Vier minus drei
Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu einem neuen Leben fand
Ein Schicksal, das erschüttert - und dennoch Mut macht, zu leben.
Wie schafft es eine Frau, die ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder durch einen Verkehrsunfall verliert, überhaupt weiterzuleben? Fünf Tage nach dem...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vier minus drei “
Ein Schicksal, das erschüttert - und dennoch Mut macht, zu leben.
Wie schafft es eine Frau, die ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder durch einen Verkehrsunfall verliert, überhaupt weiterzuleben? Fünf Tage nach dem schrecklichen Ereignis schreibt Barbara Pachl-Eberhart einen offenen Brief an ihre Verwandten und Freunde, der in beeindruckender Intensität ihre Gefühle darlegt. Rasch findet das erschütternde Dokument durch Internet, Zeitungen und Zeitschriften eine große Verbreitung. Die Tragödie dieser Familie bewegt Tausende Menschen.
Zwei Jahre nach dem tragischen Ereignis schildert Barbara Pachl-Eberhart nun ihren Weg in ein neues Leben. Die Offenheit, mit der sie sich ihrem Schicksal stellt, und der Mut, mit dem sie Schritt für Schritt in eine unbekannte Zukunft geht, zeugen auf ergreifende Weise von menschlicher Größe und einem unerschütterlichen Glauben an den Sinn des Lebens.
Die Autorin wurde 2009 mit dem wichtigsten österreichischen Frauenpreis, dem "Leading Ladies Award", ausgezeichnet.
Klappentext zu „Vier minus drei “
Wie schafft es eine Frau, die ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder durch einen Verkehrsunfall verliert, überhaupt weiterzuleben? Fünf Tage nach dem schrecklichen Ereignis schreibt Barbara Pachl-Eberhart einen offenen Brief an ihre Verwandten und Freunde, der in beeindruckender Intensität ihre Gefühle darlegt. Rasch findet das erschütternde Dokument durch Internet, Zeitungen und Zeitschriften eine große Verbreitung. Die Tragödie dieser Familie bewegt Tausende Menschen.Zwei Jahre nach dem tragischen Ereignis schildert Barbara Pachl-Eberhart nun ihren Weg in ein neues Leben. Die Offenheit, mit der sie sich ihrem Schicksal stellt, und der Mut, mit dem sie Schritt für Schritt in eine unbekannte Zukunft geht, zeugen auf ergreifende Weise von menschlicher Größe und einem unerschütterlichen Glauben an den Sinn des Lebens.
"Barbara Pachl-Eberhart ist ein Kunststück gelungen: Ihr Buch über Trauer ist voll warmem Humor. (...) Wer seine Scheu vor dem Thema Tod überwindet, wird es nicht bereuen. Ein sehr intimes Buch, das lange nachklingt." -- Hamburger Morgenpost
"Ein Dokument, das in einer beeindruckenden Intensität von einem Schicksal erzählt, das bewegt, das aufrüttelt, das erschüttert." -- die aktuelle
"Sie hat ihr Schicksal auf erstaunliche Weise bewältigt." -- ORF 2
"Ein Dokument, das in einer beeindruckenden Intensität von einem Schicksal erzählt, das bewegt, das aufrüttelt, das erschüttert." -- die aktuelle
"Sie hat ihr Schicksal auf erstaunliche Weise bewältigt." -- ORF 2
Lese-Probe zu „Vier minus drei “
Vier minus drei von Barbara Pachl-Eberhart Vier
Womit soll ich beginnen?
Mit dem Tag, an dem plötzlich alles anders war?
Mit dem Moment, an dem plötzlich, so schien es mir, nichts mehr war? Anfangen mit dem Unfall, der meinen Mann in eine andere Welt, meine Kinder schwerverletzt ins Krankenhaus und mich in ein neues Leben katapultierte.
Oder im Hier und Jetzt, in meiner neuen Zeit?
An meinem neuen Schreibtisch, der mir im letzten Jahr so sehr vertraut geworden ist, der jedoch die drei Menschen, deren Fotos ihn zieren, nie kennenlernte.
Soll ich irgendwo dazwischen beginnen?
Zum Beispiel mit dem Moment, als mir der Gedanke kam, meine Geschichte aufzuschreiben - mit dem einzigen Ziel, sie aus meinem Kopf herauszubringen, um sie nicht mehr abhängig zu machen von meiner Fähigkeit, mich zu erinnern.
Meine Geschichte. Meine Vergangenheit. Es war einmal.
Wo will ich beginnen?
Am liebsten dort, wo es nicht mehr von Bedeutung ist, womit man beginnt. Beim ausgebeulten, abgegriffenen, wohlig duftenden Koffer meiner Erinnerung. Seinen Inhalt hat das Leben in seinem schnellen Lauf kräftig durcheinander gewürfelt. Vorsichtig klappe ich den Deckel auf und bemerke, dass alles, was ich einmal als Vorher und Nachher, als Heute, Morgen und Irgendwann erlebte, nun vermischt nebeneinander liegt.
Die Vergangenheit schwingt ihren Zauberstab und stellt die Zeit auf den Kopf.
Ein neugeborenes Kind. Zwei Geschwister beim Spiel. Eine Schneeballschlacht. Ein Liebespaar. Ein Ehepaar. Ein Streit. Ein Lachen. Ein Theatervorhang. Ein Urlaubstag am Meer. Ein dicker Bauch.
... mehr
Wo soll die Betrachtung beginnen? Meine Laune nimmt mich an der Hand. Gemeinsam wollen wir eintauchen, in die vielfarbige Welt der Erinnerung. Als Pforte wählen wir das Foto eines lachenden Mannes in einer grünen Regentonne. Aufgenommen an einem Sommertag. In einer Zeit, von der ich glaubte, sie sei mein ganzes Leben.
Mein Mund hat gelernt, diese Zeit Vergangenheit zu nennen. Auch wenn mein Herz das vielleicht niemals begreifen wird.
Szenen aus unserem gemeinsamen Leben schweben durch meinen Geist wie Seifenblasen. Schillernd in tausend Farben, fröhlich vor meinen Augen tanzend. In ihrem fl üchtigen Glanz zeigen sie mir mein eigenes, vergangenes Spiegelbild.
Sie entziehen sich der Berührung.
Lassen sich nicht fangen. Nicht greifen. Nicht halten.
Nicht mehr.
Ich liebte sie schon als Kind, die Seifenblasen. Und ich liebe sie noch heute, als Clown, bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Ich habe noch kein Kind getroffen, das nicht angezogen wurde von den schimmernden Bällen und ihrem leisen Flug durch die Luft. Kein Kind, das nicht nach kurzem Staunen die Ärmchen ausgestreckt hätte, sie zu fangen. Und dann: minutenlang dasselbe Spiel. Der Versuch, den Ball zu greifen, die Verwunderung über sein plötzliches Verschwinden. Ein neuer Versuch, wieder und wieder. Lachen. Staunen.
Sind die Seifenblasen vielleicht die ersten Boten, auserkoren, die Nachricht von der Vergänglichkeit der Dinge in das Leben eines Kindes zu tragen? Wo auf unserem Weg geht uns das kindliche Lachen verloren, darüber, dass alles irgendwann verschwindet und zerplatzt?
Zerplatzt.
Was eigentlich geschieht mit einer Seifenblase, die zerplatzt? Verschwindet sie? Löst sie sich in Luft auf?
Ja. In der Luft aufgelöst finden wir sie wieder. Winzige Seifentröpfchen schweben, beinahe unsichtbar, durch den Raum. Sinken langsam zu Boden, auf unsere Kleidung, in unser Haar. Eine Zeit lang tragen wir sie noch mit uns herum. Das ist das eine, was bleibt.
Doch noch etwas anderes hat Bestand: das Bild der Seifenblase in unserem Kopf. Die Freude, die sie uns brachte. Der Nachhall des sanften Tons in dem Moment, da sie ihre Form aufgab.
Es sind nur Seifenblasenbilder, die ich mit meinen Worten malen kann. Das Leben meiner Familie ist vor geraumer Zeit zerplatzt. Übrig bleiben Eindrücke. Fröhliche Geschichten von jenem unschätzbaren Wert, den nur das Unwiederbringliche uns zu offenbaren vermag.
Einzelne Bilder drängen hervor, halten sich für wichtiger als die anderen, leuchten intensiver. Haben es eilig, festgehalten zu werden, bevor sie zu Boden fallen und der Erinnerung entgleiten. Ich picke mir das erstbeste Bild heraus. Nicht zufällig ist es der Anfang der Geschichte zweier Liebender, die Mann und Frau werden sollten.
Unser Leben. Es währte acht Jahre.
»Ein Leben lang«, so hatten mein Mann und ich versprochen, würden wir einander lieben, ehren, achten. Ein Leben lang wollten wir einander treu sein und gemeinsam durch dick und dünn gehen. Wir wussten nicht, wie kurz unser gemeinsames Leben dauern sollte.
Mein Mann Heli. Ich ehre, achte, liebe ihn heute genauso wie am ersten Tag. Und er? Er geht mit mir durch dick und dünn, wo immer ich bin. Wie versprochen, ja, mehr als das: ein Leben lang und über den Tod hinaus.
Ein heißer Julitag. Ich stehe am Bahnhof, bin gerade heimgekommen von einem sehr bewegenden Theaterkurs.
»Finde deinen inneren Clown.«
Oh, ja! Ich habe ihn tatsächlich gefunden.
Ich, die angehende Volksschullehrerin, die schon mit siebzehn in der Lateinstunde ihrer Sitznachbarin eine plötzliche Eingebung zugeflüstert hat:
»Ich will Clown werden!«
Lange wusste ich nicht, wie dieser spontan geäußerte Wunsch Realität werden könnte. Immer wieder habe ich auf Kursen in die Welt der roten Nase hineingeschnuppert. Jetzt, endlich, ist es so weit. Die Gewissheit ist da, hat mich irgendwo auf der Zugfahrt erfasst und sich in jeder Zelle meines Körpers mit wohligem Kribbeln ausgebreitet.
Ich bin Clown.
Ein Stück will ich machen, damit auftreten. Ich muss dazu nur noch einen Partner finden. Zu zweit geht alles leichter.
Ich packe meinen alten Flohmarktkoffer aufs Rad und mache mich, in Träumereien versunken, auf den Heimweg. Zehn Minuten später finde ich mich in einer Menschenmenge in der Grazer Innenstadt wieder. Stadtfest.
Wie bin ich hierhergekommen? Die Fußgängerzone liegt doch gar nicht auf meiner Strecke.
Ich steige ab, zwänge mich im Schneckentempo an all den Leuten vorbei, die mir im Weg stehen. Ich frage mich, warum ich nicht einfach umdrehe. Ich weiß es nicht.
Da sehe ich ihn. Auf einer kleinen Bühne steht ein Clown. Er macht sich gerade daran, über einen Besen zu balancieren. Die Zuschauer lachen, klatschen. Ich höre sie kaum. Sehe nichts anderes mehr als nur das Gesicht des feinen, zarten Mannes mit der roten Nase. Ich dränge mich in die erste Reihe und unsere Blicke treffen sich. Ja, es ist kitschig, es ist romantisch. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Der Clown braucht eine Freiwillige, holt mich auf die Bühne. Später noch einmal. Und ein drittes Mal. Ich kenne mich aus im Straßentheater - drei Mal denselben Freiwilligen, so etwas tut man doch nicht!
Außer ...
Nach der Vorstellung laufe ich mit meinem Koffer, der gut auf seine Bühne passen würde, zu ihm, und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus.
»Ich bin auch Clown! Ich will ein Stück machen! Ich habe da so eine Idee für eine Geschichte.«
Heli hat seine rote Nase abgenommen. Er grinst.
»Ich ... ich brauche nur noch einen Partner.«
»Ja, das merkt man!«
Oh Gott!
Ich versinke nicht im Erdboden. Weil sich der Erdboden ja nie auftut, wenn man es gerade dringend braucht. Stattdessen nehme ich stumm Helis Flyer entgegen.
»Da steht meine Nummer. Ruf mich ruhig einmal an.«
Ich schaffe gerade noch ein Nicken, ehe ich mich mit rotem Kopf verdrücke. Zu Hause angekommen lege ich vor mir selbst und meinen vier Wänden einen feierlichen Eid ab:
Ich werde nicht anrufen. Oder wenn, dann frühestens in drei Tagen.
Mein Herz lächelt milde. Es weiß bereits, dass der Mann auf dem farbenfrohen Prospekt nicht nur auf der Bühne mein Partner werden soll.
Wie oft haben wir später gelacht, bei der Erinnerung an unser erstes Zusammentreffen! Heli erzählte die Geschichte so:
»Das merkt man.«
Nach seiner Bemerkung hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Drei Tage lang war er daraufhin um sein Telefon herumgeschlichen. Hatte kaum gewagt, das Haus zu verlassen. So lange, bis ich endlich, endlich anrief.
Drei Monate später. Wir sitzen nach einem gemeinsamen Clownauftritt in Helis Wohnung und stärken uns mit Spaghetti al Pesto.
»À la Geheimrezept.«
Heli spricht diese Worte verschwörerisch aus und fixiert mich dabei mit seinen meerblauen Augen. Ich meine, in diesem Blau zu versinken, und höre mir selbst beim Denken zu.
Wow! Er kann sogar kochen!
Wir füttern einander mit Nudeln. Lachen, wenn eine hinunterfällt. Wutzl, Helis dicker Kater, kümmert sich um die Abfälle. Ich schnurre mit ihm um die Wette. Ausgelassen unterhalten wir uns darüber, ob wir eigentlich Kinder wollen. Oh ja, und ob wir das wollen!
»Wie viele?«
Die Preisfrage. Ich will es genau wissen.
Er liebt mich, er liebt mich nicht ... Wenn er drei Kinder von mir will, liebt er mich wirklich sehr.
»Fünf.«
Das kam wie aus der Pistole geschossen.
»Und du?«
Ich auch. Schon immer. Seit ich vier Jahre alt war und im Supermarkt eine Frau mit fünf Kindern angestarrt habe, bis mich meine Mutter zum Ausgang zog. Aber woher weiß Heli das nur?
»Ja, das ist gut. Fünf Kinder.« Nun stellt Heli seine Preisfrage. »Wann fangen wir denn an?« Sofort, möchte ich schreien. Aber ich kenne ihn ja noch kaum, diesen Mann. Ich
muss mich schnell von seinen blauen Augen losreißen, sonst bekommen wir noch Fünflinge, und zwar in der nächsten Minute.
Der Himmel vor dem Fenster sieht auch nicht anders aus als Helis Augen. Ich kneife trotzdem. Sicher ist sicher.
»Ähm, jetzt noch nicht. Aber bald. Sagen wir ... in drei Jahren?«
»Fein, in drei Jahren. Schlag ein.«
Abgemacht.
Am nächsten Morgen bleiben wir länger im Bett und machen, was Frischverliebte eben so machen. Mit einem Mal fühle ich, wie in meinem Bauch etwas »explodiert« - ein warmes, helles Licht breitet sich dort aus, nach allen Richtungen hin, wie eine Supernova. Was ist passiert?
»Du bist schwanger. Du leuchtest wie ein Stern!«
Heli und seine Vorahnungen! Mein Mund klappt weit auf und bringt doch nur ein leises »Ja« hervor. Sekunden später tanzen wir jubelnd durchs Zimmer. Wir hüpfen, bis wir nicht mehr können, dann fallen wir wieder aufs Bett.
»Du musst dich jetzt schonen«, flüstert er lächelnd.
Er, Heli, der Vater des Kindes in meinem Bauch.
Er sollte Paul heißen. Das Armband mit diesem Namen findet sich noch im Babyalbum, sorgfältig eingeklebt und mit Datum versehen.
13.6.2001
In der ersten Nacht nach seiner Geburt konnte ich die Augen nicht von dem winzigen Wesen lassen, das gerade erst geschlüpft und bereits so einmalig, so unverwechselbar war. Bei meiner Betrachtung schoss mir ein Gedanke durch den Kopf:
Das ist kein Paul. Das ist ein Thimo!
Dieser Name hatte auf keiner unserer langen Listen gestanden. Aufgeregt weckte ich Heli und weihte ihn ein.
»Thimo.«
Wie schön klang das aus Helis Mund. Wir waren uns einig. Der Name war richtig. Es störte uns nicht, dass sich Thimo in dieser Schreibweise in keinem unserer Namensbücher fand.
Regeln interessierten uns beide nur, solange sie sich mit unserer Intuition vereinbaren ließen. Ein neues Wesen war durch uns in die Welt gekommen, warum dann nicht auch gleich ein neuer Name?
Das stattliche Th war uns jedenfalls wichtig. Vielleicht würde unser Sohn ja später einmal Rechtsanwalt werden. Oder Arzt. Oder ... egal.
Ein Gespräch mit Thimo. Er war fünf Jahre alt.
Damals. Vor Kurzem. Vor einer Ewigkeit.
Es war eines jener Gespräche, die mit einem leisen, zögernden »Duhu, Mamaaa ...« begannen und für die man sich Zeit nehmen musste, weil sie wichtig waren.
»Duhu, Mamaaa, ich muss dir etwas sagen. Weißt du, ich finde meinen Namen ja schon schön. Aber, weißt du, irgendwie ist Thimo nur ein Name für Kinder. Wenn ich groß bin, würde ich gern anders heißen, da hätte ich gern einen Erwachsenennamen.«
Aha.
Was denn ein Erwachsenenname sei, wollte ich wissen.
»Hmmm.«
Thimo nahm sich etwas Zeit und ließ sich seine Worte dann wie eine wohlschmeckende Speise auf der Zunge zergehen.
»Helmut, ja, das wäre schön!«
Momentaufnahmen. Gesprächsfetzen. Wie Miniaturen erscheinen sie vor meinem inneren Auge, wenn ich an die sieben Jahre mit meinem Sohn denke. Die Erinnerung gleicht einem Kaleidoskop, das jedes Mal, wenn man hineinsieht, ein neues Bild serviert. In seinem Rohr fi ndet sich eine Unzahl farbiger Glassteine. Bei jedem Schütteln werden andere Bilder, andere Kombinationen sichtbar. Niemals kann man alle Steine gleichzeitig betrachten. Man muss sich zufriedengeben mit dem Teil, den man gerade sieht.
Ebenso ist es mit der Erinnerung. Aus ihrem unerschöpflichen Reichtum gibt sie stets nur einige wenige Bilder preis.
Immer wieder fühle ich mich von dem Wunsch getrieben, mich an alles, alles zu erinnern und nur ja kein Detail, keinen geteilten Augenblick, kein liebes Wort meiner Kinder zu vergessen.
Mein Wunsch hat mich mitunter dazu gebracht, fieberhaft Stichworte niederzuschreiben, so lange, bis ich nicht mehr konnte und nur noch schwarze Leere in meinem Kopf verspürte. Er trieb mich zum Weinen, zum Schreien, zur Verzweiflung.
An meiner Seite stand drohend die Angst.
Meine Erinnerungen sind alles, was ich habe. Was, wenn ich sie verliere?
Die Angst spricht. Die Gedanken stehen still. Drehen sich um sich selbst. Sie ducken sich, haben keine Zeit zum Spielen. Sie werfen das Kaleidoskop in die Ecke. Die Angst malt ihre eigenen Bilder. Sehr kreativ ist sie dabei nicht: Ein Kind, schwer verletzt in einem Krankenbett. Blut, Schläuche, Maschinen. Mehr fällt meiner Angst nicht ein.
Ich will mich damit nicht zufriedengeben. Es wird nicht dieses Bild sein, das alle anderen verdrängt. Wenn nötig, werde ich mich auch noch mit letzter Kraft aufraffen und das Kaleidoskop aus der Ecke holen. Es schütteln. Immer wieder aufs Neue.
Es gibt, das hat mir die Erfahrung gezeigt, einen Weg, die Erinnerung lebendig zu erhalten. Dieser Weg heißt Leben. Die Erinnerung braucht Anknüpfungspunkte. Ich muss sie suchen und kann sie finden.
Hier. Jetzt. In der Gegenwart.
Die Bilder der Vergangenheit werden umso deutlicher und schärfer, je vitaler ich gerade bin. Wenn ich mich meinem gegenwärtigen Lebensgefühl voll und ganz anvertraue, kann es sein, dass längst vergessen geglaubte Erlebnisse an die Oberfläche kommen, plötzlich, ohne Anstrengung. Leben und Erinnern schließen einander nicht aus. Ganz im Gegenteil. Erinnern heißt leben. Zurückschauen fällt dem leichter, der in Liebe weitergeht.
So gehe ich also hinaus in den warmen Frühlingstag und kaufe mir ein Schokoladeneis, um danach - ganz vorsichtig - das Mosaik nach Hause zu tragen, das mir der Sonnenschein beim Gedanken an einen kleinen blonden Buben namens Thimo schenken wird.
Thimo.
Thimo Paul Eberhart.
Mein Thimps. Mein Wurschtl. Mein Spatzerle.
Shingu Haia.
Das ist der Gruß, mit dem wir uns stets voreinander verbeugten, bevor wir miteinander kämpften. Gekämpft hast du immer schon gern. Seit du die Shaolin-Mönche im Fernsehen gesehen hattest, waren dabei Rituale ganz wichtig.
Der Gruß. Die Verbeugung. Die Pause.
Einmal kämpften wir vor dem Schlafengehen auf dem Bett im Elternschlafzimmer. Du warst nackt und hattest dich für eine Verschnaufpause auf der weißen Daunendecke ausgestreckt. Das Bild rührte mich. Wie schön du warst, wie zerbrechlich! Nicht von dieser Welt, so wollte es mir scheinen.
»Du bist so ein wilder Kämpfer und schaust doch aus wie ein Engel.«
Kurzes Nachdenken. Dann ein schelmischer Blick. Ein Grinsen, ein Schulterzucken.
»Tja, ich bin eben eine optische Täuschung!«
Diese Runde ging an dich, keine Frage.
Andere kindliche Aussprüche kommen mir in den Sinn.
»Schau, Mama, lauter Flohschnecken!«
Ein Zweijähriger sieht den ersten Schnee des Jahres.
»Ich bin so saftig!«
Ein kleiner Bub ist durstig und will kein Wasser trinken.
»Ich hab dich reingelogen«, und: »Ich hab dich auf den Arm gelegt.«
Ein Lausbub entdeckt das Schwindeln.
Kindergeschichten.
Du warst zwei Jahre alt und brauchtest Sandalen. Im Schuhgeschäft ließ ich dich aussuchen. Du hattest dich schnell entschieden. Nur ein Paar kam infrage: rote Lacksandalen, geschmückt mit auffälligen weißen Stoffgänseblümchen.
Minutenlang liefst du im Schuhgeschäft herum. Deine Wangen waren ganz rot vor Stolz.
»Schau, was ich für schöne Schuhe hab!«
Verkäuferinnen, Kunden, sie alle pflichteten dir lachend bei.
Ich ließ dich gewähren. Wie hätte ich dir auch erklären sollen, dass die glänzend roten Schuhe zwar wunderschön, aber leider nur für Mädchen gedacht waren? Ich konnte dich so gut verstehen und fühlte mich gar nicht wohl in meiner Rolle der Mutter, die dir nach und nach die harte Realität des Lebens würde nahebringen müssen.
Hättest du darauf bestanden, ich hätte dir die Blümchensandalen gekauft, an jenem Sommertag. Vor allem mir zuliebe. Gern wollte ich mir noch eine Schonfrist gewähren bis zu dem Tag, an dem ich dir gewisse Dinge zu erklären haben würde, bevor du sie durch Spott erfahren müsstest.
Warum wir den Laden schließlich doch mit einem Paar braun-grüner Sandalen verließen, weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, du fandest sie genauso schön. Gott sei Dank.
Etwas später, an einem heißen Badetag im August, lackierte ich mir gerade aus einer Laune heraus die Zehennägel. Kirschrot. Das gefiel dir, das wolltest du ebenfalls haben, und ich spielte mit bei dem Spaß. Das Lachen verging mir erst, als du voller Begeisterung riefst:
»So, jetzt gehen wir ins Schwimmbad und ich zeige dem Bademeister meine schönen Zehennägel! Der wird sich aber freuen, weil ich so schöne Nägel hab'!«
Unsere Spiele. Rollenspiele, noch und noch.
»Mama, spielst du mit mir?«
Bei dieser Frage habe ich nicht selten geseufzt. Es war anstrengend, mit dir zu spielen, brauchte immer vollen Einsatz. Du warst die mutige Pippi Langstrumpf und ich die kleine Annika, die sich ständig vor allem fürchten musste. Du warst der tapfere Ritter Eisenbitter und ich war König, Drache, Angreifer, Prinzessin, ja sogar der Sturm. Deine Fantasie führte dich als Dinosaurierkind durchs Weltall und ließ dich auf Gespenster treffen. Auf Autos. Elefanten. Bob den Baumeister. Allesamt natürlich von mir verkörpert. Mitunter lief ich erschöpft und flehend aus dem Kinderzimmer. »Heli! Bitte, geh du jetzt rein. Ich kann nicht mehr!« Heute, da ich dies schreibe, sind es die Spiele mit dir, die mir am lebhaftesten in Erinnerung sind. Mit dir zu spielen hieß, dich in deinem Wesen, in deiner Kraft zu spüren. Ich kann mich an jedes unserer Spiele erinnern, könnte jede Szene nachspielen.
Nur macht es einfach keinen Spaß mehr, ohne dich.
Vor mir liegt eine Urkunde, ausgestellt im Kindergarten. Fabriziert von allen Beteiligten als Versuch, einem kleinen Menschen seine Unverwechselbarkeit zu attestieren. Ihm mitzuteilen, was ihn ausmacht. Gerade ihn.
Thimo kann gut ...
Experimentieren und Müll sammeln. Ohne Matschhose in den Wald gehen. Weintrauben essen und Dinge verstecken. (Bekundeten seine Freunde).
Dinge verstecken. Forschen und Abenteuer erleben. Gaudi machen und lachen. (Fanden seine Betreuerinnen).
Spiele ausdenken. Fragen stellen. Sich versöhnen. (Meinten wir, seine Eltern).
Copyright © 2010 by Integral Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Wo soll die Betrachtung beginnen? Meine Laune nimmt mich an der Hand. Gemeinsam wollen wir eintauchen, in die vielfarbige Welt der Erinnerung. Als Pforte wählen wir das Foto eines lachenden Mannes in einer grünen Regentonne. Aufgenommen an einem Sommertag. In einer Zeit, von der ich glaubte, sie sei mein ganzes Leben.
Mein Mund hat gelernt, diese Zeit Vergangenheit zu nennen. Auch wenn mein Herz das vielleicht niemals begreifen wird.
Szenen aus unserem gemeinsamen Leben schweben durch meinen Geist wie Seifenblasen. Schillernd in tausend Farben, fröhlich vor meinen Augen tanzend. In ihrem fl üchtigen Glanz zeigen sie mir mein eigenes, vergangenes Spiegelbild.
Sie entziehen sich der Berührung.
Lassen sich nicht fangen. Nicht greifen. Nicht halten.
Nicht mehr.
Ich liebte sie schon als Kind, die Seifenblasen. Und ich liebe sie noch heute, als Clown, bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Ich habe noch kein Kind getroffen, das nicht angezogen wurde von den schimmernden Bällen und ihrem leisen Flug durch die Luft. Kein Kind, das nicht nach kurzem Staunen die Ärmchen ausgestreckt hätte, sie zu fangen. Und dann: minutenlang dasselbe Spiel. Der Versuch, den Ball zu greifen, die Verwunderung über sein plötzliches Verschwinden. Ein neuer Versuch, wieder und wieder. Lachen. Staunen.
Sind die Seifenblasen vielleicht die ersten Boten, auserkoren, die Nachricht von der Vergänglichkeit der Dinge in das Leben eines Kindes zu tragen? Wo auf unserem Weg geht uns das kindliche Lachen verloren, darüber, dass alles irgendwann verschwindet und zerplatzt?
Zerplatzt.
Was eigentlich geschieht mit einer Seifenblase, die zerplatzt? Verschwindet sie? Löst sie sich in Luft auf?
Ja. In der Luft aufgelöst finden wir sie wieder. Winzige Seifentröpfchen schweben, beinahe unsichtbar, durch den Raum. Sinken langsam zu Boden, auf unsere Kleidung, in unser Haar. Eine Zeit lang tragen wir sie noch mit uns herum. Das ist das eine, was bleibt.
Doch noch etwas anderes hat Bestand: das Bild der Seifenblase in unserem Kopf. Die Freude, die sie uns brachte. Der Nachhall des sanften Tons in dem Moment, da sie ihre Form aufgab.
Es sind nur Seifenblasenbilder, die ich mit meinen Worten malen kann. Das Leben meiner Familie ist vor geraumer Zeit zerplatzt. Übrig bleiben Eindrücke. Fröhliche Geschichten von jenem unschätzbaren Wert, den nur das Unwiederbringliche uns zu offenbaren vermag.
Einzelne Bilder drängen hervor, halten sich für wichtiger als die anderen, leuchten intensiver. Haben es eilig, festgehalten zu werden, bevor sie zu Boden fallen und der Erinnerung entgleiten. Ich picke mir das erstbeste Bild heraus. Nicht zufällig ist es der Anfang der Geschichte zweier Liebender, die Mann und Frau werden sollten.
Unser Leben. Es währte acht Jahre.
»Ein Leben lang«, so hatten mein Mann und ich versprochen, würden wir einander lieben, ehren, achten. Ein Leben lang wollten wir einander treu sein und gemeinsam durch dick und dünn gehen. Wir wussten nicht, wie kurz unser gemeinsames Leben dauern sollte.
Mein Mann Heli. Ich ehre, achte, liebe ihn heute genauso wie am ersten Tag. Und er? Er geht mit mir durch dick und dünn, wo immer ich bin. Wie versprochen, ja, mehr als das: ein Leben lang und über den Tod hinaus.
Ein heißer Julitag. Ich stehe am Bahnhof, bin gerade heimgekommen von einem sehr bewegenden Theaterkurs.
»Finde deinen inneren Clown.«
Oh, ja! Ich habe ihn tatsächlich gefunden.
Ich, die angehende Volksschullehrerin, die schon mit siebzehn in der Lateinstunde ihrer Sitznachbarin eine plötzliche Eingebung zugeflüstert hat:
»Ich will Clown werden!«
Lange wusste ich nicht, wie dieser spontan geäußerte Wunsch Realität werden könnte. Immer wieder habe ich auf Kursen in die Welt der roten Nase hineingeschnuppert. Jetzt, endlich, ist es so weit. Die Gewissheit ist da, hat mich irgendwo auf der Zugfahrt erfasst und sich in jeder Zelle meines Körpers mit wohligem Kribbeln ausgebreitet.
Ich bin Clown.
Ein Stück will ich machen, damit auftreten. Ich muss dazu nur noch einen Partner finden. Zu zweit geht alles leichter.
Ich packe meinen alten Flohmarktkoffer aufs Rad und mache mich, in Träumereien versunken, auf den Heimweg. Zehn Minuten später finde ich mich in einer Menschenmenge in der Grazer Innenstadt wieder. Stadtfest.
Wie bin ich hierhergekommen? Die Fußgängerzone liegt doch gar nicht auf meiner Strecke.
Ich steige ab, zwänge mich im Schneckentempo an all den Leuten vorbei, die mir im Weg stehen. Ich frage mich, warum ich nicht einfach umdrehe. Ich weiß es nicht.
Da sehe ich ihn. Auf einer kleinen Bühne steht ein Clown. Er macht sich gerade daran, über einen Besen zu balancieren. Die Zuschauer lachen, klatschen. Ich höre sie kaum. Sehe nichts anderes mehr als nur das Gesicht des feinen, zarten Mannes mit der roten Nase. Ich dränge mich in die erste Reihe und unsere Blicke treffen sich. Ja, es ist kitschig, es ist romantisch. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Der Clown braucht eine Freiwillige, holt mich auf die Bühne. Später noch einmal. Und ein drittes Mal. Ich kenne mich aus im Straßentheater - drei Mal denselben Freiwilligen, so etwas tut man doch nicht!
Außer ...
Nach der Vorstellung laufe ich mit meinem Koffer, der gut auf seine Bühne passen würde, zu ihm, und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus.
»Ich bin auch Clown! Ich will ein Stück machen! Ich habe da so eine Idee für eine Geschichte.«
Heli hat seine rote Nase abgenommen. Er grinst.
»Ich ... ich brauche nur noch einen Partner.«
»Ja, das merkt man!«
Oh Gott!
Ich versinke nicht im Erdboden. Weil sich der Erdboden ja nie auftut, wenn man es gerade dringend braucht. Stattdessen nehme ich stumm Helis Flyer entgegen.
»Da steht meine Nummer. Ruf mich ruhig einmal an.«
Ich schaffe gerade noch ein Nicken, ehe ich mich mit rotem Kopf verdrücke. Zu Hause angekommen lege ich vor mir selbst und meinen vier Wänden einen feierlichen Eid ab:
Ich werde nicht anrufen. Oder wenn, dann frühestens in drei Tagen.
Mein Herz lächelt milde. Es weiß bereits, dass der Mann auf dem farbenfrohen Prospekt nicht nur auf der Bühne mein Partner werden soll.
Wie oft haben wir später gelacht, bei der Erinnerung an unser erstes Zusammentreffen! Heli erzählte die Geschichte so:
»Das merkt man.«
Nach seiner Bemerkung hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Drei Tage lang war er daraufhin um sein Telefon herumgeschlichen. Hatte kaum gewagt, das Haus zu verlassen. So lange, bis ich endlich, endlich anrief.
Drei Monate später. Wir sitzen nach einem gemeinsamen Clownauftritt in Helis Wohnung und stärken uns mit Spaghetti al Pesto.
»À la Geheimrezept.«
Heli spricht diese Worte verschwörerisch aus und fixiert mich dabei mit seinen meerblauen Augen. Ich meine, in diesem Blau zu versinken, und höre mir selbst beim Denken zu.
Wow! Er kann sogar kochen!
Wir füttern einander mit Nudeln. Lachen, wenn eine hinunterfällt. Wutzl, Helis dicker Kater, kümmert sich um die Abfälle. Ich schnurre mit ihm um die Wette. Ausgelassen unterhalten wir uns darüber, ob wir eigentlich Kinder wollen. Oh ja, und ob wir das wollen!
»Wie viele?«
Die Preisfrage. Ich will es genau wissen.
Er liebt mich, er liebt mich nicht ... Wenn er drei Kinder von mir will, liebt er mich wirklich sehr.
»Fünf.«
Das kam wie aus der Pistole geschossen.
»Und du?«
Ich auch. Schon immer. Seit ich vier Jahre alt war und im Supermarkt eine Frau mit fünf Kindern angestarrt habe, bis mich meine Mutter zum Ausgang zog. Aber woher weiß Heli das nur?
»Ja, das ist gut. Fünf Kinder.« Nun stellt Heli seine Preisfrage. »Wann fangen wir denn an?« Sofort, möchte ich schreien. Aber ich kenne ihn ja noch kaum, diesen Mann. Ich
muss mich schnell von seinen blauen Augen losreißen, sonst bekommen wir noch Fünflinge, und zwar in der nächsten Minute.
Der Himmel vor dem Fenster sieht auch nicht anders aus als Helis Augen. Ich kneife trotzdem. Sicher ist sicher.
»Ähm, jetzt noch nicht. Aber bald. Sagen wir ... in drei Jahren?«
»Fein, in drei Jahren. Schlag ein.«
Abgemacht.
Am nächsten Morgen bleiben wir länger im Bett und machen, was Frischverliebte eben so machen. Mit einem Mal fühle ich, wie in meinem Bauch etwas »explodiert« - ein warmes, helles Licht breitet sich dort aus, nach allen Richtungen hin, wie eine Supernova. Was ist passiert?
»Du bist schwanger. Du leuchtest wie ein Stern!«
Heli und seine Vorahnungen! Mein Mund klappt weit auf und bringt doch nur ein leises »Ja« hervor. Sekunden später tanzen wir jubelnd durchs Zimmer. Wir hüpfen, bis wir nicht mehr können, dann fallen wir wieder aufs Bett.
»Du musst dich jetzt schonen«, flüstert er lächelnd.
Er, Heli, der Vater des Kindes in meinem Bauch.
Er sollte Paul heißen. Das Armband mit diesem Namen findet sich noch im Babyalbum, sorgfältig eingeklebt und mit Datum versehen.
13.6.2001
In der ersten Nacht nach seiner Geburt konnte ich die Augen nicht von dem winzigen Wesen lassen, das gerade erst geschlüpft und bereits so einmalig, so unverwechselbar war. Bei meiner Betrachtung schoss mir ein Gedanke durch den Kopf:
Das ist kein Paul. Das ist ein Thimo!
Dieser Name hatte auf keiner unserer langen Listen gestanden. Aufgeregt weckte ich Heli und weihte ihn ein.
»Thimo.«
Wie schön klang das aus Helis Mund. Wir waren uns einig. Der Name war richtig. Es störte uns nicht, dass sich Thimo in dieser Schreibweise in keinem unserer Namensbücher fand.
Regeln interessierten uns beide nur, solange sie sich mit unserer Intuition vereinbaren ließen. Ein neues Wesen war durch uns in die Welt gekommen, warum dann nicht auch gleich ein neuer Name?
Das stattliche Th war uns jedenfalls wichtig. Vielleicht würde unser Sohn ja später einmal Rechtsanwalt werden. Oder Arzt. Oder ... egal.
Ein Gespräch mit Thimo. Er war fünf Jahre alt.
Damals. Vor Kurzem. Vor einer Ewigkeit.
Es war eines jener Gespräche, die mit einem leisen, zögernden »Duhu, Mamaaa ...« begannen und für die man sich Zeit nehmen musste, weil sie wichtig waren.
»Duhu, Mamaaa, ich muss dir etwas sagen. Weißt du, ich finde meinen Namen ja schon schön. Aber, weißt du, irgendwie ist Thimo nur ein Name für Kinder. Wenn ich groß bin, würde ich gern anders heißen, da hätte ich gern einen Erwachsenennamen.«
Aha.
Was denn ein Erwachsenenname sei, wollte ich wissen.
»Hmmm.«
Thimo nahm sich etwas Zeit und ließ sich seine Worte dann wie eine wohlschmeckende Speise auf der Zunge zergehen.
»Helmut, ja, das wäre schön!«
Momentaufnahmen. Gesprächsfetzen. Wie Miniaturen erscheinen sie vor meinem inneren Auge, wenn ich an die sieben Jahre mit meinem Sohn denke. Die Erinnerung gleicht einem Kaleidoskop, das jedes Mal, wenn man hineinsieht, ein neues Bild serviert. In seinem Rohr fi ndet sich eine Unzahl farbiger Glassteine. Bei jedem Schütteln werden andere Bilder, andere Kombinationen sichtbar. Niemals kann man alle Steine gleichzeitig betrachten. Man muss sich zufriedengeben mit dem Teil, den man gerade sieht.
Ebenso ist es mit der Erinnerung. Aus ihrem unerschöpflichen Reichtum gibt sie stets nur einige wenige Bilder preis.
Immer wieder fühle ich mich von dem Wunsch getrieben, mich an alles, alles zu erinnern und nur ja kein Detail, keinen geteilten Augenblick, kein liebes Wort meiner Kinder zu vergessen.
Mein Wunsch hat mich mitunter dazu gebracht, fieberhaft Stichworte niederzuschreiben, so lange, bis ich nicht mehr konnte und nur noch schwarze Leere in meinem Kopf verspürte. Er trieb mich zum Weinen, zum Schreien, zur Verzweiflung.
An meiner Seite stand drohend die Angst.
Meine Erinnerungen sind alles, was ich habe. Was, wenn ich sie verliere?
Die Angst spricht. Die Gedanken stehen still. Drehen sich um sich selbst. Sie ducken sich, haben keine Zeit zum Spielen. Sie werfen das Kaleidoskop in die Ecke. Die Angst malt ihre eigenen Bilder. Sehr kreativ ist sie dabei nicht: Ein Kind, schwer verletzt in einem Krankenbett. Blut, Schläuche, Maschinen. Mehr fällt meiner Angst nicht ein.
Ich will mich damit nicht zufriedengeben. Es wird nicht dieses Bild sein, das alle anderen verdrängt. Wenn nötig, werde ich mich auch noch mit letzter Kraft aufraffen und das Kaleidoskop aus der Ecke holen. Es schütteln. Immer wieder aufs Neue.
Es gibt, das hat mir die Erfahrung gezeigt, einen Weg, die Erinnerung lebendig zu erhalten. Dieser Weg heißt Leben. Die Erinnerung braucht Anknüpfungspunkte. Ich muss sie suchen und kann sie finden.
Hier. Jetzt. In der Gegenwart.
Die Bilder der Vergangenheit werden umso deutlicher und schärfer, je vitaler ich gerade bin. Wenn ich mich meinem gegenwärtigen Lebensgefühl voll und ganz anvertraue, kann es sein, dass längst vergessen geglaubte Erlebnisse an die Oberfläche kommen, plötzlich, ohne Anstrengung. Leben und Erinnern schließen einander nicht aus. Ganz im Gegenteil. Erinnern heißt leben. Zurückschauen fällt dem leichter, der in Liebe weitergeht.
So gehe ich also hinaus in den warmen Frühlingstag und kaufe mir ein Schokoladeneis, um danach - ganz vorsichtig - das Mosaik nach Hause zu tragen, das mir der Sonnenschein beim Gedanken an einen kleinen blonden Buben namens Thimo schenken wird.
Thimo.
Thimo Paul Eberhart.
Mein Thimps. Mein Wurschtl. Mein Spatzerle.
Shingu Haia.
Das ist der Gruß, mit dem wir uns stets voreinander verbeugten, bevor wir miteinander kämpften. Gekämpft hast du immer schon gern. Seit du die Shaolin-Mönche im Fernsehen gesehen hattest, waren dabei Rituale ganz wichtig.
Der Gruß. Die Verbeugung. Die Pause.
Einmal kämpften wir vor dem Schlafengehen auf dem Bett im Elternschlafzimmer. Du warst nackt und hattest dich für eine Verschnaufpause auf der weißen Daunendecke ausgestreckt. Das Bild rührte mich. Wie schön du warst, wie zerbrechlich! Nicht von dieser Welt, so wollte es mir scheinen.
»Du bist so ein wilder Kämpfer und schaust doch aus wie ein Engel.«
Kurzes Nachdenken. Dann ein schelmischer Blick. Ein Grinsen, ein Schulterzucken.
»Tja, ich bin eben eine optische Täuschung!«
Diese Runde ging an dich, keine Frage.
Andere kindliche Aussprüche kommen mir in den Sinn.
»Schau, Mama, lauter Flohschnecken!«
Ein Zweijähriger sieht den ersten Schnee des Jahres.
»Ich bin so saftig!«
Ein kleiner Bub ist durstig und will kein Wasser trinken.
»Ich hab dich reingelogen«, und: »Ich hab dich auf den Arm gelegt.«
Ein Lausbub entdeckt das Schwindeln.
Kindergeschichten.
Du warst zwei Jahre alt und brauchtest Sandalen. Im Schuhgeschäft ließ ich dich aussuchen. Du hattest dich schnell entschieden. Nur ein Paar kam infrage: rote Lacksandalen, geschmückt mit auffälligen weißen Stoffgänseblümchen.
Minutenlang liefst du im Schuhgeschäft herum. Deine Wangen waren ganz rot vor Stolz.
»Schau, was ich für schöne Schuhe hab!«
Verkäuferinnen, Kunden, sie alle pflichteten dir lachend bei.
Ich ließ dich gewähren. Wie hätte ich dir auch erklären sollen, dass die glänzend roten Schuhe zwar wunderschön, aber leider nur für Mädchen gedacht waren? Ich konnte dich so gut verstehen und fühlte mich gar nicht wohl in meiner Rolle der Mutter, die dir nach und nach die harte Realität des Lebens würde nahebringen müssen.
Hättest du darauf bestanden, ich hätte dir die Blümchensandalen gekauft, an jenem Sommertag. Vor allem mir zuliebe. Gern wollte ich mir noch eine Schonfrist gewähren bis zu dem Tag, an dem ich dir gewisse Dinge zu erklären haben würde, bevor du sie durch Spott erfahren müsstest.
Warum wir den Laden schließlich doch mit einem Paar braun-grüner Sandalen verließen, weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, du fandest sie genauso schön. Gott sei Dank.
Etwas später, an einem heißen Badetag im August, lackierte ich mir gerade aus einer Laune heraus die Zehennägel. Kirschrot. Das gefiel dir, das wolltest du ebenfalls haben, und ich spielte mit bei dem Spaß. Das Lachen verging mir erst, als du voller Begeisterung riefst:
»So, jetzt gehen wir ins Schwimmbad und ich zeige dem Bademeister meine schönen Zehennägel! Der wird sich aber freuen, weil ich so schöne Nägel hab'!«
Unsere Spiele. Rollenspiele, noch und noch.
»Mama, spielst du mit mir?«
Bei dieser Frage habe ich nicht selten geseufzt. Es war anstrengend, mit dir zu spielen, brauchte immer vollen Einsatz. Du warst die mutige Pippi Langstrumpf und ich die kleine Annika, die sich ständig vor allem fürchten musste. Du warst der tapfere Ritter Eisenbitter und ich war König, Drache, Angreifer, Prinzessin, ja sogar der Sturm. Deine Fantasie führte dich als Dinosaurierkind durchs Weltall und ließ dich auf Gespenster treffen. Auf Autos. Elefanten. Bob den Baumeister. Allesamt natürlich von mir verkörpert. Mitunter lief ich erschöpft und flehend aus dem Kinderzimmer. »Heli! Bitte, geh du jetzt rein. Ich kann nicht mehr!« Heute, da ich dies schreibe, sind es die Spiele mit dir, die mir am lebhaftesten in Erinnerung sind. Mit dir zu spielen hieß, dich in deinem Wesen, in deiner Kraft zu spüren. Ich kann mich an jedes unserer Spiele erinnern, könnte jede Szene nachspielen.
Nur macht es einfach keinen Spaß mehr, ohne dich.
Vor mir liegt eine Urkunde, ausgestellt im Kindergarten. Fabriziert von allen Beteiligten als Versuch, einem kleinen Menschen seine Unverwechselbarkeit zu attestieren. Ihm mitzuteilen, was ihn ausmacht. Gerade ihn.
Thimo kann gut ...
Experimentieren und Müll sammeln. Ohne Matschhose in den Wald gehen. Weintrauben essen und Dinge verstecken. (Bekundeten seine Freunde).
Dinge verstecken. Forschen und Abenteuer erleben. Gaudi machen und lachen. (Fanden seine Betreuerinnen).
Spiele ausdenken. Fragen stellen. Sich versöhnen. (Meinten wir, seine Eltern).
Copyright © 2010 by Integral Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Barbara Pachl-Eberhart
Die gebürtige Wienerin absolvierte ein Querflötenstudium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in ihrer Heimatstadt und ließ sich zur Grundschullehrerin ausbilden. Seit 2000 wirkt sie als Clown bei den Roten Nasen Clowndoctors, tritt als Liedermacherin auf und komponiert Lieder für Kinder und Chöre.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Pachl-Eberhart
- 2010, 5. Aufl., 333 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: INTEGRAL
- ISBN-10: 3778792172
- ISBN-13: 9783778792179
Rezension zu „Vier minus drei “
"Sie hat ihr Schicksal auf erstaunliche Weise bewältigt."
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