Wenn nicht jetzt, wann dann?
Roman | Wenn das Glück vor der Tür steht, muss man nur den Schlüssel finden: Ein bewegender Roman über späte Liebe
Annemie ist fast sechzig und hat sich viel besser gehalten, als sie selbst glaubt. Wenn sie die Handtücher nach Farben geordnet hat und die Teppichfransen parallel liegen, dann zaubert sie in ihrer kleinen Küche ausgefallene Hochzeitstorten. Sie arbeitet...
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Produktinformationen zu „Wenn nicht jetzt, wann dann? “
Klappentext zu „Wenn nicht jetzt, wann dann? “
Annemie ist fast sechzig und hat sich viel besser gehalten, als sie selbst glaubt. Wenn sie die Handtücher nach Farben geordnet hat und die Teppichfransen parallel liegen, dann zaubert sie in ihrer kleinen Küche ausgefallene Hochzeitstorten. Sie arbeitet für Liz, die mit ihrer Agentur Hochzeiten im großen Stil ausrichtet. Ein geordnetes Leben, bis eine folgenreiche Verwechslung Annemie und den Vater einer Braut einander näherbringt. Das Chaos beginnt, und plötzlich ist alles ganz anders!Lese-Probe zu „Wenn nicht jetzt, wann dann? “
„Wenn nicht jetzt, wann dann?" von Astrid RuppertSie trug schon ihr Nachthemd, als das Telefon klingelte. Da musste sich jemand verwählt haben. Annemie kannte niemanden, der nach 22 Uhr abends noch bei ihr anrufen würde. Kurz überlegte sie, ob sie überhaupt abnehmen sollte. Doch das Klingeln war hartnäckig. Wesentlich hartnäckiger als ihre Zweifel. Als sie den Hörer in die Hand nahm, wurde ihr zaghaftes »Hallo?« von dem aufgebrachten Wortschwall einer vage vertraut klingenden Stimme schier weggespült.
»Frau Hummel! Wie gut, dass ich Sie erreiche ...«
Wörter wie: »Unfall«, »Krankenhaus«, »Termin«, »Hilfe«, und »dringend« drängten an Annemies Ohr. Das Wort »dringend« fiel sogar mehrfach. Und der Satz, den Annemie in der ganzen Flut von Sätzen, die binnen weniger Sekunden über sie hereinbrach, als den wichtigsten von allen ausmachte, war: »Sie müssen mich morgen vertreten! «
Dieser Satz hallte nach, da hatte Annemie den Hörer schon längst wieder aufgelegt. »Sie müssen mich vertreten! « Das Wort »bitte« war auch noch irgendwo dazwischen gefallen. Aber es war klar, dass es hier nicht um Bitten ging. Dies war offensichtlich ein Notfall. Und Annemie Hummel, die ihr ganzes vierundsechzigjähriges Leben lang gelernt hatte, zu allem ja zu sagen, bekam das kleine, entscheidende Wörtchen »nein« einfach nicht über die Lippen.
Und genau deshalb begann sich von diesem Moment an, ihr gesamtes Leben zu verändern.
Kapitel 1
... mehr
Liz hatte so gut wie gar nicht verschlafen, nur zehn Minuten. Oder vielleicht auch zwanzig. Höchstens zwanzig. Der Tag begann richtig gut, dachte sie, als sie sich nach einem Blick auf ihren Wecker aus dem Bett rollte und mit noch tapsigen Schritten ans Fenster trat, um hinauszuschauen, wie der heutige Morgen aussah. Sie streckte sich, um ihrem Körper klarzumachen, dass die Nacht nun endgültig vorbei war, und als sie den hellblauen Himmel über den Dächern entdeckte, stahl sich so etwas wie ein Lächeln in ihr verschlafenes Gesicht. Die Linden, die ihre Straße zu beiden Seiten säumten, zeigten in der blassen Morgensonne schon zarte Knospen. Bis zum Abend würden sie sich zu kleinen, grünen Blattpuscheln ausgewachsen haben.
Endlich, dachte Liz. Endlich wurde es Frühling. Der Winter war in diesem Jahr sehr ausdauernd gewesen. Viel zu ausdauernd für Liz, die eigentlich schon im Januar darauf wartete, dass es wärmer und bunter wurde in der Welt. Dieser erste, gerade aufkeimende Frühling war für Liz die schönste Zeit im Jahr. Man sah noch die dunklen, nackten Äste, die den ganzen Winter über kahl in den Himmel geragt hatten, doch die lindgrünen Knospenbällchen kündigten den Sommer an und Sonne und eine von üppigem Grün bewachsene, lebendige Welt.
Gut gelaunt ging Liz in die Küche, wo sie das Radio anstellte, beim Kaffeekochen nur ganz wenig Pulver verschüttete und sich später auch nicht die Zunge verbrannte, als sie den Kaffee viel zu hastig trank, während sie gleichzeitig in ihre Kleider schlüpfte, um sich ausgehfertig zu machen. Morgens musste es schnell gehen, und vor allem musste sie, sobald sie fertig war, möglichst rasch und noch bevor das gerade im Radio laufende Lied endete, die Wohnung verlassen. Das war wichtig. Es war ein sehr wichtiges Zeichen für den Tag. Wenn es Liz gelang, innerhalb der Länge eines Liedes die Schuhe und die Jacke anzuziehen, ihre Tasche zu nehmen, an ihr Handy und an den Fahrradschlüssel zu denken und außerdem die Wohnungstür rechtzeitig hinter sich zuzuschlagen, bevor der Moderator wieder sprach, dann deuteten alle Vorzeichen darauf hin, dass sich der Tag in die richtige Richtung entwickeln könnte. Wenn sie nicht schnell genug war und der Moderator bereits irgendein Gewinnspiel ankündigte, standen die Vorzeichen eher schlecht, und wenn sofort nach dem Lied Werbung ertönte, dann war Liz schon kurz davor, zurück ins Bett zu gehen, noch ehe sie das Haus überhaupt verlassen hatte.
Aber dieser Tag ließ sich gut an. Liz brachte ihr Fahrrad um sieben Minuten nach neun vor der Bäckerei zum Stehen, wo sogar noch ein letztes Schokocroissant für sie in der Auslage wartete. Das Einzige, was gegen diesen Tag sprach, war die Tatsache, dass sie nicht auf Anhieb den richtigen Schlüssel für den Laden in die Hand bekam, aber sie hoffte, dass dieses eine, winzige, schlechte Omen nicht so sehr ins Gewicht fiel.
Liz hatte Erfahrungen mit Omen. An dem Tag, an dem sie ihre ehemalige beste Freundin mit ihrem ehemaligen zukünftigen Ehemann in ihrem ehemaligen gemeinsamen Bett erwischt hatte, hatten bereits verschiedene Vorzeichen den ganzen Tag über warnend auf etwas hingewiesen. Doch in ihrem glücklichen, verliebten Vorhochzeitstaumel hatte sie die Warnungen nicht ernst genommen, hatte keiner auf Rot schaltenden Ampel Glauben geschenkt, hatte gelacht, als ihr Lieblingscroissant ausverkauft war.
Und dann hatte sie plötzlich alle Zeichen verstanden. Als sie viel früher als geplant nach Hause gekommen war, wo sie und Jo schon seit einem Jahr zusammenlebten, und Claires Tasche gleich im Flur erkannt hatte, da hatte sie sich noch einen kurzen Moment lang darüber gefreut, dass Claire spontan zu Besuch gekommen war, aber nur einen sehr, sehr kurzen Moment lang.
Seit diesem Tag war ihr bewährtes Werteschema, nach dem sie immer gelebt hatte, verrutscht. Roten Ampeln maß sie nun eine wesentlich höhere und wegweisendere Bedeutung bei als Werten wie Freundschaft und Liebe.
Nachdem Liz beim dritten Anlauf den passenden Schlüssel für den Laden gefunden hatte, schloss sie die feuerwehrrote Tür auf, hinter der sich ihr kleines Reich befand. Liz hatte niemals im Leben daran gedacht, Hochzeitsplanerin zu werden. Hätte man sie weit vor dem Tag, an dem Claires Tasche im Flur ihr Leben verändert hatte, gefragt, ob sie eine kleine Agentur für Hochzeiten führen wolle, sie hätte dankend abgelehnt und die Idee als irgendwie ganz süß, aber insgesamt viel zu kitschig abgetan. Doch als sie in der unromantischsten Zeit ihres Lebens wie aus Versehen in dieses Geschäft hineingerutscht war, hatte sie zu allem Überfluss festgestellt, dass sie verdammt gut war im Planen von Hochzeiten. Nachdem ihre eigene Hochzeit auf so peinliche Art geplatzt war, hätte sie vor Wut darüber in die Luft gehen können, dass ausgerechnet sie Opfer eines solch plumpen Klischees hatte werden müssen. So etwas kam in Seifenopern vor, dass der Mann, den man liebte, einen kurz vor der Hochzeit mit der besten Freundin betrog, aber doch nicht im wirklichen Leben!
Und vor allem nicht in ihrem.
Der Schmerz über Jos Betrug und Claires Verrat kam erst später und war viel nagender und ausdauernder als die Wut. Liz wusste nicht, welcher Betrug sie mehr enttäuschte. Dass ihre beste Freundin sie hinterging oder dass der Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen, so geschmacklos war, sie ausgerechnet mit ihrer Freundin zu betrügen. Bevor dieser Schmerz sie vollends lähmte, bot sie in der Tageszeitung ihre bis ins Detail liebevoll geplante eigene Hochzeitsfeier samt Brautkleid und Blumenschmuck, Pfarrer und Trauspruch an, und schon am Morgen des Erscheinungstages meldete sich ein entsetzlich verliebtes Pärchen und kaufte sie ihr ab. Sogar das Menü und den Lieblingsnachtisch ihrer Kindheit übernahmen die beiden, ohne ihn auch nur probiert zu haben. Den hatte ihre Mutter immer gemacht, wenn sie ihren Mädels - und sich - einmal etwas Gutes tun wollte: Grießflammeri mit Himbeersauce und gerösteten Mandelsplittern. Das verliebte Pärchen fand, das sei eine überaus reizende Idee. Und Liz wunderte sich, dass es ihr weniger ausmachte, ihr Brautkleid an eine fremde Frau zu verkaufen, als sich vorzustellen, dass diese ihren Lieblingsnachtisch aß. Sie wäre sich albern vorgekommen, das Menü zu ändern. Und doch war es ausgerechnet der Gedanke an die duftende Himbeersüße, die sich am Gaumen mit dem cremigen Flammeri vermischte, den sie nun am Tag ihrer geplanten Hochzeit nicht schmecken würde, der sie nachts ins Kissen schluchzen ließ.
Als Freunde dieses Paares kurz darauf ebenfalls heiraten wollten und in Erinnerung an deren gelungene Feier um Hilfe baten, verwiesen die glücklich Getrauten sie an Liz, und so setzte sich die Reihe der Empfehlungen fort. Es gab anscheinend eine ganze Menge glücklicher, heiratswütiger Paare. Und nicht alle Bräutigame schienen ihre Auserwählte so schamlos zu betrügen. Oder aber die Bräute kamen vor der Hochzeit einfach nie früher als erwartet nach Hause.
Zunächst war es nur ein Hobby, mit dem Liz die viele freie Zeit totschlug, die ihr plötzlich zur Verfügung stand, so ganz ohne Freund und ohne beste Freundin. Doch dann begann dieses Hobby immer mehr Raum zu beanspruchen, so dass sie sogar schon Urlaub nehmen musste, um die Organisation mancher Festivitäten zu bewältigen. Als ihre Wohnung von Tortenschmuck, Brautmodenkatalogen und Zetteltürmen irgendwann schier überquoll und wesentlich romantischer aussah als ihr eigentliches Leben, beschloss sie, dass es Zeit war, etwas zu ändern. Sie fasste sich ein Herz, zog in eine neue Wohnung, in der sie nichts mehr an Claire oder Jo erinnerte, kündigte ihren Job als Sekretärin und gründete »Hochzeitsfieber«. Eine Agentur für Hochzeitsplanung von der kleinen, intimen Feier bis zum Riesenevent, je nach Wunsch und Portemonnaie. Schließlich wusste sie genau, wie man sich als Braut fühlte: Sie kannte die heimlichen Wünsche der jungen Frauen, die nach außen ganz cool und selbstbewusst auftraten, aber trotzdem von einer Cinderella- Hochzeit wie aus dem Bilderbuch träumten. Sie kannte all die romantischen, kleinen Sehnsüchte, die vom Zukünftigen erfüllt werden mussten, am besten ohne dass je ein Wort darüber gefallen war. Liz half den Bräuten dabei, ihre Wünsche zu erkennen, und den Bräutigamen, ihren Bräuten jeden Wunsch von den Augen abzulesen, indem sie heimlich für sie simultan übersetzte. Alle waren glücklich, und Liz' Kasse klingelte. Und sie fand, dass es genau darauf ankam. Eine gute Geschäftsidee zu haben und damit erfolgreich zu bestehen. Aus der dunkelsten Stunde ihres Lebens hatte sie etwas gemacht. Andere legten sich ins Bett und weinten sich die Augen aus dem Kopf. Das hatte Liz zwar auch getan, aber sie hatte das Gefühl nicht überhandnehmen lassen. Überhaupt hatte sie Gefühle seitdem nicht mehr überhandnehmen lassen. Darauf war sie stolz. Sie würde nicht mehr an Hochzeitsfieber erkranken. Das wusste sie. Doch sie würde andere, die von diesem Fieberwahn befallen waren, mit dem ihr eigenen Perfektionsanspruch aufs Beste durch diese Krankheit hindurch begleiten.
Als sie den Laden gefunden hatte, war sie begeistert: Genau der hatte es sein müssen. Direkt an der Ecke eines hübschen Jugendstilhauses führten drei Treppenstufen zu einer Tür, die links und rechts von jeweils einem raumhohen Fenster flankiert war. Zunächst wollte Liz den Laden ganz sachlich halten und die gesamte Romantik auf Abruf in Schubladen und ordentlich sortierten Regalen verstauen. Aber Liz war nicht wirklich sachlich, und sie war noch weniger ordentlich. Sie sammelte alles, was sie zu Ideen inspirieren könnte, sie hatte von allem eine Probe und ein Muster und ein Bild, Brautmodenläden liehen ihr Kleider, Menükarten türmten sich unter Fotos von Hochzeitstafeln und Brautsträußen, und bald schon war Hochzeitsfieber der Name, den Brautleute in den Mund nahmen, wenn sie mehr Geld hatten als eigene Ideen. Ausgerechnet Liz, die Hochzeiten und Liebe und dem ganzen Für-immer-und-ewig-Kram mit ehernem Zynismus gegenüberstand, war plötzlich die Galionsfigur der gelungenen Hochzeit.
Und weil Liz die süße Sehnsucht nach ewiger Zweisamkeit nur zu gut kannte und ihr niemals, nie niemals nie wieder erliegen wollte, kaufte sie sich für jede veranstaltete Hochzeit ein Paar Schuhe. Zum Weglaufen. Sollte jemals wieder ein interessanter Mann ihren Weg kreuzen und ihr etwas von Liebe erzählen: Der gesammelte Inhalt ihres geräumigen Schuhregals würde sie an Flucht gemahnen. So fühlte sie sich sicher, schließlich erschien man niemals barfuß zum Rendezvous.
Liz warf ihre Tasche auf den Stuhl neben der Tür, packte ihr Schokocroissant aus und ging zielstrebig zum Anrufbeantworter, dessen rotes Lämpchen sie schon fröhlich anblinkte. Sie liebte es, wenn dieses Lämpchen blinkte. Es hieß, dass es etwas für sie zu tun gab, dass man sie brauchte und dass der Laden lief. Während sie die Nachrichten abhörte, biss sie in ihr Croissant und machte sich Notizen. Die erste Nachricht war von der Metzgertochter, die bereits sehr bald heiraten wollte und sich Sorgen um das Hochzeitsmenü machte, denn ihr Zukünftiger war Vegetarier und die Eltern sicher beleidigt, wenn die ausladenden Bratenplatten unberührt an ihm vorbeizogen. Die nächste Stimme gehörte einem Bräutigam, der fragte, ob sie ihm Walzernachhilfe geben könne, der Gedanke an den Hochzeitswalzer verursache ihm Bauchschmerzen, und eine etwas hysterische Anruferin bat um Rückruf, sehr dringenden Rückruf. Liz vermutete, dass die schrille Stimme zu der Mutter einer jungen Frau gehörte, die in ganz kleinem Rahmen heiraten wollte, winzige Kapelle, kaum fünfzehn Gäste unter der großen Kastanie in ihrem eigenen Garten, während die Frau Mama gleich ein Schlösschen mieten wollte, um vor all ihren weitläufigen und noch weitläufigeren Bekannten mit dem Glück ihrer Tochter anzugeben. Wenn Liz sich recht erinnerte, dann fand diese Hochzeit bereits in weniger als zwei Wochen statt, die Mutter gehörte anscheinend zu dem Typ, der nie aufgab. Arme Tochter, dachte Liz seufzend und machte sich eine Notiz, dass sie die Tochter nachher dringend anrufen musste. Noch dringender als die Mutter, denn: Wessen Hochzeit war es letztendlich? Sie horchte auf, als sie eine sonore Männerstimme sprechen hörte, die sehr höflich um Rückruf bat, um einen Termin zum Kennenlernen zu vereinbaren.
»Sie müssen verzeihen«, sagte die angenehme Stimme, die vor allem im Vergleich zu den anderen Anrufern auf dem Band in geradezu erhabener Gelassenheit ruhte, »aber ich möchte mir gerne ein persönliches Bild von Ihnen machen, bevor ich Ihnen die Ausrichtung der Hochzeitsfeierlichkeiten für meine Tochter anvertraue.«
»Du warst auf dem Parkplatz.«
Er sah sie fragend an, und sie nickte.
»Und jetzt sag bloß nicht, dass es alles ganz anders ist, als ich denke ... Ich war vielleicht naiv, aber ich bin nicht blöd.«
»Liz, es ist anders.«
Sie musste lachen. Es war unglaublich. Jo hatte damals auch diesen albernen Satz gesagt, es sei alles ganz anders, als sie denke. Dabei war es ganz genau so gewesen, wie sie gedacht hatte. Genau so.
»Weißt du, ich fände es gut, wenn du dich nicht auch noch lächerlich machst, und mich nicht lächerlich machst, indem du so einen Unsinn redest. Wenn du mich schon die ganze Zeit angelogen hast, dann habe wenigstens jetzt den Respekt, mich mit so einem Quatsch zu verschonen und zu gehen.«
Simon holte tief Luft, und dann sagte er sehr ruhig und sehr langsam einen Satz nach dem anderen.
»Ich gehe nicht. Ich rede keinen Quatsch. Ich respektiere dich. Ich habe eine Tochter. Ich bin geschieden. Ich liebe meine Tochter und hätte sie am liebsten immer bei mir. Aber das will meine Exfrau nicht. Ich habe meiner Tochter noch nichts von dir und dir noch nichts von meiner Tochter erzählt, weil wir von mir bisher überhaupt noch nicht gesprochen haben. Ich habe dir nichts mit Absicht verschwiegen. Es war alles zu viel auf einmal. Ich wünsche mir, dass wir zusammen sein können und uns kennenlernen. Ich wünsche mir, dass du Leonie kennenlernst. Ich möchte mich um dich kümmern. Und jetzt schließen wir mal das Fenster, damit dieser arme Zaunkönig zur Ruhe kommt.«
Damit ging Simon an Liz vorbei und schloss sehr behutsam den offenen Fensterflügel.
»Der ist genau wie du«, sagte Simon, als er sich wieder zu ihr umdrehte.
»Was an diesem Vogel ist genau wie ich? Und woher weißt du überhaupt, dass das ein Zaunkönig ist?«
»Ich kenn mich aus mit Vögeln.«
»Das glaub ich dir aufs Wort.«
»Mit heimischen Singvögeln.«
»Schon gut. Also, was an diesem Vogel ist genau wie ich?«
»Die Panik. Er sieht eine Bewegung, die er zu kennen glaubt, und bekommt Angst, verlässt sein Nest und warnt den halben Hinterhof vor einem Angreifer, der gar keiner ist, sondern es gut mit ihm meint. Du hast ihm ja sogar Krümel hingelegt. Du bist kein Feind. Aber er missversteht dich und flippt aus.«
Liz sah ihn prüfend an.
»Ich dachte, der Zaunkönig ist eher wie du.«
»Inwiefern?« Simon sah Liz fragend an.
»Polygamie. Viele Nester, viele Frauen.«
»Du kennst dich aber auch aus mit Vö...«
»Hab ich mir gestern angelesen«, unterbrach sie ihn schnell.
»Hintereinander käme es hin. Gleichzeitig nie. Viel zu anstrengend.«
Er streckte einen Arm nach ihr aus, und als sie nicht wegzuckte, ging er einen Schritt auf sie zu.
»Ich würde gern ein Nest für dich bauen und mich trillernd davor setzen und werben, bis du kommst und es mit mir bewohnst. Weißt du, was die Zaunkönige im Winter manchmal machen?«
Liz schüttelte den Kopf.
»Bis zum Winter bin ich nicht gekommen.« »Die ganze Familie kuschelt sich zusammen in das Nest, wenn es ihnen draußen zu kalt wird. Alle Schnäbel zusammen in die Mitte. Den ganzen Winter lang schnäbeln. «
Liz musste wider ihren Vorsatz lächeln.
Er kam noch einen Schritt näher und legte vorsichtig seine Arme um sie.
»Liz, sei meine Zaunkönigin.«
»Die einzige?«
»Die einzige.«
Er sah ihr in die Augen, er hatte so verdammt schöne Augen, dass sie gar nicht mehr wegschauen konnte. Ihre Mutter würde sagen »Lauf um dein Leben!«, aber vielleicht sollte man in ihrem Alter gar nicht mehr auf Mütter hören. Außerdem konnte sie mit ihrem geschienten Bein und ohne Schuhe sowieso nicht weglaufen.
»Jetzt glaub mir und hab Vertrauen in deinen Arzt. Und kann ich dich jetzt, da wir endlich mal alleine sind, vielleicht auch küssen?«
»Ich kann nicht mehr stehen«, seufzte Liz und beschloss, sich einfach fallen zu lassen, einfach in seine Arme fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er sie hielt.
Liz hatte so gut wie gar nicht verschlafen, nur zehn Minuten. Oder vielleicht auch zwanzig. Höchstens zwanzig. Der Tag begann richtig gut, dachte sie, als sie sich nach einem Blick auf ihren Wecker aus dem Bett rollte und mit noch tapsigen Schritten ans Fenster trat, um hinauszuschauen, wie der heutige Morgen aussah. Sie streckte sich, um ihrem Körper klarzumachen, dass die Nacht nun endgültig vorbei war, und als sie den hellblauen Himmel über den Dächern entdeckte, stahl sich so etwas wie ein Lächeln in ihr verschlafenes Gesicht. Die Linden, die ihre Straße zu beiden Seiten säumten, zeigten in der blassen Morgensonne schon zarte Knospen. Bis zum Abend würden sie sich zu kleinen, grünen Blattpuscheln ausgewachsen haben.
Endlich, dachte Liz. Endlich wurde es Frühling. Der Winter war in diesem Jahr sehr ausdauernd gewesen. Viel zu ausdauernd für Liz, die eigentlich schon im Januar darauf wartete, dass es wärmer und bunter wurde in der Welt. Dieser erste, gerade aufkeimende Frühling war für Liz die schönste Zeit im Jahr. Man sah noch die dunklen, nackten Äste, die den ganzen Winter über kahl in den Himmel geragt hatten, doch die lindgrünen Knospenbällchen kündigten den Sommer an und Sonne und eine von üppigem Grün bewachsene, lebendige Welt.
Gut gelaunt ging Liz in die Küche, wo sie das Radio anstellte, beim Kaffeekochen nur ganz wenig Pulver verschüttete und sich später auch nicht die Zunge verbrannte, als sie den Kaffee viel zu hastig trank, während sie gleichzeitig in ihre Kleider schlüpfte, um sich ausgehfertig zu machen. Morgens musste es schnell gehen, und vor allem musste sie, sobald sie fertig war, möglichst rasch und noch bevor das gerade im Radio laufende Lied endete, die Wohnung verlassen. Das war wichtig. Es war ein sehr wichtiges Zeichen für den Tag. Wenn es Liz gelang, innerhalb der Länge eines Liedes die Schuhe und die Jacke anzuziehen, ihre Tasche zu nehmen, an ihr Handy und an den Fahrradschlüssel zu denken und außerdem die Wohnungstür rechtzeitig hinter sich zuzuschlagen, bevor der Moderator wieder sprach, dann deuteten alle Vorzeichen darauf hin, dass sich der Tag in die richtige Richtung entwickeln könnte. Wenn sie nicht schnell genug war und der Moderator bereits irgendein Gewinnspiel ankündigte, standen die Vorzeichen eher schlecht, und wenn sofort nach dem Lied Werbung ertönte, dann war Liz schon kurz davor, zurück ins Bett zu gehen, noch ehe sie das Haus überhaupt verlassen hatte.
Aber dieser Tag ließ sich gut an. Liz brachte ihr Fahrrad um sieben Minuten nach neun vor der Bäckerei zum Stehen, wo sogar noch ein letztes Schokocroissant für sie in der Auslage wartete. Das Einzige, was gegen diesen Tag sprach, war die Tatsache, dass sie nicht auf Anhieb den richtigen Schlüssel für den Laden in die Hand bekam, aber sie hoffte, dass dieses eine, winzige, schlechte Omen nicht so sehr ins Gewicht fiel.
Liz hatte Erfahrungen mit Omen. An dem Tag, an dem sie ihre ehemalige beste Freundin mit ihrem ehemaligen zukünftigen Ehemann in ihrem ehemaligen gemeinsamen Bett erwischt hatte, hatten bereits verschiedene Vorzeichen den ganzen Tag über warnend auf etwas hingewiesen. Doch in ihrem glücklichen, verliebten Vorhochzeitstaumel hatte sie die Warnungen nicht ernst genommen, hatte keiner auf Rot schaltenden Ampel Glauben geschenkt, hatte gelacht, als ihr Lieblingscroissant ausverkauft war.
Und dann hatte sie plötzlich alle Zeichen verstanden. Als sie viel früher als geplant nach Hause gekommen war, wo sie und Jo schon seit einem Jahr zusammenlebten, und Claires Tasche gleich im Flur erkannt hatte, da hatte sie sich noch einen kurzen Moment lang darüber gefreut, dass Claire spontan zu Besuch gekommen war, aber nur einen sehr, sehr kurzen Moment lang.
Seit diesem Tag war ihr bewährtes Werteschema, nach dem sie immer gelebt hatte, verrutscht. Roten Ampeln maß sie nun eine wesentlich höhere und wegweisendere Bedeutung bei als Werten wie Freundschaft und Liebe.
Nachdem Liz beim dritten Anlauf den passenden Schlüssel für den Laden gefunden hatte, schloss sie die feuerwehrrote Tür auf, hinter der sich ihr kleines Reich befand. Liz hatte niemals im Leben daran gedacht, Hochzeitsplanerin zu werden. Hätte man sie weit vor dem Tag, an dem Claires Tasche im Flur ihr Leben verändert hatte, gefragt, ob sie eine kleine Agentur für Hochzeiten führen wolle, sie hätte dankend abgelehnt und die Idee als irgendwie ganz süß, aber insgesamt viel zu kitschig abgetan. Doch als sie in der unromantischsten Zeit ihres Lebens wie aus Versehen in dieses Geschäft hineingerutscht war, hatte sie zu allem Überfluss festgestellt, dass sie verdammt gut war im Planen von Hochzeiten. Nachdem ihre eigene Hochzeit auf so peinliche Art geplatzt war, hätte sie vor Wut darüber in die Luft gehen können, dass ausgerechnet sie Opfer eines solch plumpen Klischees hatte werden müssen. So etwas kam in Seifenopern vor, dass der Mann, den man liebte, einen kurz vor der Hochzeit mit der besten Freundin betrog, aber doch nicht im wirklichen Leben!
Und vor allem nicht in ihrem.
Der Schmerz über Jos Betrug und Claires Verrat kam erst später und war viel nagender und ausdauernder als die Wut. Liz wusste nicht, welcher Betrug sie mehr enttäuschte. Dass ihre beste Freundin sie hinterging oder dass der Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen, so geschmacklos war, sie ausgerechnet mit ihrer Freundin zu betrügen. Bevor dieser Schmerz sie vollends lähmte, bot sie in der Tageszeitung ihre bis ins Detail liebevoll geplante eigene Hochzeitsfeier samt Brautkleid und Blumenschmuck, Pfarrer und Trauspruch an, und schon am Morgen des Erscheinungstages meldete sich ein entsetzlich verliebtes Pärchen und kaufte sie ihr ab. Sogar das Menü und den Lieblingsnachtisch ihrer Kindheit übernahmen die beiden, ohne ihn auch nur probiert zu haben. Den hatte ihre Mutter immer gemacht, wenn sie ihren Mädels - und sich - einmal etwas Gutes tun wollte: Grießflammeri mit Himbeersauce und gerösteten Mandelsplittern. Das verliebte Pärchen fand, das sei eine überaus reizende Idee. Und Liz wunderte sich, dass es ihr weniger ausmachte, ihr Brautkleid an eine fremde Frau zu verkaufen, als sich vorzustellen, dass diese ihren Lieblingsnachtisch aß. Sie wäre sich albern vorgekommen, das Menü zu ändern. Und doch war es ausgerechnet der Gedanke an die duftende Himbeersüße, die sich am Gaumen mit dem cremigen Flammeri vermischte, den sie nun am Tag ihrer geplanten Hochzeit nicht schmecken würde, der sie nachts ins Kissen schluchzen ließ.
Als Freunde dieses Paares kurz darauf ebenfalls heiraten wollten und in Erinnerung an deren gelungene Feier um Hilfe baten, verwiesen die glücklich Getrauten sie an Liz, und so setzte sich die Reihe der Empfehlungen fort. Es gab anscheinend eine ganze Menge glücklicher, heiratswütiger Paare. Und nicht alle Bräutigame schienen ihre Auserwählte so schamlos zu betrügen. Oder aber die Bräute kamen vor der Hochzeit einfach nie früher als erwartet nach Hause.
Zunächst war es nur ein Hobby, mit dem Liz die viele freie Zeit totschlug, die ihr plötzlich zur Verfügung stand, so ganz ohne Freund und ohne beste Freundin. Doch dann begann dieses Hobby immer mehr Raum zu beanspruchen, so dass sie sogar schon Urlaub nehmen musste, um die Organisation mancher Festivitäten zu bewältigen. Als ihre Wohnung von Tortenschmuck, Brautmodenkatalogen und Zetteltürmen irgendwann schier überquoll und wesentlich romantischer aussah als ihr eigentliches Leben, beschloss sie, dass es Zeit war, etwas zu ändern. Sie fasste sich ein Herz, zog in eine neue Wohnung, in der sie nichts mehr an Claire oder Jo erinnerte, kündigte ihren Job als Sekretärin und gründete »Hochzeitsfieber«. Eine Agentur für Hochzeitsplanung von der kleinen, intimen Feier bis zum Riesenevent, je nach Wunsch und Portemonnaie. Schließlich wusste sie genau, wie man sich als Braut fühlte: Sie kannte die heimlichen Wünsche der jungen Frauen, die nach außen ganz cool und selbstbewusst auftraten, aber trotzdem von einer Cinderella- Hochzeit wie aus dem Bilderbuch träumten. Sie kannte all die romantischen, kleinen Sehnsüchte, die vom Zukünftigen erfüllt werden mussten, am besten ohne dass je ein Wort darüber gefallen war. Liz half den Bräuten dabei, ihre Wünsche zu erkennen, und den Bräutigamen, ihren Bräuten jeden Wunsch von den Augen abzulesen, indem sie heimlich für sie simultan übersetzte. Alle waren glücklich, und Liz' Kasse klingelte. Und sie fand, dass es genau darauf ankam. Eine gute Geschäftsidee zu haben und damit erfolgreich zu bestehen. Aus der dunkelsten Stunde ihres Lebens hatte sie etwas gemacht. Andere legten sich ins Bett und weinten sich die Augen aus dem Kopf. Das hatte Liz zwar auch getan, aber sie hatte das Gefühl nicht überhandnehmen lassen. Überhaupt hatte sie Gefühle seitdem nicht mehr überhandnehmen lassen. Darauf war sie stolz. Sie würde nicht mehr an Hochzeitsfieber erkranken. Das wusste sie. Doch sie würde andere, die von diesem Fieberwahn befallen waren, mit dem ihr eigenen Perfektionsanspruch aufs Beste durch diese Krankheit hindurch begleiten.
Als sie den Laden gefunden hatte, war sie begeistert: Genau der hatte es sein müssen. Direkt an der Ecke eines hübschen Jugendstilhauses führten drei Treppenstufen zu einer Tür, die links und rechts von jeweils einem raumhohen Fenster flankiert war. Zunächst wollte Liz den Laden ganz sachlich halten und die gesamte Romantik auf Abruf in Schubladen und ordentlich sortierten Regalen verstauen. Aber Liz war nicht wirklich sachlich, und sie war noch weniger ordentlich. Sie sammelte alles, was sie zu Ideen inspirieren könnte, sie hatte von allem eine Probe und ein Muster und ein Bild, Brautmodenläden liehen ihr Kleider, Menükarten türmten sich unter Fotos von Hochzeitstafeln und Brautsträußen, und bald schon war Hochzeitsfieber der Name, den Brautleute in den Mund nahmen, wenn sie mehr Geld hatten als eigene Ideen. Ausgerechnet Liz, die Hochzeiten und Liebe und dem ganzen Für-immer-und-ewig-Kram mit ehernem Zynismus gegenüberstand, war plötzlich die Galionsfigur der gelungenen Hochzeit.
Und weil Liz die süße Sehnsucht nach ewiger Zweisamkeit nur zu gut kannte und ihr niemals, nie niemals nie wieder erliegen wollte, kaufte sie sich für jede veranstaltete Hochzeit ein Paar Schuhe. Zum Weglaufen. Sollte jemals wieder ein interessanter Mann ihren Weg kreuzen und ihr etwas von Liebe erzählen: Der gesammelte Inhalt ihres geräumigen Schuhregals würde sie an Flucht gemahnen. So fühlte sie sich sicher, schließlich erschien man niemals barfuß zum Rendezvous.
Liz warf ihre Tasche auf den Stuhl neben der Tür, packte ihr Schokocroissant aus und ging zielstrebig zum Anrufbeantworter, dessen rotes Lämpchen sie schon fröhlich anblinkte. Sie liebte es, wenn dieses Lämpchen blinkte. Es hieß, dass es etwas für sie zu tun gab, dass man sie brauchte und dass der Laden lief. Während sie die Nachrichten abhörte, biss sie in ihr Croissant und machte sich Notizen. Die erste Nachricht war von der Metzgertochter, die bereits sehr bald heiraten wollte und sich Sorgen um das Hochzeitsmenü machte, denn ihr Zukünftiger war Vegetarier und die Eltern sicher beleidigt, wenn die ausladenden Bratenplatten unberührt an ihm vorbeizogen. Die nächste Stimme gehörte einem Bräutigam, der fragte, ob sie ihm Walzernachhilfe geben könne, der Gedanke an den Hochzeitswalzer verursache ihm Bauchschmerzen, und eine etwas hysterische Anruferin bat um Rückruf, sehr dringenden Rückruf. Liz vermutete, dass die schrille Stimme zu der Mutter einer jungen Frau gehörte, die in ganz kleinem Rahmen heiraten wollte, winzige Kapelle, kaum fünfzehn Gäste unter der großen Kastanie in ihrem eigenen Garten, während die Frau Mama gleich ein Schlösschen mieten wollte, um vor all ihren weitläufigen und noch weitläufigeren Bekannten mit dem Glück ihrer Tochter anzugeben. Wenn Liz sich recht erinnerte, dann fand diese Hochzeit bereits in weniger als zwei Wochen statt, die Mutter gehörte anscheinend zu dem Typ, der nie aufgab. Arme Tochter, dachte Liz seufzend und machte sich eine Notiz, dass sie die Tochter nachher dringend anrufen musste. Noch dringender als die Mutter, denn: Wessen Hochzeit war es letztendlich? Sie horchte auf, als sie eine sonore Männerstimme sprechen hörte, die sehr höflich um Rückruf bat, um einen Termin zum Kennenlernen zu vereinbaren.
»Sie müssen verzeihen«, sagte die angenehme Stimme, die vor allem im Vergleich zu den anderen Anrufern auf dem Band in geradezu erhabener Gelassenheit ruhte, »aber ich möchte mir gerne ein persönliches Bild von Ihnen machen, bevor ich Ihnen die Ausrichtung der Hochzeitsfeierlichkeiten für meine Tochter anvertraue.«
»Du warst auf dem Parkplatz.«
Er sah sie fragend an, und sie nickte.
»Und jetzt sag bloß nicht, dass es alles ganz anders ist, als ich denke ... Ich war vielleicht naiv, aber ich bin nicht blöd.«
»Liz, es ist anders.«
Sie musste lachen. Es war unglaublich. Jo hatte damals auch diesen albernen Satz gesagt, es sei alles ganz anders, als sie denke. Dabei war es ganz genau so gewesen, wie sie gedacht hatte. Genau so.
»Weißt du, ich fände es gut, wenn du dich nicht auch noch lächerlich machst, und mich nicht lächerlich machst, indem du so einen Unsinn redest. Wenn du mich schon die ganze Zeit angelogen hast, dann habe wenigstens jetzt den Respekt, mich mit so einem Quatsch zu verschonen und zu gehen.«
Simon holte tief Luft, und dann sagte er sehr ruhig und sehr langsam einen Satz nach dem anderen.
»Ich gehe nicht. Ich rede keinen Quatsch. Ich respektiere dich. Ich habe eine Tochter. Ich bin geschieden. Ich liebe meine Tochter und hätte sie am liebsten immer bei mir. Aber das will meine Exfrau nicht. Ich habe meiner Tochter noch nichts von dir und dir noch nichts von meiner Tochter erzählt, weil wir von mir bisher überhaupt noch nicht gesprochen haben. Ich habe dir nichts mit Absicht verschwiegen. Es war alles zu viel auf einmal. Ich wünsche mir, dass wir zusammen sein können und uns kennenlernen. Ich wünsche mir, dass du Leonie kennenlernst. Ich möchte mich um dich kümmern. Und jetzt schließen wir mal das Fenster, damit dieser arme Zaunkönig zur Ruhe kommt.«
Damit ging Simon an Liz vorbei und schloss sehr behutsam den offenen Fensterflügel.
»Der ist genau wie du«, sagte Simon, als er sich wieder zu ihr umdrehte.
»Was an diesem Vogel ist genau wie ich? Und woher weißt du überhaupt, dass das ein Zaunkönig ist?«
»Ich kenn mich aus mit Vögeln.«
»Das glaub ich dir aufs Wort.«
»Mit heimischen Singvögeln.«
»Schon gut. Also, was an diesem Vogel ist genau wie ich?«
»Die Panik. Er sieht eine Bewegung, die er zu kennen glaubt, und bekommt Angst, verlässt sein Nest und warnt den halben Hinterhof vor einem Angreifer, der gar keiner ist, sondern es gut mit ihm meint. Du hast ihm ja sogar Krümel hingelegt. Du bist kein Feind. Aber er missversteht dich und flippt aus.«
Liz sah ihn prüfend an.
»Ich dachte, der Zaunkönig ist eher wie du.«
»Inwiefern?« Simon sah Liz fragend an.
»Polygamie. Viele Nester, viele Frauen.«
»Du kennst dich aber auch aus mit Vö...«
»Hab ich mir gestern angelesen«, unterbrach sie ihn schnell.
»Hintereinander käme es hin. Gleichzeitig nie. Viel zu anstrengend.«
Er streckte einen Arm nach ihr aus, und als sie nicht wegzuckte, ging er einen Schritt auf sie zu.
»Ich würde gern ein Nest für dich bauen und mich trillernd davor setzen und werben, bis du kommst und es mit mir bewohnst. Weißt du, was die Zaunkönige im Winter manchmal machen?«
Liz schüttelte den Kopf.
»Bis zum Winter bin ich nicht gekommen.« »Die ganze Familie kuschelt sich zusammen in das Nest, wenn es ihnen draußen zu kalt wird. Alle Schnäbel zusammen in die Mitte. Den ganzen Winter lang schnäbeln. «
Liz musste wider ihren Vorsatz lächeln.
Er kam noch einen Schritt näher und legte vorsichtig seine Arme um sie.
»Liz, sei meine Zaunkönigin.«
»Die einzige?«
»Die einzige.«
Er sah ihr in die Augen, er hatte so verdammt schöne Augen, dass sie gar nicht mehr wegschauen konnte. Ihre Mutter würde sagen »Lauf um dein Leben!«, aber vielleicht sollte man in ihrem Alter gar nicht mehr auf Mütter hören. Außerdem konnte sie mit ihrem geschienten Bein und ohne Schuhe sowieso nicht weglaufen.
»Jetzt glaub mir und hab Vertrauen in deinen Arzt. Und kann ich dich jetzt, da wir endlich mal alleine sind, vielleicht auch küssen?«
»Ich kann nicht mehr stehen«, seufzte Liz und beschloss, sich einfach fallen zu lassen, einfach in seine Arme fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er sie hielt.
... weniger
Autoren-Porträt von Astrid Ruppert
Astrid Ruppert lebt mit ihrem Mann im Vogelsberg, wo sie Romane und Drehbücher schreibt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Astrid Ruppert
- 2012, 5. Aufl., 400 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284612
- ISBN-13: 9783548284613
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
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