Warum ich aufhöre, Jude zu sein
Ein israelischer Standpunkt
Wann bin ich Jude? Wenn ich mich selbst als solcher verstehe oder wenn ich so bezeichnet werde? Was genau bedeutet »jüdische Identität« und worauf gründet sie? Gibt es eine säkulare jüdische Kultur, die all jenen gemeinsam ist, die sich als Juden...
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Produktinformationen zu „Warum ich aufhöre, Jude zu sein “
Klappentext zu „Warum ich aufhöre, Jude zu sein “
Wann bin ich Jude? Wenn ich mich selbst als solcher verstehe oder wenn ich so bezeichnet werde? Was genau bedeutet »jüdische Identität« und worauf gründet sie? Gibt es eine säkulare jüdische Kultur, die all jenen gemeinsam ist, die sich als Juden betrachten? Was ist der Unterschied zwischen einem Israeli und einem Juden? Brisante Fragen, die den israelischen Historiker Shlomo Sand seit langem umtreiben und die er in seinem neuen Buch anhand persönlicher Erfahrungen zu beantworten sucht. Nach seinem Bestseller »Die Erfindung des jüdischen Volkes« reflektiert Sand sein eigenes Verhältnis zum Judentum, zur jüdischen Identität und zu dem Staat, in dem er lebt. Wie kann Israel demokratisch sein, wenn es nicht seinen Staatsbürgern, sondern den Juden der Welt gehört? Was bedeutet es, in diesem Staat »Jude« zu sein, und was empfinden jene, die es nicht sind? Sands Buch ist eine Streitschrift gegen jüdischen Ethnozentrismus und ein Plädoyer für eine offene, demokratische Gesellschaft, die den Palästinensern als gleichberechtigten Mitbürgern die Hand reicht.Lese-Probe zu „Warum ich aufhöre, Jude zu sein “
WARUM ICH AUFHÖRE, JUDE ZU SEIN von Shlomo Sand Ein israelischer Standpunkt
Inhalt
Zum Anliegen dieses Essays 11
Identität ist kein Kleidungsstück 23
Gibt es eine säkulare jüdische Kultur? 33
Eine lange Leidensgeschichte 45
Von Migranten und Judophoben 57
Der eine und der andere Osten 67
Leerer Wagen, voller Wagen 79
An alle Mordopfer erinnern 89
Bring einen Türken um, dann ruh dich aus 103
Was ist ein Jude in Israel? 121
Was ist ein Jude im »Exil«? 137
Raus aus dem exklusiven Club 147
Anmerkungen 155
»Ich denke, die großen Leiderfahrungen des Menschen sind heute nicht länger jüdische Erfahrungen.«
Romain Gary, »Das Judentum ist keine Frage des Bluts«, 1970
Zum Anliegen dieses Essays
... mehr
Das Thema dieses Essays werden viele Leser als illegitim, ja sogar als hetzerisch empfinden. Viele säkulare Juden, die sich über ihre eigene Identität im Unklaren sind, werden sagen, es sei schierer Unsinn. Andere werden mich für einen widerwärtigen Verräter voller Selbsthass halten. Überzeugte Judophobe werden mein Thema als haltlose, ja dreiste Spekulation betrachten, denn ihrer Meinung nach gehört ein Jude nun einmal einer anderen Rasse an. Beide Seiten argumentieren, ein Jude sei eben ein Jude und die Identität etwas Angeborenes, das man nicht einfach abstreifen könne. In beiden Fällen wird das Jüdischsein als das unveränderliche Wesen eines Menschen aufgefasst.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Anfang des 21. Jahrhunderts haufenweise Zeitungen, Zeitschriften und Bücher leider allzu oft behaupten, Juden besäßen besondere angeborene Charakterzüge oder Gehirnzellen, die sie von allen anderen Menschen unterscheiden. Diese Argumentation läuft über dieselbe Schiene wie bei der Hautfarbe: Wie ein Afrikaner seine Pigmentierung, die ihn von den Europäern unterscheidet, nicht ändern kann, so steht auch das Wesen des Juden unverrückbar fest.
Nein, ich übertreibe nicht, denn ich lebe in einem Staat, dessen Behörden meine Nationalität als jüdisch registrieren und der sich selbst als Staat der »jüdischen Nation« bezeichnet. Seine Gründer und Gesetzgeber halten Israel für das kollektive Eigentum der »Juden der Welt«, ob gläubig oder nicht. Ihnen gilt dieser Staat also nicht als der institutionelle Ausdruck der demokratischen Souveränität seiner Bürger. Der Staat Israel definiert mich nicht als Juden, weil ich eine jüdische Sprache spreche, jüdische Lieder singe, jüdische Speisen esse, jüdische Bücher schreibe oder irgendeiner anderweitigen jüdischen Aktivität nachgehe. Ich gelte nach Ansicht dieses Staates als Jude, weil er meinen Stammbaum durchstöbert und sich vergewissert hat, dass meine Mutter jüdisch ist, weil meine Großmutter es auch war, was wiederum meiner Urgroßmutter zu verdanken ist, und so weiter bis ans Ende der Ahnenreihe.
Wäre nur mein Vater Jude, meine Mutter dagegen laut israelischem Gesetz eine »Goja«, das heißt eine Nichtjüdin gewesen, hätten die israelischen Behörden bei meiner Nationalität »österreichisch« eingetragen, denn ich wurde zufällig nach dem Zweiten Weltkrieg in einem kleinen Flüchtlingslager in Linz geboren. Zwar hätte ich in einem solchen Fall die israelische Staatsbürgerschaft erhalten, doch dass ich auf Hebräisch rede, fluche, lehre, schreibe und israelische Schulen besucht habe, hätte nichts daran geändert, dass ich mein Leben lang rechtlich als Angehöriger des österreichischen Volkes gegolten hätte.
Glücklicherweise oder unglücklicherweise - je nachdem, wie man es sehen will - wurde meiner Mutter, als sie Ende 1948 nach Israel kam, als Jüdin identifiziert. Deshalb steht in meinem Personalausweis, dass ich Jude bin. Folglich habe ich, so paradox es klingen mag, laut den Gesetzen des Staates Israel, die den Bestimmungen der Halacha exakt entsprechen, keine Wahl: Ich kann nicht aufhören, Jude zu sein. Nur in dem außergewöhnlichen Fall, dass ich die Religion wechsle, wird meine »Nationalität« aus den Akten des jüdischen Staates gelöscht.
Das Problem ist, dass ich kein Mensch bin, der an ein höheres Wesen glaubt. Abgesehen von einer kleinen Krise, als ich zwölf Jahre alt war, habe ich immer schon gedacht, dass der Mensch Gott erfunden hat und nicht umgekehrt. Diese Erfindung ist und bleibt in meinen Augen eine der problematischsten, faszinierendsten und mörderischsten, welche die Menschheit je hervorgebracht hat. Deshalb fühle ich mich bis ans Lebensende gefangen im Narrenkäfig meiner Identität: Ich konvertiere nicht zum Christentum, und das nicht nur wegen der Gräuel der Inquisition und der blutigen Kreuzzüge, sondern weil ich nicht an Jesus als Gottes Sohn glaube. Ich trete nicht zum Islam über, und das nicht nur wegen der traditionellen Scharia, laut der ein Mann vier Frauen heiraten darf, eine Frau dieses Privileg aber nicht hat. Der eher prosaische Grund ist: Ich erkenne Mohammed nicht als Propheten an. Ebenso werde ich kein Anhänger des Hinduismus, denn ich lehne jede Tradition ab, die Kasten verherrlicht, sei es auch in indirekter, abgeschwächter Form. Selbst Buddhist werde ich nicht, denn ich kann mich weder über den Tod erheben noch glaube ich an die Seelenwanderung.
Ich bin ein säkularer Atheist, auch wenn ich mit meinem begrenzten Verstand kaum begreifen kann, dass das Universum unendlich ist, die Existenz der Lebewesen dagegen vergänglich wie Sternenstaub. Gerne bekenne ich, dass die Prinzipien und Überzeugungen meines Denkens seit jeher anthropozentrisch waren. Im Mittelpunkt steht der Mensch und nicht irgendeine höhere Kraft, die ihn leitet. Die monotheistischen Religionen dagegen, egal wie frömmelnd oder fanatisch sie auftreten, sind theozentrisch. Der Wille Gottes und seine Führung stehen über dem Leben des Menschen, seinen Bedürfnissen, seinen Bestrebungen, seinen Träumen und seinen Schwächen.
Wie merkwürdig und ironisch der Lauf der Geschichte in der Moderne sein kann ... Anfang des
19. Jahrhunderts zwang ein junges, ethnisch-religiöses Verständnis von Nationalität Heinrich Heine dazu, zum Christentum überzutreten, um als Deutscher gelten zu können. Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde mein Vater gemäß der polnischen Definition von Nationalität nicht als Pole anerkannt, solange er nicht katholisch würde. Auf ähnliche Weise wenden sich Anfang des 21. Jahrhunderts die Zionisten in Israel und im Ausland gegen eine an der Staatsbürgerschaft orientierte israelische Nationalität und akzeptieren allein eine jüdische Nationalität. Diese Nationalität kann man nur auf einem einzigen Weg erwerben, nämlich durch einen religiösen Akt: Wer Israel als seinen nationalen Staat begreifen möchte, muss entweder Kind einer jüdischen Mutter sein oder er muss sich einem langen und qualvollen halachischen Konversionsprozess unterziehen, auch wenn er ein überzeugter säkularer Atheist ist.
Betrug, Unaufrichtigkeit und Überheblichkeit prägen sämtliche Aspekte der Definition von Jüdischsein im Staat Israel. Während ich an diesem Essay schrieb, wandten sich verzweifelte afrikanische Arbeitsmigranten, Väter und Mütter von Kindern, die in Israel geboren und aufgewachsen waren, mit dem Wunsch, zum Judentum überzutreten, an das israelische Oberrabbinat. Dort setzte man die Hilfesuchenden ohne weitere Erklärungen vor die Tür: Statt aus dem Glauben, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind, baten diese Leute doch tatsächlich um Aufnahme in das »jüdische Volk«, weil sie nicht in die Hölle zurückwollten, der sie entronnen waren.
Meine palästinensischen Studenten an der Universität, die bestens Hebräisch sprechen und laut Gesetz im vollen Umfang israelische Staatsbürger sind, werden in den Akten des Innenministeriums als »Araber« und nicht als »Israelis« registriert. Auf dieses unabänderliche Identifizierungsetikett haben sie keinerlei Einfluss. Was gäbe es für einen Aufruhr, wenn die Behörden in Frankreich, in den Vereinigten Staaten, in Italien, in Deutschland oder einer anderen liberalen Demokratie bei denjenigen, die sich als Juden bezeichnen, diese Selbstdefinition in den Personalausweis oder in das staatliche Bevölkerungsregister eintrügen.
Nach dem Judenmord des Zweiten Weltkriegs war es nachvollziehbar, dass der vorgesehene Staat 1947 im Beschluss der Vereinten Nationen als »jüdisch« bezeichnet wurde, während man den Nachbarstaat, den es bis heute nicht gibt, »arabisch« nannte. Anfang des 21. Jahrhunderts aber stellt der Gebrauch dieser Begriffe einen gefährlichen Anachronismus dar. 25 Prozent der israelischen Bürger sind laut Gesetz keine Juden, ein Fünftel ist arabischer Herkunft. Wenn sich der Staat folglich als »jüdisch« und nicht als »israelisch« definiert, so folgt daraus, dass diese Menschen ausdrücklich nicht zum Kreis der Bürger dieses Staates zählen, um derentwillen dieser angeblich besteht. Auf diese Weise verhält sich dieser Staat nicht nur antidemokratisch, sondern gefährdet auch seine Existenz.
Nicht nur die antirepublikanische Identitätspolitik Israels zwingt mich, diesen Essay zu schreiben. Zwar ist sie ein zentrales Thema meines Diskurses und vermutlich verantwortlich für den harten Ton, den ich hier manchmal anschlage, doch geht es mir um mehr: Mein Ziel ist es, die Konventionen und tiefsitzenden Vorurteile, die nicht nur die israelische Gesellschaft, sondern auch die global vernetzten Medien bestimmen, in Frage zu stellen. Seit langem schon fühle ich mich unbehaglich mit den Definitionen des Jüdischseins, die sich in der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts im Herzen der westlichen Kultur festgesetzt haben. Immer öfter beschleicht mich der Gedanke, dass Hitler nach dem letzten Weltkrieg in gewisser Hinsicht doch noch gesiegt hat. Er wurde zwar militärisch und politisch ausgeschaltet, doch nur wenige Jahre später brach der Kern seiner perversen Ideologie von neuem kraftvoll durch und stellt heute eine akute Bedrohung dar.
Machen wir uns nichts vor. Dieses Mal ist es nicht die im Genozid mündende entsetzliche Judophobie, die uns bedroht. Nicht der krankhafte Hass gegen Juden und ihre säkularisierten Nachkommen ist es, der in der westlichen Welt zu neuem Leben erwacht. In Wahrheit hat der öffentlich-politische Antisemitismus in der liberalen und demokratischen Welt insgesamt deutlich abgenommen, woran auch das Geschrei Israels und seiner prozionistischen Anhänger im »Exil« nichts ändert. Sie argumentieren, der Hass gegen Juden werde immer stärker und jede Kritik an der Staatsführung Israels sei ein Ausdruck dieses Hasses. Diese Verhältnisse allein bieten im Grunde schon Anlass genug für meinen Essay.
Heutzutage gibt es keinen Staatsmann mehr - außer vielleicht an einigen Orten im östlichen Mitteleuropa oder in der Welt des neuen nationalistischen Islam -, der öffentlich judenfeindliche Ansichten aussprechen würde. Es gibt keine ernstzunehmende Zeitung, die antisemitischen Blödsinn verbreitet; keinen angesehenen Verlag, der einen noch so brillanten Schriftsteller druckt, der Hass gegen die Juden schürt. Es gibt weder staatliche noch private Radio- oder Fernsehsender, die einem Judenfeind erlauben würden, in ein Mikrophon zu sprechen oder auf dem Bildschirm zu erscheinen. Und sollten in den Massenmedien doch einmal antijüdische Verleumdungen durchsickern, werden sie umgehend unterdrückt.
Das lange, von etwa 1850 bis 1950 dauernde leidvolle Jahrhundert der Judophobie in der westlichen Welt ist lange vorüber, und das ist gut so. Übriggeblieben ist derselbe banale Hass als Überrest eines Erbes der Vergangenheit, das sich gekonnt vor der Öffentlichkeit verbirgt. In zwielichtigen Salons spricht es hinter vorgehaltener Hand, tobt sich zuweilen auf Friedhöfen aus - ein ihm in jeder Hinsicht gemäßer Ort - oder äußert sich ab und an in Gewaltakten schrulliger Außenseiter. In der breiten Öffentlichkeit aber gilt dieses Erbe als hochgradig illegitim. Wer den marginalen Antisemitismus der Gegenwart mit der aggressiven Judophobie der Vergangenheit gleichsetzt, verharmlost jenen Hass gegen die Juden, der in der christlichen wie in der modernen Zivilisation des Westens bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts Bestand hatte. Das Verständnis der Juden als Rassenvolk aber, deren mysteriöse Eigenschaften auf geheimnisvolle Weise vererbt werden, ist noch immer sehr beliebt. Gestern waren es noch physiologische Eigenschaften - das Blut oder die Physiognomie -, heute ist es die DNS oder, als »Light«-Variante für die Gemäßigteren, der feste Glaube an eine ununterbrochene Ahnenreihe. In der fernen Vergangenheit bezeugte eine derartige Einstellung eine Mischung aus Angst, Verachtung, Fremdenhass und Unwissenheit. Gegenwärtig haben wir es bei den »Gojim nach der Shoah« mit einer Symbiose aus Besorgnis, schlechtem Gewissen und Unwissenheit zu tun. Bei den »neuen Juden« treten häufig Selbstviktimisierung, Arroganz, Selbstverliebtheit und, wiederum, eine beschämende Unwissenheit zutage.
Mir bleibt demnach nur der verzweifelte Versuch, mit diesem Essay einem ebenso blinden wie verblendenden deterministischen Identitätsverständnis entgegenzuwirken, das die Gefahren für die Zukunft meiner Lieben wie für meine eigene verschleiert. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Juden als »Ethnie« und unvergänglichem Rassenvolk einerseits und der Politik Israels andererseits, die der Staat gegenüber seinen Bürgern, die nicht als Juden gelten, gegenüber den geplagten Arbeitsmigranten aus fernen Ländern und natürlich gegenüber seinen rechtlosen Nachbarn, die seit fast 50 Jahren unter israelischer Besatzung leben, verfolgt. Nur schwer lassen sich die Augen vor einer quälenden Tatsache verschließen: Die Kultivierung einer essentialistischen, nichtreligiösen jüdischen Identität fördert in Israel wie auch anderswo ethnozentrische, mehr oder weniger rassistische Standpunkte.
Natürlich fühlen sich Nachkommen von Juden angesichts der Tragödien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Israel auf existentielle Weise verbunden. Dies zu leugnen oder zu kritisieren wäre völlig absurd. Doch obwohl die Realität eine solche Haltung in keiner Weise trägt, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Verständnis des Jüdischseins als unveränderlicher, ahistorischer Identität auf der einen Seite und der umfassenden Unterstützung der israelischen Politik durch viele derjenigen, die sich selbst als Juden bezeichnen, auf der anderen Seite. Diese unterstützen sowohl die in der Selbstdefinition Israels gründende Segregationspolitik als auch die in den Kolonialgebieten dauerhaft ausgeübte Besatzungsherrschaft.
Ich schreibe nicht für Antisemiten, die ich als vollkommene Ignoranten oder unheilbar Kranke ansehe. Die gebildeteren unter ihnen werde ich ohnehin nicht überzeugen können. Ich schreibe für alle diejenigen, die sich über die Ursprünge der jüdischen Identität, ihre Wandlungen, ihre modernen Erscheinungsformen und die politischen Implikationen Gedanken machen, die mit ihren verschiedenen Definitionen verbunden sind. Dafür entstaube ich mein schwaches Gedächtnis und enthülle einige Glieder aus der Reihe von Identitäten, die ich im Laufe meines Lebens angenommen habe.
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
© Propyläen
Das Thema dieses Essays werden viele Leser als illegitim, ja sogar als hetzerisch empfinden. Viele säkulare Juden, die sich über ihre eigene Identität im Unklaren sind, werden sagen, es sei schierer Unsinn. Andere werden mich für einen widerwärtigen Verräter voller Selbsthass halten. Überzeugte Judophobe werden mein Thema als haltlose, ja dreiste Spekulation betrachten, denn ihrer Meinung nach gehört ein Jude nun einmal einer anderen Rasse an. Beide Seiten argumentieren, ein Jude sei eben ein Jude und die Identität etwas Angeborenes, das man nicht einfach abstreifen könne. In beiden Fällen wird das Jüdischsein als das unveränderliche Wesen eines Menschen aufgefasst.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Anfang des 21. Jahrhunderts haufenweise Zeitungen, Zeitschriften und Bücher leider allzu oft behaupten, Juden besäßen besondere angeborene Charakterzüge oder Gehirnzellen, die sie von allen anderen Menschen unterscheiden. Diese Argumentation läuft über dieselbe Schiene wie bei der Hautfarbe: Wie ein Afrikaner seine Pigmentierung, die ihn von den Europäern unterscheidet, nicht ändern kann, so steht auch das Wesen des Juden unverrückbar fest.
Nein, ich übertreibe nicht, denn ich lebe in einem Staat, dessen Behörden meine Nationalität als jüdisch registrieren und der sich selbst als Staat der »jüdischen Nation« bezeichnet. Seine Gründer und Gesetzgeber halten Israel für das kollektive Eigentum der »Juden der Welt«, ob gläubig oder nicht. Ihnen gilt dieser Staat also nicht als der institutionelle Ausdruck der demokratischen Souveränität seiner Bürger. Der Staat Israel definiert mich nicht als Juden, weil ich eine jüdische Sprache spreche, jüdische Lieder singe, jüdische Speisen esse, jüdische Bücher schreibe oder irgendeiner anderweitigen jüdischen Aktivität nachgehe. Ich gelte nach Ansicht dieses Staates als Jude, weil er meinen Stammbaum durchstöbert und sich vergewissert hat, dass meine Mutter jüdisch ist, weil meine Großmutter es auch war, was wiederum meiner Urgroßmutter zu verdanken ist, und so weiter bis ans Ende der Ahnenreihe.
Wäre nur mein Vater Jude, meine Mutter dagegen laut israelischem Gesetz eine »Goja«, das heißt eine Nichtjüdin gewesen, hätten die israelischen Behörden bei meiner Nationalität »österreichisch« eingetragen, denn ich wurde zufällig nach dem Zweiten Weltkrieg in einem kleinen Flüchtlingslager in Linz geboren. Zwar hätte ich in einem solchen Fall die israelische Staatsbürgerschaft erhalten, doch dass ich auf Hebräisch rede, fluche, lehre, schreibe und israelische Schulen besucht habe, hätte nichts daran geändert, dass ich mein Leben lang rechtlich als Angehöriger des österreichischen Volkes gegolten hätte.
Glücklicherweise oder unglücklicherweise - je nachdem, wie man es sehen will - wurde meiner Mutter, als sie Ende 1948 nach Israel kam, als Jüdin identifiziert. Deshalb steht in meinem Personalausweis, dass ich Jude bin. Folglich habe ich, so paradox es klingen mag, laut den Gesetzen des Staates Israel, die den Bestimmungen der Halacha exakt entsprechen, keine Wahl: Ich kann nicht aufhören, Jude zu sein. Nur in dem außergewöhnlichen Fall, dass ich die Religion wechsle, wird meine »Nationalität« aus den Akten des jüdischen Staates gelöscht.
Das Problem ist, dass ich kein Mensch bin, der an ein höheres Wesen glaubt. Abgesehen von einer kleinen Krise, als ich zwölf Jahre alt war, habe ich immer schon gedacht, dass der Mensch Gott erfunden hat und nicht umgekehrt. Diese Erfindung ist und bleibt in meinen Augen eine der problematischsten, faszinierendsten und mörderischsten, welche die Menschheit je hervorgebracht hat. Deshalb fühle ich mich bis ans Lebensende gefangen im Narrenkäfig meiner Identität: Ich konvertiere nicht zum Christentum, und das nicht nur wegen der Gräuel der Inquisition und der blutigen Kreuzzüge, sondern weil ich nicht an Jesus als Gottes Sohn glaube. Ich trete nicht zum Islam über, und das nicht nur wegen der traditionellen Scharia, laut der ein Mann vier Frauen heiraten darf, eine Frau dieses Privileg aber nicht hat. Der eher prosaische Grund ist: Ich erkenne Mohammed nicht als Propheten an. Ebenso werde ich kein Anhänger des Hinduismus, denn ich lehne jede Tradition ab, die Kasten verherrlicht, sei es auch in indirekter, abgeschwächter Form. Selbst Buddhist werde ich nicht, denn ich kann mich weder über den Tod erheben noch glaube ich an die Seelenwanderung.
Ich bin ein säkularer Atheist, auch wenn ich mit meinem begrenzten Verstand kaum begreifen kann, dass das Universum unendlich ist, die Existenz der Lebewesen dagegen vergänglich wie Sternenstaub. Gerne bekenne ich, dass die Prinzipien und Überzeugungen meines Denkens seit jeher anthropozentrisch waren. Im Mittelpunkt steht der Mensch und nicht irgendeine höhere Kraft, die ihn leitet. Die monotheistischen Religionen dagegen, egal wie frömmelnd oder fanatisch sie auftreten, sind theozentrisch. Der Wille Gottes und seine Führung stehen über dem Leben des Menschen, seinen Bedürfnissen, seinen Bestrebungen, seinen Träumen und seinen Schwächen.
Wie merkwürdig und ironisch der Lauf der Geschichte in der Moderne sein kann ... Anfang des
19. Jahrhunderts zwang ein junges, ethnisch-religiöses Verständnis von Nationalität Heinrich Heine dazu, zum Christentum überzutreten, um als Deutscher gelten zu können. Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde mein Vater gemäß der polnischen Definition von Nationalität nicht als Pole anerkannt, solange er nicht katholisch würde. Auf ähnliche Weise wenden sich Anfang des 21. Jahrhunderts die Zionisten in Israel und im Ausland gegen eine an der Staatsbürgerschaft orientierte israelische Nationalität und akzeptieren allein eine jüdische Nationalität. Diese Nationalität kann man nur auf einem einzigen Weg erwerben, nämlich durch einen religiösen Akt: Wer Israel als seinen nationalen Staat begreifen möchte, muss entweder Kind einer jüdischen Mutter sein oder er muss sich einem langen und qualvollen halachischen Konversionsprozess unterziehen, auch wenn er ein überzeugter säkularer Atheist ist.
Betrug, Unaufrichtigkeit und Überheblichkeit prägen sämtliche Aspekte der Definition von Jüdischsein im Staat Israel. Während ich an diesem Essay schrieb, wandten sich verzweifelte afrikanische Arbeitsmigranten, Väter und Mütter von Kindern, die in Israel geboren und aufgewachsen waren, mit dem Wunsch, zum Judentum überzutreten, an das israelische Oberrabbinat. Dort setzte man die Hilfesuchenden ohne weitere Erklärungen vor die Tür: Statt aus dem Glauben, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind, baten diese Leute doch tatsächlich um Aufnahme in das »jüdische Volk«, weil sie nicht in die Hölle zurückwollten, der sie entronnen waren.
Meine palästinensischen Studenten an der Universität, die bestens Hebräisch sprechen und laut Gesetz im vollen Umfang israelische Staatsbürger sind, werden in den Akten des Innenministeriums als »Araber« und nicht als »Israelis« registriert. Auf dieses unabänderliche Identifizierungsetikett haben sie keinerlei Einfluss. Was gäbe es für einen Aufruhr, wenn die Behörden in Frankreich, in den Vereinigten Staaten, in Italien, in Deutschland oder einer anderen liberalen Demokratie bei denjenigen, die sich als Juden bezeichnen, diese Selbstdefinition in den Personalausweis oder in das staatliche Bevölkerungsregister eintrügen.
Nach dem Judenmord des Zweiten Weltkriegs war es nachvollziehbar, dass der vorgesehene Staat 1947 im Beschluss der Vereinten Nationen als »jüdisch« bezeichnet wurde, während man den Nachbarstaat, den es bis heute nicht gibt, »arabisch« nannte. Anfang des 21. Jahrhunderts aber stellt der Gebrauch dieser Begriffe einen gefährlichen Anachronismus dar. 25 Prozent der israelischen Bürger sind laut Gesetz keine Juden, ein Fünftel ist arabischer Herkunft. Wenn sich der Staat folglich als »jüdisch« und nicht als »israelisch« definiert, so folgt daraus, dass diese Menschen ausdrücklich nicht zum Kreis der Bürger dieses Staates zählen, um derentwillen dieser angeblich besteht. Auf diese Weise verhält sich dieser Staat nicht nur antidemokratisch, sondern gefährdet auch seine Existenz.
Nicht nur die antirepublikanische Identitätspolitik Israels zwingt mich, diesen Essay zu schreiben. Zwar ist sie ein zentrales Thema meines Diskurses und vermutlich verantwortlich für den harten Ton, den ich hier manchmal anschlage, doch geht es mir um mehr: Mein Ziel ist es, die Konventionen und tiefsitzenden Vorurteile, die nicht nur die israelische Gesellschaft, sondern auch die global vernetzten Medien bestimmen, in Frage zu stellen. Seit langem schon fühle ich mich unbehaglich mit den Definitionen des Jüdischseins, die sich in der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts im Herzen der westlichen Kultur festgesetzt haben. Immer öfter beschleicht mich der Gedanke, dass Hitler nach dem letzten Weltkrieg in gewisser Hinsicht doch noch gesiegt hat. Er wurde zwar militärisch und politisch ausgeschaltet, doch nur wenige Jahre später brach der Kern seiner perversen Ideologie von neuem kraftvoll durch und stellt heute eine akute Bedrohung dar.
Machen wir uns nichts vor. Dieses Mal ist es nicht die im Genozid mündende entsetzliche Judophobie, die uns bedroht. Nicht der krankhafte Hass gegen Juden und ihre säkularisierten Nachkommen ist es, der in der westlichen Welt zu neuem Leben erwacht. In Wahrheit hat der öffentlich-politische Antisemitismus in der liberalen und demokratischen Welt insgesamt deutlich abgenommen, woran auch das Geschrei Israels und seiner prozionistischen Anhänger im »Exil« nichts ändert. Sie argumentieren, der Hass gegen Juden werde immer stärker und jede Kritik an der Staatsführung Israels sei ein Ausdruck dieses Hasses. Diese Verhältnisse allein bieten im Grunde schon Anlass genug für meinen Essay.
Heutzutage gibt es keinen Staatsmann mehr - außer vielleicht an einigen Orten im östlichen Mitteleuropa oder in der Welt des neuen nationalistischen Islam -, der öffentlich judenfeindliche Ansichten aussprechen würde. Es gibt keine ernstzunehmende Zeitung, die antisemitischen Blödsinn verbreitet; keinen angesehenen Verlag, der einen noch so brillanten Schriftsteller druckt, der Hass gegen die Juden schürt. Es gibt weder staatliche noch private Radio- oder Fernsehsender, die einem Judenfeind erlauben würden, in ein Mikrophon zu sprechen oder auf dem Bildschirm zu erscheinen. Und sollten in den Massenmedien doch einmal antijüdische Verleumdungen durchsickern, werden sie umgehend unterdrückt.
Das lange, von etwa 1850 bis 1950 dauernde leidvolle Jahrhundert der Judophobie in der westlichen Welt ist lange vorüber, und das ist gut so. Übriggeblieben ist derselbe banale Hass als Überrest eines Erbes der Vergangenheit, das sich gekonnt vor der Öffentlichkeit verbirgt. In zwielichtigen Salons spricht es hinter vorgehaltener Hand, tobt sich zuweilen auf Friedhöfen aus - ein ihm in jeder Hinsicht gemäßer Ort - oder äußert sich ab und an in Gewaltakten schrulliger Außenseiter. In der breiten Öffentlichkeit aber gilt dieses Erbe als hochgradig illegitim. Wer den marginalen Antisemitismus der Gegenwart mit der aggressiven Judophobie der Vergangenheit gleichsetzt, verharmlost jenen Hass gegen die Juden, der in der christlichen wie in der modernen Zivilisation des Westens bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts Bestand hatte. Das Verständnis der Juden als Rassenvolk aber, deren mysteriöse Eigenschaften auf geheimnisvolle Weise vererbt werden, ist noch immer sehr beliebt. Gestern waren es noch physiologische Eigenschaften - das Blut oder die Physiognomie -, heute ist es die DNS oder, als »Light«-Variante für die Gemäßigteren, der feste Glaube an eine ununterbrochene Ahnenreihe. In der fernen Vergangenheit bezeugte eine derartige Einstellung eine Mischung aus Angst, Verachtung, Fremdenhass und Unwissenheit. Gegenwärtig haben wir es bei den »Gojim nach der Shoah« mit einer Symbiose aus Besorgnis, schlechtem Gewissen und Unwissenheit zu tun. Bei den »neuen Juden« treten häufig Selbstviktimisierung, Arroganz, Selbstverliebtheit und, wiederum, eine beschämende Unwissenheit zutage.
Mir bleibt demnach nur der verzweifelte Versuch, mit diesem Essay einem ebenso blinden wie verblendenden deterministischen Identitätsverständnis entgegenzuwirken, das die Gefahren für die Zukunft meiner Lieben wie für meine eigene verschleiert. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Juden als »Ethnie« und unvergänglichem Rassenvolk einerseits und der Politik Israels andererseits, die der Staat gegenüber seinen Bürgern, die nicht als Juden gelten, gegenüber den geplagten Arbeitsmigranten aus fernen Ländern und natürlich gegenüber seinen rechtlosen Nachbarn, die seit fast 50 Jahren unter israelischer Besatzung leben, verfolgt. Nur schwer lassen sich die Augen vor einer quälenden Tatsache verschließen: Die Kultivierung einer essentialistischen, nichtreligiösen jüdischen Identität fördert in Israel wie auch anderswo ethnozentrische, mehr oder weniger rassistische Standpunkte.
Natürlich fühlen sich Nachkommen von Juden angesichts der Tragödien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Israel auf existentielle Weise verbunden. Dies zu leugnen oder zu kritisieren wäre völlig absurd. Doch obwohl die Realität eine solche Haltung in keiner Weise trägt, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Verständnis des Jüdischseins als unveränderlicher, ahistorischer Identität auf der einen Seite und der umfassenden Unterstützung der israelischen Politik durch viele derjenigen, die sich selbst als Juden bezeichnen, auf der anderen Seite. Diese unterstützen sowohl die in der Selbstdefinition Israels gründende Segregationspolitik als auch die in den Kolonialgebieten dauerhaft ausgeübte Besatzungsherrschaft.
Ich schreibe nicht für Antisemiten, die ich als vollkommene Ignoranten oder unheilbar Kranke ansehe. Die gebildeteren unter ihnen werde ich ohnehin nicht überzeugen können. Ich schreibe für alle diejenigen, die sich über die Ursprünge der jüdischen Identität, ihre Wandlungen, ihre modernen Erscheinungsformen und die politischen Implikationen Gedanken machen, die mit ihren verschiedenen Definitionen verbunden sind. Dafür entstaube ich mein schwaches Gedächtnis und enthülle einige Glieder aus der Reihe von Identitäten, die ich im Laufe meines Lebens angenommen habe.
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
© Propyläen
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Autoren-Porträt von Shlomo Sand
Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer Juden in Linz. 1949 Übersiedlung der Familie nach Israel. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Paris lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er zählt zu den führenden Intellektuellen Israels und zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Bei Propyläen erschienen »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (2010), »Die Erfindung des Landes Israel« (2012) und »Warum ich aufhöre, Jude zu sein« (2013).
Bibliographische Angaben
- Autor: Shlomo Sand
- 2013, 1. Auflage, 160 Seiten, Maße: 13,5 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Gundula Schiffer
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549074492
- ISBN-13: 9783549074497
- Erscheinungsdatum: 23.10.2013
Pressezitat
"Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können." Rupert Neudeck Kölner Stadt-Anzeiger 20131206
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