Was habe ich getan?
Niemand ahnt, dass Kathryn seit Jahren von ihrem Mann gequält wird. Bis er eines Tages Kathryns letzte Jugenderinnerungen verbrennt. Dies ist der letzte Tag seines Lebens...
Kathryn Brooker lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete tief ein...
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Produktinformationen zu „Was habe ich getan? “
Niemand ahnt, dass Kathryn seit Jahren von ihrem Mann gequält wird. Bis er eines Tages Kathryns letzte Jugenderinnerungen verbrennt. Dies ist der letzte Tag seines Lebens...
Kathryn Brooker lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete tief ein und aus. Ihre Kinder schliefen nebenan. Sie schloss die Augen und wünschte den beiden einen tiefen und friedlichen Schlaf. Sie wusste, es würde für lange Zeit der letzte sein. Ruhig stand sie neben dem Bett, auf dem der blasse Leichnam ihres Mannes lag. Zum ersten Mal in ihrem Leben wählte sie bedächtig die 110.
Kathryn Brooker lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete tief ein und aus. Ihre Kinder schliefen nebenan. Sie schloss die Augen und wünschte den beiden einen tiefen und friedlichen Schlaf. Sie wusste, es würde für lange Zeit der letzte sein. Ruhig stand sie neben dem Bett, auf dem der blasse Leichnam ihres Mannes lag. Zum ersten Mal in ihrem Leben wählte sie bedächtig die 110.
"Der Kampf einer Frau, ihr zerrüttetes Leben wieder in den Griff zu bekommen - fesselnd, ergreifend und herausragend geschrieben."
CLOSER
Klappentext zu „Was habe ich getan? “
Kathryn Brooker scheint das perfekte Leben zu führen. Mit ihrem Mann, dem Internatsdirektor Mark, und ihren beiden Kindern Lydia und Dominic wohnt sie in einem hübschen Cottage, die Familie ist hoch geachtet, freundlich, fast ein bisschen zu perfekt ... Niemand ahnt, dass Kathryn seit sechzehn Jahren in der Hölle lebt. Ihr Mann ist brutal und kontrollsüchtig, Abend für Abend, wenn die Kinder im Bett sind, quält er sie. Von der fröhlichen, optimistischen Kate, die er einmal geheiratet hat, ist nichts mehr übrig geblieben.Bis Mark eines Tages die letzte Erinnerung an Kathryns Jugend in der Mülltonne verbrennt. Es ist der letzte Tag seines Lebens. Und es ist der erste Tag in einem neuen Leben für Kate. Doch ist der Preis, dass sie ihre Familie zerstört hat, als sie das Messer gegen ihn erhob?
Lese-Probe zu „Was habe ich getan? “
Was habe ich getan? von Amanda Prowse... mehr
Vor zehn Jahren
Kathryn Brooker schaute zu, wie er sein Leben aushauchte. Sie war überzeugt zu sehen, dass der böse Geist seinen Körper verließ, sogleich im Boden verschwand und sich immer tiefer abwärts schlängelte.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Sie hatte ein Hochgefühl erwartet oder zumindest Erleichterung. Was sie nicht vorausgesehen hatte, das war die Benommenheit, die sie im Moment umfing. Als ihr in den Sinn kam, dass ihre Kinder nebenan schliefen, schloss sie die Augen und wünschte ihnen einen tiefen, gesegneten Schlaf. Sie wusste, es würde für eine ganze Weile der letzte sein. Wie immer kreisten ihre Gedanken darum, was für ihren Sohn und ihre Tochter das Beste war.
Das Zimmer wirkte trotz der blutüberströmten Leiche auf dem Bett ziemlich leer. Die Atmosphäre war friedlich, die Temperatur gerade richtig.
Kathryn verspürte einen leichten Anflug von Enttäuschung: Sie hatte erwartet, mehr zu fühlen.
Nachdem sie in ihre Jeans geschlüpft war und sich einen Pullover übergezogen hatte, stand sie gelassen neben dem Bett, auf dem der bleiche Leichnam ihres Mannes lag. Nach reiflicher Oberlegung wählte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die 110. Es fühlte sich unwirklich an, das in die Tat umzusetzen, was sie in Gedanken seit einer Ewigkeit immer wieder durchgespielt hatte. Allerdings hatte es sich bei dem Notfall in ihrer Vorstellung immer darum gehandelt, dass sich eines ihrer Kinder ein Bein gebrochen hatte oder in einem leeren Haus in der Nachbarschaft Feuer ausgebrochen war, um nichts allzu Dramatisches jedenfalls. »Notrufzentrale, mit wem kann ich Sie verbinden?«
»Ach, hallo, ja, ich bin mir nicht sicher, mit wem Sie mich verbinden sollten.«
»Sie sind sich nicht sicher?«
»Ich glaube, wahrscheinlich mit der Polizei oder dem Notarzt, vielleicht mit beiden. Tut mir leid. Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher ...«
»Darf ich fragen, worum es geht, Madam?«
»Ach ja, selbstverständlich. Ich habe gerade meinen Mann umgebracht.«
»Entschuldigung. Sie haben was getan? Die Verbindung ist furchtbar schlecht.«
»Verstehe. Tut mir leid, ich werde ein bisschen lauter sprechen. Die Leitungen hier sind immer schlecht, selbst wenn ich jemanden ganz in der Nähe anrufe. Das liegt daran, dass ich oben im Schlafzimmer bin und der Empfang miserabel ist. Mein Sohn meint, das könnte an den vielen hohen Bäumen um unser Haus herum liegen. Wir haben sie einmal stark zurückgestutzt, aber ich kann mich nicht erinnern, ob sich der Empfang dadurch verbessert hat. Außerdem gibt es Störungen durch die Computer im Nachbargebäude. Wir hatten geplant, das einmal überprüfen zu lassen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Also, ja. Ich sagte, dass ich meinen Mann umgebracht habe.«
Kathryn blinzelte zur sirrenden Neonröhre hinauf, die über ihrem Kopf flackerte. Die Röhre musste ausgetauscht werden. Das war eine Ablenkung, die einem schnell auf die Nerven gehen konnte.
»Hast du es getan?«
Roland Gearing stützte sein Gewicht auf die gespreizten Finger, und seine Hände bildeten kleine Pyramiden, die erstaunlicherweise seinen muskulösen Oberkörper trugen, als er sich so über den Tisch beugte. Er senkte die Stimme um eine Oktave. Diese Frage musste er ihr stellen, und er fürchtete sich vor ihrer Antwort. »Ob ich es getan habe?<<
»Ja, Kathryn, hast du es getan?<<
Er blickte ihr fest in die Augen und hoffte, damit Vertrauen zu wecken, ihr eine ehrliche Antwort zu entlocken. Mit Lügen kannte er sich aus und vertraute auf sein Bauchgefühl. Jahre der Arbeit hatten ihn gelehrt, genau auf die Pupillen des Befragten zu achten.
»Das ist eine Frage, die ich normalerweise nicht in einem so frühen Stadium der Ermittlungen stellen würde, aber als dein Freund - und auch als Marks Freund - bin ich der Meinung, dass ich das tun muss. Ist das okay?<<
»Ja, ja, natürlich. Ich verstehe.<<
Sie lächelte ihn kurz an, während sie mit Daumen und Zeigefinger die Haare erst hinter das linke, dann hinter das rechte Ohr schob.
Ihre gelassene Haltung verwirrte ihn. Sie zeigte nichts von der Hysterie oder der Angst, die solche Befragungen gewöhnlich kennzeichneten. Frauen in ähnlichen Situationen waren häufig fast wahnsinnig vor Panik, Wut oder der Angst vor Ungerechtigkeit. Doch Kathryn machte einen gelassenen Eindruck.
Sie erinnerte sich an die glasigen Augen ihres Mannes. An die Art und Weise, wie seine Finger von der unsichtbaren Würgeschlinge abglitten, die ihm den Atem abschnürte. Sie rümpfte die Nase. Noch immer glaubte sie den schwachen Eisengeruch von Marks austretendem Blut wahrzunehmen. Es war, als könnte sie ihn hinten im Gaumen schmecken. Weder hatte sie sich bemüht, seine Todesqualen zu lindern, noch irgendein Wort des Trostes gesprochen. Tatsächlich hatte sie gelächelt, als könnte er davonkommen, als wäre er noch immer der starke, tüchtige Mann, der Holz sägen, Wände streichen und seine Hand gegen sie erheben konnte.
Vielleicht hatte sie sogar vor sich hin gesummt. So, als schwanke sie nicht. Zu sehr wünschte sie sich, Zeugin dieses Ablebens zu werden, das das Ende des ganzen elenden Kapitels bedeuten würde. Als sie zu ihm gesprochen hatte, war ihr Tonfall beiläufig gewesen.
»Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich habe stundenlang Zeit, ich muss nirgendwohin und habe das ganze Leben vor mir. Versprochen ist versprochen.«
Ihr frivoler Pragmatismus kaschierte, dass ihr Herz vor Erleichterung ächzte.
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Seine Stimme wurde leiser, war kaum noch ein Flüstern. Er stieß seine letzten Worte zwischen stockenden letzten Atemzügen aus.
»Zu langsam, zu qualvoll. Dafür wirst du bezahlen.«
In Gedanken löschte sie diese Worte, bevor er sie ausgesprochen hatte. Sie würde sie niemals wiederholen, davon berichten oder sich daran erinnern.
»Ach, Mark, ich habe schon bezahlt.«
Sie beugte sich weit vor, bis ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Dabei atmete sie die übel riechende Luft ein, die er ausstieß, und wartete auf seinen allerletzten Atemzug. Kathryn wunderte sich über die Fähigkeit des Menschen, sich an die Gegenwart zu klammern. Das war trotz der offenkundigen Zwecklosigkeit wirklich beeindruckend, ja sogar faszinierend.
»Ja, ja, ich habe es getan, Roland. Ich war es. Ich ganz allein.«
In ihrem Geständnis schwang ein Hauch von Stolz mit, als berichte sie über eine besondere Leistung. Roland fand das sehr verwirrend. Er schüttelte den Kopf. Selbst nachdem er sie beobachtet und ihr Geständnis gehört hatte, konnte er das Ganze nicht recht glauben. Er blickte die gepflegte Frau mittleren Alters mit dem hübschen Gesicht an, die ihm gegenübersaß. Die gleiche Frau, die ihm Appetithäppchen auf mit Tortenspitzen verzierten Tabletts gereicht, ihm Filterkaffee serviert und selbst gebackenen Kuchen angeboten hatte. Die Fakten wollten einfach nicht zusammenpassen. Sie war mit Mark Brooker verheiratet gewesen, einem Mann, den er mochte und bewunderte. Ein Mann, den er mit der Erziehung seiner einzigen Tochter betraut hatte.
Roland atmete langsam aus und kratzte sich an der Stelle am Kinn, an der die Haut vom Bartwuchs am meisten gereizt war. Die stickige, angespannte Atmosphäre im Befragungsraum schien seiner empfindlichen Haut nicht gerade zuträglich zu sein. Er wollte nach Hause und unter die Dusche gehen. Besser noch, er wollte den Tag zurückspulen, nicht um 3 Uhr in der Früh einen Anruf entgegennehmen, der seine Familie aus dem Schlaf reißen und sein gewohntes Umfeld stören sollte.
Kathryn spürte seine Verwirrung, da sie wusste, dass er zu jenen Menschen zählte, die großen Wert auf ihren Schlaf legten. Sie stellte ihn sich zu Hause vor, wie er am frühen Abend eine Seebrasse mit gedünstetem Gemüse und dazu einen gekühlten Weißwein zu sich genommen hatte. Zuvor war er eine Stunde im Fitnessstudio gewesen, um sich seinen flachen Bauch zu bewahren. Keiner konnte ahnen, dass sein Sonntag so enden würde, dass er ihr zu dieser unchristlichen Stunde in der Polizeistation Finchbury am Tisch gegenübersitzen und herauszufinden versuchen würde, was zum Teufel wirklich passiert war.
»Bist du sicher, dass du mit mir sprechen willst?«, fragte er.
Sein Jackett sprang auf und ließ das rosa Futter seines maßgeschneiderten Anzugs aufblitzen. Sie malte sich aus, dass seine Kollegen ihn damit aufzogen. Aber sie kannte Roland gut und wusste, welch großen Wert er auf sein Erscheinungsbild legte. Er würde ihrer Neckerei keinerlei Beachtung schenken. Ihn sah man nie in den zerknitterten billigen Klamotten, die einige seiner Zeitgenossen trugen.
Kathryn erinnerte sich, ein Gespräch zwischen ihm und Mark aufgeschnappt zu haben, bei dem er sich über den Verlust seiner Uniform beklagt hatte - eine unvermeidliche Begleiterscheinung seiner Beförderung zum Chief Inspector. Es hatte ihm Freude gemacht, Knöpfe zu polieren, Stiefel zu putzen und Fussel von der wollenen Uniformjacke zu bürsten.
Sie beobachtete, wie er mit der Handfläche über seine Bauchmuskeln strich und eindeutig genoss, wie diese sich unter dem frischen weißen Hemd anfühlten.
»Ja.«
»Bist du dir sicher, dass das mit einem Fremden nicht leichter wäre?«
Sie bemerkte das hoffnungsvolle Flackern in seinen weit aufgerissenen Augen.
»Ich bin mir absolut sicher, Roland. Danke, dass du mich fragst, aber es gibt niemanden, mit dem ich lieber sprechen würde. Ich weiß es zu schätzen, dass du eigens aufgestanden und hierhergekommen bist, ehrlich.«
Es war, als begreife sie nicht, was gerade vor sich ging. Sie verhielt sich, als habe sie ihn auf einen kurzen Besuch eingeladen, und nicht, als sei sie sich im Klaren darüber, dass er in aller Frühe aus seinem Bett gerissen worden war - wegen des ersten mutmaßlichen Mordfalls in seinem Revier seit achtzehn Jahren. Da war kein Zittern in ihrer Stimme, kein Zögern oder erkennbare Nervosität. Ihre Hände lagen ordentlich gefaltet in ihrem Schoß. Sie sah so gelassen aus wie jemand, der auf seinen Termin beim Arzt wartet.
Roland war seit zwanzig Jahren bei der Polizei. Er hatte viel gesehen - grausige, ungerechte und amüsante Dinge. Aber so et-was? Ihr Verhalten ergab keinen Sinn und schockierte ihn. Er war bestürzt, ja erschüttert.
»Du machst angesichts deiner aktuellen Situation einen sehr ruhigen Eindruck.«
Er fragte sich, ob sie womöglich unter Schock stand.
»Weißt du, es ist lustig, dass du das sagst, weil ich wirklich ruhig bin. Sehr ruhig.«
»Das beunruhigt mich ja so.«
»Ach, Roland, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, überhaupt keinen. Für mich ist dieses Gefühl der Gelassenheit eine erfreuliche Abwechslung. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt! Genau genommen glaube ich nicht, dass ich mich so gefühlt habe, seit ich ein Kind war. Das war eine schöne Zeit in meinem Leben. Ich brauchte mir um absolut nichts Sorgen zu machen und wurde sehr geliebt. Das war eine wunderbare Kindheit, ein wunderbares Leben. Ich bin nicht immer so gewesen, weißt du.«
»Wie?«
»Ach, du weißt schon - verängstigt, gereizt, verschlossen. Ich war sehr zielstrebig. Nie feurig oder wild, aber ich habe fest daran geglaubt, dass ich die Welt zum Leuchten bringen, neue Wege einschlagen kann. Ich dachte, ich würde viel erreichen. Meine Eltern sagten mir immer, die einzige Begrenzung meiner Leistungsfähigkeit bestehe in meiner Fantasie, und ich glaubte ihnen. Sie sind inzwischen beide gestorben. Ich denke nicht mehr häufig an sie.«
»Warum nicht?«
Sie atmete langsam aus.
»Um die Wahrheit zu sagen, Roland, ich habe immer gedacht, die Toten könnten irgendwie über uns wachen, ja sogar in der Lage sein, uns zu beschützen. Falls meine Eltern mich die ganze Zeit beobachtet haben, dann schäme ich mich für alles, was sie haben mit ansehen müssen. Ich schäme mich dafür, was aus mir geworden ist. Andererseits, falls sie in der Lage waren, mich von ihrer Beobachtungsgalerie da oben aus zu beschützen, warum haben sie es dann nicht getan? Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich um Hilfe gefleht, um Hilfe gebetet habe. Vergebens. Deshalb mache ich mir lieber keine Gedanken darum. Es ist viel zu verwirrend, und noch mehr Verwirrung war genau das, was ich nicht gebrauchen konnte.«
»Wenn du es getan hast, Kathryn, dann stellt sich die Frage, warum? Warum hast du das gemacht?«
Mit dem schwachen Lächeln einer Frau, die unsicher ist, wo sie anfangen soll, aber trotzdem weiß, dass sie anfangen muss, formulierte Kathryn ihre Antwort mit Bedacht.
»Das ist im Grunde ganz einfach. Ich habe es getan, damit ich meine Geschichte erzählen kann, ohne Angst zu haben.«
»Deine Geschichte?« Roland war verdutzt.
»Ja, Roland. Ich muss meinen Kindern, der Familie, unseren Freunden, der gesamten Öffentlichkeit meine Geschichte erzählen können, ohne Angst zu haben.«
»Angst wovor?«
Er hatte ihr eine Weile zugehört, trotzdem verstand er noch immer nicht.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Zugleich rollte ihr eine ungebetene Träne über die Wange.
»Ach, Roland, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Angst vor Schmerzen, Todesangst, aber vor allem die Angst, dass ich mich in mich zurückziehen und nie wieder auftauchen würde. Ich weiß nicht, wo mein Ich geblieben ist, verstehst du? Ich weiß nicht, wo die Person geblieben ist, die ich einmal war. Es ist, als wäre aus mir ein Nichts geworden, als würde ich außerhalb der Gesellschaft leben, obwohl ich mich in ihrer Mitte befinde. Mein Leben hat so belanglos gewirkt, als spielte es keine Rolle, was aus mir wird. Ich bin unsichtbar geworden. Ganz oft sage ich etwas, aber niemand hört mir zu. Heute ist etwas passiert, was mich verändert hat, Roland. Ich kann nicht sagen, dass es etwas Großes, Bedeutsames oder Denkwürdiges war, aber etwas ist passiert, und ich wusste, dass ich genug hatte. Es war Zeit. Meine Zeit war gekommen.«
Er sann über ihre Worte nach und beschloss, noch nicht zu fragen, was dieses »Etwas« gewesen war, das sie verändert hatte. »Du musst dir überlegen, was du sagst, Kathryn. Ich möchte, dass du gut darüber nachdenkst, was du sagst und zu wem du es sagst. Ab diesem Augenblick können deine Aussagen und Handlungen dramatischen Einfluss darauf haben, wie die Sache für dich ausgeht. Jede noch so unwichtige Information, die du uns lieferst, wird festgehalten werden und deine Zukunft beeinflussen.«
Wieder dieses schwache Lächeln.
»Du liebe Güte. Meine Zukunft? Ich finde es lustig, dass ich über nichts mehr gründlich nachdenken muss. Ich habe bereits nachgedacht. Jahrelang hatte ich Zeit, darüber nachzudenken.«
Roland schwieg. Er wog die Möglichkeiten ab und versuchte zu entscheiden, wie er am besten vorgehen sollte. Plötzlich weiteten sich seine Pupillen. Es gab eine Möglichkeit, wie die Frau des Schuldirektors davonkommen konnte.
»Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn du einen Arzt konsultieren würdest, Kathryn. In deinem eigenen Interesse.«
»Ach ja! Einen Psychiater, nehme ich an? Das wäre gut. Du wirst feststellen, dass ich es sehr gut beherrsche, auf Suggestionen einzugehen, Feststellungen zuzustimmen und Befehlen zu gehorchen. Genau genommen kenne ich den Unterschied zwischen diesen Begriffen gar nicht mehr! Aber ich sollte dich warnen, dass er oder sie dir nach sorgfältiger Einschätzung und Diagnose einen langatmigen, teuren Bericht schreiben wird, in dem steht, dass ich hundertprozentig zurechnungsfähig, vernünftig und im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten bin. Tatsache ist, dass ich allein und im vollen Wissen um meine Tat und ihre Konsequenzen gehandelt habe. Aber mach nur. Lass dir das alles von jemandem bestätigen, der ein goldgerahmtes Diplom über seinem bequemen Bürosessel hängen hat, wenn dir das die Sache leichter macht.«
»Es geht nicht darum, was es für mich leichter macht! Himmelherrgott, Kathryn, ich kann nur vermuten, dass du eine Art von Zusammenbruch erlitten hast und dass dein Handeln die Folge einer Art von Umnachtung war, ob vorübergehend oder nicht.«
Sie lachte.
»Vorübergehend oder nicht? Das gefällt mir. Tatsache ist, Roland, dass ich die Wahrheit sage und zwar im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Darf ich dir etwas sagen?«
Er hoffte auf eine aufschlussreiche Begründung, eine Tatsache oder ein wissenswertes Detail, irgendetwas.
»Ja, selbstverständlich.«
»Es hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Zeiten gegeben, in denen ich meinen Verstand ganz leicht hätte verlieren können. Zeiten, in denen die Lage so trostlos und traurig wirkte, dass ich mich gefragt habe, ob es nicht einfacher wäre, mich in eine Depression fallen zu lassen und mich auszuklinken. Zwei Menschen haben mich davon abgehalten, egal, wie verlockend die Vorstellung auch war. Dominic und Lydia. Sie waren für mich der Grund, bei Verstand zu bleiben und weiterzumachen. Ich hätte mich nicht um sie kümmern können, wenn ich durchgedreht wäre. Das war allerdings ein harter Kampf, so sehe ich das wenigstens. Tag für Tag habe ich mein verzerrtes Gesicht im Spiegel angestarrt und mich gefragt, wie lange ich den Schein wohl noch würde wahren können. Eine ganze Weile, wie sich herausgestellt hat!«
Sie brach in ein kurzes, unnatürliches Gelächter aus.
Roland starrte sie an und war überzeugt, dass sie trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen tatsächlich den Verstand verloren hatte.
»Kathryn, als Freund, nicht als Chief Inspector, muss ich dir sagen, dass ich mir Sorgen um dich mache, sehr große Sorgen.«
Gelächter unterbrach ihn. Dann seufzte sie und wiegte sich ein wenig hin und her, während sie ein feuchtes Stück Küchenpapier aus dem Ärmel ihrer Strickjacke zog, sich Augen und Nase abtupfte.
»Tut mir leid, Roland. Ich weiß, ich hätte nicht lachen dürfen. Ich bin ein bisschen aufgewühlt. Die letzten zwei Tage waren anstrengend.«
Keiner von beiden ging auf die krasse Untertreibung ein.
»Ich lache, weil ich mir in den vergangenen achtzehn Jahren immer gewünscht habe, dass sich jemand Sorgen um mich macht und mir hilft. Im Augenblick brauche ich jedoch zum ersten Mal seit dem Tag meiner Hochzeit niemanden, der sich um mich sorgt, weil ich endlich in Sicherheit bin.«
Sie legte ihre Handflächen auf den Tisch, als könne er durch seine Stabilität bekräftigen, dass sie auf eigenen Beinen stehen konnte.
Roland erhob sich und ging in dem kleinen Befragungsraum der Polizeistation auf und ab, seine Hände in die Hüften gestemmt, seine Arme weit abgespreizt. Allmählich verlor er die Geduld. Sein Frustrationspegel stieg proportional zum Mangel an Fortschritten. Er hatte den Eindruck, dass dieses Gespräch Stunden so weitergehen könnte, und das waren Stunden, die er nicht zu verschwenden hatte.
»Okay, Kathryn, ich will offen sein. Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Lage. Nicht beruflich, sondern psychologisch. Ich habe große Schwierigkeiten zu verstehen, was mit dir los ist. Ich kenne dich und Mark seit ... wie lange? Fast zehn Jahre?«
Kathryn hatte die Ankunft seiner Tochter Sophie im Alter von acht Jahren in der Mountbriers Academy mit dem kleinen Lederranzen, dem angsterfüllten Blick, den Sommersprossen und dem schwingenden Faltenrock noch vor Augen. Inzwischen war Sophie eine selbstbewusste Sechzehnjährige, die nicht nur die Aufmerksamkeit ihres eigenen Sohnes erregt hatte, sondern auch die jedes anderen Jungen in ihrer Klasse. Kathryn nickte. Fast zehn Jahre.
»Und in der ganzen Zeit habt ihr beide, du und Mark, als ein sich sehr nahe stehendes, liebevolles Ehepaar gegolten. Er spricht - sprach - von dir in den höchsten Tönen, Kathryn, immer. Verstehst du also, wieso das ...?«
Roland blickte kurz zur Decke hinauf, fasste sich und änderte den Kurs.
»Himmelherrgott, Kathryn, ich kämpfe darum, das höflich auszudrücken, deshalb gebe ich diesen Versuch auf und komme direkt auf den Punkt. Mark ist ... war ... ein hoch angesehenes und geliebtes Mitglied der Gesellschaft. Er war der Schulleiter, Herrgott noch mal! Erst kürzlich hat er eine nationale Auszeichnung erhalten, er wurde von allen sehr geschätzt. Und du erwartest von mir - und von allen anderen -, dir zu glauben, dass du hinter diesen hohen Backsteinmauern und Schiebefenstern in den vergangenen achtzehn Jahren ein elendes Leben geführt hast? Wohingegen wir immer ein starkes, glückliches Paar gesehen haben, das einander allem Anschein nach innig zugetan war? Verstehst du, dass die Leute damit vielleicht Schwierigkeiten haben könnten?«
Sie zeigte ihr zögerliches Lächeln und wählte die Worte sorgfältig.
»Roland, ich kann verstehen, dass manche Leute immer nur das sehen, was sie sehen wollen. Das weiß ich. Aber es ist genauso wichtig zu erkennen, dass manche Leute großartige Blender sind. Mark war ein großartiger Blender, und bis zu einem gewissen Grad war ich das auch. Er war ein Monster, das sich als guter Mensch ausgab, und ich war ein Opfer, das so tat, als wäre es keines. Schuldig im Sinne der Anklage.«
»Kathryn, bitte bemühe dich, diesen Ausdruck nicht zu verwenden.«
Sie wusste nicht, ob er Spaß machte.
»Okay, Roland. Ich möchte damit sagen, dass es mir wirklich egal ist, was die Leute denken oder zu wissen meinen. Ich kenne die Wahrheit, und eines Tages werden auch meine Kinder die Wahrheit erfahren. Das ist das Einzige, was für mich eine Rolle spielt. Tatsache ist, ich bin schuldig und erwarte, die Strafe abzusitzen. Du musst wissen, dass es für mich keine Strafe gibt, die schlimmer sein kann als das Leben, das ich als Marks Frau geführt habe. Überhaupt keine. Ich habe keine Angst, jetzt nicht mehr.«
Roland nahm ihr gegenüber an dem rechteckigen Tisch Platz. Er streckte die Beine aus, legte sie an den Knöcheln übereinander, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und seufzte. Seine Gedanken wanderten zu den vielen Gelegenheiten zurück, bei denen er in der gemütlichen Küche der Brookers am Tisch gesessen hatte, während Kathryn ihre geblümte Schürze trug und aus der gepunkteten Kanne Tee einschenkte. Mark hatte nach der Sonntagsmesse seinen großen Auftritt und machte Späße, diskutierte über die neuesten Kricketergebnisse, während zum leichten Klirren von Porzellan im Hintergrund der Klassikradiosender lief.
Das ergab alles keinen Sinn. Roland war voll konzentriert und bereit zuzuhören. Es war entscheidend, dass er zuhörte, weil er zuhören musste. Wichtiger noch, er musste begreifen.
Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, dann kratzte er sich den Schädel und tätschelte seinen Seitenscheitel.
»Ich mache diesen Job schon lange, und ich weiß, dass solche Dinge passieren können. Manchmal ganz spontan. Schlimme Dinge, Unfälle.«
»Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst«, unterbrach ihn Kathryn. »Aber ich muss dich gleich bremsen. Das war kein Unfall. Nicht etwa, dass ich es geplant und ausgeheckt hätte oder so, aber es war kein Unfall. Ich habe Mark bewusst erstochen. Als ich das Messer in der Hand hielt, wollte ich ihn töten. Wenn ich es mir recht überlege, wollte ich das tief in meinem Inneren schon lange tun. Deshalb war es zwar spontan, wie du es nennst, aber kein Unfall.«
Roland schüttelte den Kopf. Sie tat sich damit nicht gerade einen Gefallen.
»Ich sage dir, was mir wirklich weiterhelfen würde. Warum nennst du mir nicht ein paar Beispiele?«
»Beispiele?«
»Ja, irgendetwas, das mir hilft, wirklich zu begreifen, was du durchgemacht hast. Erzähl mir etwas Typisches.«
»Etwas Typisches?«
»Ja. Entwirf eine Momentaufnahme, wenn du willst. Ein konkretes Bild würde mir helfen, es zu begreifen. Erzähl mir, wie es war. Erkläre mir, was er dir Schlimmes angetan hat. Beschreibe mir mit einfachen Worten, was du durchgemacht hast. Du sprichst von Angst und Qualen - das musst du mir verständlich machen. Erzähl mir, was er getan hat, das dir solche Angst eingejagt hat. Erzähl mir, was er getan hat, das dich dazu getrieben hat, ihn umzubringen.«
Roland hatte seinen freundschaftlichen Ton aufgegeben und war durch und durch Polizist.
»Du willst eine Momentaufnahme?«
»Ja, wenn es dir recht ist.«
»Lass mich überlegen. Eine Momentaufnahme, etwas Typisches.«
Sie legte eine Pause ein.
»Es ist schwierig zu wissen, wo ich anfangen muss, wie viel ich dir erzählen soll.«
»Erzähl mir irgendetwas, Kathryn, aber verzichte auf den Satz: Mein Mann war ein Monster. Der ist ein bisschen zu allgemein und dramatisch, um wirklich sachdienlich zu sein. Gib mir irgendetwas Greifbares, etwas, was mir hilft zu verstehen, ein Detail, mit dessen Hilfe ich es anderen erklären kann.«
»Also gut. Aber eines will ich dir sagen, bevor ich anfange: Ich werde mich an die Tatsachen halten und weder über- noch untertreiben. Ich habe dir bisher die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt - so lautet der Ausdruck doch?«
Roland nickte. »Ja, das kommt dem ziemlich nahe. Ich bin bereit, wenn du es bist.«
Kathryn atmete scharf ein und drehte ihren Ehering mit dem linken Daumen um den Finger. Sie war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihn abzulegen. Doch in diesem Augenblick beschloss sie, das zu tun, sobald sie allein war. Sie schob den Goldreifen ein Stück nach oben und dachte kurz darüber nach, was für eine Furche er in ihren Finger gegraben hatte. Wie lange würde es wohl dauern, bis der schmale Abdruck wieder verschwand? Das würde für sie einen großen Schritt hin zur Selbstständigkeit bedeuten.
»Na ja, Mark war sehr etepetete, genau genommen besessen von Details. Ich durfte nie Jeans oder sonst irgendwelche Hosen anziehen, nur Röcke. Ich musste mehr oder weniger über jede Minute meines Tagesablaufs Rechenschaft ablegen. Es gab nur sehr wenig Zeit zur freien Verfügung. Ich durfte entscheiden, welche Route ich zum Supermarkt nehme oder welches Gemüse ich zum Abendessen zubereite, aber das war auch schon alles. Wie und wo ich die Vorräte verstaue, wann ich das Essen serviere, das war alles vorgeschrieben. Ich musste jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Arbeiten erledigen. Häufig sinnlose und monotone Aufgaben, die nur dazu gedacht waren, mich fertigzumachen und meinen Willen zu brechen.«
Roland kniff mit Daumen und Zeigefinger die Haut unter den Augen zusammen. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass diese Worte vor Gericht wiederholt wurden: Ich habe meinen Mann ermordet, weil er ein bisschen pingelig war und mich am liebsten im Rock gesehen hat. Und ich hatte Haushaltspfichten zu erledigen. « Himmelherrgott, wenn sie damit durchkam, dann hatten die meisten Frauen in diesem Land eine Rechtfertigung. Er hoffte, dass noch etwas Besseres nachkommen würde.
»Und am Abend sind wir dann zusammen die Treppe hinaufgegangen. Während mich nur eine Rigipswand von meinen Kindern trennte, kniete ich am Fuß unseres Bettes, und Mark gab mir Punkte, je nachdem, wie schlecht ich meine Arbeiten an diesem Tag seiner Meinung nach erledigt hatte. Weitere Punkte wurden hinzugefügt, falls ich irgendetwas getan hatte, was ihn irritierte oder ärgerte.«
Nun hatte sie seine ganze Aufmerksamkeit.
»Diese Punkte wurden auf einer Skala von eins bis zehn vergeben - zehn war schlecht. Je nachdem, wie schlecht ich abgeschnitten hatte, wurde entschieden, was als Nächstes kam.«
Kathryns Tränen bahnten sich den Weg in das wartende Stück Küchenpapier. Ihr Atem ging stockend, und ihr Kummer war sowohl auf die Scham zurückzuführen, das zu erzählen, wie auf die Erinnerung an die Ereignisse.
»Punkte?«
Roland schüttelte den Kopf. Kathryn konnte nicht sagen, ob das Ausdruck von Mitleid oder Fassungslosigkeit war.
»Ja. Und dann hat er mir wehgetan.«
Das sagte sie im Flüsterton. Roland spitzte die Ohren, damit ihm nichts entging.
»Wie lange ging das so, Kathryn?«
Sie hustete, fasste sich und sprach recht fröhlich weiter, als könnte sie sich selbst vormachen, dass alles in Ordnung sei.
»Na ja, im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich von dem Augenblick, als wir uns kennenlernten, drangsaliert wurde. Zuerst ging es um Kleinigkeiten: Kritik an meiner Kleidung, an meiner Frisur, die Ablehnung aller meiner Freunde. Er setzte meiner Karriere als Englischlehrerin ein Ende, was eine Schande war. Er machte alles, was ich vor unserem Kennenlernen besessen hatte, kaputt oder warf es weg, überwachte meine Anrufe, solche Sachen. Ganz allmählich wurde ich meiner Familie entfremdet. Sein ganzes Handeln war darauf ausgerichtet, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen und von ihm abhängig zu machen. Er trennte mich von allen meinen Verbündeten und zerstörte mein Selbstwertgefühl, sodass ich bereits Opfer und ganz allein war, als er mit den wirklichen Misshandlungen anfing. Ich sah mich nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, so groß war meine Verwirrung. Meine Stimme zählte nicht. Zumindest hatte ich diesen Eindruck.«
»Und wie lange ging das mit dem, was du als wirkliche Misshandlungen bezeichnest?«
»Hm, lass mich nachdenken - seit ich mit Dominic schwanger war.«
»Der jetzt sechzehn ist?«
»Ja, stimmt, auch wenn mir das fast unmöglich erscheint. Sechzehn. Die Zeit vergeht so schnell, nicht wahr? Du musst das doch auch bei Sophie feststellen. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin gerade einem pummeligen Kleinkind durchs Haus nachgerannt, dann habe ich ihm für eine Sekunde den Rücken zugekehrt, und stelle fest, dass er sich mit einem Mal zu dieser zu einem Teenager mit einem nicht zu bändigenden Lebenswillen entwickelt hat. Tut mir leid, Roland. Ich weiche vom Thema ab, oder?«
Sie musterte seinen Gesichtsausdruck und begriff, in welch misslicher Lage er steckte. Kathryn wusste, dass es nicht plausibel klang. Es klang absolut verrückt, dass sie von Mark Brooker, dem Schulleiter, sprach! Sie wusste, dass Roland und alle anderen Eltern sich Mark immer nur als einen Mann vorstellen konnten, der sie mit einem festen Händedruck und einer geistreichen Bemerkung begrüßte. Sie würden alle der Meinung sein, dass die ganze Sache höchst schockierend war. Was würde Judith, Marks Sekretärin, davon halten?
Kathryn schmunzelte in sich hinein, als sie sich die Reaktion der Frau ausmalte, und konnte sich ihre Aussage vorstellen: Mark hat nicht wie ein schlechter Mensch ausgesehen, genau genommen war er sogar ziemlich umwerfend.
Kathryn hoffte, dass die Leute sich die eine wichtige Frage stellen würden, sobald alle Fakten ans Tageslicht gekommen waren: Wenn ihr Leben so perfekt gewesen wäre, wie Roland und alle anderen geglaubt hatten, wieso hätte sie es dann tun sollen? Warum sollte sie den ganzen Albtraum heraufbeschwören und um Bestrafung bitten, wenn es nicht wahr wäre? Dann müsste sie doch völlig verrückt sein. Und Kathryn war entschlossen zu beweisen, dass sie keineswegs verrückt war.
Roland atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, seine Fragen zu wiederholen.
Vor sieben Jahren
Im Gefängnis von Marlham herrschte niemals Ruhe. Wenn der Fernseher mit seinen endlosen Wiederholungen todlangweiliger Serien nicht gerade plärrte, dann hörte man die Schreie durchgedrehter Gefangener, Lachsalven und unflätige Ausdrücke, die offenbar nur aus voller Lunge herausgebrüllt werden konnten. Kate, wie sie hier genannt wurde, wusste inzwischen aus Erfahrung, dass niederträchtige Bemerkungen viel bedrohlicher waren, wenn sie leise ausgesprochen wurden, langsam und in unmittelbarer Nähe. Dadurch war man gezwungen, wirklich zuzuhören und ihre Bedeutung zu verarbeiten. Schreien war nur etwas für Anfänger.
Nicht einmal in der Nacht war es still. Die Zellen hallten vom unweigerlich lauten Schluchzen der jungen Häftlinge und der Neuankömmlinge wieder. Kate fand das herzzerreißend. Sie konnte es sich nicht verkneifen, das Bild ihrer Tochter Lydia auf die weinenden Gesichter zu projizieren, und sehnte sich danach, sie mit einer Umarmung und einem freundlichen Wort zu trösten. Ihr Heulen wurde von dem Getrommel verzweifelter, wütender Hände unterbrochen, die mit Schuhen und Haarbürsten gegen Metallgitter und Bettgestelle schlugen und einen Rhythmus klopften, einen Morsecode: Lasst mich raus hier, ich will nach Hause. Bitte lasst mich nach Hause gehen.
In den frühen Morgenstunden bellten mitleidlose Wärterinnen und übermüdete Insassen Befehle: »Seid endlich ruhig, haltet den Mund und schaltet das verdammte Licht aus!« Sobald die Gefangenen schließlich verstummten und die Wärterinnen sich in ihr Büro zurückgezogen hatten, erwachte das Gebäude selbst zum Leben. Die Rohrleitungen aus viktorianischer Zeit knarrten und ächzten, Heizkörper knackten und knarzten, Glühbirnen surrten in ihren Fassungen, und der Wind pfiff durch die Ritzen zwischen Fensterscheibe und Rahmen.
Für Kate stellte der unablässige Lärm eine der größten Herausforderungen des Gefängnislebens dar, etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie hatte sich gegen den Verlust der Freiheit und die Langeweile gewappnet, doch es waren die kleinen Dinge, die die stärksten und gänzlich unerwarteten Auswirkungen hatten. Am meisten litt Kate unter völlig unbedeutenden Entbehrungen, die sie frustrierten. Ihre Füße in zu heiß getrocknete, steife Socken zwängen zu müssen war täglich eine Qual. Nicht in der Lage zu sein, sich selbst eine Tasse Tee zu kochen, entmutigte sie so sehr, dass sie fast in eine Depression versank. Die kühle, milchige Brühe, die ihr drei Mal am Tag serviert wurde, war das genaue Gegenteil dessen, was sie unter einem guten Tee verstand. Selbst nach drei Jahren hatte sie sich nicht daran gewöhnt.
Aber sie hatte sich nie danach gesehnt, wieder in Mountbriers, in der Küche des Schuldirektors, zu stehen - nicht ein einziges Mal, niemals.
Bei ihrer Ankunft war es ziemlich anstrengend gewesen, sich an den Tagesablauf, die Regeln und den Fachjargon der seltsamen Umgebung zu gewöhnen. Das meiste lernte sie, indem sie die anderen Gefangenen beobachtete und ihre Reaktionen auf den Klang einer Glocke und unverständliche Rufe nachahmte.
Sie stellte fest, dass Neuankömmlinge in zwei Kategorien zu unterteilen waren: Jene, die gegen das System aufbegehrten, das sie ungerechterweise aus einem Leben gerissen hatte, das ihnen gefiel. Sie nutzten jede Gelegenheit zu toben, zu protestieren oder um sich zu schlagen. Daneben gab es jene, die, wie sie, eine gewisse Fröhlichkeit an den Tag legten. Das ließ darauf schließen, dass das Gefängnis in Wahrheit eine Zuflucht vor dem darstellte, was ihnen draußen Schaden zugefügt hatte.
In den ersten Wochen ihrer Haft musste Kate sich immer wieder daran erinnern, wo sie war und warum. Es war genau so, wie irgendjemand einmal behauptet hatte: eine Art von Wahnsinn, ob vorübergehend oder nicht. Innerhalb von wenigen Stunden war sie Single, Witwe und Mörderin geworden. Sie war von ihren Kindern getrennt worden, und Mark war tot.
Die Kinder waren bei ihrer Schwester in Hallton, North Yorkshire. Zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten geriet Kate plötzlich in Panik, ob es ihnen auch wirklich gut ging. Hatte sie Francesca je gesagt, dass Dominic auf Cashewkerne allergisch reagierte? Was war, wenn sie ihm nichtsahnend welche gab, und er sein Gegenmittel nicht bei sich hatte? Die Angst vor den möglicherweise fatalen Folgen quälte sie tagelang, sie konnte an nichts anderes mehr denken.
Hätte Kate logisch gedacht, dann hätte sie sich beruhigt. Ihr Sohn war im Teenageralter und durchaus in der Lage, seine Tante auf seine Allergie aufmerksam zu machen, aber sie war kein logisch denkender Mensch mehr. Sie war ein Mensch, der versuchte, mit der Ungeheuerlichkeit zurechtzukommen, von den eigenen Kindern getrennt zu leben.
Wenn es mit dem Einschlafen nicht klappen wollte, stellte Kate sich immer wieder die gleichen entscheidenden Fragen: Bereust du es? Kannst du dir vorstellen, dass es besser gewesen wäre, ruhig zu bleiben, die Hand von der Schürze fernzuhalten, das Messer in der Schürzentasche zu lassen? Wäre es nicht für alle besser gewesen, dein Leben so weiterzuführen wie zuvor? Dann würdest du die Kinder wenigstens jeden Tag sehen.
Bei diesen Gelegenheiten entfaltete sie stets einen der Briefe ihrer Schwester und verschlang, was sie geschrieben hatte.
Francesca begann immer mit Hey, Katie, was die Uhr auf eine Zeit zurückdrehte, in der sie beide noch jung waren und sich nahestanden. Eine Zeit, bevor Mark Brooker das süße junge Mädchen, das keine ernsten Sorgen kannte, in seine Gewalt bekam. Der Ausdruck war jedoch mehr als ein die Zeit zurückdrehender Kosename. Er war auch eine Erinnerung daran, dass dieses Mädchen, als es Mark Brooker heiratete, zum letzten Mal aus ihrem freien Willen heraus gehandelt hatte und nicht als verängstigte Marionette. Hey, Katie war für Francesca inzwischen ein Ausdruck der Vergebung. Nun konnte sie endlich verstehen, was all die Jahre hinter dem kühlen und gekünstelten Verhalten ihrer Schwester gesteckt hatte. Es war ihre Art und Weise zu sagen: »Alles ist vergeben. Schwamm drüber!«
Immer wieder las Kate die Informationsschnipsel über ihre Kinder und war ihrer Schwester unendlich dankbar, dass sie, als Kate in größter Not war, die beiden einfach geschnappt und in Sicherheit gebracht hatte, so wie Kate es vorausgesehen hatte. Ebenso fesselnd waren die beiläufigen Hinweise darauf, dass das normale Leben trotzdem weiterging: »Ich muss schnell die Lammpastete in den Ofen schieben!« Sie versetzten Kate in die Lage, sich die Familie um den Tisch sitzend auszumalen, wie sie sich miteinander unterhält und das Gericht verspeist, für das ihre Schwester bei Freunden und Bekannten berühmt war. Und dann gab es die wichtigeren Details: Dass Lydia an der Kunsthochschule für den Grundkurs angenommen worden ist. Dass Dominic Luke und dessen Vater dabei hilft, die Innenausstattung für ein Hotel zu planen. Für ein Boutiquehotel! Er hat fantastische Ideen, und zum Glück kommt die Firma langsam wieder auf die Beine.
Nachdem Kate Francescas letztes Schreiben noch einmal gelesen hatte, war es für sie klar. Nein, es wäre nicht besser gewesen stillzuhalten und das Messer in der Tasche zu lassen. Mark hätte sie irgendwann umgebracht, da war sie sich sicher.
Es hatte fast drei Jahre der Gefangenschaft gebraucht, bis Kate aufging, dass sie ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl langsam zurückgewann. Während ihrer Ehe hatte sie kaum bemerkt, dass sie ihr abhandengekommen waren. Doch jetzt gewann sie allmählich den Eindruck, dass sie tatsächlich etwas wert war, dass sie etwas Wertvolles zu sagen hatte. Sie konnte zumindest Nein sagen, ohne sich schuldig zu fühlen - sie konnte tatsächlich zu allem Nein sagen, sei es zu einer Einladung zum Tee oder einer aggressiven sexuellen Anmache. Schließlich begriff sie, dass sie das Recht hatte, Nein zu sagen.
Kate wusste jedoch, dass sie ihre Erfahrungen für immer und ewig in jeder Faser ihres Körpers mit sich herumtragen würde. Sie würde den Menschen, der sie einmal gewesen war, wie einen wassergetränkten Schwamm mit sich herumschleppen. Hätte sie die Wahl gehabt, dann hätte sie einen Gefühlsausbruch vorgezogen, lautstarkes Trauern, das sie geläutert zurückgelassen hätte. Aber das war nicht ihre Art. Stattdessen litt sie unter einer unterschwelligen Traurigkeit, die, solange sie unterdrückt wurde, den Rest ihres Lebens bestimmen würde. Das akzeptierte sie mit einer gewissen Resignation. Die Angst vor Mark war verschwunden. An ihrer Stelle lauerte ein Gespenst, das auf ihrer Schulter im Badezimmerspiegel auftauchen oder mitten in der Nacht unter ihre Decke kriechen konnte, um sich an sie zu schmiegen. Diese vorübergehenden Anflüge, diese Erinnerungen, die ihr einen Schauer über den Rücken jagten, waren dem erbärmlichen Terror, unter dem sie gelebt hatte, absolut vorzuziehen.
Der Verlust des Kontakts zu ihren Kindern lag Kate wie ein Mühlstein auf der Brust. Der Schmerz ihrer Abwesenheit war stark und stechend. Er erschwerte ihr das Atmen und machte es ihr nahezu unmöglich, etwas zu essen. In ihren Träumen wurde sie von Erinnerungen verfolgt. Sie wachte regelmäßig tränenüberströmt auf, weil sie sich nicht mehr an das Grübchen in Lydias Kleinkinderfinger erinnern konnte oder an Dominics blauen Wollfäustling, den er auf dem vereisten Gartenweg verloren hatte. Die tiefe, nagende Sehnsucht, die sie nach ihnen verspürte, lenkte sie von allem ab, was sie zu tun versuchte. Sie war lähmend und allgegenwärtig und begleitete sie jeden Tag, in jeder Sekunde bei allen ihren Arbeiten. Doch wie jemand, der in der Wüste nach Wasser dürstet, konnte sie das Problem nicht lösen. Worte der Entschuldigung und Erklärung lagen ihr auf der Zunge, aber da keines der Kinder zuhörte, schienen ihre Bemühungen vergebens. Die Frustration trieb ihr häufig Tränen in die Augen. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Gefängniswärterinnen konnten oder wollten nicht verstehen, dass es nicht das Gefängnis an sich war, das ihr zusetzte, sondern die Zeit, die sie allein mit ihren Kindern brauchte. Nur eine Stunde oder zwei, in denen sie ihnen alles erklären, sie trösten konnte. Konnte denn niemand die beiden zwingen, sie zu besuchen? Bitte.
Das Bild, wie sie sie als Neugeborene gestillt hatte, jedes Baby winzig, perfekt und geliebt, war ihr stets präsent. Sie malte sich ihre winzigen, gespreizten Finger an ihrer gedehnten weißen Haut aus, auf der sich schmale blaue Adern zu ihren suchenden Rosenknospenmündchen schlängelten. Sie beobachtete, wie ihre Lider allmählich mit langsamen, tragen Wimpernschlagen zufielen, das Bauchlein voll, bereit einzuschlafen. Dann zog sich ihr Bauch durch das vertraute Gefühl der Sehnsucht zusammen, ganz ähnlich wie damals beim Stillen. Wenn sie die Uhr doch nur auf diese Zeit zurückdrehen und den Mut finden könnte ...
Das gleichmäßige Klatschen von Flip-Flops auf dem Linoleumboden sagte Kate, dass die Post kam. Die schmuddelige junge Frau, deren Aufgabe es war, die Briefe auszuteilen, verlangsamte ihren Wagen und blätterte einen Stapel brauner Briefumschlage durch. Kate konnte immer spüren, wenn ein Brief zu ihr unterwegs war. Sie lächelte, während sie sich vorstellte, wie ihre Schwester ihn an ihrem kleinen Schreibtisch schrieb, zwischendurch einen Schluck Kaffee trank und die Küchenschranke abwischte. Die wunderbare Francesca.
Das Post-Mädchen warf einen Umschlag durch die offene Tür auf Kates Bett. Da das Mädchen selbst nie einen Brief erhalten hatte, wusste es nichts davon, wie viel Freude und Ablenkung ein solcher bringen konnte.
»Danke.« Kate meinte es ehrlich.
Die junge Frau nickte ganz kurz. Sie legte keinen Wert auf das Dankeschön. Ihr ging es nur um die paar Pence, die sie für ihre Mühen bekam.
Wie ein Feinschmecker, der einen erlesenen Wein oder einen guten Käse kostet, hatte Kate gelernt, die Sache nicht zu überstürzen. Sie schob das Öffnen des Briefes immer hinaus, hielt den Umschlag fest, überprüfte den Verschluss und wog das Kuvert in der Hand, bevor sie die krakelig geschriebene Adresse betrachtete. Diskret legte sie den Daumen über ihre Gefängnisnummer, die mit schwarzer Tinte oben in die linke Ecke geschrieben war. Sie ignorierte, dass der dünne Klebestreifen bereits entfernt worden war, um den Inhalt zu überfliegen, und dass der Stempel Geprüft in roter Farbe auf der Umschlagklappe prangte. Für eine Sekunde oder zwei gelang es ihr, den Gedanken zu verdrängen, dass ein Gefängnisbeamter den Klatsch und Tratsch bereits gelesen hatte, der eigentlich nur für sie gedacht war, und so zu tun, als wäre sie eine andere, die Nachrichten erhielt und die Verbindung mit dem Rest der Welt genoss.
Kate drehte das harmlose braune Rechteck hin und her, bis es flach auf ihrer Hand lag. Ihr Herz machte einen Sprung. Es war nicht die geschwungene Schrift des Füllers ihrer Schwester, die ihr entgegen starrte, sondern die unverwechselbaren winzigen, präzisen Striche der Handschrift ihrer Tochter.
»Ach! Er ist von meiner Tochter!«
Kate wusste nicht, wem sie das zurief, da sie die Worte fast unbeabsichtigt ausstieß. Die Freude sprudelte ihr aus dem Mund.
»Schön für dich«, kam die gleichgültige Antwort aus einer der Nachbarzellen.
Das war erst der zweite Brief, den sie in drei Jahren von Lydia erhielt. Kate hatte das dünne Blatt des Vorgängers so gut wie verschlissen. Dieser kostbare neue Talisman würde ihre Gedanken stundenlang beschäftigen. Sie würde sich sehr schnell jedes Wort einprägen, doch der Text und seine Bedeutung waren nicht alles. Das Stück Papier in den Händen zu halten, auf dem die Finger ihres kleinen Mädchens gelegen hatten, und die Worte nachzufahren, verband sie in einer Weise mit ihr, wie es die Erinnerung allein nicht vermochte. Am Papier zu schnuppern, an dem ein leichter Hauch des Parfums ihrer Tochter hing, übertragen durch die flüchtige Berührung ihres Handgelenks, erfüllte sie mit unbeschreiblicher Freude. Kate las die zwei Seiten an diesem Tag mindestens zwanzigmal. Das Lesen dieses Briefes würde in Zukunft zu einem festen Bestandteil ihres Tagesablaufs werden.
Übersetzung: Theresia Übelhör
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Vor zehn Jahren
Kathryn Brooker schaute zu, wie er sein Leben aushauchte. Sie war überzeugt zu sehen, dass der böse Geist seinen Körper verließ, sogleich im Boden verschwand und sich immer tiefer abwärts schlängelte.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Sie hatte ein Hochgefühl erwartet oder zumindest Erleichterung. Was sie nicht vorausgesehen hatte, das war die Benommenheit, die sie im Moment umfing. Als ihr in den Sinn kam, dass ihre Kinder nebenan schliefen, schloss sie die Augen und wünschte ihnen einen tiefen, gesegneten Schlaf. Sie wusste, es würde für eine ganze Weile der letzte sein. Wie immer kreisten ihre Gedanken darum, was für ihren Sohn und ihre Tochter das Beste war.
Das Zimmer wirkte trotz der blutüberströmten Leiche auf dem Bett ziemlich leer. Die Atmosphäre war friedlich, die Temperatur gerade richtig.
Kathryn verspürte einen leichten Anflug von Enttäuschung: Sie hatte erwartet, mehr zu fühlen.
Nachdem sie in ihre Jeans geschlüpft war und sich einen Pullover übergezogen hatte, stand sie gelassen neben dem Bett, auf dem der bleiche Leichnam ihres Mannes lag. Nach reiflicher Oberlegung wählte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die 110. Es fühlte sich unwirklich an, das in die Tat umzusetzen, was sie in Gedanken seit einer Ewigkeit immer wieder durchgespielt hatte. Allerdings hatte es sich bei dem Notfall in ihrer Vorstellung immer darum gehandelt, dass sich eines ihrer Kinder ein Bein gebrochen hatte oder in einem leeren Haus in der Nachbarschaft Feuer ausgebrochen war, um nichts allzu Dramatisches jedenfalls. »Notrufzentrale, mit wem kann ich Sie verbinden?«
»Ach, hallo, ja, ich bin mir nicht sicher, mit wem Sie mich verbinden sollten.«
»Sie sind sich nicht sicher?«
»Ich glaube, wahrscheinlich mit der Polizei oder dem Notarzt, vielleicht mit beiden. Tut mir leid. Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher ...«
»Darf ich fragen, worum es geht, Madam?«
»Ach ja, selbstverständlich. Ich habe gerade meinen Mann umgebracht.«
»Entschuldigung. Sie haben was getan? Die Verbindung ist furchtbar schlecht.«
»Verstehe. Tut mir leid, ich werde ein bisschen lauter sprechen. Die Leitungen hier sind immer schlecht, selbst wenn ich jemanden ganz in der Nähe anrufe. Das liegt daran, dass ich oben im Schlafzimmer bin und der Empfang miserabel ist. Mein Sohn meint, das könnte an den vielen hohen Bäumen um unser Haus herum liegen. Wir haben sie einmal stark zurückgestutzt, aber ich kann mich nicht erinnern, ob sich der Empfang dadurch verbessert hat. Außerdem gibt es Störungen durch die Computer im Nachbargebäude. Wir hatten geplant, das einmal überprüfen zu lassen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Also, ja. Ich sagte, dass ich meinen Mann umgebracht habe.«
Kathryn blinzelte zur sirrenden Neonröhre hinauf, die über ihrem Kopf flackerte. Die Röhre musste ausgetauscht werden. Das war eine Ablenkung, die einem schnell auf die Nerven gehen konnte.
»Hast du es getan?«
Roland Gearing stützte sein Gewicht auf die gespreizten Finger, und seine Hände bildeten kleine Pyramiden, die erstaunlicherweise seinen muskulösen Oberkörper trugen, als er sich so über den Tisch beugte. Er senkte die Stimme um eine Oktave. Diese Frage musste er ihr stellen, und er fürchtete sich vor ihrer Antwort. »Ob ich es getan habe?<<
»Ja, Kathryn, hast du es getan?<<
Er blickte ihr fest in die Augen und hoffte, damit Vertrauen zu wecken, ihr eine ehrliche Antwort zu entlocken. Mit Lügen kannte er sich aus und vertraute auf sein Bauchgefühl. Jahre der Arbeit hatten ihn gelehrt, genau auf die Pupillen des Befragten zu achten.
»Das ist eine Frage, die ich normalerweise nicht in einem so frühen Stadium der Ermittlungen stellen würde, aber als dein Freund - und auch als Marks Freund - bin ich der Meinung, dass ich das tun muss. Ist das okay?<<
»Ja, ja, natürlich. Ich verstehe.<<
Sie lächelte ihn kurz an, während sie mit Daumen und Zeigefinger die Haare erst hinter das linke, dann hinter das rechte Ohr schob.
Ihre gelassene Haltung verwirrte ihn. Sie zeigte nichts von der Hysterie oder der Angst, die solche Befragungen gewöhnlich kennzeichneten. Frauen in ähnlichen Situationen waren häufig fast wahnsinnig vor Panik, Wut oder der Angst vor Ungerechtigkeit. Doch Kathryn machte einen gelassenen Eindruck.
Sie erinnerte sich an die glasigen Augen ihres Mannes. An die Art und Weise, wie seine Finger von der unsichtbaren Würgeschlinge abglitten, die ihm den Atem abschnürte. Sie rümpfte die Nase. Noch immer glaubte sie den schwachen Eisengeruch von Marks austretendem Blut wahrzunehmen. Es war, als könnte sie ihn hinten im Gaumen schmecken. Weder hatte sie sich bemüht, seine Todesqualen zu lindern, noch irgendein Wort des Trostes gesprochen. Tatsächlich hatte sie gelächelt, als könnte er davonkommen, als wäre er noch immer der starke, tüchtige Mann, der Holz sägen, Wände streichen und seine Hand gegen sie erheben konnte.
Vielleicht hatte sie sogar vor sich hin gesummt. So, als schwanke sie nicht. Zu sehr wünschte sie sich, Zeugin dieses Ablebens zu werden, das das Ende des ganzen elenden Kapitels bedeuten würde. Als sie zu ihm gesprochen hatte, war ihr Tonfall beiläufig gewesen.
»Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich habe stundenlang Zeit, ich muss nirgendwohin und habe das ganze Leben vor mir. Versprochen ist versprochen.«
Ihr frivoler Pragmatismus kaschierte, dass ihr Herz vor Erleichterung ächzte.
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Seine Stimme wurde leiser, war kaum noch ein Flüstern. Er stieß seine letzten Worte zwischen stockenden letzten Atemzügen aus.
»Zu langsam, zu qualvoll. Dafür wirst du bezahlen.«
In Gedanken löschte sie diese Worte, bevor er sie ausgesprochen hatte. Sie würde sie niemals wiederholen, davon berichten oder sich daran erinnern.
»Ach, Mark, ich habe schon bezahlt.«
Sie beugte sich weit vor, bis ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Dabei atmete sie die übel riechende Luft ein, die er ausstieß, und wartete auf seinen allerletzten Atemzug. Kathryn wunderte sich über die Fähigkeit des Menschen, sich an die Gegenwart zu klammern. Das war trotz der offenkundigen Zwecklosigkeit wirklich beeindruckend, ja sogar faszinierend.
»Ja, ja, ich habe es getan, Roland. Ich war es. Ich ganz allein.«
In ihrem Geständnis schwang ein Hauch von Stolz mit, als berichte sie über eine besondere Leistung. Roland fand das sehr verwirrend. Er schüttelte den Kopf. Selbst nachdem er sie beobachtet und ihr Geständnis gehört hatte, konnte er das Ganze nicht recht glauben. Er blickte die gepflegte Frau mittleren Alters mit dem hübschen Gesicht an, die ihm gegenübersaß. Die gleiche Frau, die ihm Appetithäppchen auf mit Tortenspitzen verzierten Tabletts gereicht, ihm Filterkaffee serviert und selbst gebackenen Kuchen angeboten hatte. Die Fakten wollten einfach nicht zusammenpassen. Sie war mit Mark Brooker verheiratet gewesen, einem Mann, den er mochte und bewunderte. Ein Mann, den er mit der Erziehung seiner einzigen Tochter betraut hatte.
Roland atmete langsam aus und kratzte sich an der Stelle am Kinn, an der die Haut vom Bartwuchs am meisten gereizt war. Die stickige, angespannte Atmosphäre im Befragungsraum schien seiner empfindlichen Haut nicht gerade zuträglich zu sein. Er wollte nach Hause und unter die Dusche gehen. Besser noch, er wollte den Tag zurückspulen, nicht um 3 Uhr in der Früh einen Anruf entgegennehmen, der seine Familie aus dem Schlaf reißen und sein gewohntes Umfeld stören sollte.
Kathryn spürte seine Verwirrung, da sie wusste, dass er zu jenen Menschen zählte, die großen Wert auf ihren Schlaf legten. Sie stellte ihn sich zu Hause vor, wie er am frühen Abend eine Seebrasse mit gedünstetem Gemüse und dazu einen gekühlten Weißwein zu sich genommen hatte. Zuvor war er eine Stunde im Fitnessstudio gewesen, um sich seinen flachen Bauch zu bewahren. Keiner konnte ahnen, dass sein Sonntag so enden würde, dass er ihr zu dieser unchristlichen Stunde in der Polizeistation Finchbury am Tisch gegenübersitzen und herauszufinden versuchen würde, was zum Teufel wirklich passiert war.
»Bist du sicher, dass du mit mir sprechen willst?«, fragte er.
Sein Jackett sprang auf und ließ das rosa Futter seines maßgeschneiderten Anzugs aufblitzen. Sie malte sich aus, dass seine Kollegen ihn damit aufzogen. Aber sie kannte Roland gut und wusste, welch großen Wert er auf sein Erscheinungsbild legte. Er würde ihrer Neckerei keinerlei Beachtung schenken. Ihn sah man nie in den zerknitterten billigen Klamotten, die einige seiner Zeitgenossen trugen.
Kathryn erinnerte sich, ein Gespräch zwischen ihm und Mark aufgeschnappt zu haben, bei dem er sich über den Verlust seiner Uniform beklagt hatte - eine unvermeidliche Begleiterscheinung seiner Beförderung zum Chief Inspector. Es hatte ihm Freude gemacht, Knöpfe zu polieren, Stiefel zu putzen und Fussel von der wollenen Uniformjacke zu bürsten.
Sie beobachtete, wie er mit der Handfläche über seine Bauchmuskeln strich und eindeutig genoss, wie diese sich unter dem frischen weißen Hemd anfühlten.
»Ja.«
»Bist du dir sicher, dass das mit einem Fremden nicht leichter wäre?«
Sie bemerkte das hoffnungsvolle Flackern in seinen weit aufgerissenen Augen.
»Ich bin mir absolut sicher, Roland. Danke, dass du mich fragst, aber es gibt niemanden, mit dem ich lieber sprechen würde. Ich weiß es zu schätzen, dass du eigens aufgestanden und hierhergekommen bist, ehrlich.«
Es war, als begreife sie nicht, was gerade vor sich ging. Sie verhielt sich, als habe sie ihn auf einen kurzen Besuch eingeladen, und nicht, als sei sie sich im Klaren darüber, dass er in aller Frühe aus seinem Bett gerissen worden war - wegen des ersten mutmaßlichen Mordfalls in seinem Revier seit achtzehn Jahren. Da war kein Zittern in ihrer Stimme, kein Zögern oder erkennbare Nervosität. Ihre Hände lagen ordentlich gefaltet in ihrem Schoß. Sie sah so gelassen aus wie jemand, der auf seinen Termin beim Arzt wartet.
Roland war seit zwanzig Jahren bei der Polizei. Er hatte viel gesehen - grausige, ungerechte und amüsante Dinge. Aber so et-was? Ihr Verhalten ergab keinen Sinn und schockierte ihn. Er war bestürzt, ja erschüttert.
»Du machst angesichts deiner aktuellen Situation einen sehr ruhigen Eindruck.«
Er fragte sich, ob sie womöglich unter Schock stand.
»Weißt du, es ist lustig, dass du das sagst, weil ich wirklich ruhig bin. Sehr ruhig.«
»Das beunruhigt mich ja so.«
»Ach, Roland, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, überhaupt keinen. Für mich ist dieses Gefühl der Gelassenheit eine erfreuliche Abwechslung. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt! Genau genommen glaube ich nicht, dass ich mich so gefühlt habe, seit ich ein Kind war. Das war eine schöne Zeit in meinem Leben. Ich brauchte mir um absolut nichts Sorgen zu machen und wurde sehr geliebt. Das war eine wunderbare Kindheit, ein wunderbares Leben. Ich bin nicht immer so gewesen, weißt du.«
»Wie?«
»Ach, du weißt schon - verängstigt, gereizt, verschlossen. Ich war sehr zielstrebig. Nie feurig oder wild, aber ich habe fest daran geglaubt, dass ich die Welt zum Leuchten bringen, neue Wege einschlagen kann. Ich dachte, ich würde viel erreichen. Meine Eltern sagten mir immer, die einzige Begrenzung meiner Leistungsfähigkeit bestehe in meiner Fantasie, und ich glaubte ihnen. Sie sind inzwischen beide gestorben. Ich denke nicht mehr häufig an sie.«
»Warum nicht?«
Sie atmete langsam aus.
»Um die Wahrheit zu sagen, Roland, ich habe immer gedacht, die Toten könnten irgendwie über uns wachen, ja sogar in der Lage sein, uns zu beschützen. Falls meine Eltern mich die ganze Zeit beobachtet haben, dann schäme ich mich für alles, was sie haben mit ansehen müssen. Ich schäme mich dafür, was aus mir geworden ist. Andererseits, falls sie in der Lage waren, mich von ihrer Beobachtungsgalerie da oben aus zu beschützen, warum haben sie es dann nicht getan? Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich um Hilfe gefleht, um Hilfe gebetet habe. Vergebens. Deshalb mache ich mir lieber keine Gedanken darum. Es ist viel zu verwirrend, und noch mehr Verwirrung war genau das, was ich nicht gebrauchen konnte.«
»Wenn du es getan hast, Kathryn, dann stellt sich die Frage, warum? Warum hast du das gemacht?«
Mit dem schwachen Lächeln einer Frau, die unsicher ist, wo sie anfangen soll, aber trotzdem weiß, dass sie anfangen muss, formulierte Kathryn ihre Antwort mit Bedacht.
»Das ist im Grunde ganz einfach. Ich habe es getan, damit ich meine Geschichte erzählen kann, ohne Angst zu haben.«
»Deine Geschichte?« Roland war verdutzt.
»Ja, Roland. Ich muss meinen Kindern, der Familie, unseren Freunden, der gesamten Öffentlichkeit meine Geschichte erzählen können, ohne Angst zu haben.«
»Angst wovor?«
Er hatte ihr eine Weile zugehört, trotzdem verstand er noch immer nicht.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Zugleich rollte ihr eine ungebetene Träne über die Wange.
»Ach, Roland, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Angst vor Schmerzen, Todesangst, aber vor allem die Angst, dass ich mich in mich zurückziehen und nie wieder auftauchen würde. Ich weiß nicht, wo mein Ich geblieben ist, verstehst du? Ich weiß nicht, wo die Person geblieben ist, die ich einmal war. Es ist, als wäre aus mir ein Nichts geworden, als würde ich außerhalb der Gesellschaft leben, obwohl ich mich in ihrer Mitte befinde. Mein Leben hat so belanglos gewirkt, als spielte es keine Rolle, was aus mir wird. Ich bin unsichtbar geworden. Ganz oft sage ich etwas, aber niemand hört mir zu. Heute ist etwas passiert, was mich verändert hat, Roland. Ich kann nicht sagen, dass es etwas Großes, Bedeutsames oder Denkwürdiges war, aber etwas ist passiert, und ich wusste, dass ich genug hatte. Es war Zeit. Meine Zeit war gekommen.«
Er sann über ihre Worte nach und beschloss, noch nicht zu fragen, was dieses »Etwas« gewesen war, das sie verändert hatte. »Du musst dir überlegen, was du sagst, Kathryn. Ich möchte, dass du gut darüber nachdenkst, was du sagst und zu wem du es sagst. Ab diesem Augenblick können deine Aussagen und Handlungen dramatischen Einfluss darauf haben, wie die Sache für dich ausgeht. Jede noch so unwichtige Information, die du uns lieferst, wird festgehalten werden und deine Zukunft beeinflussen.«
Wieder dieses schwache Lächeln.
»Du liebe Güte. Meine Zukunft? Ich finde es lustig, dass ich über nichts mehr gründlich nachdenken muss. Ich habe bereits nachgedacht. Jahrelang hatte ich Zeit, darüber nachzudenken.«
Roland schwieg. Er wog die Möglichkeiten ab und versuchte zu entscheiden, wie er am besten vorgehen sollte. Plötzlich weiteten sich seine Pupillen. Es gab eine Möglichkeit, wie die Frau des Schuldirektors davonkommen konnte.
»Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn du einen Arzt konsultieren würdest, Kathryn. In deinem eigenen Interesse.«
»Ach ja! Einen Psychiater, nehme ich an? Das wäre gut. Du wirst feststellen, dass ich es sehr gut beherrsche, auf Suggestionen einzugehen, Feststellungen zuzustimmen und Befehlen zu gehorchen. Genau genommen kenne ich den Unterschied zwischen diesen Begriffen gar nicht mehr! Aber ich sollte dich warnen, dass er oder sie dir nach sorgfältiger Einschätzung und Diagnose einen langatmigen, teuren Bericht schreiben wird, in dem steht, dass ich hundertprozentig zurechnungsfähig, vernünftig und im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten bin. Tatsache ist, dass ich allein und im vollen Wissen um meine Tat und ihre Konsequenzen gehandelt habe. Aber mach nur. Lass dir das alles von jemandem bestätigen, der ein goldgerahmtes Diplom über seinem bequemen Bürosessel hängen hat, wenn dir das die Sache leichter macht.«
»Es geht nicht darum, was es für mich leichter macht! Himmelherrgott, Kathryn, ich kann nur vermuten, dass du eine Art von Zusammenbruch erlitten hast und dass dein Handeln die Folge einer Art von Umnachtung war, ob vorübergehend oder nicht.«
Sie lachte.
»Vorübergehend oder nicht? Das gefällt mir. Tatsache ist, Roland, dass ich die Wahrheit sage und zwar im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Darf ich dir etwas sagen?«
Er hoffte auf eine aufschlussreiche Begründung, eine Tatsache oder ein wissenswertes Detail, irgendetwas.
»Ja, selbstverständlich.«
»Es hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Zeiten gegeben, in denen ich meinen Verstand ganz leicht hätte verlieren können. Zeiten, in denen die Lage so trostlos und traurig wirkte, dass ich mich gefragt habe, ob es nicht einfacher wäre, mich in eine Depression fallen zu lassen und mich auszuklinken. Zwei Menschen haben mich davon abgehalten, egal, wie verlockend die Vorstellung auch war. Dominic und Lydia. Sie waren für mich der Grund, bei Verstand zu bleiben und weiterzumachen. Ich hätte mich nicht um sie kümmern können, wenn ich durchgedreht wäre. Das war allerdings ein harter Kampf, so sehe ich das wenigstens. Tag für Tag habe ich mein verzerrtes Gesicht im Spiegel angestarrt und mich gefragt, wie lange ich den Schein wohl noch würde wahren können. Eine ganze Weile, wie sich herausgestellt hat!«
Sie brach in ein kurzes, unnatürliches Gelächter aus.
Roland starrte sie an und war überzeugt, dass sie trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen tatsächlich den Verstand verloren hatte.
»Kathryn, als Freund, nicht als Chief Inspector, muss ich dir sagen, dass ich mir Sorgen um dich mache, sehr große Sorgen.«
Gelächter unterbrach ihn. Dann seufzte sie und wiegte sich ein wenig hin und her, während sie ein feuchtes Stück Küchenpapier aus dem Ärmel ihrer Strickjacke zog, sich Augen und Nase abtupfte.
»Tut mir leid, Roland. Ich weiß, ich hätte nicht lachen dürfen. Ich bin ein bisschen aufgewühlt. Die letzten zwei Tage waren anstrengend.«
Keiner von beiden ging auf die krasse Untertreibung ein.
»Ich lache, weil ich mir in den vergangenen achtzehn Jahren immer gewünscht habe, dass sich jemand Sorgen um mich macht und mir hilft. Im Augenblick brauche ich jedoch zum ersten Mal seit dem Tag meiner Hochzeit niemanden, der sich um mich sorgt, weil ich endlich in Sicherheit bin.«
Sie legte ihre Handflächen auf den Tisch, als könne er durch seine Stabilität bekräftigen, dass sie auf eigenen Beinen stehen konnte.
Roland erhob sich und ging in dem kleinen Befragungsraum der Polizeistation auf und ab, seine Hände in die Hüften gestemmt, seine Arme weit abgespreizt. Allmählich verlor er die Geduld. Sein Frustrationspegel stieg proportional zum Mangel an Fortschritten. Er hatte den Eindruck, dass dieses Gespräch Stunden so weitergehen könnte, und das waren Stunden, die er nicht zu verschwenden hatte.
»Okay, Kathryn, ich will offen sein. Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Lage. Nicht beruflich, sondern psychologisch. Ich habe große Schwierigkeiten zu verstehen, was mit dir los ist. Ich kenne dich und Mark seit ... wie lange? Fast zehn Jahre?«
Kathryn hatte die Ankunft seiner Tochter Sophie im Alter von acht Jahren in der Mountbriers Academy mit dem kleinen Lederranzen, dem angsterfüllten Blick, den Sommersprossen und dem schwingenden Faltenrock noch vor Augen. Inzwischen war Sophie eine selbstbewusste Sechzehnjährige, die nicht nur die Aufmerksamkeit ihres eigenen Sohnes erregt hatte, sondern auch die jedes anderen Jungen in ihrer Klasse. Kathryn nickte. Fast zehn Jahre.
»Und in der ganzen Zeit habt ihr beide, du und Mark, als ein sich sehr nahe stehendes, liebevolles Ehepaar gegolten. Er spricht - sprach - von dir in den höchsten Tönen, Kathryn, immer. Verstehst du also, wieso das ...?«
Roland blickte kurz zur Decke hinauf, fasste sich und änderte den Kurs.
»Himmelherrgott, Kathryn, ich kämpfe darum, das höflich auszudrücken, deshalb gebe ich diesen Versuch auf und komme direkt auf den Punkt. Mark ist ... war ... ein hoch angesehenes und geliebtes Mitglied der Gesellschaft. Er war der Schulleiter, Herrgott noch mal! Erst kürzlich hat er eine nationale Auszeichnung erhalten, er wurde von allen sehr geschätzt. Und du erwartest von mir - und von allen anderen -, dir zu glauben, dass du hinter diesen hohen Backsteinmauern und Schiebefenstern in den vergangenen achtzehn Jahren ein elendes Leben geführt hast? Wohingegen wir immer ein starkes, glückliches Paar gesehen haben, das einander allem Anschein nach innig zugetan war? Verstehst du, dass die Leute damit vielleicht Schwierigkeiten haben könnten?«
Sie zeigte ihr zögerliches Lächeln und wählte die Worte sorgfältig.
»Roland, ich kann verstehen, dass manche Leute immer nur das sehen, was sie sehen wollen. Das weiß ich. Aber es ist genauso wichtig zu erkennen, dass manche Leute großartige Blender sind. Mark war ein großartiger Blender, und bis zu einem gewissen Grad war ich das auch. Er war ein Monster, das sich als guter Mensch ausgab, und ich war ein Opfer, das so tat, als wäre es keines. Schuldig im Sinne der Anklage.«
»Kathryn, bitte bemühe dich, diesen Ausdruck nicht zu verwenden.«
Sie wusste nicht, ob er Spaß machte.
»Okay, Roland. Ich möchte damit sagen, dass es mir wirklich egal ist, was die Leute denken oder zu wissen meinen. Ich kenne die Wahrheit, und eines Tages werden auch meine Kinder die Wahrheit erfahren. Das ist das Einzige, was für mich eine Rolle spielt. Tatsache ist, ich bin schuldig und erwarte, die Strafe abzusitzen. Du musst wissen, dass es für mich keine Strafe gibt, die schlimmer sein kann als das Leben, das ich als Marks Frau geführt habe. Überhaupt keine. Ich habe keine Angst, jetzt nicht mehr.«
Roland nahm ihr gegenüber an dem rechteckigen Tisch Platz. Er streckte die Beine aus, legte sie an den Knöcheln übereinander, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und seufzte. Seine Gedanken wanderten zu den vielen Gelegenheiten zurück, bei denen er in der gemütlichen Küche der Brookers am Tisch gesessen hatte, während Kathryn ihre geblümte Schürze trug und aus der gepunkteten Kanne Tee einschenkte. Mark hatte nach der Sonntagsmesse seinen großen Auftritt und machte Späße, diskutierte über die neuesten Kricketergebnisse, während zum leichten Klirren von Porzellan im Hintergrund der Klassikradiosender lief.
Das ergab alles keinen Sinn. Roland war voll konzentriert und bereit zuzuhören. Es war entscheidend, dass er zuhörte, weil er zuhören musste. Wichtiger noch, er musste begreifen.
Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, dann kratzte er sich den Schädel und tätschelte seinen Seitenscheitel.
»Ich mache diesen Job schon lange, und ich weiß, dass solche Dinge passieren können. Manchmal ganz spontan. Schlimme Dinge, Unfälle.«
»Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst«, unterbrach ihn Kathryn. »Aber ich muss dich gleich bremsen. Das war kein Unfall. Nicht etwa, dass ich es geplant und ausgeheckt hätte oder so, aber es war kein Unfall. Ich habe Mark bewusst erstochen. Als ich das Messer in der Hand hielt, wollte ich ihn töten. Wenn ich es mir recht überlege, wollte ich das tief in meinem Inneren schon lange tun. Deshalb war es zwar spontan, wie du es nennst, aber kein Unfall.«
Roland schüttelte den Kopf. Sie tat sich damit nicht gerade einen Gefallen.
»Ich sage dir, was mir wirklich weiterhelfen würde. Warum nennst du mir nicht ein paar Beispiele?«
»Beispiele?«
»Ja, irgendetwas, das mir hilft, wirklich zu begreifen, was du durchgemacht hast. Erzähl mir etwas Typisches.«
»Etwas Typisches?«
»Ja. Entwirf eine Momentaufnahme, wenn du willst. Ein konkretes Bild würde mir helfen, es zu begreifen. Erzähl mir, wie es war. Erkläre mir, was er dir Schlimmes angetan hat. Beschreibe mir mit einfachen Worten, was du durchgemacht hast. Du sprichst von Angst und Qualen - das musst du mir verständlich machen. Erzähl mir, was er getan hat, das dir solche Angst eingejagt hat. Erzähl mir, was er getan hat, das dich dazu getrieben hat, ihn umzubringen.«
Roland hatte seinen freundschaftlichen Ton aufgegeben und war durch und durch Polizist.
»Du willst eine Momentaufnahme?«
»Ja, wenn es dir recht ist.«
»Lass mich überlegen. Eine Momentaufnahme, etwas Typisches.«
Sie legte eine Pause ein.
»Es ist schwierig zu wissen, wo ich anfangen muss, wie viel ich dir erzählen soll.«
»Erzähl mir irgendetwas, Kathryn, aber verzichte auf den Satz: Mein Mann war ein Monster. Der ist ein bisschen zu allgemein und dramatisch, um wirklich sachdienlich zu sein. Gib mir irgendetwas Greifbares, etwas, was mir hilft zu verstehen, ein Detail, mit dessen Hilfe ich es anderen erklären kann.«
»Also gut. Aber eines will ich dir sagen, bevor ich anfange: Ich werde mich an die Tatsachen halten und weder über- noch untertreiben. Ich habe dir bisher die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt - so lautet der Ausdruck doch?«
Roland nickte. »Ja, das kommt dem ziemlich nahe. Ich bin bereit, wenn du es bist.«
Kathryn atmete scharf ein und drehte ihren Ehering mit dem linken Daumen um den Finger. Sie war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihn abzulegen. Doch in diesem Augenblick beschloss sie, das zu tun, sobald sie allein war. Sie schob den Goldreifen ein Stück nach oben und dachte kurz darüber nach, was für eine Furche er in ihren Finger gegraben hatte. Wie lange würde es wohl dauern, bis der schmale Abdruck wieder verschwand? Das würde für sie einen großen Schritt hin zur Selbstständigkeit bedeuten.
»Na ja, Mark war sehr etepetete, genau genommen besessen von Details. Ich durfte nie Jeans oder sonst irgendwelche Hosen anziehen, nur Röcke. Ich musste mehr oder weniger über jede Minute meines Tagesablaufs Rechenschaft ablegen. Es gab nur sehr wenig Zeit zur freien Verfügung. Ich durfte entscheiden, welche Route ich zum Supermarkt nehme oder welches Gemüse ich zum Abendessen zubereite, aber das war auch schon alles. Wie und wo ich die Vorräte verstaue, wann ich das Essen serviere, das war alles vorgeschrieben. Ich musste jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Arbeiten erledigen. Häufig sinnlose und monotone Aufgaben, die nur dazu gedacht waren, mich fertigzumachen und meinen Willen zu brechen.«
Roland kniff mit Daumen und Zeigefinger die Haut unter den Augen zusammen. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass diese Worte vor Gericht wiederholt wurden: Ich habe meinen Mann ermordet, weil er ein bisschen pingelig war und mich am liebsten im Rock gesehen hat. Und ich hatte Haushaltspfichten zu erledigen. « Himmelherrgott, wenn sie damit durchkam, dann hatten die meisten Frauen in diesem Land eine Rechtfertigung. Er hoffte, dass noch etwas Besseres nachkommen würde.
»Und am Abend sind wir dann zusammen die Treppe hinaufgegangen. Während mich nur eine Rigipswand von meinen Kindern trennte, kniete ich am Fuß unseres Bettes, und Mark gab mir Punkte, je nachdem, wie schlecht ich meine Arbeiten an diesem Tag seiner Meinung nach erledigt hatte. Weitere Punkte wurden hinzugefügt, falls ich irgendetwas getan hatte, was ihn irritierte oder ärgerte.«
Nun hatte sie seine ganze Aufmerksamkeit.
»Diese Punkte wurden auf einer Skala von eins bis zehn vergeben - zehn war schlecht. Je nachdem, wie schlecht ich abgeschnitten hatte, wurde entschieden, was als Nächstes kam.«
Kathryns Tränen bahnten sich den Weg in das wartende Stück Küchenpapier. Ihr Atem ging stockend, und ihr Kummer war sowohl auf die Scham zurückzuführen, das zu erzählen, wie auf die Erinnerung an die Ereignisse.
»Punkte?«
Roland schüttelte den Kopf. Kathryn konnte nicht sagen, ob das Ausdruck von Mitleid oder Fassungslosigkeit war.
»Ja. Und dann hat er mir wehgetan.«
Das sagte sie im Flüsterton. Roland spitzte die Ohren, damit ihm nichts entging.
»Wie lange ging das so, Kathryn?«
Sie hustete, fasste sich und sprach recht fröhlich weiter, als könnte sie sich selbst vormachen, dass alles in Ordnung sei.
»Na ja, im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich von dem Augenblick, als wir uns kennenlernten, drangsaliert wurde. Zuerst ging es um Kleinigkeiten: Kritik an meiner Kleidung, an meiner Frisur, die Ablehnung aller meiner Freunde. Er setzte meiner Karriere als Englischlehrerin ein Ende, was eine Schande war. Er machte alles, was ich vor unserem Kennenlernen besessen hatte, kaputt oder warf es weg, überwachte meine Anrufe, solche Sachen. Ganz allmählich wurde ich meiner Familie entfremdet. Sein ganzes Handeln war darauf ausgerichtet, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen und von ihm abhängig zu machen. Er trennte mich von allen meinen Verbündeten und zerstörte mein Selbstwertgefühl, sodass ich bereits Opfer und ganz allein war, als er mit den wirklichen Misshandlungen anfing. Ich sah mich nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, so groß war meine Verwirrung. Meine Stimme zählte nicht. Zumindest hatte ich diesen Eindruck.«
»Und wie lange ging das mit dem, was du als wirkliche Misshandlungen bezeichnest?«
»Hm, lass mich nachdenken - seit ich mit Dominic schwanger war.«
»Der jetzt sechzehn ist?«
»Ja, stimmt, auch wenn mir das fast unmöglich erscheint. Sechzehn. Die Zeit vergeht so schnell, nicht wahr? Du musst das doch auch bei Sophie feststellen. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin gerade einem pummeligen Kleinkind durchs Haus nachgerannt, dann habe ich ihm für eine Sekunde den Rücken zugekehrt, und stelle fest, dass er sich mit einem Mal zu dieser zu einem Teenager mit einem nicht zu bändigenden Lebenswillen entwickelt hat. Tut mir leid, Roland. Ich weiche vom Thema ab, oder?«
Sie musterte seinen Gesichtsausdruck und begriff, in welch misslicher Lage er steckte. Kathryn wusste, dass es nicht plausibel klang. Es klang absolut verrückt, dass sie von Mark Brooker, dem Schulleiter, sprach! Sie wusste, dass Roland und alle anderen Eltern sich Mark immer nur als einen Mann vorstellen konnten, der sie mit einem festen Händedruck und einer geistreichen Bemerkung begrüßte. Sie würden alle der Meinung sein, dass die ganze Sache höchst schockierend war. Was würde Judith, Marks Sekretärin, davon halten?
Kathryn schmunzelte in sich hinein, als sie sich die Reaktion der Frau ausmalte, und konnte sich ihre Aussage vorstellen: Mark hat nicht wie ein schlechter Mensch ausgesehen, genau genommen war er sogar ziemlich umwerfend.
Kathryn hoffte, dass die Leute sich die eine wichtige Frage stellen würden, sobald alle Fakten ans Tageslicht gekommen waren: Wenn ihr Leben so perfekt gewesen wäre, wie Roland und alle anderen geglaubt hatten, wieso hätte sie es dann tun sollen? Warum sollte sie den ganzen Albtraum heraufbeschwören und um Bestrafung bitten, wenn es nicht wahr wäre? Dann müsste sie doch völlig verrückt sein. Und Kathryn war entschlossen zu beweisen, dass sie keineswegs verrückt war.
Roland atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, seine Fragen zu wiederholen.
Vor sieben Jahren
Im Gefängnis von Marlham herrschte niemals Ruhe. Wenn der Fernseher mit seinen endlosen Wiederholungen todlangweiliger Serien nicht gerade plärrte, dann hörte man die Schreie durchgedrehter Gefangener, Lachsalven und unflätige Ausdrücke, die offenbar nur aus voller Lunge herausgebrüllt werden konnten. Kate, wie sie hier genannt wurde, wusste inzwischen aus Erfahrung, dass niederträchtige Bemerkungen viel bedrohlicher waren, wenn sie leise ausgesprochen wurden, langsam und in unmittelbarer Nähe. Dadurch war man gezwungen, wirklich zuzuhören und ihre Bedeutung zu verarbeiten. Schreien war nur etwas für Anfänger.
Nicht einmal in der Nacht war es still. Die Zellen hallten vom unweigerlich lauten Schluchzen der jungen Häftlinge und der Neuankömmlinge wieder. Kate fand das herzzerreißend. Sie konnte es sich nicht verkneifen, das Bild ihrer Tochter Lydia auf die weinenden Gesichter zu projizieren, und sehnte sich danach, sie mit einer Umarmung und einem freundlichen Wort zu trösten. Ihr Heulen wurde von dem Getrommel verzweifelter, wütender Hände unterbrochen, die mit Schuhen und Haarbürsten gegen Metallgitter und Bettgestelle schlugen und einen Rhythmus klopften, einen Morsecode: Lasst mich raus hier, ich will nach Hause. Bitte lasst mich nach Hause gehen.
In den frühen Morgenstunden bellten mitleidlose Wärterinnen und übermüdete Insassen Befehle: »Seid endlich ruhig, haltet den Mund und schaltet das verdammte Licht aus!« Sobald die Gefangenen schließlich verstummten und die Wärterinnen sich in ihr Büro zurückgezogen hatten, erwachte das Gebäude selbst zum Leben. Die Rohrleitungen aus viktorianischer Zeit knarrten und ächzten, Heizkörper knackten und knarzten, Glühbirnen surrten in ihren Fassungen, und der Wind pfiff durch die Ritzen zwischen Fensterscheibe und Rahmen.
Für Kate stellte der unablässige Lärm eine der größten Herausforderungen des Gefängnislebens dar, etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie hatte sich gegen den Verlust der Freiheit und die Langeweile gewappnet, doch es waren die kleinen Dinge, die die stärksten und gänzlich unerwarteten Auswirkungen hatten. Am meisten litt Kate unter völlig unbedeutenden Entbehrungen, die sie frustrierten. Ihre Füße in zu heiß getrocknete, steife Socken zwängen zu müssen war täglich eine Qual. Nicht in der Lage zu sein, sich selbst eine Tasse Tee zu kochen, entmutigte sie so sehr, dass sie fast in eine Depression versank. Die kühle, milchige Brühe, die ihr drei Mal am Tag serviert wurde, war das genaue Gegenteil dessen, was sie unter einem guten Tee verstand. Selbst nach drei Jahren hatte sie sich nicht daran gewöhnt.
Aber sie hatte sich nie danach gesehnt, wieder in Mountbriers, in der Küche des Schuldirektors, zu stehen - nicht ein einziges Mal, niemals.
Bei ihrer Ankunft war es ziemlich anstrengend gewesen, sich an den Tagesablauf, die Regeln und den Fachjargon der seltsamen Umgebung zu gewöhnen. Das meiste lernte sie, indem sie die anderen Gefangenen beobachtete und ihre Reaktionen auf den Klang einer Glocke und unverständliche Rufe nachahmte.
Sie stellte fest, dass Neuankömmlinge in zwei Kategorien zu unterteilen waren: Jene, die gegen das System aufbegehrten, das sie ungerechterweise aus einem Leben gerissen hatte, das ihnen gefiel. Sie nutzten jede Gelegenheit zu toben, zu protestieren oder um sich zu schlagen. Daneben gab es jene, die, wie sie, eine gewisse Fröhlichkeit an den Tag legten. Das ließ darauf schließen, dass das Gefängnis in Wahrheit eine Zuflucht vor dem darstellte, was ihnen draußen Schaden zugefügt hatte.
In den ersten Wochen ihrer Haft musste Kate sich immer wieder daran erinnern, wo sie war und warum. Es war genau so, wie irgendjemand einmal behauptet hatte: eine Art von Wahnsinn, ob vorübergehend oder nicht. Innerhalb von wenigen Stunden war sie Single, Witwe und Mörderin geworden. Sie war von ihren Kindern getrennt worden, und Mark war tot.
Die Kinder waren bei ihrer Schwester in Hallton, North Yorkshire. Zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten geriet Kate plötzlich in Panik, ob es ihnen auch wirklich gut ging. Hatte sie Francesca je gesagt, dass Dominic auf Cashewkerne allergisch reagierte? Was war, wenn sie ihm nichtsahnend welche gab, und er sein Gegenmittel nicht bei sich hatte? Die Angst vor den möglicherweise fatalen Folgen quälte sie tagelang, sie konnte an nichts anderes mehr denken.
Hätte Kate logisch gedacht, dann hätte sie sich beruhigt. Ihr Sohn war im Teenageralter und durchaus in der Lage, seine Tante auf seine Allergie aufmerksam zu machen, aber sie war kein logisch denkender Mensch mehr. Sie war ein Mensch, der versuchte, mit der Ungeheuerlichkeit zurechtzukommen, von den eigenen Kindern getrennt zu leben.
Wenn es mit dem Einschlafen nicht klappen wollte, stellte Kate sich immer wieder die gleichen entscheidenden Fragen: Bereust du es? Kannst du dir vorstellen, dass es besser gewesen wäre, ruhig zu bleiben, die Hand von der Schürze fernzuhalten, das Messer in der Schürzentasche zu lassen? Wäre es nicht für alle besser gewesen, dein Leben so weiterzuführen wie zuvor? Dann würdest du die Kinder wenigstens jeden Tag sehen.
Bei diesen Gelegenheiten entfaltete sie stets einen der Briefe ihrer Schwester und verschlang, was sie geschrieben hatte.
Francesca begann immer mit Hey, Katie, was die Uhr auf eine Zeit zurückdrehte, in der sie beide noch jung waren und sich nahestanden. Eine Zeit, bevor Mark Brooker das süße junge Mädchen, das keine ernsten Sorgen kannte, in seine Gewalt bekam. Der Ausdruck war jedoch mehr als ein die Zeit zurückdrehender Kosename. Er war auch eine Erinnerung daran, dass dieses Mädchen, als es Mark Brooker heiratete, zum letzten Mal aus ihrem freien Willen heraus gehandelt hatte und nicht als verängstigte Marionette. Hey, Katie war für Francesca inzwischen ein Ausdruck der Vergebung. Nun konnte sie endlich verstehen, was all die Jahre hinter dem kühlen und gekünstelten Verhalten ihrer Schwester gesteckt hatte. Es war ihre Art und Weise zu sagen: »Alles ist vergeben. Schwamm drüber!«
Immer wieder las Kate die Informationsschnipsel über ihre Kinder und war ihrer Schwester unendlich dankbar, dass sie, als Kate in größter Not war, die beiden einfach geschnappt und in Sicherheit gebracht hatte, so wie Kate es vorausgesehen hatte. Ebenso fesselnd waren die beiläufigen Hinweise darauf, dass das normale Leben trotzdem weiterging: »Ich muss schnell die Lammpastete in den Ofen schieben!« Sie versetzten Kate in die Lage, sich die Familie um den Tisch sitzend auszumalen, wie sie sich miteinander unterhält und das Gericht verspeist, für das ihre Schwester bei Freunden und Bekannten berühmt war. Und dann gab es die wichtigeren Details: Dass Lydia an der Kunsthochschule für den Grundkurs angenommen worden ist. Dass Dominic Luke und dessen Vater dabei hilft, die Innenausstattung für ein Hotel zu planen. Für ein Boutiquehotel! Er hat fantastische Ideen, und zum Glück kommt die Firma langsam wieder auf die Beine.
Nachdem Kate Francescas letztes Schreiben noch einmal gelesen hatte, war es für sie klar. Nein, es wäre nicht besser gewesen stillzuhalten und das Messer in der Tasche zu lassen. Mark hätte sie irgendwann umgebracht, da war sie sich sicher.
Es hatte fast drei Jahre der Gefangenschaft gebraucht, bis Kate aufging, dass sie ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl langsam zurückgewann. Während ihrer Ehe hatte sie kaum bemerkt, dass sie ihr abhandengekommen waren. Doch jetzt gewann sie allmählich den Eindruck, dass sie tatsächlich etwas wert war, dass sie etwas Wertvolles zu sagen hatte. Sie konnte zumindest Nein sagen, ohne sich schuldig zu fühlen - sie konnte tatsächlich zu allem Nein sagen, sei es zu einer Einladung zum Tee oder einer aggressiven sexuellen Anmache. Schließlich begriff sie, dass sie das Recht hatte, Nein zu sagen.
Kate wusste jedoch, dass sie ihre Erfahrungen für immer und ewig in jeder Faser ihres Körpers mit sich herumtragen würde. Sie würde den Menschen, der sie einmal gewesen war, wie einen wassergetränkten Schwamm mit sich herumschleppen. Hätte sie die Wahl gehabt, dann hätte sie einen Gefühlsausbruch vorgezogen, lautstarkes Trauern, das sie geläutert zurückgelassen hätte. Aber das war nicht ihre Art. Stattdessen litt sie unter einer unterschwelligen Traurigkeit, die, solange sie unterdrückt wurde, den Rest ihres Lebens bestimmen würde. Das akzeptierte sie mit einer gewissen Resignation. Die Angst vor Mark war verschwunden. An ihrer Stelle lauerte ein Gespenst, das auf ihrer Schulter im Badezimmerspiegel auftauchen oder mitten in der Nacht unter ihre Decke kriechen konnte, um sich an sie zu schmiegen. Diese vorübergehenden Anflüge, diese Erinnerungen, die ihr einen Schauer über den Rücken jagten, waren dem erbärmlichen Terror, unter dem sie gelebt hatte, absolut vorzuziehen.
Der Verlust des Kontakts zu ihren Kindern lag Kate wie ein Mühlstein auf der Brust. Der Schmerz ihrer Abwesenheit war stark und stechend. Er erschwerte ihr das Atmen und machte es ihr nahezu unmöglich, etwas zu essen. In ihren Träumen wurde sie von Erinnerungen verfolgt. Sie wachte regelmäßig tränenüberströmt auf, weil sie sich nicht mehr an das Grübchen in Lydias Kleinkinderfinger erinnern konnte oder an Dominics blauen Wollfäustling, den er auf dem vereisten Gartenweg verloren hatte. Die tiefe, nagende Sehnsucht, die sie nach ihnen verspürte, lenkte sie von allem ab, was sie zu tun versuchte. Sie war lähmend und allgegenwärtig und begleitete sie jeden Tag, in jeder Sekunde bei allen ihren Arbeiten. Doch wie jemand, der in der Wüste nach Wasser dürstet, konnte sie das Problem nicht lösen. Worte der Entschuldigung und Erklärung lagen ihr auf der Zunge, aber da keines der Kinder zuhörte, schienen ihre Bemühungen vergebens. Die Frustration trieb ihr häufig Tränen in die Augen. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Gefängniswärterinnen konnten oder wollten nicht verstehen, dass es nicht das Gefängnis an sich war, das ihr zusetzte, sondern die Zeit, die sie allein mit ihren Kindern brauchte. Nur eine Stunde oder zwei, in denen sie ihnen alles erklären, sie trösten konnte. Konnte denn niemand die beiden zwingen, sie zu besuchen? Bitte.
Das Bild, wie sie sie als Neugeborene gestillt hatte, jedes Baby winzig, perfekt und geliebt, war ihr stets präsent. Sie malte sich ihre winzigen, gespreizten Finger an ihrer gedehnten weißen Haut aus, auf der sich schmale blaue Adern zu ihren suchenden Rosenknospenmündchen schlängelten. Sie beobachtete, wie ihre Lider allmählich mit langsamen, tragen Wimpernschlagen zufielen, das Bauchlein voll, bereit einzuschlafen. Dann zog sich ihr Bauch durch das vertraute Gefühl der Sehnsucht zusammen, ganz ähnlich wie damals beim Stillen. Wenn sie die Uhr doch nur auf diese Zeit zurückdrehen und den Mut finden könnte ...
Das gleichmäßige Klatschen von Flip-Flops auf dem Linoleumboden sagte Kate, dass die Post kam. Die schmuddelige junge Frau, deren Aufgabe es war, die Briefe auszuteilen, verlangsamte ihren Wagen und blätterte einen Stapel brauner Briefumschlage durch. Kate konnte immer spüren, wenn ein Brief zu ihr unterwegs war. Sie lächelte, während sie sich vorstellte, wie ihre Schwester ihn an ihrem kleinen Schreibtisch schrieb, zwischendurch einen Schluck Kaffee trank und die Küchenschranke abwischte. Die wunderbare Francesca.
Das Post-Mädchen warf einen Umschlag durch die offene Tür auf Kates Bett. Da das Mädchen selbst nie einen Brief erhalten hatte, wusste es nichts davon, wie viel Freude und Ablenkung ein solcher bringen konnte.
»Danke.« Kate meinte es ehrlich.
Die junge Frau nickte ganz kurz. Sie legte keinen Wert auf das Dankeschön. Ihr ging es nur um die paar Pence, die sie für ihre Mühen bekam.
Wie ein Feinschmecker, der einen erlesenen Wein oder einen guten Käse kostet, hatte Kate gelernt, die Sache nicht zu überstürzen. Sie schob das Öffnen des Briefes immer hinaus, hielt den Umschlag fest, überprüfte den Verschluss und wog das Kuvert in der Hand, bevor sie die krakelig geschriebene Adresse betrachtete. Diskret legte sie den Daumen über ihre Gefängnisnummer, die mit schwarzer Tinte oben in die linke Ecke geschrieben war. Sie ignorierte, dass der dünne Klebestreifen bereits entfernt worden war, um den Inhalt zu überfliegen, und dass der Stempel Geprüft in roter Farbe auf der Umschlagklappe prangte. Für eine Sekunde oder zwei gelang es ihr, den Gedanken zu verdrängen, dass ein Gefängnisbeamter den Klatsch und Tratsch bereits gelesen hatte, der eigentlich nur für sie gedacht war, und so zu tun, als wäre sie eine andere, die Nachrichten erhielt und die Verbindung mit dem Rest der Welt genoss.
Kate drehte das harmlose braune Rechteck hin und her, bis es flach auf ihrer Hand lag. Ihr Herz machte einen Sprung. Es war nicht die geschwungene Schrift des Füllers ihrer Schwester, die ihr entgegen starrte, sondern die unverwechselbaren winzigen, präzisen Striche der Handschrift ihrer Tochter.
»Ach! Er ist von meiner Tochter!«
Kate wusste nicht, wem sie das zurief, da sie die Worte fast unbeabsichtigt ausstieß. Die Freude sprudelte ihr aus dem Mund.
»Schön für dich«, kam die gleichgültige Antwort aus einer der Nachbarzellen.
Das war erst der zweite Brief, den sie in drei Jahren von Lydia erhielt. Kate hatte das dünne Blatt des Vorgängers so gut wie verschlissen. Dieser kostbare neue Talisman würde ihre Gedanken stundenlang beschäftigen. Sie würde sich sehr schnell jedes Wort einprägen, doch der Text und seine Bedeutung waren nicht alles. Das Stück Papier in den Händen zu halten, auf dem die Finger ihres kleinen Mädchens gelegen hatten, und die Worte nachzufahren, verband sie in einer Weise mit ihr, wie es die Erinnerung allein nicht vermochte. Am Papier zu schnuppern, an dem ein leichter Hauch des Parfums ihrer Tochter hing, übertragen durch die flüchtige Berührung ihres Handgelenks, erfüllte sie mit unbeschreiblicher Freude. Kate las die zwei Seiten an diesem Tag mindestens zwanzigmal. Das Lesen dieses Briefes würde in Zukunft zu einem festen Bestandteil ihres Tagesablaufs werden.
Übersetzung: Theresia Übelhör
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Amanda Prowse
Amanda Prowse lebt mit Ehemann Simeon und ihren zwei Söhnen Ben und Josh im Südwesten Englands. Bevor sie ihrer Berufung zum Schreiben folgte, arbeitete sie zehn Jahre als Unternehmensberaterin. "Was habe ich getan" ist ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amanda Prowse
- 2013, 1, 368 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863657861
- ISBN-13: 9783863657864
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