkunft erlaubt und andere verboten, und wieder andere (beispielsweise die Eigentumsverhältnisse an der verlassenen Hütte und dem Garten) waren noch umstritten.
Zwei Tage später hatte ich noch nicht wieder die Stimmen von Flussleuten in der Nähe gehört. Ich hatte noch nie jemanden von ihnen gesehen und hatte keine Ahnung, wie sie aussahen und wie sie sich kleideten. Aber ihr Dorf lag so nahe, dass ich einmal Trommeln aus dem Dorf südlich der Wasserscheide hörte, während gleichzeitig aus dem Dorf im Norden leise Rufe zu vernehmen waren. Als mein Bergführer und ich zum Lager zurückgingen, machten wir dumme Witze darüber, was wir jemandem vom Fluss antun würden, wenn wir ihn hier erwischten. Gerade als der Weg um eine Ecke bog und wir fast beim Lager waren, machte mein Begleiter plötzlich keine Witze mehr. Er hob die Hand an den Mund und warnte mich im Flüsterton: »Psst! Flussleute!«
In unserem Lager unterhielt sich eine Gruppe meiner Bekannten aus den Bergen mit sechs Personen, die ich noch nie gesehen hatte: drei Männer, zwei Frauen und ein Kind. Da hatte ich sie nun endlich vor mir, die gefürchteten Flussleute! Sie waren nicht die gefährlichen Ungeheuer, als die ich sie mir unbewusst vorgestellt hatte, sondern sahen wie ganz normale Neuguineer aus, nicht anders als die Gebirgsbewohner, bei denen ich zu Gast war. Das Kind vom Fluss und die beiden Frauen waren alles andere als angsteinflößend. Die drei Männer hatten Pfeile und Bogen bei sich (wie auch alle Männer aus den Bergen), trugen aber T-Shirts und machten nicht den Eindruck, als wären sie zum Kampf gerüstet. Das Gespräch zwischen Fluss- und Gebirgsleuten wirkte freundlich und frei von Spannungen. Wie sich herausstellte, war diese Gruppe der Flussleute auf dem Weg zur Küste, und es war ihnen wichtig gewesen, unser Lager aufzusuchen - vielleicht wollten sie sicher sein, dass ihre friedlichen Absichten nicht missverstanden wurden und dass wir sie nicht angriffen.
Für die Gebirgs- und Flussleute war der Besuch offenbar ein Teil ihrer normalen, vielschichtigen Beziehung, zu der ein breites Spektrum verschiedener Verhaltensweisen gehörte: in seltenen Fällen heimliche Morde; öfter angebliche Morde durch Gift und Zauberei; die gegenseitig anerkannte Berechtigung, bestimmte Dinge zu tun (beispielsweise den Transitweg zur Küste zu benutzen und gesellige Besuche zu machen), andere aber nicht (zum Beispiel auf dem Transitweg Nahrung und Holz zu sammeln oder Wasser zu holen); in anderen Fragen (wie der Hütte und dem Garten) Meinungsverschiedenheiten, die manchmal in Gewalt ausarteten; und gelegentliche gegenseitige Eheschließungen ungefähr mit der gleichen Häufigkeit wie die heimlichen Morde (das heißt alle paar Generationen). Und das alles zwischen zwei Gruppen von Menschen, die für mich gleich aussahen, verschiedene, aber verwandte Sprachen benutzten, die Sprache des jeweils anderen verstanden, sich gegenseitig mit Begriffen bezeichneten, die normalerweise für böse Konkurrenten reserviert waren, und sich beiderseits als schlimmste Feinde betrachteten.
Einander ausschließende Territorien
Theoretisch könnten die räumlichen Beziehungen zwischen benachbarten traditionellen Gesellschaften ein ganzes Spektrum verschiedener Prinzipien umfassen, von einander nicht überschneidenden, exklusiven Territorien, die eindeutig festgelegte, bewachte Grenzen haben und nicht gemeinsam genutzt werden, bis zum freien Zugang aller zu allen Landflächen ohne anerkannte eigene Territorien. Vermutlich hält sich keine Gesellschaft streng an eine dieser beiden Extremformen, manche kommen allerdings dem ersten recht nahe. Meine Freunde in den Bergen zum Beispiel, von denen ich gerade berichtet habe, sind nicht weit davon entfernt: Sie haben Territorien mit genau definierten Grenzen, die sie auch bewachen. Sie beanspruchen die Ressourcen auf ihrem Territorium ausschließlich für sich, und Außenstehenden wird der Zutritt nur für den Transit oder in seltenen Fällen nach einer Heirat gewährt.
Andere Gesellschaften, die dem Extrem der exklusiven Territorien nahekommen, sind die Dani (Karte 1) im Baliem-Tal im Hochland von West- Neuguinea und die Iñupiat (eine Gruppe der Inuit)* im Nordwesten Alaskas, die Ainu in Nordjapan, die Yolngu (eine Aborigines-Gruppe im Arnhemland in Nordwestaustralien), die Shoshone-Indianer im Owens Valley in Kalifornien und die Yanomamo-Indianer in Brasilien und Venezuela. Die Dani zum Beispiel bewässern und bewirtschaften Gärten, die durch ein Niemandsland ohne Gärten von den Gärten der benachbarten Dani-Gruppe getrennt sind. Jede Gruppe baut auf ihrer Seite des Niemandslandes eine Reihe von bis zu neun Meter hohen hölzernen Wachttürmen, deren Beobachtungsplattform so groß ist, dass ein Mann darauf sitzen kann (Abb. 13). Während eines großen Teils des Tages halten die Männer abwechselnd auf den Türmen Wache, und ihre Kameraden sitzen unten am Turm, um ihn und den Beobachter zu bewachen. Dieser sucht das Gelände nach Feinden ab, die sich heimlich anschleichen wollen, und löst bei einem Überraschungsangriff Alarm aus.
Ein anderes Beispiel sind die Iñupiat in Alaska (Abb. 9). Sie gliedern sich in zehn Gruppen mit exklusiven Territorien. Wenn Personen aus einem Territorium erwischt wurden, wie sie ein anderes betraten, wurden sie regelmäßig getötet, es sei denn, sie konnten beweisen, dass sie mit dem Eigentümer des Territoriums, auf dem man sie gestellt hatte, verwandt waren. Die beiden häufigsten Gründe für ein solches unerlaubtes Betreten waren die Jagd auf Wild - Jäger überschritten die Grenze, weil sie hinter einem Rentier her waren - und die Jagd auf Robben, bei der eine Eisscholle, auf der Jäger standen, abgebrochen und abgetrieben war. Wenn das Eis im zweiten Fall wieder an die Küste trieb und die Jäger sich dann in einem fremden Territorium befanden, wurden sie getötet. Für uns, die wir nicht zu den Iñupiat gehören, erscheint so etwas grausam und ungerecht: Die armen Jäger hatten ohnehin bereits ein großes Risiko auf sich genommen, als sie sich auf das schwimmende Eis begaben, wo sie ertrinken oder aufs offene Meer getrieben werden konnten, und wenn sie dann Glück hatten und wieder an die Küste getrieben wurden - passiv von einer Meeresströmung und ohne jede Absicht, fremdes Gebiet zu betreten -, wurden sie dennoch gerade im Augenblick ihrer Rettung vor dem Ertrinken oder Abtreiben umgebracht. Aber so waren bei den Iñupiat die Regeln. Dennoch waren die Territorien auch bei den Iñupiat nicht völlig abgeschottet: Gelegentlich erhielten Außenstehende die Erlaubnis, fremdes Territorium zu einem bestimmten Zweck wie dem Besuch eines sommerlichen Handelsmarktes zu betreten oder es aus einem anderen bestimmten Grund zu durchqueren, beispielsweise wenn sie eine andere Gruppe, die jenseits des durchquerten Gebietes lebte, besuchen oder überfallen wollten.
Wenn wir Beispiele für Gesellschaften sammeln, die (wie meine Freunde aus den Bergen, die Dani oder die Iñupiat) zu dem Extrem der sich gegenseitig ausschließenden, verteidigten Territorien neigen, so stellen wir fest, dass solche Verhältnisse aus der Kombination von vier Voraussetzungen erwachsen. Erstens müssen verteidigte Territorien eine so große und dichte Bevölkerung haben, dass einige Personen übrig sind und ihre Zeit gezielt zur Bewachung der Grenzen einsetzen können; anderenfalls müsste die Bevölkerung sich darauf verlassen, dass jeder während der normalen Nahrungsbeschaffung die Augen offen hält und auf Eindringlinge achtet. Zweitens setzen exklusive Territorien eine produktive, stabile, berechenbare Umwelt voraus, in der die Besitzer des Territoriums damit rechnen können, alle oder fast alle benötigten Ressourcen zu finden, so dass sie ihr Gebiet selten oder nie verlassen müssen. Drittens muss es in dem Territorium wertvolle ortsfeste Ressourcen oder Kapitalverbesserungen geben, damit es sich lohnt, sie zu verteidigen oder dafür zu sterben. Das können produktive Gärten oder Obstbaumplantagen sein, aber auch Fischwehre oder Bewässerungsgräben, deren Bau und Instandhaltung großen Aufwand erfordern. Und schließlich muss die Gruppenzugehörigkeit relativ konstant sein, und Nachbargruppen müssen sich im Wesentlichen abgrenzen, so dass zwischen den Gruppen kaum Wanderungsbewegungen stattfinden - die einzige Ausnahme bilden dabei unverheiratete junge Leute (Frauen häufiger als Männer), die ihre Ursprungsgruppe verlassen und in eine andere Gruppe einheiraten.
Ob diese vier Voraussetzungen erfüllt sind, können wir an den Gruppen beobachten, die ich gerade im Zusammenhang mit dem Extrem der einander ausschließenden Territorien und bewachten Grenzen erwähnt habe. Meine Freunde aus den Bergen Neuguineas stecken beträchtlichen Aufwand in ihre Ganzjahresgärten, Schweine und Wälder, die ihnen traditionell alles Benötigte lieferten. Das Roden von Wäldern und die Anlage von Gärten sind für sie mit viel Arbeit verbunden; noch stärker gilt das für die Dani im Westen Neuguineas, die raffinierte Systeme von Gräben anlegen und instand halten, um damit ihre Gärten zu be- und entwässern. Die Iñupiat und Ainu besiedeln ganzjährig reichhaltige Territorien, in denen das Meer eine Fülle von Ressourcen liefert: Salzwasserfische, Robben, Wale und Seevögel, Süßwasserfische und Wassergeflügel; im Landesinneren stehen ihnen Reviere zur Verfügung, in denen man Landsäugetiere jagen kann. Auch die Yolngu im nordaustralischen Arnhemland bildeten eine dichte Bevölkerung, was durch die Kombination aus reichhaltigen Ressourcen an der Küste und im Landesinneren möglich gemacht wurde. Die Shoshone-Indianer im Owens Valley lebten als Jäger und Sammler in relativ hoher Dichte in einer Region, in der reichlich Wasser zur Bewässerung des Landes zur Verfügung stand, so dass sie die Erträge an Wildgrassamen steigern konnten; außerdem konnten sie Pinienkerne ernten und einlagern. Lebensmittelvorräte, Pinienhaine und Bewässerungssysteme waren es wert, dass man sie verteidigte, und die Shoshone waren dazu im Owens Valley auch zahlreich genug. Die Yanomamo-Indianer schließlich unterhalten Plantagen mit Pfirsichpalmen und Kochbananen, die ihnen Grundnahrungsmittel für viele Jahre liefern und ebenfalls die Verteidigung lohnen.
In Regionen mit einer besonders großen, dichten Bevölkerung wie bei den Dani in Neuguinea oder den Nuer im Sudan gibt es nicht nur getrennte Gruppen mit jeweils eigenem Territorium, sondern diese territorialen Gruppen sind auch in Hierarchien mit mindestens drei Stufen organisiert. Das erinnert uns an die hierarchische Organisation von Land, Menschen und politischer Lenkung, die uns aus unseren modernen Staatsgesellschaften vertraut sind. Es beginnt mit einzelnen Grundstücken und geht über Städte, Kreise und Bundesstaaten bis zum Staatsgebiet. Die Nuer (Abb. 7) zum Beispiel sind 200 000 Menschen und leben auf einem Gebiet von rund 78 000 Quadratkilometern; sie gliedern sich in Stämme von jeweils 7000 bis 42 000 Personen, die jeweils wieder in Unterstämme erster, zweiter und dritter Ordnung unterteilt sind, bis hin zu Dörfern mit 50 bis 700 Einwohnern und Abständen von acht bis 32 Kilometern. Je kleiner eine Einheit ist und je weiter unten sie in der Hierarchie steht, desto seltener kommt es zu Meinungsverschiedenheiten um Grenzen und andere Themen: Verwandte und Freunde üben auf Streithähne einen stärkeren Druck aus, Konflikte schnell und gewaltlos beizulegen, und wenn es zu Kämpfen kommt, bleibt ihr Umfang gering. Die Nuer zum Beispiel erlegen sich in ihrem Umgang mit den benachbarten Dinka-Stämmen kaum Beschränkungen auf: Sie überfallen regelmäßig die Dinka, stehlen ihnen das Vieh, töten männliche Dinka und nehmen manche Dinka- Frauen und -Kinder gefangen, während andere ebenfalls getötet werden. Dagegen bestehen die Feindseligkeiten der Nuer gegen andere Nuer- Stämme nur aus gelegentlichem Rinderdiebstahl oder der Tötung weniger Männer; Frauen und Kinder werden weder getötet noch verschleppt.
Nichtexklusive Landnutzung
Dem anderen Extrem, dem völligen oder fast völligen Fehlen der Ausschließlichkeit, nähern sich Gesellschaften unter Bedingungen, die das Gegenteil der exklusiven Landnutzung widerspiegeln. Ein Beispiel ist eine kleine, verstreut lebende Bevölkerung, die ihre Grenzen (abgesehen vom gelegentlichen Blick auf Eindringlinge, während man etwas anderes tut) nicht bewachen kann. Besteht eine Gesellschaft beispielsweise nur aus einer einzigen Familie, kann sie sich eine Bewachung nicht leisten: Der einzige erwachsene Mann kann unmöglich den ganzen Tag auf einem Wachturm sitzen. Eine zweite Voraussetzung ist eine unproduktive, randständige, wechselvolle Umwelt mit spärlichen, unberechenbaren Ressourcen; ein solches Territorium, auf das man vielleicht Anspruch erheben könnte, würde oft (zu manchen Jahreszeiten oder in schlechten Jahren) nicht die lebensnotwendigen Ressourcen liefern, so dass man in regelmäßigen Abständen in den Territorien anderer Gruppen danach suchen müsste, und umgekehrt. Drittens zahlt es sich nicht aus, sein Leben für die Verteidigung eines Territoriums aufs Spiel zu setzen, in dem es nichts gibt, für das es sich zu sterben lohnt: Wird das eigene Territorium angegriffen, ist es in einem solchen Fall besser, einfach weiterzuziehen. Und schließlich sind Territorien häufig dann nicht exklusiv, wenn in der Gruppe eine starke Fluktuation herrscht und wenn die Gruppenmitglieder häufig andere Gruppen besuchen oder zu ihnen wechseln. Eine andere Gruppe fernzuhalten ist witzlos, wenn die Hälfte ihrer Mitglieder ohnehin Besucher sind oder ursprünglich aus der eigenen Gruppe stammen.
Dennoch hat die Landnutzung unter solchen Bedingungen der nichtexklusiven Territorien in der Regel nicht die extreme Form, dass jeder überall alles tun darf. Vielmehr identifiziert sich auch hier in der Regel jede Gruppe mit einem Kerngebiet. Anders als in Gesellschaften mit exklusiver Landnutzung, wo wie bei den Dani ein Niemandsland von Wachttürmen geschützt wird, gibt es hier keine anerkannten Grenzen, sondern die Eigentumsrechte am Land werden immer unbestimmter, je weiter man sich vom Kerngebiet einer Gruppe entfernt. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass Nachbargruppen in Gesellschaften mit nichtexklusiver Landnutzung häufiger und aus vielfältigeren Gründen die Erlaubnis erhalten, das Territorium des jeweils anderen zu durchqueren, insbesondere wenn es darum geht, zu bestimmten Jahreszeiten oder in bestimmten Jahren Nahrung und Wasser zu beschaffen. Wer Bedarf hat, erhält ohne weiteres die Erlaubnis, das Territorium des Nachbarn zu betreten; damit wird das Ganze zu einer Übereinkunft auf Gegenseitigkeit, die beiden Seiten nützt.
Im Detail beschrieben wurde der nichtexklusive Landbesitz am Beispiel der !Kung, eines Volkes von Jägern und Sammlern im Gebiet von Nyae- Nyae in der Wüste Kalahari (Abb. 6). Als man sie in den 1950er Jahren studierte, gliederten sich die !Kung in 19 Horden aus acht bis 42 Personen, die jeweils ein eigenes »Territorium« (n!ore genannt) mit einer Fläche zwischen 260 und 650 Quadratkilometern besaßen. Die Grenzen zwischen den n!ores waren aber verschwommen: Wenn Anthropologen und !Kung- Informanten gemeinsam vom Lager der Informanten zum nächsten n!ore gingen und sich dabei weiter vom Zentrum ihres eigenen Gebietes entfernten, wurden die Informanten zunehmend unsicher oder uneinig in der Frage, in welchem n!ore man sich denn nun befand. Wachtürme oder Wege auf Bergrücken als Markierung der n!ore-Grenzen gab es nicht.
Die n!ore der !Kung sind nichtexklusiv besiedelt, weil es sowohl notwendig als auch möglich ist, die Ressourcen in den Territorien zu teilen. Die Notwendigkeit besteht, weil Wasser in der Kalahari knapp ist und jede Horde sich möglichst lange an einer Wasserstelle aufhalten muss. Aber die Schwankungen des Niederschlages von Jahr zu Jahr lassen sich nicht voraussagen. In der Trockenzeit trocknen viele Wasserstellen aus. Nur zwei solche Stellen versiegten im Untersuchungszeitraum nie; drei weitere waren in der Regel das ganze Jahr über verfügbar, versiegten aber in einem Jahr; fünf hielten nur gelegentlich über die Trockenzeit hinweg durch; und 50 waren nur jahreszeitlich mit Wasser gefüllt und trockneten jedes Jahr eine Zeitlang aus. In der Trockenzeit versammeln sich deshalb bis zu 200 Personen an einer ganzjährigen Wasserstelle; ihre Eigentümer geben die Erlaubnis und dürfen im Gegenzug andere n!ore besuchen und deren Ressourcen nutzen, wenn sie reichlich verfügbar sind. Die Wasserverhältnisse machen es also notwendig, dass die !Kung nichtexklusive Territorien haben: Es wäre sinnlos, den alleinigen Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, wenn dort das Wasser ausgeht und das Territorium nutzlos wird. Umgekehrt macht die jahreszeitliche Überfülle mancher Ressourcen die Nichtexklusivität auch möglich: Es ergibt keinen Sinn, potentiell nützliche Verbündete aus dem eigenen Territorium zu vertreiben und sie damit zu verprellen, wenn dieses Territorium mehr Lebensmittel produziert, als man selbst verbrauchen kann. Das gilt insbesondere für die Mongongo- Nüsse, ein Grundnahrungsmittel, das zu manchen Jahreszeiten in gewaltigen Mengen zur Verfügung steht, aber auch für andere jahreszeitliche Nutzpflanzen wie wilde Bohnen oder Melonen.
Angeblich dürfen alle Mitglieder aller Horden in der Region NyaeNyae überall jagen, auch außerhalb des eigenen n!ore. Wer aber außerhalb des eigenen Territoriums ein Tier erlegt und dann ein Mitglied der Horde trifft, der der betreffende n!ore gehört, sollte diesem ein Stück Fleisch schenken. Der freie Zugang zu den Jagdrevieren gilt aber nicht für !Kung aus weiter entfernten Gebieten. Allgemein gesagt, erhalten benachbarte !Kung-Horden ohne weiteres die Erlaubnis, den n!ore des jeweils anderen auch zu sonstigen Zwecken zu nutzen, beispielsweise zur Beschaffung von Wasser, Nüssen, Bohnen und Melonen - aber man muss vorher um Erlaubnis bitten, und damit verbindet sich auch die Verpflichtung, den Gastgebern im Gegenzug später auch einen Besuch des eigenen n!ore zu gestatten.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
In großen Teilen der Welt können die Bürger vieler Staaten heute ungehindert reisen. In unserem eigenen Land unterliegen wir keinen Beschränkungen. Wenn wir die Grenze zu einem anderen Staat überschreiten wollen, kommen wir entweder unangemeldet hin und zeigen einfach unseren Pass vor, oder wir müssen uns im Voraus ein Visum besorgen, können uns dann aber in dem anderen Land ebenfalls ungehindert bewegen. Um uns auf Straßen und auf öffentlichen Flächen fortzubewegen, müssen wir nicht um Erlaubnis fragen, und in manchen Staaten gewähren die Gesetze sogar den Zugang zu manchen Privatgrundstücken. In Schweden beispielsweise kann ein Grundbesitzer die Öffentlichkeit zwar von seinen Feldern und Gärten fernhalten, nicht aber aus seinen Wäldern. Jeden Tag begegnen uns Tausende von Fremden, ohne dass wir uns dabei etwas denken. Alle diese Rechte halten wir für selbstverständlich. Wir denken nicht darüber nach, wie unvorstellbar sie während der Menschheitsgeschichte nahezu überall auf der Welt waren und in manchen Regionen noch heute sind. Um deutlich zu machen, welchen Bedingungen der Zugang zu Land traditionell unterlag, möchte ich meine Erfahrungen beim Besuch eines Bergdorfes in Neuguinea schildern. Solche traditionellen Bedingungen bilden die Kulisse, wenn man Krieg und Frieden, Kindheit und Alter, Gefahren und alle anderen Aspekte traditioneller Gesellschaften verstehen will, mit denen wir uns in diesem Buch noch beschäftigen werden.
Ich war in das Dorf gekommen, weil ich eine Bestandsaufnahme der Vögel auf einem Bergrücken machen wollte, der sich unmittelbar südlich davon erhob. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft boten einige Dorfbewohner mir an, mich über einen ausgetretenen Pfad zum Kamm des Bergrückens zu führen, damit ich mir dort einen Lagerplatz für meine Untersuchungen aussuchen konnte. Der Pfad stieg oberhalb des Dorfes zwischen Gärten an und führte dann in einen hohen Primärwald. Nachdem wir eineinhalb Stunden steil bergauf gestiegen waren, kamen wir an einer verlassenen Hütte vorüber. Sie stand mitten in einem verwilderten Garten knapp unterhalb der Kammlinie, wo unser Aufstiegspfad in einer T-Kreuzung endete. Rechts von der Einmündung setzte sich ein breiter Weg entlang des Bergkammes fort.
Nachdem ich auf diesem Weg ein paar hundert Meter gegangen war, suchte ich mir einen Lagerplatz unmittelbar nördlich der Kammlinie aus, also auf der Seite in Richtung des Dorfes meiner neuen Freunde. Auf der anderen Seite, südlich des Kammes und des Weges, fiel der Bergrücken sanft ab; dort zog sich ein Graben durch den hohen Wald, und von unten konnte ich das Geräusch eines Baches hören. Ich war begeistert, dass ich einen so schönen und bequemen Platz gefunden hatte: Er lag auf der höchsten Erhebung im Umkreis und bot deshalb die beste Möglichkeit, auch jene Vogelarten ausfindig zu machen, die in großer Höhe leben. Er ermöglichte sehr einfach den Zugang zu sanft geneigtem Gelände zur Vogelbeobachtung, und in der Nähe gab es Wasser zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden. Also erklärte ich meinen Begleitern, ich würde am nächsten Tag zu dem Lagerplatz umziehen und zusammen mit zwei Männern, die mich auf Vögel aufmerksam machen und das Lager in Ordnung halten sollten, ein paar Tage dort bleiben.
Meine Freunde nickten zustimmend, bis ich erwähnte, dass nur zwei Männer bei mir im Lager bleiben sollten. An dieser Stelle schüttelten sie den Kopf. Sie behaupteten steif und fest, dies sei ein gefährliches Gebiet und mein Lager müsse von vielen Bewaffneten geschützt werden. Was für eine entsetzliche Vorstellung für einen Vogelbeobachter! Wenn es viele Männer waren, würden sie zwangläufig Lärm machen, sich ständig unterhalten und die Vögel verscheuchen. Warum, so erkundigte ich mich, brauchte ich eine so große Begleitmannschaft, und was war an diesem wunderschönen, harmlos aussehenden Wald so gefährlich?
Die Antwort kam prompt: Am Fuß der anderen (südlichen) Seite des Bergrückens seien die Dörfer böser Menschen; sie wurden als Flussleute bezeichnet und waren die Feinde meiner Freunde aus den Bergen. Flussleute töteten die Gebirgsleute meistens nicht im offenen Kampf mit Waffen, sondern vor allem mit Gift und Zauberei. Aber der Urgroßvater eines jungen Menschen aus den Bergen sei mit Pfeilen erschossen worden, als er ein Stück vom Bergdorf entfernt in seiner Gartenhütte schlief. Der älteste Mann, der bei unserem Gespräch anwesend war, konnte sich noch erinnern: Er hatte als Kind die Leiche des Urgroßvaters gesehen. Die Pfeile steckten noch darin, als man ihn ins Dorf brachte, die Leute hatten um den Toten geweint, und er selbst hatte Angst gehabt.
Hatten wir denn, so erkundigte ich mich, das »Recht«, oben auf dem Bergrücken ein Lager einzurichten? Darauf erwiderten die Bergbewohner, die Kammlinie selbst sei die Grenze zwischen ihrem Gebiet am Nordhang und dem Revier der bösen Flussleute am Südabhang. Aber die Flussleute beanspruchten auch ein Stück vom Land der Bergbewohner auf der Nordseite, jenseits des Bergkammes. Ob ich mich noch an die verlassene Hütte und den verwilderten Garten unmittelbar unterhalb des Kammes erinnerte? Diese Hütte und der Garten seien von den bösen Flussleuten angelegt worden, weil sie damit ihren Anspruch auf das Land nicht nur im Süden, sondern auch am Nordhang des Bergrückens anmelden wollten.
Nach meinen früheren unangenehmen Erfahrungen mit dem Betreten vermeintlich verbotenen Geländes in Neuguinea wurde mir klar, dass ich die Lage am besten ernst nehmen sollte. Ohnehin würden die Bergbewohner mich auf dem Bergrücken nicht ohne starke Eskorte lagern lassen, ganz gleich, wie ich selbst die Gefahr einschätzte. Sie verlangten, dass ich mich von zwölf Leuten beschützen ließ, und ich machte einen Gegenvorschlag: sieben Männer. Am Ende schlossen wir einen »Kompromiss« zwischen sieben und zwölf: Als das Lager eingerichtet war, zählte ich ungefähr 20 Mann, die bei mir geblieben waren. Alle waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet, und dann kamen noch Frauen hinzu, die kochten, Wasser holten und Brennholz sammelten. Außerdem wurde ich gewarnt, ich solle nicht von dem Weg auf dem Kamm abweichen und keinesfalls den hübsch aussehenden Wald am Südabhang betreten. Dieser Wald gehörte unbestritten den Leuten vom Fluss, und wenn sie mich dort erwischten, würde es Ärger, richtig großen Ärger geben, selbst wenn ich nur Vögel beobachtete. Außerdem konnten die Bergbewohnerinnen auch kein Wasser aus dem nahen Bach am Südhang holen, denn damit würden sie nicht nur das fremde Territorium betreten, sondern auch noch eine wertvolle Ressource entnehmen, und wenn man dieses Problem dann überhaupt noch friedlich beilegen könne, wäre eine Entschädigungszahlung fällig. Stattdessen gingen die Frauen jeden Tag den ganzen Weg hinunter ins Dorf und schleppten die 20-Liter-Wasserkanister über 500 Höhenmeter zur Lagerstelle.
Am zweiten Morgen im Lager erlebte ich etwas Aufregendes. Es verursachte mir Herzklopfen und lehrte mich, dass die Territorialbeziehungen zwischen Gebirgs- und Flussleuten komplizierter waren als das Schwarzweißprinzip, sich gegenseitig das Betreten zu verbieten. Ich ging mit einem der Gebirgsbewohner zurück zu der T-Kreuzung der Pfade und dann weiter nach links den Bergkamm entlang. Wir wollten einen alten, überwachsenen Weg roden. Meinem Begleiter machte es offenbar keine Sorgen, dass wir dort waren, und ich erfuhr auch, warum: Selbst wenn die Flussleute uns entdeckten, würden sie nichts dagegen haben, dass wir auf der Kammlinie standen, so lange wir nicht auf ihre Seite hinüberkamen. Aber dann hörten wir Stimmen, die auf der Südseite den Berg hinaufkamen. Oh, oh! Flussleute! Wenn sie bis zur Kammlinie und der T-Kreuzung kamen, würden sie den frisch gerodeten Weg sehen und uns verfolgen. Dann säßen wir dort in der Falle, sie würden uns eine Verletzung ihres Territoriums vorwerfen, und wer weiß, was sie dann unternehmen würden.
Ich lauschte ängstlich und gab mir Mühe, die Bewegungen der Stimmen zu verfolgen und ihren Ort abzuschätzen. Ja, sie stiegen tatsächlich von ihrer Seite in Richtung des Bergkammes. Jetzt mussten sie an der T-Kreuzung sein, und dort waren die Anzeichen unseres frischen Weges nicht zu übersehen. Waren sie hinter uns her? Ich verfolgte die Stimmen weiter, während sie anscheinend lauter wurden und das Herzklopfen in meinen Ohren übertönten. Aber dann kamen die Stimmen nicht mehr näher; sie wurden eindeutig leiser. Waren sie auf dem Rückweg zum Dorf der Flussleute auf der Südseite? Nein! Sie stiegen auf der Nordseite in Richtung unseres Bergdorfes hinunter. Unglaublich! War das ein Überfall? Es hörte sich aber nur nach zwei oder drei Stimmen an, und sie sprachen laut - wohl kaum ein Verhalten, das man von einem geheimen Überfallkommando erwarten würde!
Mein Begleiter erklärte mir, man müsse sich keine Sorgen machen; alles sei völlig in Ordnung. Wir Gebirgsleute (so sagte er) erkennen das Recht der Flussleute an, friedlich den Weg zu unserem Dorf hinunterzugehen und von dort zur Küste zu wandern, um Handel zu treiben. Die Flussleute dürfen dabei nicht vom Weg abweichen und weder Nahrung sammeln noch Holz schneiden, aber nur den Weg entlangzugehen ist erlaubt. Und das war noch nicht alles: Zwei Männer vom Fluss hatten sogar Frauen aus dem Gebirge geheiratet und sich in dem Bergdorf niedergelassen. Mit anderen Worten: Zwischen den beiden Gruppen herrschte nicht schlichte Feindschaft, sondern eine Art angespannter Waffenstillstand. Manche Dinge waren nach gemeinsamer Übereinkunft erlaubt und andere verboten, und wieder andere (beispielsweise die Eigentumsverhältnisse an der verlassenen Hütte und dem Garten) waren noch umstritten.
Zwei Tage später hatte ich noch nicht wieder die Stimmen von Flussleuten in der Nähe gehört. Ich hatte noch nie jemanden von ihnen gesehen und hatte keine Ahnung, wie sie aussahen und wie sie sich kleideten. Aber ihr Dorf lag so nahe, dass ich einmal Trommeln aus dem Dorf südlich der Wasserscheide hörte, während gleichzeitig aus dem Dorf im Norden leise Rufe zu vernehmen waren. Als mein Bergführer und ich zum Lager zurückgingen, machten wir dumme Witze darüber, was wir jemandem vom Fluss antun würden, wenn wir ihn hier erwischten. Gerade als der Weg um eine Ecke bog und wir fast beim Lager waren, machte mein Begleiter plötzlich keine Witze mehr. Er hob die Hand an den Mund und warnte mich im Flüsterton: »Psst! Flussleute!«
In unserem Lager unterhielt sich eine Gruppe meiner Bekannten aus den Bergen mit sechs Personen, die ich noch nie gesehen hatte: drei Männer, zwei Frauen und ein Kind. Da hatte ich sie nun endlich vor mir, die gefürchteten Flussleute! Sie waren nicht die gefährlichen Ungeheuer, als die ich sie mir unbewusst vorgestellt hatte, sondern sahen wie ganz normale Neuguineer aus, nicht anders als die Gebirgsbewohner, bei denen ich zu Gast war. Das Kind vom Fluss und die beiden Frauen waren alles andere als angsteinflößend. Die drei Männer hatten Pfeile und Bogen bei sich (wie auch alle Männer aus den Bergen), trugen aber T-Shirts und machten nicht den Eindruck, als wären sie zum Kampf gerüstet. Das Gespräch zwischen Fluss- und Gebirgsleuten wirkte freundlich und frei von Spannungen. Wie sich herausstellte, war diese Gruppe der Flussleute auf dem Weg zur Küste, und es war ihnen wichtig gewesen, unser Lager aufzusuchen - vielleicht wollten sie sicher sein, dass ihre friedlichen Absichten nicht missverstanden wurden und dass wir sie nicht angriffen.
Für die Gebirgs- und Flussleute war der Besuch offenbar ein Teil ihrer normalen, vielschichtigen Beziehung, zu der ein breites Spektrum verschiedener Verhaltensweisen gehörte: in seltenen Fällen heimliche Morde; öfter angebliche Morde durch Gift und Zauberei; die gegenseitig anerkannte Berechtigung, bestimmte Dinge zu tun (beispielsweise den Transitweg zur Küste zu benutzen und gesellige Besuche zu machen), andere aber nicht (zum Beispiel auf dem Transitweg Nahrung und Holz zu sammeln oder Wasser zu holen); in anderen Fragen (wie der Hütte und dem Garten) Meinungsverschiedenheiten, die manchmal in Gewalt ausarteten; und gelegentliche gegenseitige Eheschließungen ungefähr mit der gleichen Häufigkeit wie die heimlichen Morde (das heißt alle paar Generationen). Und das alles zwischen zwei Gruppen von Menschen, die für mich gleich aussahen, verschiedene, aber verwandte Sprachen benutzten, die Sprache des jeweils anderen verstanden, sich gegenseitig mit Begriffen bezeichneten, die normalerweise für böse Konkurrenten reserviert waren, und sich beiderseits als schlimmste Feinde betrachteten.
Einander ausschließende Territorien
Theoretisch könnten die räumlichen Beziehungen zwischen benachbarten traditionellen Gesellschaften ein ganzes Spektrum verschiedener Prinzipien umfassen, von einander nicht überschneidenden, exklusiven Territorien, die eindeutig festgelegte, bewachte Grenzen haben und nicht gemeinsam genutzt werden, bis zum freien Zugang aller zu allen Landflächen ohne anerkannte eigene Territorien. Vermutlich hält sich keine Gesellschaft streng an eine dieser beiden Extremformen, manche kommen allerdings dem ersten recht nahe. Meine Freunde in den Bergen zum Beispiel, von denen ich gerade berichtet habe, sind nicht weit davon entfernt: Sie haben Territorien mit genau definierten Grenzen, die sie auch bewachen. Sie beanspruchen die Ressourcen auf ihrem Territorium ausschließlich für sich, und Außenstehenden wird der Zutritt nur für den Transit oder in seltenen Fällen nach einer Heirat gewährt.
Andere Gesellschaften, die dem Extrem der exklusiven Territorien nahekommen, sind die Dani (Karte 1) im Baliem-Tal im Hochland von West- Neuguinea und die Iñupiat (eine Gruppe der Inuit)* im Nordwesten Alaskas, die Ainu in Nordjapan, die Yolngu (eine Aborigines-Gruppe im Arnhemland in Nordwestaustralien), die Shoshone-Indianer im Owens Valley in Kalifornien und die Yanomamo-Indianer in Brasilien und Venezuela. Die Dani zum Beispiel bewässern und bewirtschaften Gärten, die durch ein Niemandsland ohne Gärten von den Gärten der benachbarten Dani-Gruppe getrennt sind. Jede Gruppe baut auf ihrer Seite des Niemandslandes eine Reihe von bis zu neun Meter hohen hölzernen Wachttürmen, deren Beobachtungsplattform so groß ist, dass ein Mann darauf sitzen kann (Abb. 13). Während eines großen Teils des Tages halten die Männer abwechselnd auf den Türmen Wache, und ihre Kameraden sitzen unten am Turm, um ihn und den Beobachter zu bewachen. Dieser sucht das Gelände nach Feinden ab, die sich heimlich anschleichen wollen, und löst bei einem Überraschungsangriff Alarm aus.
Ein anderes Beispiel sind die Iñupiat in Alaska (Abb. 9). Sie gliedern sich in zehn Gruppen mit exklusiven Territorien. Wenn Personen aus einem Territorium erwischt wurden, wie sie ein anderes betraten, wurden sie regelmäßig getötet, es sei denn, sie konnten beweisen, dass sie mit dem Eigentümer des Territoriums, auf dem man sie gestellt hatte, verwandt waren. Die beiden häufigsten Gründe für ein solches unerlaubtes Betreten waren die Jagd auf Wild - Jäger überschritten die Grenze, weil sie hinter einem Rentier her waren - und die Jagd auf Robben, bei der eine Eisscholle, auf der Jäger standen, abgebrochen und abgetrieben war. Wenn das Eis im zweiten Fall wieder an die Küste trieb und die Jäger sich dann in einem fremden Territorium befanden, wurden sie getötet. Für uns, die wir nicht zu den Iñupiat gehören, erscheint so etwas grausam und ungerecht: Die armen Jäger hatten ohnehin bereits ein großes Risiko auf sich genommen, als sie sich auf das schwimmende Eis begaben, wo sie ertrinken oder aufs offene Meer getrieben werden konnten, und wenn sie dann Glück hatten und wieder an die Küste getrieben wurden - passiv von einer Meeresströmung und ohne jede Absicht, fremdes Gebiet zu betreten -, wurden sie dennoch gerade im Augenblick ihrer Rettung vor dem Ertrinken oder Abtreiben umgebracht. Aber so waren bei den Iñupiat die Regeln. Dennoch waren die Territorien auch bei den Iñupiat nicht völlig abgeschottet: Gelegentlich erhielten Außenstehende die Erlaubnis, fremdes Territorium zu einem bestimmten Zweck wie dem Besuch eines sommerlichen Handelsmarktes zu betreten oder es aus einem anderen bestimmten Grund zu durchqueren, beispielsweise wenn sie eine andere Gruppe, die jenseits des durchquerten Gebietes lebte, besuchen oder überfallen wollten.
Wenn wir Beispiele für Gesellschaften sammeln, die (wie meine Freunde aus den Bergen, die Dani oder die Iñupiat) zu dem Extrem der sich gegenseitig ausschließenden, verteidigten Territorien neigen, so stellen wir fest, dass solche Verhältnisse aus der Kombination von vier Voraussetzungen erwachsen. Erstens müssen verteidigte Territorien eine so große und dichte Bevölkerung haben, dass einige Personen übrig sind und ihre Zeit gezielt zur Bewachung der Grenzen einsetzen können; anderenfalls müsste die Bevölkerung sich darauf verlassen, dass jeder während der normalen Nahrungsbeschaffung die Augen offen hält und auf Eindringlinge achtet. Zweitens setzen exklusive Territorien eine produktive, stabile, berechenbare Umwelt voraus, in der die Besitzer des Territoriums damit rechnen können, alle oder fast alle benötigten Ressourcen zu finden, so dass sie ihr Gebiet selten oder nie verlassen müssen. Drittens muss es in dem Territorium wertvolle ortsfeste Ressourcen oder Kapitalverbesserungen geben, damit es sich lohnt, sie zu verteidigen oder dafür zu sterben. Das können produktive Gärten oder Obstbaumplantagen sein, aber auch Fischwehre oder Bewässerungsgräben, deren Bau und Instandhaltung großen Aufwand erfordern. Und schließlich muss die Gruppenzugehörigkeit relativ konstant sein, und Nachbargruppen müssen sich im Wesentlichen abgrenzen, so dass zwischen den Gruppen kaum Wanderungsbewegungen stattfinden - die einzige Ausnahme bilden dabei unverheiratete junge Leute (Frauen häufiger als Männer), die ihre Ursprungsgruppe verlassen und in eine andere Gruppe einheiraten.
Ob diese vier Voraussetzungen erfüllt sind, können wir an den Gruppen beobachten, die ich gerade im Zusammenhang mit dem Extrem der einander ausschließenden Territorien und bewachten Grenzen erwähnt habe. Meine Freunde aus den Bergen Neuguineas stecken beträchtlichen Aufwand in ihre Ganzjahresgärten, Schweine und Wälder, die ihnen traditionell alles Benötigte lieferten. Das Roden von Wäldern und die Anlage von Gärten sind für sie mit viel Arbeit verbunden; noch stärker gilt das für die Dani im Westen Neuguineas, die raffinierte Systeme von Gräben anlegen und instand halten, um damit ihre Gärten zu be- und entwässern. Die Iñupiat und Ainu besiedeln ganzjährig reichhaltige Territorien, in denen das Meer eine Fülle von Ressourcen liefert: Salzwasserfische, Robben, Wale und Seevögel, Süßwasserfische und Wassergeflügel; im Landesinneren stehen ihnen Reviere zur Verfügung, in denen man Landsäugetiere jagen kann. Auch die Yolngu im nordaustralischen Arnhemland bildeten eine dichte Bevölkerung, was durch die Kombination aus reichhaltigen Ressourcen an der Küste und im Landesinneren möglich gemacht wurde. Die Shoshone-Indianer im Owens Valley lebten als Jäger und Sammler in relativ hoher Dichte in einer Region, in der reichlich Wasser zur Bewässerung des Landes zur Verfügung stand, so dass sie die Erträge an Wildgrassamen steigern konnten; außerdem konnten sie Pinienkerne ernten und einlagern. Lebensmittelvorräte, Pinienhaine und Bewässerungssysteme waren es wert, dass man sie verteidigte, und die Shoshone waren dazu im Owens Valley auch zahlreich genug. Die Yanomamo-Indianer schließlich unterhalten Plantagen mit Pfirsichpalmen und Kochbananen, die ihnen Grundnahrungsmittel für viele Jahre liefern und ebenfalls die Verteidigung lohnen.
In Regionen mit einer besonders großen, dichten Bevölkerung wie bei den Dani in Neuguinea oder den Nuer im Sudan gibt es nicht nur getrennte Gruppen mit jeweils eigenem Territorium, sondern diese territorialen Gruppen sind auch in Hierarchien mit mindestens drei Stufen organisiert. Das erinnert uns an die hierarchische Organisation von Land, Menschen und politischer Lenkung, die uns aus unseren modernen Staatsgesellschaften vertraut sind. Es beginnt mit einzelnen Grundstücken und geht über Städte, Kreise und Bundesstaaten bis zum Staatsgebiet. Die Nuer (Abb. 7) zum Beispiel sind 200 000 Menschen und leben auf einem Gebiet von rund 78 000 Quadratkilometern; sie gliedern sich in Stämme von jeweils 7000 bis 42 000 Personen, die jeweils wieder in Unterstämme erster, zweiter und dritter Ordnung unterteilt sind, bis hin zu Dörfern mit 50 bis 700 Einwohnern und Abständen von acht bis 32 Kilometern. Je kleiner eine Einheit ist und je weiter unten sie in der Hierarchie steht, desto seltener kommt es zu Meinungsverschiedenheiten um Grenzen und andere Themen: Verwandte und Freunde üben auf Streithähne einen stärkeren Druck aus, Konflikte schnell und gewaltlos beizulegen, und wenn es zu Kämpfen kommt, bleibt ihr Umfang gering. Die Nuer zum Beispiel erlegen sich in ihrem Umgang mit den benachbarten Dinka-Stämmen kaum Beschränkungen auf: Sie überfallen regelmäßig die Dinka, stehlen ihnen das Vieh, töten männliche Dinka und nehmen manche Dinka- Frauen und -Kinder gefangen, während andere ebenfalls getötet werden. Dagegen bestehen die Feindseligkeiten der Nuer gegen andere Nuer- Stämme nur aus gelegentlichem Rinderdiebstahl oder der Tötung weniger Männer; Frauen und Kinder werden weder getötet noch verschleppt.
Nichtexklusive Landnutzung
Dem anderen Extrem, dem völligen oder fast völligen Fehlen der Ausschließlichkeit, nähern sich Gesellschaften unter Bedingungen, die das Gegenteil der exklusiven Landnutzung widerspiegeln. Ein Beispiel ist eine kleine, verstreut lebende Bevölkerung, die ihre Grenzen (abgesehen vom gelegentlichen Blick auf Eindringlinge, während man etwas anderes tut) nicht bewachen kann. Besteht eine Gesellschaft beispielsweise nur aus einer einzigen Familie, kann sie sich eine Bewachung nicht leisten: Der einzige erwachsene Mann kann unmöglich den ganzen Tag auf einem Wachturm sitzen. Eine zweite Voraussetzung ist eine unproduktive, randständige, wechselvolle Umwelt mit spärlichen, unberechenbaren Ressourcen; ein solches Territorium, auf das man vielleicht Anspruch erheben könnte, würde oft (zu manchen Jahreszeiten oder in schlechten Jahren) nicht die lebensnotwendigen Ressourcen liefern, so dass man in regelmäßigen Abständen in den Territorien anderer Gruppen danach suchen müsste, und umgekehrt. Drittens zahlt es sich nicht aus, sein Leben für die Verteidigung eines Territoriums aufs Spiel zu setzen, in dem es nichts gibt, für das es sich zu sterben lohnt: Wird das eigene Territorium angegriffen, ist es in einem solchen Fall besser, einfach weiterzuziehen. Und schließlich sind Territorien häufig dann nicht exklusiv, wenn in der Gruppe eine starke Fluktuation herrscht und wenn die Gruppenmitglieder häufig andere Gruppen besuchen oder zu ihnen wechseln. Eine andere Gruppe fernzuhalten ist witzlos, wenn die Hälfte ihrer Mitglieder ohnehin Besucher sind oder ursprünglich aus der eigenen Gruppe stammen.
Dennoch hat die Landnutzung unter solchen Bedingungen der nichtexklusiven Territorien in der Regel nicht die extreme Form, dass jeder überall alles tun darf. Vielmehr identifiziert sich auch hier in der Regel jede Gruppe mit einem Kerngebiet. Anders als in Gesellschaften mit exklusiver Landnutzung, wo wie bei den Dani ein Niemandsland von Wachttürmen geschützt wird, gibt es hier keine anerkannten Grenzen, sondern die Eigentumsrechte am Land werden immer unbestimmter, je weiter man sich vom Kerngebiet einer Gruppe entfernt. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass Nachbargruppen in Gesellschaften mit nichtexklusiver Landnutzung häufiger und aus vielfältigeren Gründen die Erlaubnis erhalten, das Territorium des jeweils anderen zu durchqueren, insbesondere wenn es darum geht, zu bestimmten Jahreszeiten oder in bestimmten Jahren Nahrung und Wasser zu beschaffen. Wer Bedarf hat, erhält ohne weiteres die Erlaubnis, das Territorium des Nachbarn zu betreten; damit wird das Ganze zu einer Übereinkunft auf Gegenseitigkeit, die beiden Seiten nützt.
Im Detail beschrieben wurde der nichtexklusive Landbesitz am Beispiel der !Kung, eines Volkes von Jägern und Sammlern im Gebiet von Nyae- Nyae in der Wüste Kalahari (Abb. 6). Als man sie in den 1950er Jahren studierte, gliederten sich die !Kung in 19 Horden aus acht bis 42 Personen, die jeweils ein eigenes »Territorium« (n!ore genannt) mit einer Fläche zwischen 260 und 650 Quadratkilometern besaßen. Die Grenzen zwischen den n!ores waren aber verschwommen: Wenn Anthropologen und !Kung- Informanten gemeinsam vom Lager der Informanten zum nächsten n!ore gingen und sich dabei weiter vom Zentrum ihres eigenen Gebietes entfernten, wurden die Informanten zunehmend unsicher oder uneinig in der Frage, in welchem n!ore man sich denn nun befand. Wachtürme oder Wege auf Bergrücken als Markierung der n!ore-Grenzen gab es nicht.
Die n!ore der !Kung sind nichtexklusiv besiedelt, weil es sowohl notwendig als auch möglich ist, die Ressourcen in den Territorien zu teilen. Die Notwendigkeit besteht, weil Wasser in der Kalahari knapp ist und jede Horde sich möglichst lange an einer Wasserstelle aufhalten muss. Aber die Schwankungen des Niederschlages von Jahr zu Jahr lassen sich nicht voraussagen. In der Trockenzeit trocknen viele Wasserstellen aus. Nur zwei solche Stellen versiegten im Untersuchungszeitraum nie; drei weitere waren in der Regel das ganze Jahr über verfügbar, versiegten aber in einem Jahr; fünf hielten nur gelegentlich über die Trockenzeit hinweg durch; und 50 waren nur jahreszeitlich mit Wasser gefüllt und trockneten jedes Jahr eine Zeitlang aus. In der Trockenzeit versammeln sich deshalb bis zu 200 Personen an einer ganzjährigen Wasserstelle; ihre Eigentümer geben die Erlaubnis und dürfen im Gegenzug andere n!ore besuchen und deren Ressourcen nutzen, wenn sie reichlich verfügbar sind. Die Wasserverhältnisse machen es also notwendig, dass die !Kung nichtexklusive Territorien haben: Es wäre sinnlos, den alleinigen Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, wenn dort das Wasser ausgeht und das Territorium nutzlos wird. Umgekehrt macht die jahreszeitliche Überfülle mancher Ressourcen die Nichtexklusivität auch möglich: Es ergibt keinen Sinn, potentiell nützliche Verbündete aus dem eigenen Territorium zu vertreiben und sie damit zu verprellen, wenn dieses Territorium mehr Lebensmittel produziert, als man selbst verbrauchen kann. Das gilt insbesondere für die Mongongo- Nüsse, ein Grundnahrungsmittel, das zu manchen Jahreszeiten in gewaltigen Mengen zur Verfügung steht, aber auch für andere jahreszeitliche Nutzpflanzen wie wilde Bohnen oder Melonen.
Angeblich dürfen alle Mitglieder aller Horden in der Region NyaeNyae überall jagen, auch außerhalb des eigenen n!ore. Wer aber außerhalb des eigenen Territoriums ein Tier erlegt und dann ein Mitglied der Horde trifft, der der betreffende n!ore gehört, sollte diesem ein Stück Fleisch schenken. Der freie Zugang zu den Jagdrevieren gilt aber nicht für !Kung aus weiter entfernten Gebieten. Allgemein gesagt, erhalten benachbarte !Kung-Horden ohne weiteres die Erlaubnis, den n!ore des jeweils anderen auch zu sonstigen Zwecken zu nutzen, beispielsweise zur Beschaffung von Wasser, Nüssen, Bohnen und Melonen - aber man muss vorher um Erlaubnis bitten, und damit verbindet sich auch die Verpflichtung, den Gastgebern im Gegenzug später auch einen Besuch des eigenen n!ore zu gestatten.
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Autoren-Porträt von Jared Diamond
Jared Diamond, geb. 1938 in Boston, ist Professor für Geographie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Für seine Arbeit auf dem Feld der Anthropologie und Genetik ist Jared Diamond vielfach ausgezeichnet worden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jared Diamond
- 2012, 586 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Vogel, Sebastian
- Übersetzer: Sebastian Vogel
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100139097
- ISBN-13: 9783100139092
- Erscheinungsdatum: 25.10.2012
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