Wein und Gold
Roman
Eine türkische Insel in der nördlichen Ägäis. Die einheimischen Griechen und Türken leben von Weinbau, Fremdenverkehr und Fischfang. Leylan, die junge Bibliothekarin, munkeln sie, wolle ihren Vater, einen Trinker, umbringen. »Man hatte mir einen...
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Produktinformationen zu „Wein und Gold “
Klappentext zu „Wein und Gold “
Eine türkische Insel in der nördlichen Ägäis. Die einheimischen Griechen und Türken leben von Weinbau, Fremdenverkehr und Fischfang. Leylan, die junge Bibliothekarin, munkeln sie, wolle ihren Vater, einen Trinker, umbringen. »Man hatte mir einen hinterhältigen Mord zugetraut. Und das Schlimme war, ich hatte mich sofort an meine Hinterhältigkeit gewöhnt.« In Wirklichkeit versucht sie, ihren Vater mit einem speziellen Wein zum Sprechen zu bringen und zu heilen. Denn im Rausch quälen den Vater Alpträume.Und wirklich kommt Leylan hinter ein paar erschreckende Familiengeheimnisse. Doch deren Aufklärung reicht ihr nicht aus. In "Gold", dem zweiten Teil des Romans, setzt sie die Geschichten des ersten Teils ("Wein") neu zusammen. Ihre Erzählungen geben dem Leben des Vaters Sinn und verhelfen ihm zu einem guten Ende. Mit den fiktiven Geschichten ihrer Vorfahren und der Inselbewohner hat Leylan die Gerüchte "umgedreht", sie hat sich ihren eigenen Mythos geschaffen.
Lese-Probe zu „Wein und Gold “
Wein und Gold von Sema KaygusuzLESEPROBE
Das Gerücht
Was wäre aus mir wohl geworden ohne die Gerüchte, die über mich verbreitet wurden? Mein gesamtes Erscheinungsbild ist das Werk der überbordenden Phantasie der Inselbewohner. Ihnen verdanke ich meine äußerst verknappte Rede, meine übertriebene Körpersprache, die das Gesagte Lügen straft, und vor allem meine Düsternis, die aus einer verworrenen Zeit auf die Leinwand der Gegenwart fällt. So haben sie mich hier Wort für Wort, Stück für Stück erschaffen.
Jetzt vor vier Jahren war das Gerücht so weit gereift, dass alle in seinen Bann gerieten. Es war ein stiller, sonniger Septembertag. Die Stille betone ich besonders. Denn hier gibt es insgesamt vielleicht zwanzig Tage im Jahr, an denen kein Wind weht. Normalerweise werden die Stimmen auf die Entfernung zu Salz. Sie kristallisieren aus, ehe man sie hört. Wenn wir uns gegenseitig verstehen wollen, stellen wir uns mit dem Rücken zum Wind. In jenem September mussten wir aber sprechen; es ging nicht an, ausweichende Sätze zu bilden. Andererseits war die Luft von ohrenbetäubendem Krach erfüllt. Die Saison war zu Ende, und die Touristen, die die Insel verließen, hatten die Landungsbrücke in einen Rummelplatz verwandelt, als sie mit all den Weinkrügen im Gepäck, ihren Bambuskörben und Olivenölflaschen die Fähre erstürmten. Wir Inselbewohner blieben dann wie immer allein zurück. Die Weinlese war gerade zu Ende, die Erntehelfer begannen in ihren Baracken das Bettzeug zusammenzupacken, und in den rückwärtigen Gassen hing ein säuerlicher Geruch von Trauben. Trotz all der Geschäftigkeit war es für mich ein Tag wie jeder andere.
Morgens um halb neun hatte ich die Bibliothek geöffnet, hatte mir auf dem kleinen Gaskocher Tee gebraut und bis zur Mittagszeit
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an meinem Arbeitstisch aus Pressspan Rätsel gelöst. Schon lange hatte ich es aufgegeben, die Bücher zu katalogisieren. Meine Bibliothek ist eine Art Bücherfriedhof, ein sterbender Ort ohne Leser. Bloß im Winter kommen manchmal Schülerinnen und Schüler wegen ihrer Hausaufgaben. Das Gebäude war in den Anfangsjahren der Republik als einfacher Viereckbau errichtet worden und gleicht nun, von verholztem Efeu überwuchert, einem jahrhundertealten Mausoleum. In den beiden kleinen Fenstern auf der Vorderseite spiegelt sich das anschmiegsame rohe Grün. Wenn man von außen in das Gebäude hineinschaut, kann man die Niedergeschlagenheit hinter der harten Schale spüren. Jedoch alle Wände auf der Insel sind dünn, geradezu durchlässig. Man kann sich nicht verstecken. Besonders bei Windstille vermischen sich die Stimmen und die Wahrnehmungen.
Ehe das Gerücht sich verbreitete, war einzig mein Pressspantisch, an dessen Frontseite die amtliche Erklärung klebte Ich verpflichte mich, in den Tischschubladen keine geheimen Unterlagen aufzubewahren, Zeuge meiner stummen Trauer und meines achtjährigen Beamtendaseins gewesen. In dieser Zeit hatte ich zwei Entwicklungsprozesse intensiv verfolgen können: zum einen, wie die Gelenke ihre Geschmeidigkeit verlieren, zum anderen, wie ein Einbandpapier von selbst Risse kriegt. Ich war schon drauf und dran, in dieser verlassenen, lichtlosen Volksbibliothek, vergessen zwischen schimmeligem Papier, langsam zu verfaulen.
Als gegen Mittag die Feuchtigkeit zunahm und die mit bloßem Auge kaum erkennbaren durchsichtigen Milben mich von allen Seiten umdrängten, wurde ich vor Juckreiz fast verrückt. Diesem großen Volk, das sich zwischen den Buchseiten vermehrt, genügte es offenbar nicht, die ganze Bibliothek zu erobern. Sie wollten wohl auch mich auffressen und fielen in Scharen über mich her. An jenem Tag konnte ich den Juckreiz einfach nicht mehr aushalten und ging, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, zum Mittagsessen hinaus.
Die Menschen sind nicht gewöhnt, mich tagsüber draußen zu sehen. Als ich den Teegarten am Markt ansteuerte, starrten mich die Händler, die vor ihren Läden dösten, die Alten, die auf den Balkonen die Zeit totschlugen, und die in den Vorgärten versammelten Frauen mit leeren Blicken an und tuschelten miteinander. Warum erkundigte sich kein Mensch nach der Gesundheit meines Vaters? Auf dem Weg kaufte ich mir in der Bäckerei ein Mohnteilchen. Der Bäcker nahm, ohne mich anzugucken, das Kleingeld aus meiner Hand und warf es in die Tasche seiner angegrauten Schürze. Ich ging zum Kaufladen und verlangte zwei Scheiben Schmelzkäse. Muzaffer Karde , der wie eine Spinne hinter dem Tresen lauerte, ließ sich möglichst viel Zeit, ehe er den in Goldpapier eingeschlagenen gelben Schmelzkäse aus dem Kühlschrank holte. Alle diese Details, normal für Menschen, die einander nicht ausstehen können, erschienen mir vollkommen ungewöhnlich, da sie auf ein fast unheimliches Schweigen hinwiesen. Als hätten sich alle verabredet, mich nicht anzusprechen. Kein Mensch wollte von mir hören, ob ich Nachricht von meiner Mutter hätte, ob ich meinen Vater zum Arzt gebracht hätte und an welche Fabrik ich die Traubenernte aus unserem Weinberg verkauft hatte. Das bedeutete also, es ging ein Gerücht über mich um. Eine unerfreuliche Geschichte hatte das Zentrum der Insel erobert, ohne dass ich selbst es mitbekommen hatte.
Die Nachbarn, die mich normalerweise gefragt hätten, was wirklich vorgefallen war, mich dann mit reichlich Vorwürfen und Mahnungen überschüttet und für angemessene Zeit isoliert hätten, verhielten sich mir gegenüber vorsichtig, sie hielten Abstand. Dieses Schweigen kannte ich. Es glich einem stummen Gemetzel. Ohne Feindschaft, Hass oder Schläge zu spüren, wirst du immer tiefer in eine felsige Einsamkeit getrieben. Da das Gerücht mich wohl mehr als andere Menschen verunsicherte, wurde mein jahrelang von niemandem beachteter Körper so unübersehbar wie die großbrüstige Göttinnenstatue auf dem zentralen Platz der Insel. Diese Statue hatte ich von Anfang an grauenhaft gefunden. Die Bronzefrau mit pupillenlos leerem Blick streckte ihre Arme nach mir aus, um mich gänzlich zu verschlingen; sie wartete darauf, dass ich mich in ihren Schoß schmiegte. Ich glaube, so ähnlich empfanden das alle, denn kaum jemand setzte sich auf die Bänke dem Standbild gegenüber. Als sich um mich herum dieses misstrauische Schweigen ausbreitete, wurde auch ich plötzlich zu Bronze wie eine Statue. Mein Bronzezustand ging noch darüber hinaus. Ich konnte spüren, wie die in meiner Haut gelöste Legierung sich ohne mein Zutun verfestigte. Jeder betrachtete mich und formte mich dabei; ich war verurteilt, mich formen zu lassen, und konnte mich nicht rühren.
Nachdem ich ein paar Tage diese urteilenden Blicke geduldig ertragen hatte, ging ich zu Latife Ke al. Auf dem Marsch zu ihrem von allen gemiedenen Haus ahnte ich nicht, dass ich von jetzt an meinen Weg nicht mehr ohne sie finden würde.
© Suhrkamp Verlag
Übersetzung: Barbara Yurtdas
Ehe das Gerücht sich verbreitete, war einzig mein Pressspantisch, an dessen Frontseite die amtliche Erklärung klebte Ich verpflichte mich, in den Tischschubladen keine geheimen Unterlagen aufzubewahren, Zeuge meiner stummen Trauer und meines achtjährigen Beamtendaseins gewesen. In dieser Zeit hatte ich zwei Entwicklungsprozesse intensiv verfolgen können: zum einen, wie die Gelenke ihre Geschmeidigkeit verlieren, zum anderen, wie ein Einbandpapier von selbst Risse kriegt. Ich war schon drauf und dran, in dieser verlassenen, lichtlosen Volksbibliothek, vergessen zwischen schimmeligem Papier, langsam zu verfaulen.
Als gegen Mittag die Feuchtigkeit zunahm und die mit bloßem Auge kaum erkennbaren durchsichtigen Milben mich von allen Seiten umdrängten, wurde ich vor Juckreiz fast verrückt. Diesem großen Volk, das sich zwischen den Buchseiten vermehrt, genügte es offenbar nicht, die ganze Bibliothek zu erobern. Sie wollten wohl auch mich auffressen und fielen in Scharen über mich her. An jenem Tag konnte ich den Juckreiz einfach nicht mehr aushalten und ging, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, zum Mittagsessen hinaus.
Die Menschen sind nicht gewöhnt, mich tagsüber draußen zu sehen. Als ich den Teegarten am Markt ansteuerte, starrten mich die Händler, die vor ihren Läden dösten, die Alten, die auf den Balkonen die Zeit totschlugen, und die in den Vorgärten versammelten Frauen mit leeren Blicken an und tuschelten miteinander. Warum erkundigte sich kein Mensch nach der Gesundheit meines Vaters? Auf dem Weg kaufte ich mir in der Bäckerei ein Mohnteilchen. Der Bäcker nahm, ohne mich anzugucken, das Kleingeld aus meiner Hand und warf es in die Tasche seiner angegrauten Schürze. Ich ging zum Kaufladen und verlangte zwei Scheiben Schmelzkäse. Muzaffer Karde , der wie eine Spinne hinter dem Tresen lauerte, ließ sich möglichst viel Zeit, ehe er den in Goldpapier eingeschlagenen gelben Schmelzkäse aus dem Kühlschrank holte. Alle diese Details, normal für Menschen, die einander nicht ausstehen können, erschienen mir vollkommen ungewöhnlich, da sie auf ein fast unheimliches Schweigen hinwiesen. Als hätten sich alle verabredet, mich nicht anzusprechen. Kein Mensch wollte von mir hören, ob ich Nachricht von meiner Mutter hätte, ob ich meinen Vater zum Arzt gebracht hätte und an welche Fabrik ich die Traubenernte aus unserem Weinberg verkauft hatte. Das bedeutete also, es ging ein Gerücht über mich um. Eine unerfreuliche Geschichte hatte das Zentrum der Insel erobert, ohne dass ich selbst es mitbekommen hatte.
Die Nachbarn, die mich normalerweise gefragt hätten, was wirklich vorgefallen war, mich dann mit reichlich Vorwürfen und Mahnungen überschüttet und für angemessene Zeit isoliert hätten, verhielten sich mir gegenüber vorsichtig, sie hielten Abstand. Dieses Schweigen kannte ich. Es glich einem stummen Gemetzel. Ohne Feindschaft, Hass oder Schläge zu spüren, wirst du immer tiefer in eine felsige Einsamkeit getrieben. Da das Gerücht mich wohl mehr als andere Menschen verunsicherte, wurde mein jahrelang von niemandem beachteter Körper so unübersehbar wie die großbrüstige Göttinnenstatue auf dem zentralen Platz der Insel. Diese Statue hatte ich von Anfang an grauenhaft gefunden. Die Bronzefrau mit pupillenlos leerem Blick streckte ihre Arme nach mir aus, um mich gänzlich zu verschlingen; sie wartete darauf, dass ich mich in ihren Schoß schmiegte. Ich glaube, so ähnlich empfanden das alle, denn kaum jemand setzte sich auf die Bänke dem Standbild gegenüber. Als sich um mich herum dieses misstrauische Schweigen ausbreitete, wurde auch ich plötzlich zu Bronze wie eine Statue. Mein Bronzezustand ging noch darüber hinaus. Ich konnte spüren, wie die in meiner Haut gelöste Legierung sich ohne mein Zutun verfestigte. Jeder betrachtete mich und formte mich dabei; ich war verurteilt, mich formen zu lassen, und konnte mich nicht rühren.
Nachdem ich ein paar Tage diese urteilenden Blicke geduldig ertragen hatte, ging ich zu Latife Ke al. Auf dem Marsch zu ihrem von allen gemiedenen Haus ahnte ich nicht, dass ich von jetzt an meinen Weg nicht mehr ohne sie finden würde.
© Suhrkamp Verlag
Übersetzung: Barbara Yurtdas
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Autoren-Porträt von Sema Kaygusuz
Sema Kaygusuz, geboren 1972 in Samsun, studierte von 1990 bis 1994 in Ankara, wo sie auch Theater spielte und für den Rundfunk arbeitete. Sie veröffentlichte mehrere Bände mit Erzählungen, die mit Preisen bedacht wurden, bevor 2006 ihr erster Roman Wein und Gold erschien und überaus lobend aufgenommen wurde.Barbara Yurtdas wurde 1937 in Leipzig geboren. Sie studierte in Göttingen und München Germanistik, Slawistik und Geschichte. Mit ihrem türkischen Ehemann und den beiden Söhnen lebte sie zwölf Jahre lang in der Türkei, vorwiegend in Izmir. Seit 1993 wohnt sie wieder in München, wo sie bis Juli 2001 an einem Gymnasium als Studiendirektorin arbeitete. Barbara Yurtdas ist vor allem als Sachbuchautorin für Türkei-Themen bekannt. Sie hat auch mehrere Romane über deutsch-türkische Beziehungen geschrieben und zwei Lyrikbände herausgebracht. Mitgliedschaft im Verband Deutscher Schriftsteller (VS), in der Künstlerinnenvereinigung GEDOK und im Therese-Literaturverein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sema Kaygusuz
- 2008, 387 Seiten, Maße: 13,1 x 20,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Yurtdas, Barbara; Yurtdas, Hüseyin
- Übersetzer: Barbara Yurtdas, Hüseyin Yurtdas
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 351841996X
- ISBN-13: 9783518419960
- Erscheinungsdatum: 13.10.2008
Rezension zu „Wein und Gold “
»Nichts ist absolut und vieles hat mit unserer individuellen Wahrnehmung zu tun, sagt Sema Kaygusuz. Um dies zu verdeutlichen, entführt sie ihre Leser in eine phantastische Welt...auf die Insel in der Ägäis und weit darüber hinaus.«
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