Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist
Roman. Ausgezeichnet mit dem Thaddäus-Troll-Preis 2012
Ein Kind noch, 16 Jahre alt, wird Janek Bilinski von deutschen Soldaten aufgegriffen und als Zwangsarbeiter verschleppt. Er ist stark, er hat Glück, und nach Kriegsende kann er sein Leben noch einmal neu beginnen. Wie schwer es war, ins Leben...
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Produktinformationen zu „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist “
Ein Kind noch, 16 Jahre alt, wird Janek Bilinski von deutschen Soldaten aufgegriffen und als Zwangsarbeiter verschleppt. Er ist stark, er hat Glück, und nach Kriegsende kann er sein Leben noch einmal neu beginnen. Wie schwer es war, ins Leben zurückzufinden, daran erinnert sich Bilinski jetzt, als alter Mann, da er dem Tod entgegengeht. Um die Angst und den Schmerz zu bannen, beginnt er seine Geschichte zu erzählen. Von seiner Liebe zu Paula, die ihn am Leben hielt und die nicht sein durfte, von Agota und schließlich von Hannah, die seine Augen hat und die nichts von ihm weiß. In einer klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Sandra Hoffmann eine zutiefst berührende Geschichte.
Klappentext zu „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist “
Ein Kind noch, 16 Jahre alt, wird Janek Bilinski von deutschen Soldaten aufgegriffen und als Zwangsarbeiter verschleppt. Er ist stark, er hat Glück, und nach Kriegsende kann er sein Leben noch einmal neu beginnen. Wie schwer es war, ins Leben zurückzufinden, daran erinnert sich Bilinski jetzt, als alter Mann, da er dem Tod entgegengeht. Um die Angst und den Schmerz zu bannen, beginnt er seine Geschichte zu erzählen. Von seiner Liebe zu Paula, die ihn am Leben hielt und die nicht sein durfte, von Agota und schließlich von Hannah, die seine Augen hat und die nichts von ihm weiß. In einer klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Sandra Hoffmann eine zutiefst berührende Geschichte.
Lese-Probe zu „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist “
Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist von Sandra Hoffmann... mehr
Er weiß das nicht, ob das hatte sein müssen mit Paula, oder doch, ja, es hatte sein müssen, damals.
Es war einfach geschehen. Sagt er.
Wie Paula eines Morgens hinterm Haus gestanden hatte, was für ein Bild! Er schlug Holzscheite, klein genug für die Öfen, wie der Alte befohlen hatte, da erkannte er zum ersten Mal die nicht traurige Paula. Sie kam mit Nannis Gänsen vom Bach herauf, von der großen Freiheit hinter den Pflaumenbäumen, wo das Wasser laut über die Steine sprudelte, hinein in den Gumpen. Wenn die Gänse es bis dorthin schafften, erreichten sie mühelos auch die Stelle, an der der Bach den Fluss traf. Sie hätten sich dann mindestens bis in den Bodensee treiben lassen können. Die aufgeregten Gänse schnatterten die Wiese hinauf, der alte Ganter immer voraus und dahinter das Gefolge. Eine Ausreißer-Prozession, aufrechte Hälse, den Blick nach vorne gerichtet. Gsch, gsch, machte Paula, die Gänse vor sich hertreibend, immer zu ihm hin, voraus dieser alte Gänserich, der so aggressiv schien, dass Bilin´ski die Axt gegen ihn schon fast erhoben hatte, als Paula lachte. Ihn nicht auslachte, nur froh lachte, weil sie offenbar ihre Ähnlichkeit entdeckte: Ihr beiden mit euren langen Hälsen!
Es war eine Handbewegung, die alles veränderte. Er unterbricht sich. Eine grazile leichte Bewegung, als zögen Paulas Finger die Linie seines Körpers nach. Erklärt er der kleinen Schwester und spürt, wie sein Körper die ihm noch verbliebene Elastizität beim Erinnern entdeckt, als wollte er sich aufbäumen. Er kann dabei sogar die Augen öffnen, für einen Moment Marita anschauen, er ist froh, dass sie da ist, ihn jetzt nicht unterbricht, bleibt, er will die Augen lieber wieder schließen.
Paula machte kein Geräusch, wenn ich nachts zu ihr kam, und keines, wenn wir uns liebten, und keines danach. Unter der Decke fand ich sie im Nachthemd, auf der Seite liegend, fast an die Wand gedrängt, daran merkte ich, dass sie gewartet hatte. Die rechte Bettseite war kalt. Ich schob mich neben sie auf die restlichen fünfzig Zentimeter, die noch blieben, sie schob ihre Knie in meinen Schoß zuerst, sie war so klein neben mir, rund, und ich spürte ihre Hand, die sich unter meine Wange legte, sah ihre Augen im Dunkeln, ihre Schulter unter der Decke weich hervorschauen, und ich nahm ihre noch freie Hand, die trocken war, aber zitterte.
Du riechst gut, wie ich das sagen musste, wie oft.
Nicht nur weil Paula die erste Frau war, bei der ich lag, sondern weil ich immer Stall, Scheiße und Feld oder Feuer und Kohle roch, nur im besten Fall einmal ein Tier oder Wald oder Wiese oder Wiecheks schweißige Kleider, aber es roch nie gleichzeitig warm und gut. Nicht mehr, seit ich auf dem Hof war, nicht mehr seit Izys Tod. Und als ich ihren Arm hinaufstrich, war der glatter als das Fell von Izy und ihre Haut der meinen näher als bei einer Berührung mit Mili. Das war ja eigentlich doch klar, aber so eine Überraschung geschah vielleicht nicht oft im Leben.
Er hielt inne. - Und Paulas Hand hielt sein Handgelenk fest und wanderte dann vorsichtig über seinen stark gewordenen Unterarm bis zum Ellbogen unter seinem Hemd hinauf, erreichte mit den Fingerspitzen noch den Anfang des Bizeps, dann wurde das Hemd zu eng. Paulas Hand trat den Rückweg an, da lag er still und tat nichts, aber sein Herz rannte, raste, er begann zu schwitzen, und fragte sich, und dann sie, ob er das Hemd ausziehen durfte, sollte. Sie öffnete ihm schweigend einen Hemdknopf über der Brust, als sei ihr die Stimme abhandengekommen. Ob sie Angst hatte, der Alte könnte sie hören, aber der schlief doch bestimmt. Schnarchte der nicht? Der schlief doch nebenan, oder nicht? Erst am Tag später erfuhr er, dass der Alte meist in der Stube auf dem Sofa einschlief und in Kleidern erwachte, morgens, ganz in der stillen Frühe, noch vor den Vögeln. Für einen Moment überkam Janek in der Nacht die Angst, aber Paulas Bewegungen waren ruhig, und sie schien zu wissen, was sie tat.
Die kleine Schwester schweigt. Und wenn auch er schweigt, hört er sie leise und ruhig atmen. Sie ist da. Wie ein kleiner Jubel berührt ihn das für Augenblicke.
Und als er sein Hemd ausgezogen hatte, begann die Wanderung der Hand wieder am Handgelenk, folgte der harten Sehne bis zum Ellbogen, legte sich über den Bizeps und wog ihn, als wäre er eine Birne, ein Apfel, eine Frucht jedenfalls, dann erklomm sie über den Armrücken seine Schulter und lag an ihm, still, aber unruhig. Und er wagte kaum sich zu bewegen beim ersten Mal, und wie sein Schwanz in der Hose angeschwollen war und herauswollte, bereitete ihm Pein, bis Paula sich gegen ihn drückte, stemmte fast. Da hatte sie es bemerkt, und die Hand verließ die Schulter, dabei blieb die andere immerzu unter seiner Wange liegen, als müsste sie ihn trösten, und manchmal rieb sie leicht über die Bartstoppeln, die waren noch weich. Auf der Brust schlingerte sich die Hand durch sein glattliegendes Haar, hinunter zum Bauchnabel, verfolgte die Schnecke, und er schloss die Augen, öffnete sie manchmal, da sah er, wie Paula ihn anschaute. Und immer noch lagen sie eigentlich fast wie Geschwisterkinder nebeneinander, obwohl er am liebsten auf sie wollte, sie von Kopf bis Fuß spüren, ihren fülligen Körper, der ganz sicher weicher war als alles, was er bis dahin kennengelernt hatte. Aber wie sollte er das anstellen?
Und als Paula an ihn gedrängt lag mit dem hochgeschobenen Hemd, das war sie selbst gewesen, als er ihr nasses Haar zwischen den Beinen spürte, weil sie ihm die Hand dorthin legte, und ihn dieses Fell für einen Moment dann doch an Izy erinnerte, begehrte er sie vollkommen, ja vielleicht sogar mehr als alle weiteren Male. Als sie seinen Hosenlatz geöffnet und den harten Stoff über seinen Hintern hinabgeschoben hatte, kam er schon fast. Sie schaffte es noch, ihn zu sich zu holen. So lagen sie still. Nur für eine sehr kurze Zeit und Paula fing wieder an.
So stark und froh habe ich mich gefühlt, sagt er, als ich eine Stunde später leicht durch das Fenster der unteren Kammer stieg, damit ich den Schlüssel nicht drehen musste an der Haustüre, rüberlief zu Wiech und auf meine Pritsche, wie ich schlaflos lag und durch die Ritzen des Dachs das erste Licht fiel. Wie glücklich ich gewesen bin. Und keinen Moment daran dachte, wie gefährlich es war, was wir da taten. Wind war aufgekommen, der pfiff durch den Dachstuhl, kühlte mein Gesicht, und ich schlief, wie ein Kind schlief ich da.
Agota hat immer gesagt, melde dich bei ihr. Das ist wichtig. Sie ist deine Tochter. Je länger du das vor dir herschiebst, desto mühsamer wird es. Er stockt. Er wartet. Wenn er die Bilder vor seinem inneren Auge sieht, kann er es erzählen. Sie sind jetzt ganz nah, als hätten sie gewartet, abgerufen zu werden, als hätten sie Schlange gestanden.
Bierach. Der Tag auf dem Markt. Als er noch einmal hinfahren wollte. Nicht zu nahe an Aichhardt heran, aber in die Nähe. Er hat gar nicht ganz nahe heranfahren müssen.
Paula, setzt er noch einmal an, unterbricht sich. Ich, sagt er. Ich war doch als Zwangsarbeiter in Aichhardt.
Ja. Sagt die kleine Schwester. Ich weiß.
Bierach ist die nächste Stadt.
Ja.
Ich war siebenunddreißig Jahre alt vielleicht, da wollte ich noch einmal dorthin fahren, wollte sehen, was ich noch erkenne in der Umgebung, die Landschaft, die Häuser, ich wollte mir ein Bild machen. Ich empfand nichts mehr, wenn ich an Paula dachte, Dankbarkeit, wenn ich mich an Leo erinnerte und das Dorf, Schuld noch immer bei jedem Gedanken an Wiechek. Ich war Architekt, lebte seit dem Studium, das mir mein Onkel finanziert hat, hier in der Stadt, nicht weit entfernt von Onkel Stani, den nichts wegbrachte vom Land, auch nicht als er alt war. Agota hatte ich gerade kennengelernt, ein wirklich neues Leben begann, sie war meine erste Liebe seit Paula, so lange hat es gedauert, bis ich mehr konnte, als nur mit einer Frau zu schlafen. Das hab ich Ihnen längst alles erzählt, sagt er.
Markttag war in Bierach, sagt er. Die Martinskirche steht direkt am Marktplatz, ich war nie dort gewesen, wir durften das Dorf nicht verlassen, erst später habe ich Bilder gesehen, von der Stadt. Bierach! Ich wollte mich annähern an Aichhardt. Zuerst die Stadt anschauen, dann hinausfahren, die paar Kilometer.
Er spürt, wie seine Hand die wegwerfende Bewegung macht, mit der er auch damals losgefahren war, ein Katzensprung war das von Bierach nach Aichhardt, und doch kam ihm ein Besuch in der Stadt ungefährlich vor. Er sieht sich wieder aus der Kirche herauskommen, hinter dem Marktstand hervortreten, an dem Bratwürste verkauft wurden, sieht sich die Bratwurst von der hohen Theke wegnehmen, sein Frühstück, und seine Bewegung zur vollen Straße hin.
Er sagt: Ich kaufte eine Bratwurst an einem Marktstand. Ich drehte mich aus dem Bratwurstdampf heraus, und noch beim Umwenden sah ich meine Augen, ich schaute in meine Augen! Ich sah hin, ich sah weg. Und sah beim Wegschauen in ein Gesicht, das mir vollkommen vertraut war. Paula. Ich wollte ihren Namen aussprechen, Paula sagen, weil er aufblitzte in mir, wie ein aus dem Wasser springender Fisch, aber ihr Blick wurde augenblicklich so hart, so düster, so dunkel, dass ich schlucken musste, dass ich sie nicht länger anschauen konnte. Und dabei blickte ich wieder in Augen, die meine waren. Wie meine. Meine. Ein Mädchengesicht, sagt er. Ein sehr schönes Mädchengesicht, Lippen, schmal, nicht dünn, Paulas Lippen, nur mit einer Wölbung nach außen, oben und unten, ein Kussmund, ein wenig. Ich konnte keinen Bissen schlucken. Ich konnte nichts sagen, nur auf dieses Mädchen schauen, das ihren Blick auf den Wurstverkäufer gerichtet hatte, und bestellte: Eine nackete Bratwurst, bitte. Auf Schwäbisch.
Ich habe keine Ahnung, was in mir vorging. Ich sah etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Ich war zu langsam. Wörter gab es nicht. Nur die Stimmen des Marktes, der Verkäufer und Besucher, und laut darüber das Gackern der Hühner in den niedrigen Gattern, der Gänse, der kleinen piepsenden Enten, der Stubenküken, des ganzen geschwätzigen Geflügeltiers, und unsere stummen Körper dazwischen, zwei sprachlose erschrockene Zweibeiner. Ich sah, wie das Mädchen die Wurst in der Semmel in die Hand nahm, blies, blies, und hineinbiss, als sei nichts, ich sah Paula, wie sie das Mädchen energisch beim Arm nahm, sich umdrehte, wortlos, und wegging. Das sah ich. Und blieb stumm. Ich tat nichts, rannte nicht, biss nicht in die Wurst, biss dann wahrscheinlich doch hinein, aß, dachte nach, grübelte, als sei die Sache schwer zu verstehen. Er lacht auf. Ich weiß nicht, ob ich Wut spürte, später ja, aber in diesem Augenblick nicht, ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um mich von der Stelle zu bewegen, vielleicht bewegte ich mich auch sofort irgendwohin. Nur dass sich irgendwann ein Spalt auftat in meinem Gehirn, durch den die Wirklichkeit hineinrieselte wie feiner Sand während eines Sturms, der noch anhielt: Das war Paula. Mit einem Mädchen, das solche Augen hat wie ich. Das war Paula mit ihrer Tochter. Das war Paula mit ihrer Tochter, die meine Augen hat. Das war Paula mit meiner Tochter. Mit unserer Tochter. Und dann: Ich habe ein Kind! Ich habe ein Kind mit Paula. Ich rechnete. Siebzehn muss das Mädchen sein. Siebzehn Jahre alt. Wann das Rieseln nachließ? Als ich bei Agota ankam vielleicht, zu Hause?
Was? Sie sind nicht dorthin gefahren, nach Aichhardt?
Er hört die Empörung in der Stimme der kleinen Schwester.
Nein. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich noch durch Bierach spazierte, oder rannte, oder schlich, oder ob ich noch irgendwo saß, aber mit keinem Gedanken dachte ich daran, nach Aichhardt zu fahren. Das kommt mir selbst immer noch merkwürdig vor. Ich brauchte Tage, bis ich glaubte, was ich gesehen hatte. Ich sah sie vor mir: Paula stämmig, drall sogar, und eng verpackt in ein dunkles Kostüm auf dem Markt, die Haare zum Dutt, noch immer wie zwanzig, wie siebzehn Jahre zuvor. Grau geworden, faltiger geworden, aber sonst unverändert Paula. Ihre grüngrauen Augen scharf auf mich gerichtet, als wollte sie mich blenden oder in den Boden stechen, so feindselig, dass sich mein Mund und Verstand verschlossen und ich nichts von dem aussprach, was mich in diesem Augenblick bewegte. Ich stand mit einer dumpfen Stille in den Ohren, die einem Sirren wich, einer schwer zu ertragenden sirrenden Stille, Wörter wanderten durch sie hindurch, die nicht haltmachten, dort, wo es nötig gewesen wäre. Ich erlebte die Unmöglichkeit, zu sprechen. Untrennbar sind Wahrnehmen und Verstehen in der Erinnerung, da wird alles eins. Aber in der Wirklichkeit nicht. Ich sah, ich spürte, aber bevor ich verstand, war alles schon vorbei. Ob das Mädchen nicht gesehen hatte, dass ich Augen hatte wie sie? Warum nicht? Sehr spät waren mir diese Fragen eingefallen. Die Schmalheit des Mädchens, ihre hohen Wangenknochen, dieser schöne Mund. Ihre Stille, so eine melancholische Stille. Ich erzählte es Agota. Ich erzählte es Agota unzählige Male. Bis ich wusste, das Mädchen trug eine Bluse mit Blümchen darauf, einen Rock. Nicht ganz kurze toupierte Haare, eine modische Frisur. Keine Landfrisur. Ich hatte Bilder, ich sah eine Wirklichkeit, die mir geschehen war. Ich konnte sie abspielen wie einen Stummfilm.
© Carl Hanser Verlag, München
Er weiß das nicht, ob das hatte sein müssen mit Paula, oder doch, ja, es hatte sein müssen, damals.
Es war einfach geschehen. Sagt er.
Wie Paula eines Morgens hinterm Haus gestanden hatte, was für ein Bild! Er schlug Holzscheite, klein genug für die Öfen, wie der Alte befohlen hatte, da erkannte er zum ersten Mal die nicht traurige Paula. Sie kam mit Nannis Gänsen vom Bach herauf, von der großen Freiheit hinter den Pflaumenbäumen, wo das Wasser laut über die Steine sprudelte, hinein in den Gumpen. Wenn die Gänse es bis dorthin schafften, erreichten sie mühelos auch die Stelle, an der der Bach den Fluss traf. Sie hätten sich dann mindestens bis in den Bodensee treiben lassen können. Die aufgeregten Gänse schnatterten die Wiese hinauf, der alte Ganter immer voraus und dahinter das Gefolge. Eine Ausreißer-Prozession, aufrechte Hälse, den Blick nach vorne gerichtet. Gsch, gsch, machte Paula, die Gänse vor sich hertreibend, immer zu ihm hin, voraus dieser alte Gänserich, der so aggressiv schien, dass Bilin´ski die Axt gegen ihn schon fast erhoben hatte, als Paula lachte. Ihn nicht auslachte, nur froh lachte, weil sie offenbar ihre Ähnlichkeit entdeckte: Ihr beiden mit euren langen Hälsen!
Es war eine Handbewegung, die alles veränderte. Er unterbricht sich. Eine grazile leichte Bewegung, als zögen Paulas Finger die Linie seines Körpers nach. Erklärt er der kleinen Schwester und spürt, wie sein Körper die ihm noch verbliebene Elastizität beim Erinnern entdeckt, als wollte er sich aufbäumen. Er kann dabei sogar die Augen öffnen, für einen Moment Marita anschauen, er ist froh, dass sie da ist, ihn jetzt nicht unterbricht, bleibt, er will die Augen lieber wieder schließen.
Paula machte kein Geräusch, wenn ich nachts zu ihr kam, und keines, wenn wir uns liebten, und keines danach. Unter der Decke fand ich sie im Nachthemd, auf der Seite liegend, fast an die Wand gedrängt, daran merkte ich, dass sie gewartet hatte. Die rechte Bettseite war kalt. Ich schob mich neben sie auf die restlichen fünfzig Zentimeter, die noch blieben, sie schob ihre Knie in meinen Schoß zuerst, sie war so klein neben mir, rund, und ich spürte ihre Hand, die sich unter meine Wange legte, sah ihre Augen im Dunkeln, ihre Schulter unter der Decke weich hervorschauen, und ich nahm ihre noch freie Hand, die trocken war, aber zitterte.
Du riechst gut, wie ich das sagen musste, wie oft.
Nicht nur weil Paula die erste Frau war, bei der ich lag, sondern weil ich immer Stall, Scheiße und Feld oder Feuer und Kohle roch, nur im besten Fall einmal ein Tier oder Wald oder Wiese oder Wiecheks schweißige Kleider, aber es roch nie gleichzeitig warm und gut. Nicht mehr, seit ich auf dem Hof war, nicht mehr seit Izys Tod. Und als ich ihren Arm hinaufstrich, war der glatter als das Fell von Izy und ihre Haut der meinen näher als bei einer Berührung mit Mili. Das war ja eigentlich doch klar, aber so eine Überraschung geschah vielleicht nicht oft im Leben.
Er hielt inne. - Und Paulas Hand hielt sein Handgelenk fest und wanderte dann vorsichtig über seinen stark gewordenen Unterarm bis zum Ellbogen unter seinem Hemd hinauf, erreichte mit den Fingerspitzen noch den Anfang des Bizeps, dann wurde das Hemd zu eng. Paulas Hand trat den Rückweg an, da lag er still und tat nichts, aber sein Herz rannte, raste, er begann zu schwitzen, und fragte sich, und dann sie, ob er das Hemd ausziehen durfte, sollte. Sie öffnete ihm schweigend einen Hemdknopf über der Brust, als sei ihr die Stimme abhandengekommen. Ob sie Angst hatte, der Alte könnte sie hören, aber der schlief doch bestimmt. Schnarchte der nicht? Der schlief doch nebenan, oder nicht? Erst am Tag später erfuhr er, dass der Alte meist in der Stube auf dem Sofa einschlief und in Kleidern erwachte, morgens, ganz in der stillen Frühe, noch vor den Vögeln. Für einen Moment überkam Janek in der Nacht die Angst, aber Paulas Bewegungen waren ruhig, und sie schien zu wissen, was sie tat.
Die kleine Schwester schweigt. Und wenn auch er schweigt, hört er sie leise und ruhig atmen. Sie ist da. Wie ein kleiner Jubel berührt ihn das für Augenblicke.
Und als er sein Hemd ausgezogen hatte, begann die Wanderung der Hand wieder am Handgelenk, folgte der harten Sehne bis zum Ellbogen, legte sich über den Bizeps und wog ihn, als wäre er eine Birne, ein Apfel, eine Frucht jedenfalls, dann erklomm sie über den Armrücken seine Schulter und lag an ihm, still, aber unruhig. Und er wagte kaum sich zu bewegen beim ersten Mal, und wie sein Schwanz in der Hose angeschwollen war und herauswollte, bereitete ihm Pein, bis Paula sich gegen ihn drückte, stemmte fast. Da hatte sie es bemerkt, und die Hand verließ die Schulter, dabei blieb die andere immerzu unter seiner Wange liegen, als müsste sie ihn trösten, und manchmal rieb sie leicht über die Bartstoppeln, die waren noch weich. Auf der Brust schlingerte sich die Hand durch sein glattliegendes Haar, hinunter zum Bauchnabel, verfolgte die Schnecke, und er schloss die Augen, öffnete sie manchmal, da sah er, wie Paula ihn anschaute. Und immer noch lagen sie eigentlich fast wie Geschwisterkinder nebeneinander, obwohl er am liebsten auf sie wollte, sie von Kopf bis Fuß spüren, ihren fülligen Körper, der ganz sicher weicher war als alles, was er bis dahin kennengelernt hatte. Aber wie sollte er das anstellen?
Und als Paula an ihn gedrängt lag mit dem hochgeschobenen Hemd, das war sie selbst gewesen, als er ihr nasses Haar zwischen den Beinen spürte, weil sie ihm die Hand dorthin legte, und ihn dieses Fell für einen Moment dann doch an Izy erinnerte, begehrte er sie vollkommen, ja vielleicht sogar mehr als alle weiteren Male. Als sie seinen Hosenlatz geöffnet und den harten Stoff über seinen Hintern hinabgeschoben hatte, kam er schon fast. Sie schaffte es noch, ihn zu sich zu holen. So lagen sie still. Nur für eine sehr kurze Zeit und Paula fing wieder an.
So stark und froh habe ich mich gefühlt, sagt er, als ich eine Stunde später leicht durch das Fenster der unteren Kammer stieg, damit ich den Schlüssel nicht drehen musste an der Haustüre, rüberlief zu Wiech und auf meine Pritsche, wie ich schlaflos lag und durch die Ritzen des Dachs das erste Licht fiel. Wie glücklich ich gewesen bin. Und keinen Moment daran dachte, wie gefährlich es war, was wir da taten. Wind war aufgekommen, der pfiff durch den Dachstuhl, kühlte mein Gesicht, und ich schlief, wie ein Kind schlief ich da.
Agota hat immer gesagt, melde dich bei ihr. Das ist wichtig. Sie ist deine Tochter. Je länger du das vor dir herschiebst, desto mühsamer wird es. Er stockt. Er wartet. Wenn er die Bilder vor seinem inneren Auge sieht, kann er es erzählen. Sie sind jetzt ganz nah, als hätten sie gewartet, abgerufen zu werden, als hätten sie Schlange gestanden.
Bierach. Der Tag auf dem Markt. Als er noch einmal hinfahren wollte. Nicht zu nahe an Aichhardt heran, aber in die Nähe. Er hat gar nicht ganz nahe heranfahren müssen.
Paula, setzt er noch einmal an, unterbricht sich. Ich, sagt er. Ich war doch als Zwangsarbeiter in Aichhardt.
Ja. Sagt die kleine Schwester. Ich weiß.
Bierach ist die nächste Stadt.
Ja.
Ich war siebenunddreißig Jahre alt vielleicht, da wollte ich noch einmal dorthin fahren, wollte sehen, was ich noch erkenne in der Umgebung, die Landschaft, die Häuser, ich wollte mir ein Bild machen. Ich empfand nichts mehr, wenn ich an Paula dachte, Dankbarkeit, wenn ich mich an Leo erinnerte und das Dorf, Schuld noch immer bei jedem Gedanken an Wiechek. Ich war Architekt, lebte seit dem Studium, das mir mein Onkel finanziert hat, hier in der Stadt, nicht weit entfernt von Onkel Stani, den nichts wegbrachte vom Land, auch nicht als er alt war. Agota hatte ich gerade kennengelernt, ein wirklich neues Leben begann, sie war meine erste Liebe seit Paula, so lange hat es gedauert, bis ich mehr konnte, als nur mit einer Frau zu schlafen. Das hab ich Ihnen längst alles erzählt, sagt er.
Markttag war in Bierach, sagt er. Die Martinskirche steht direkt am Marktplatz, ich war nie dort gewesen, wir durften das Dorf nicht verlassen, erst später habe ich Bilder gesehen, von der Stadt. Bierach! Ich wollte mich annähern an Aichhardt. Zuerst die Stadt anschauen, dann hinausfahren, die paar Kilometer.
Er spürt, wie seine Hand die wegwerfende Bewegung macht, mit der er auch damals losgefahren war, ein Katzensprung war das von Bierach nach Aichhardt, und doch kam ihm ein Besuch in der Stadt ungefährlich vor. Er sieht sich wieder aus der Kirche herauskommen, hinter dem Marktstand hervortreten, an dem Bratwürste verkauft wurden, sieht sich die Bratwurst von der hohen Theke wegnehmen, sein Frühstück, und seine Bewegung zur vollen Straße hin.
Er sagt: Ich kaufte eine Bratwurst an einem Marktstand. Ich drehte mich aus dem Bratwurstdampf heraus, und noch beim Umwenden sah ich meine Augen, ich schaute in meine Augen! Ich sah hin, ich sah weg. Und sah beim Wegschauen in ein Gesicht, das mir vollkommen vertraut war. Paula. Ich wollte ihren Namen aussprechen, Paula sagen, weil er aufblitzte in mir, wie ein aus dem Wasser springender Fisch, aber ihr Blick wurde augenblicklich so hart, so düster, so dunkel, dass ich schlucken musste, dass ich sie nicht länger anschauen konnte. Und dabei blickte ich wieder in Augen, die meine waren. Wie meine. Meine. Ein Mädchengesicht, sagt er. Ein sehr schönes Mädchengesicht, Lippen, schmal, nicht dünn, Paulas Lippen, nur mit einer Wölbung nach außen, oben und unten, ein Kussmund, ein wenig. Ich konnte keinen Bissen schlucken. Ich konnte nichts sagen, nur auf dieses Mädchen schauen, das ihren Blick auf den Wurstverkäufer gerichtet hatte, und bestellte: Eine nackete Bratwurst, bitte. Auf Schwäbisch.
Ich habe keine Ahnung, was in mir vorging. Ich sah etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Ich war zu langsam. Wörter gab es nicht. Nur die Stimmen des Marktes, der Verkäufer und Besucher, und laut darüber das Gackern der Hühner in den niedrigen Gattern, der Gänse, der kleinen piepsenden Enten, der Stubenküken, des ganzen geschwätzigen Geflügeltiers, und unsere stummen Körper dazwischen, zwei sprachlose erschrockene Zweibeiner. Ich sah, wie das Mädchen die Wurst in der Semmel in die Hand nahm, blies, blies, und hineinbiss, als sei nichts, ich sah Paula, wie sie das Mädchen energisch beim Arm nahm, sich umdrehte, wortlos, und wegging. Das sah ich. Und blieb stumm. Ich tat nichts, rannte nicht, biss nicht in die Wurst, biss dann wahrscheinlich doch hinein, aß, dachte nach, grübelte, als sei die Sache schwer zu verstehen. Er lacht auf. Ich weiß nicht, ob ich Wut spürte, später ja, aber in diesem Augenblick nicht, ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um mich von der Stelle zu bewegen, vielleicht bewegte ich mich auch sofort irgendwohin. Nur dass sich irgendwann ein Spalt auftat in meinem Gehirn, durch den die Wirklichkeit hineinrieselte wie feiner Sand während eines Sturms, der noch anhielt: Das war Paula. Mit einem Mädchen, das solche Augen hat wie ich. Das war Paula mit ihrer Tochter. Das war Paula mit ihrer Tochter, die meine Augen hat. Das war Paula mit meiner Tochter. Mit unserer Tochter. Und dann: Ich habe ein Kind! Ich habe ein Kind mit Paula. Ich rechnete. Siebzehn muss das Mädchen sein. Siebzehn Jahre alt. Wann das Rieseln nachließ? Als ich bei Agota ankam vielleicht, zu Hause?
Was? Sie sind nicht dorthin gefahren, nach Aichhardt?
Er hört die Empörung in der Stimme der kleinen Schwester.
Nein. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich noch durch Bierach spazierte, oder rannte, oder schlich, oder ob ich noch irgendwo saß, aber mit keinem Gedanken dachte ich daran, nach Aichhardt zu fahren. Das kommt mir selbst immer noch merkwürdig vor. Ich brauchte Tage, bis ich glaubte, was ich gesehen hatte. Ich sah sie vor mir: Paula stämmig, drall sogar, und eng verpackt in ein dunkles Kostüm auf dem Markt, die Haare zum Dutt, noch immer wie zwanzig, wie siebzehn Jahre zuvor. Grau geworden, faltiger geworden, aber sonst unverändert Paula. Ihre grüngrauen Augen scharf auf mich gerichtet, als wollte sie mich blenden oder in den Boden stechen, so feindselig, dass sich mein Mund und Verstand verschlossen und ich nichts von dem aussprach, was mich in diesem Augenblick bewegte. Ich stand mit einer dumpfen Stille in den Ohren, die einem Sirren wich, einer schwer zu ertragenden sirrenden Stille, Wörter wanderten durch sie hindurch, die nicht haltmachten, dort, wo es nötig gewesen wäre. Ich erlebte die Unmöglichkeit, zu sprechen. Untrennbar sind Wahrnehmen und Verstehen in der Erinnerung, da wird alles eins. Aber in der Wirklichkeit nicht. Ich sah, ich spürte, aber bevor ich verstand, war alles schon vorbei. Ob das Mädchen nicht gesehen hatte, dass ich Augen hatte wie sie? Warum nicht? Sehr spät waren mir diese Fragen eingefallen. Die Schmalheit des Mädchens, ihre hohen Wangenknochen, dieser schöne Mund. Ihre Stille, so eine melancholische Stille. Ich erzählte es Agota. Ich erzählte es Agota unzählige Male. Bis ich wusste, das Mädchen trug eine Bluse mit Blümchen darauf, einen Rock. Nicht ganz kurze toupierte Haare, eine modische Frisur. Keine Landfrisur. Ich hatte Bilder, ich sah eine Wirklichkeit, die mir geschehen war. Ich konnte sie abspielen wie einen Stummfilm.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Sandra Hoffmann
Sandra Hoffmann, 1967 geboren, lebt als freie Schriftstellerin in München. Sie unterrichtet kreatives & literarisches Schreiben u.a. für das Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Und sie surft. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser Berlin, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser Berlin, 2019) den Hans-Fallada-Preis. Das Leben spielt hier ist ihr erstes Jugendbuch (Hanser, 2019).
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Hoffmann
- 2012, 172 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hanser Berlin
- ISBN-10: 3446240284
- ISBN-13: 9783446240285
- Erscheinungsdatum: 25.07.2012
Rezension zu „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist “
"Diesem Strom der Erinnerung, geschrieben in einer konzentrierten, klaren Sprache, kann sich der Leser nur schwerlich entziehen." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.12
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