Windstochter
Historischer Roman
1698, im ostfriesischen Weener: Die junge Franka lebt bei ihrem barschen Onkel. Einziger Trost ist das Gestüt des Pferdebarons Jan Meester, wo sie vom alten Jakob in die Tierheilkunst eingeweiht wird. Zusammen mit Jasper Rose führt sie daraufhin einen Tross...
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Produktinformationen zu „Windstochter “
1698, im ostfriesischen Weener: Die junge Franka lebt bei ihrem barschen Onkel. Einziger Trost ist das Gestüt des Pferdebarons Jan Meester, wo sie vom alten Jakob in die Tierheilkunst eingeweiht wird. Zusammen mit Jasper Rose führt sie daraufhin einen Tross Friesenpferde nach Italien. Eine gefährliche Reise!
Klappentext zu „Windstochter “
Schwarze Perlen für Venedig1698, im ostfriesischen Weener: Die junge Franka wird von ihrem Onkel, dem sie den Haushalt führt, nur geduldet. Ihr einziger Trost ist das Gestüt des Pferdebarons Jan Meester, wo sie vom alten Jakob in die Tierheilkunst eingeweiht wird. Aus einer Notlage heraus und um ihre Vergangenheit zu ergründen, schließt Franka sich Jasper Rose an, der einen Tross edler Friesenhengste nach Italien führen soll. Die gefährliche Reise in eine Welt des Prunks und falschen Scheins stellt Franka vor die größte Herausforderung ihres Lebens.
Lese-Probe zu „Windstochter “
Windstochter von Jutta Oltmanns Prolog
Der Fluss zog träge dahin und kräuselte sich sacht in der Strömung. Das helle Silber des Mondlichts tanzte auf dem Wasser, das glucksend gegen das Boot schlug. Der Mann hatte keinen Blick für den Zauber des Mondes. Seine Augen waren auf das gegenüberliegende Ufer gerichtet. Fröstelnd zog er die wollene Decke enger um sich. Dann, endlich, sah er den langen hellen Lichtstrahl und stieß das Boot mit einem erleichterten Seufzer vom Ufer ab.
Kühle feuchte Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Er beachtete die Kälte nicht, verengte die Augen zu Schlitzen und starrte angestrengt über das Wasser. Wieder ein Lichtstrahl. Er hob den Arm. Die beiden Männer auf der anderen Seite winkten ebenfalls, wandten sich dann vom Fluss ab und verschwanden mit langen Sätzen in der Dunkelheit.
Kraftvoll zog der Mann das Paddel durch das Wasser und hielt auf sein Ziel zu. Kleine Wellen umspielten das Boot, und beim Eintauchen des Blattes flogen Wasserperlen auf. Kaum ein Laut war zu hören. Doch dann, urplötzlich, verharrte der Ruderer reglos. Es waren nicht mehr allein die bekannten Geräusche des Flusses, die er wahrnahm. Seine Fuchsaugen huschten wachsam über den Strom. Er sah etwas aufblitzen und bemerkte plötzlich Umrisse einer menschlichen Gestalt im Wasser. Im fahlen Mondlicht wirkte das Bild der Frau, die sich an einen Baumstamm klammerte, seltsam unwirklich. Der Stamm schnellte in der starken Strömung auf das Boot zu. Immer wieder schlug Wasser über der Frau zusammen. Es war der Schmuck um ihren Hals, den der Mann hatte funkeln sehen.
Begehrlichkeit glitzerte in seinen Augen auf. Er stieß das Paddel ins Wasser und ließ das Boot vorwärts schnellen, um den Baumstamm abzufangen.
... mehr
Unvermittelt hielt er inne. Eine zweite Gestalt, ein kleines Mädchen, lag bäuchlings über dem Holz. Als ihre Augen sich trafen, begann das Kind zu schreien.
Der Mann trieb sein Boot voran, erreichte den Baumstamm und warf das Paddel auf die Planken. Er streckte seine Hände aus, spannte die Muskeln an und zog. Die Frau rührte sich nicht. Ihr Gesicht trug einen leeren Ausdruck. Fluchend löste der Mann ihre Finger gewaltsam vom Holz, packte fest zu und zerrte die durchnässte Gestalt in das Boot. Der Kahn schwankte mächtig unter der Last und trieb vom Baumstamm fort.
Keuchend sank der Mann in die Knie. Sein Blick hing an dem Goldschmuck. Wieder schrie das Mädchen. Ein unentschlossener Moment, dann griff er nach dem Paddel und ruderte erneut an den Baumstamm heran. Das Mädchen streckte ihm die Arme entgegen. Er wollte sie zu fassen kriegen, doch es gelang ihm nicht. Mit einem Schrei glitt das Kind ins Wasser. Es tauchte unter und wieder auf, versuchte nach der Seitenwand des Bootes zu greifen, doch die Finger verfehlten ihr Ziel. Das Mädchen versank erneut, und er sah nur noch ihre nassen Strähnen an der Wasseroberfläche. Der Mann beugte sich vor, griff in die dichte Mähne, biss die Zähne zusammen und zog. Mit einer gewaltigen Anstrengung hievte er die Ertrinkende ins Boot. Beider Atem ging keuchend. Das Kind würgte. Wasser lief in Strömen aus Kleidung und Haaren in das schwankende Boot. Der Mann fluchte.
Das Mädchen klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Ihre Augen glitten zu der Frau. Sie rutschte auf die Gestalt zu, streichelte, sanfte Worte murmelnd, das Gesicht. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie rot gefärbtes Wasser sah, das aus dem Haar auf die Schiffsplanken lief.
Panisch wandte sie sich dem Mann zu, sagte etwas in einer Sprache, die er nicht kannte, richtete sich auf und griff nach seinen Händen. In ihren großen dunklen Augen lag ein Flehen. Ihre Finger fühlten sich eisig an vom kalten Wasser. Der Mann löste sich aus der Umklammerung und sank langsam in die Knie. Er schob sich zu der Frau vor, berührte zuerst den Gold- schmuck um ihren Hals, dann den Stoff des kostbaren Brokatmantels. Sein Blick streifte einen Beutel, den sie um die Hüften geknotet trug. Rasch öffnete er die Verschnürungen. Seine Augen weiteten sich, als er die glatten schweren Münzen sah.
Entrüstet zerrte das Mädchen wieder an ihm. Der Mann wischte ihre Hände fort. Er schob den Mantel der Verletzten auseinander, knöpfte das Kleid auf und legte ein Ohr an ihr Herz. Er lauschte. Da war nichts. Noch einmal hielt er den Atem an. Nichts!
»Sie ist tot!«
Das Kind begriff nicht.
»Tot!« Er machte eine entsprechende Handbewegung.
Das Mädchen schrie auf und stieß wieder Worte hervor, die er nicht verstand. Sie umklammerte seine Arme und zog und zerrte.
Das Boot drohte zu kentern. Wütend stieß er sie von sich. Das Mädchen fiel. Ihr Kopf schlug gegen das Holz des Bootes. Sie öffnete die Augen, rührte sich aber nicht.
Der Mann griff wortlos nach dem Paddel und hielt auf das Ufer zu.
I Weener
April bis Mai 1698
Der volle Mond lag Franka im Blut, sie spürte, wann sich der Himmelkörper rundete. Diese Nächte gehörten ihr und Tyr, und der Hengst wusste darum. Er wartete auf sie. Franka blickte sich nach allen Seiten um, denn niemand durfte erfahren, dass sie hier war. Auf dem Gestüt herrschte vollkommene Stille, die nur ab und zu durch ein leises Rascheln unterbrochen wurde. Franka öffnete zuerst das Vorhängeschloss und dann das Tor des Stalls. Tyr wieherte freudig und trabte mit federnden Sprüngen auf sie zu. Seine dunkle Mähne umwogte ihn wie eine seidige Wolke. Der pechschwarze Hengst sah wunderschön aus mit seinem edlen Kopf, der breiten Brust und dem langen Schweif, der fast den Boden berührte.
Franka streckte die Hände nach ihm aus, doch Tyr blieb in einiger Entfernung stehen. Den Schweif hoch gereckt zog er Pirouetten, tänzelte hin und her und kam schließlich näher.
Franka lachte und strich sanft über den mächtigen Hals des Hengstes. Tyr schnaubte leise und streckte sich wohlig.
Franka berührte sein Antlitz, strich ihm das Haar zwischen den Augen zusammen und verfolgte die Linien seines Kopfes mit den Fingerspitzen.
»Einen Hengst wie dich hätten sie im alten Orient mit Gold aufgewogen.«
Für einen Augenblick legte sie ihre Stirn an seine und verharrte still. Dann schwang sich Franka auf Tyrs Rücken, und sie verschmolzen zu einer Einheit. Franka spürte unter sich die mächtige Ansammlung von Kraft und Schnelligkeit, die sich mit ihren Gedanken verband. Sie ließen das Gestüt hinter sich.
Nicht lange, und Franka flog auf dem Rücken des Hengstes dahin, als ob er schwebte. Vor ihnen das weite Land, Himmel und Erde, unbegrenzt von Zäunen und Mauern. Wie herrlich das war!
Ich habe dir die Macht verliehen zu fliegen, ohne Flügel, zu siegen, ohne Schwert.
Der Gott der Araber sollte diese Worte gesagt haben, zumindest behauptete Jakob das. Franka hatte seine Stimme noch im Ohr.
»Allah schuf das Pferd, ein Wesen ohnegleichen, indem er eine Handvoll Südwind nahm und ihm Atem einhauchte. Alle Schätze der Erde legte er zwischen seine Augen, und Edelmut flocht er in das Haar seiner Stirnlocke.«
Es gab eine Legende um diese Worte. Gott hatte das Pferd geschaffen, damit es den Menschen dienen sollte, aber das Pferd weigerte sich. Da versprach der Allmächtige ihm, dass es nach seinem Tod wieder zu Wind und in ewiger Freiheit leben würde.
Jedes Mal wenn Franka in Vollmondnächten auf Tyr ritt, kam es ihr vor, als ob sie diese versprochene Freiheit schon im Diesseits ein Stück weit spüren konnte.
Als der Fluss in Sicht kam, hielten sie an. Aus Tyrs warmem Fell stiegen Dampfwolken in die Nachtluft auf. Frankas Blick schweifte zu dem silbrigen Band, in das der Mond die Ems verwandelt hatte. Wie von einem unsichtbaren Atem bewegt, kräuselte sich das Wasser in sanften Wellen. Die alten Weiden am Ufer schienen ihr wie Riesen, deren Frühlingslaub ihr Geheimnisse zuraunten. Franka fühlte sich wie verzaubert. Fast glaubte sie, Elfen und Einhörner zwischen den Bäumen wandeln zu sehen. Durch diese Unwirklichkeit drang der Schrei eines Nachtvogels zu ihr herüber.
Immer schon war da eine besondere Verbindung zu diesem Ort am Strom gewesen, eine Faszination, die Franka sich nicht erklären konnte. Es war ein erregendes Abenteuer, in Vollmondnächten den Hengst zu reiten, mit ihm hierher aufzubrechen. Nicht einmal Jakob wusste davon.
Im Mondlicht schimmerte Tyrs schwarzes Fell silbrig. Das Pferd stand ganz still, und für einen Moment hatte Franka das Gefühl, auf einer erlesenen kostbaren Bronzefigur zu sitzen. Doch dann spürte sie die Wärme des Hengstes. Er war ganz und gar lebendig! Mit ihm fühlte auch sie sich so. Franka nahm den Einklang zwischen ihnen wahr. In Augenblicken wie diesen war sie wunschlos glücklich.
Franka erwachte schlaftrunken und glaubte für einen Moment, immer noch wie eine Tochter des Windes auf Tyrs Rücken dahinzufliegen. Stattdessen lag sie längst wieder auf ihrem Strohlager, und die Müdigkeit umgab sie wie ein Schleier. Franka lauschte auf das Trommeln der Regentropfen, das sie geweckt hatte. Die Nacht war kurz gewesen. Franka schob die Vorhänge ihres Wandbettes beiseite und lugte zum Fenster hinüber. Der Morgen dämmerte bereits heran. Sie horchte erneut. Bis auf den Regen war alles ruhig. Zu ruhig!
Franka sprang aus dem Alkoven und öffnete leise die Tür zum Nebenraum. Das Bett war leer! Es würde bald hell werden, und ihr Onkel war immer noch nicht zurück!
Franka ging in die Küche mit den fleckigen Wänden und dem schlichten Mobiliar. Es gab einen Herd, eine alte Runddeckeltruhe aus Eichenholz mit dunklen Beschlägen und einen kleinen Schrank. Auf dem Tisch standen Tonschüsseln und ein Kupferkessel. Davor drei wackelige Stühle. Ein Berg Kleidung lag auf einem von ihnen und wartete darauf, geflickt zu werden.
Unruhig trat Franka ans Fenster und blickte durch die rautenförmige Scheibe auf den Sandweg, der zum Dorf führte. Der Zauber der Nacht hatte sich verloren. Die Bäume waren im Regen kaum mehr als dunkle Gerippe. Ihr Blick wanderte den leeren Pfad hinunter, dorthin, von wo er kommen musste.
Wäre ich doch ein Mann, dachte sie nicht zum ersten Mal.
Franka betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und seufzte. Nur eine Frau! Sie bewegte den Kopf hin und her und betrachtete ihr schmales Gesicht, die großen Augen und den sorgsam aufgesteckten Knoten. Mit der geraden Nase, den missbilligend verzogenen Lippen und dem entschlossenen Kinn sah sie gouvernantenhaft aus. Fehlten nur noch Rohrstock und Lehrbuch. Sie streckte sich die Zunge heraus.
Ein Brüllen von draußen unterbrach ihre Betrachtung.
»Franka!«
Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Ihr Onkel Malte lehnte im Türrahmen. Die Laterne lag am Boden. Seine Kleidung war dreckig und triefte vor Regen. Strähnen grauer Haare lugten wie Staubfäden unter dem Hut hervor. Seine dürre gebeugte Gestalt wirkte noch gekrümmter als sonst. Auf seinem Gesicht lag ein jämmerlicher Ausdruck.
Franka war auf den ersten Blick klar, dass er sich die ganze Nacht im Wirtshaus herumgetrieben und getrunken hatte. Der verdammte Kerl würde nicht arbeiten können. Sie musste ihn ins Bett schaffen und sich danach in aller Eile erneut zu den Stallungen aufmachen.
»Franka, mein süßes Schwesterkind«, lallte Malte Freerks. »So süß!«
Er griff nach ihr, seine Hände glitten über ihren Körper. Sie entwand sich ihm angeekelt. Wenn er nur nicht wieder mit dem Saufen angefangen hätte!
Franka schloss die Haustür und drängte ihn in seine Kammer. Erfolglos versuchte ihr Oheim, sich die Jacke aufzuknöpfen.
»So hilf doch deinem armen Onkel mal.« Er grinste dümmlich.
»Du solltest dich schämen!«
Er taumelte rückwärts. Sie stieß ihn in Richtung des Bettes. Der Geruch von Branntwein und Tabak ließ sie angewidert die Nase rümpfen.
»Zumindest heute hättest du nüchtern bleiben können. Der alte Meester ist von seiner Reise zurück. Jakob hat es mir gestern gesagt. Er wird bestimmt Tyr reiten wollen.«
Ihr Onkel schloss die Augen, als ginge ihn das nichts an.
»Die ganze Nacht saufen und Karten spielen und den Tag verschlafen. Kannst du mir sagen, wohin das führen soll?«
»Hör auf zu schimpfen. Ist ja nicht meine Schuld«, lallte er und ließ sich auf das Strohbett fallen. »Hätte gern ein anderes Leben. So eins wie das der Meesters. Saufen Wein aus Italien, trinken Bier aus Hamburg und speisen wie die Fürsten am französischen Hof. Und wem verdanken sie das alles? Den Pferde- knechten und Stallburschen, die die Drecksarbeit machen.«
»Du solltest froh sein, für die Meesters arbeiten zu dürfen. Was würde sonst aus uns werden?«
Er kam wieder hoch. »Ich will nicht mehr, hörst du? Ich will nicht mehr der Fußabtreter für dieses Volk sein.«
»Ach ja. Und ich soll nun statt deiner dafür herhalten?«
»Genau. Du bist mir noch einiges schuldig. Mehr als du ahnst, mein Liebchen. Mein Schwesterkindelein«, lallte er und kicherte vor sich hin. »Vielleicht sollte ich mich nach einem vermögenden Eidam umsehen, bevor du zu der alten Jungfer wirst, nach der du klingst. Oder dich bei Lukas claesen für gutes Geld stundenweise an die Händler verkaufen lassen, die bei ihm verkehren. Hast ja so einiges zu bieten.«
Er verdrehte genießerisch die Augen und griff erneut nach ihr. Franka sprang zur Seite, und seine Hände fassten ins Leere. Enttäuscht ließ er sich zurückfallen. Dann, von einem Augenblick zum nächsten, fing er an laut zu schnarchen.
In stummem Zorn stürmte Franka hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Man sollte ihn ertränken!
»Ich bin dir doch völlig gleichgültig und in deinen Augen nur zum Kochen und Schrubben auf der Welt«, hatte sie ihm vor einigen Tagen entgegengeschleudert.
»Nur weil ich mich nicht für jeden deiner Schritte interessiere? Ich glaube, mein Mädchen, wir sind zu verschieden, um ein Herz und eine Seele zu sein. Ich lebe mein Leben, und du kannst das deine leben. Natürlich nur, sofern hier alles ordentlich läuft. Nenn mir eine junge Frau von zwanzig Jahren, die mehr Freiheiten genießt als du. Sei also zufrieden und hör auf zu jammern!«
Nach dem Tod ihrer Mutter, Franka war damals fünf Jahre alt gewesen, hatte Onkel Malte sie aufgenommen. Die ersten Jahre konnte Franka sich kaum ins Gedächtnis rufen. Verworrene Erinnerungen begleiteten sie. Kaum ein Wort von dem, was ihr Onkel oder die Dorfbewohner sagten, war damals zu ihr durchgedrungen. Sie hatte sich gefühlt wie in einer völlig fremden Welt gestrandet.
In fiebrigen Albträumen schrie Franka nach ihrer Mutter, bis sie begriff, dass diese tot war. Irgendwann lichtete sich der Schleier grenzenloser Trauer. Von dem Zeitpunkt an hatte sie auch ihren Onkel zum ersten Mal richtig wahrgenommen. Malte Freerks war groß, schmächtig, aber zäh und lief, als ob eine schwere Last ihn nach unten zöge. Damals musste er an die vierzig gewesen sein, doch das graue ungepflegte Haar hatte ihn älter erscheinen lassen. Onkel Maltes Augen waren von einem wässrigen Blau. Wenn er wütend war, und das geschah oft, kniff er sie fest zusammen. Mit dem schmalen Mund und der Hakennase wirkte er dann wie ein Habicht kurz vor dem Reißen eines Beutetiers. Dieser Gesichtsausdruck lehrte Franka im Laufe der Jahre das Fürchten. Ihm folgten zumeist saftige Ohrfeigen. Anlass waren oft ihre Pflichten, die sie in seinen Augen nicht zufriedenstellend erfüllte.
Dass Onkel Malte sie nicht aus Mildtätigkeit aufgenommen hatte, machte er ihr schnell klar. »Ich werde dir Heim und Brot geben, aber dafür hast du dich nützlich zu machen. Wir lassen es langsam angehen, aber letztendlich wirst du mir den Haushalt führen, das Federvieh versorgen, waschen und stopfen. Eins der Weiber aus dem Dorf wird kommen und dir alles zeigen.«
Anna, die Frau des verstorbenen Schusters, eine alte verhutzelte Krämerseele, lehrte Franka den Umgang mit Waschzuber und Besen, mit Kochtopf und Feuerstelle.
Später waren immer mehr Aufgaben dazu gekommen. Franka übernahm es, auf dem Wochenmarkt einzukaufen, zu kochen, Brot zu backen und Butter anzusetzen. Sie versorgte neben den Hühnern auch Onkel Maltes Ziege und die Kuh. Die Pflege des Gemüsegärtchens oblag ihr obendrein.
In dem Maße, wie ihre Aufgaben wuchsen, schien Onkel Maltes Faulheit zuzunehmen. Seit Franka auch einen Großteil seiner Aufgaben auf dem Gestüt wahrnahm, war er mehr denn je auf Diebestour, wie sie es bei sich nannte. Die Ausflüge dienten sowohl dem Schmuggeln von Waren über die Ems, als auch dem Verprassen des ergaunerten Geldes.
Franka Verhältnis zu ihrem Oheim war schon in nüchternem Zustand nicht besonders gut, doch betrunken ekelte sie sich nur noch vor ihm. Und in letzter Zeit flößten ihr seine gierigen Augen und grabschenden Hände mehr und mehr Unbehagen ein.
In ihrem ganzen Leben war Franka von ihm weder gelobt noch belohnt, geschweige denn dankbar in den Arm genommen worden. Spurte sie nicht, setzte es Ohrfeigen.
»Was habe ich mir nur mit dir aufgebürdet? Ich wünschte, ich hätte dich ins Waisenhaus gegeben, als es noch Zeit dafür war. Aber Blut ist dicker als Wasser, und meine Schwester Lissy lag mir immer sehr am Herzen.«
Franka konnte kaum glauben, dass ihrem Onkel irgendjemand - mit Ausnahme seiner selbst - am Herzen lag, doch er brüstete sich immer wieder damit, aus Bruderliebe ein gutes Werk getan zu haben. Zumeist, wenn er betrunken vom Zechen nach Hause kam. Dann riss er Franka aus dem Schlaf und sie musste seinen Geschichten lauschen, in denen er stets ein strahlender Held war.
»Meine Schwester in Not abzuweisen, das hätte ich einfach nicht fertiggebracht. Also nahm ich sie auf, obwohl sie vom rechten Pfad abgewichen war und ein uneheliches Kind hatte. Ich nahm sie zu mir, gab ihr zu essen und heizte den Ofen ein. Sie sollte es gut haben. Doch Lissy hat ihren Fehltritt nicht verwinden können. Ich hielt sie zweimal davon ab, sich in die Ems zu stürzen, doch beim dritten Mal misslang es mir. Das Dunkel ihrer Seele forderte seinen Tribut.«
Seine salbungsvolle Stimme verursachte Franka jedes Mal Brechreiz. Darüber, wer ihr Vater war, schwieg er sich aus und zuckte nur die Schultern.
»Du bist ein Bastard, das ist alles was feststeht. Lissy hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Kannst froh sein, dass ich dich aufgenommen habe.«
An dem Flackern seiner Augen erkannte Franka, dass er log. In solchen Augenblicken wünschte sich Franka, sie wäre ein Mann und könnte ihn packen und die Wahrheit aus ihrem Onkel herauspressen.
Franka fluchte leise vor sich hin. Sie huschte in die Küche und begann in der großen Truhe zu kramen. Endlich fand sie, wonach sie suchte: eine verblichene Hose, ein Hemd und die alte abgetragene Jacke. Rasch streifte sie ihr Kleid ab, schlüpfte in die Sachen und band die Hose mit einem Seil auf ihren Hüften fest. Franka seufzte. Wer sie sah, würde lachen, aber was machte das schon. Mit einem langen Rock konnte man einfach keinen Stall ausmisten! Entschlossen band Franka sich ein Tuch um den Kopf und eilte hinaus.
Es hatte zu regnen aufgehört. Der Wind vertrieb schon die dunklen Wolken, und über der noch hinter dem Horizont verborgenen Sonne begann es hell zu leuchten.
Der Weg ins Dorf führte durch ein kleines Wäldchen. Franka ließ die Schatten der Bäume hinter sich und nahm den abschüssigen Pfad. Weiß getünchte, reetgedeckte Häuser kauerten dicht aneinandergedrängt an dem staubigen Weg. Weener bestand aus der dicht besiedelten Langen Straße mit dem Hafen, dem Sudenne und einigen Häusern im Westerenne. Der Ort lag an der Handelsroute ins Münsterland. Der jährliche Pferdemarkt an Sankt Johannis und die Warengeschäfte mit Ziegelsteinen, Getreide, Butter und Käse, die auf der Ems verfrachtet wurden, hatten dem Flecken bescheidenen Wohlstand eingebracht. Dieser sorgte dafür, dass auch die Gaststube claesen stets gut besucht war.
Franka spuckte im Vorbeigehen wütend vor dem Wirtshaus auf den Boden. Verdammter Lukas claesen! Verdammter Branntwein!
Sie hastete weiter, hatte heute weder einen Blick für das beeindruckende Steinhaus der Frones mit seinem holländischen Giebel noch für die Kirche, deren Torbogen den himmlischen vom weltlichen Bereich des Marktes trennte.
Am Rand des Dorfes, auf einer Warft mit vielen umliegenden Ländereien, lag die Fallingaburg, das Anwesen des Pferdebarons Jan Meester. Die Burg war eine alte Bauernfeste aus Tagen des Krieges, umgeben von einem tiefen Graben und einer moosbewachsenen Steinmauer. Immergrüner Efeu hatte das Gemäuer erobert, das umrahmt wurde vom Laub knorriger Bäume. Das Steinhaus trug ein steiles Satteldach und zwei Schornsteine, direkt auf den Giebeln.
Die Holzläden der Fenster waren schon geöffnet. Das erste Licht des Tages gab dem Glas der Scheiben einen milchigen Ton, doch Franka wusste, dass der Eindruck trog.
Einmal war sie in der Fallingaburg gewesen, um eine Nachricht zu überbringen, und hatte voller Staunen die Helligkeit wahrgenommen, die durch die Glasfenster drang. In der prachtvollen Stube mit großem Kamin und wertvollen Möbeln, den glasierten Fliesen und reich bemalten Wänden hatte Franka sich kaum sattsehen können.
Rieke, die bei den Meesters dem Haushalt vorstand, erzählte jedem, der es hören wollte, dass es neben der Stube noch ein Esszimmer gab und alle Familienmitglieder zudem eine Kammer mit Feuerstelle und Bettnische ihr eigen nannten. Von der Fallingaburg gelangte man über eine Brücke zu den Wirtschaftsgebäuden, Stallungen und Koppeln.
Seit Jahrhunderten diente die gewaltige Feste mit ihren dicken Mauern und dem Kellergewölbe verschiedenen Häuptlingsgeschlechtern als Sitz und war jetzt das Stammhaus Jan Meesters. Ihm gehörte auch das Steinhaus Drakemond im benachbarten Stapelmoor, ebenfalls eine alte Bauernburg. Dort züchtete sein Sohn Albert die berühmten Friesenpferde. Der zweite Sohn, Geert, war vor Jahren bei einer Geschäftsreise nach Wien von Räubern überfallen und ermordet worden. Als Kind hatte sich Franka die Geschichte wieder und wieder von der alten Anna erzählen lassen.
»Mit Händen und Füßen hat er die Koppel Hengste verteidigt, um schließlich doch den Kürzeren zu ziehen. Ein Kaufmann ist ihm zur Hilfe geeilt. In dessen Armen hat Geert schließlich sein Leben ausgehaucht.«
Jan und Albert Meester handelten mit Pferden in großem Stil. Ganze Koppeln wurden nach Brandenburg, Hannover, nach Sachsen und an die Fürstenhöfe und Bischofssitze geliefert. Auch Österreich, Italien und Frankreich bezogen Militär-, Kutsch- und Reitpferde, aber auch Zuchttiere aus Weener und Stapelmoor.
Jan Meester genoss hohes Ansehen bei der fürstlichen Familie, den Großbauern, Kaufleuten und Händlern. Mit dem einfachen Volk gab er sich dagegen nicht ab. Der Pferdebaron schien die Menschen in Diener und Herren aufzuteilen, und auf dem Gestüt überwogen die Diener. Einzig an den Stallmeister Ole Hinrichs, den Pferdeheiler Jakob und den Reitmeister Adolphe Methieu richtete Jan Meester jemals das Wort.
Franka spähte zum Anwesen herüber, konnte jedoch die stattliche Gestalt des Pferdebarons nirgends entdecken. Jan Meester war kaum größer als ihr Onkel, hielt sich im Gegensatz zu ihm aber sehr gerade. Das volle weiße Haar trug er lang und im Nacken zu einem Zopf gebunden. Auf dem Kopf saß zumeist ein Dreispitz, dessen Hutkrempe an drei Seiten hochgeschlagen war. Wenn der Pferdebaron über das Gestüt stolzierte, erinnerte er Franka mit seinen engen Kniehosen und dem schwarzen überwurfmantel, der sich im Wind blähte, an eine große Krähe.
Franka blickte sich rasch um und lief geduckt weiter auf die Stallungen zu. Zum Glück war auch bei den Wirtschaftsgebäuden noch alles ruhig. Hühner pickten rund um einen großen Misthaufen nach Futter. Zwei Hunde balgten sich im Staub.
Franka öffnete das Gatter und hastete an der Stutenweide vorbei. Sie passierte das kleine reetgedeckte Haus des Stallmeisters Ole Hinrichs und hielt mit angehaltenem Atem Ausschau nach der gedrungenen Gestalt mit dem roten Schopf. Wenn sie Glück hatte, war Ole noch im Haus. Schon in der letzten Woche hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auf dem Gestüt nicht mehr erwünscht war.
Zornig stieß Franka einen Stein aus dem Weg. Sie hatte darauf gehofft, für immer hier arbeiten zu dürfen, doch weil sie eine Frau war, wurde es ihr verweigert. Wie ungerecht! Jetzt blieben ihr nur noch heimliche Besuche und Ausritte bei Nacht.
Bis vor Kurzem war ihre Anwesenheit auf dem Gestüt wortlos hingenommen worden, manchmal hatte der Pferdebaron ihr sogar anerkennend zugenickt und eine Münze springen lassen. Nie gab es Streit zwischen ihr und den Burschen. Die Dorfbewohner hatten sich anfangs zwar das Maul darüber zerrissen, dass ein Mädchen Stallarbeiten verrichtete, doch sie waren Befremdliches von Franka gewohnt. Sie hatte stets eine besondere Rolle im dörflichen Leben gespielt. Ihre Klugheit, das Wissen um Heilkräuter und deren Verwendung, die Pflege erkrankter Pferde - all das hatte ihr zu Anerkennung verholfen. Die Knechte auf dem Gestüt hatten sie akzeptiert und ihre Fähigkeiten im Umgang mit den Pferden bewundert. Doch seit es Franka nicht mehr so einfach gelang, die Rundungen ihres Körpers zu vertuschen, war die Stimmung umgeschlagen. Noch vor zwei Jahren hatte sie wie ein schlaksiger, viel zu dürrer Pferdeknecht ausgesehen, aber jetzt zeichneten sich selbst unter dem weitesten Hemd beim Recken und Strecken weibliche Formen ab.
Franka presste die Lippen zusammen. Was konnte sie dafür, dass die jungen Burschen beim Striegeln nicht mehr auf die Tiere achteten, sondern ihr hinterherschauten, wenn sie in Hosen und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln Ställe ausmistete? Wie hatte sie sich über die Pfiffe erbost, genützt hatte es nichts.
Letzte Woche war Ole mit zerknirschtem Gesicht zu Franka gekommen. »Es fällt mir nicht leicht, aber ich muss dir das Arbeiten auf dem Gestüt, ja selbst das Betreten der Stallungen verbieten. «
»Das kann nicht dein Ernst sein, Ole. Du weißt, dass ich diese Kerle nicht ermutige. Bitte gib deinem Herzen einen Ruck. Ich halte es ohne die Pferde nicht aus!«
»So sehr ich es mir auch wünsche, Franka, es geht nicht länger. Du siehst ja selbst, wohin es führt, wenn eine Frau Männerarbeit verrichtet. Es ist an der Zeit, dass du dich in deine Rolle hineinfindest. Für Frauen gibt es keinen Platz auf einem Gestüt. «
Ole war ihr Freund, und doch konnte Franka nicht anders, als ihm gram zu sein. Was für ein schrecklicher Gedanke, nie mehr hier arbeiten zu können! Franka biss sich auf die Lippen, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Pferde waren ihr Leben! Franka dachte an ihre erste im Stall verbrachte Nacht.
Als kleines Mädchen war sie heimlich zur Fallingaburg gestromert und hatte Stunden damit zugebracht, die Pferde auf den Weiden zu beobachten. Schließlich war sie eines Abends über das verschlossene Gatter geklettert, hatte sich in die Box eines Hengstes geschlichen und war neben ihm ins Stroh gesunken. Immer noch konnte sie sich an das Glückgefühl erinnern, das sie durchströmt hatte. Für einen Moment glaubte Franka, wie damals die samtigen Pferdelippen auf ihrer Haut zu spüren. In den einsamen Nächten, die sie mit den Pferden verbrachte, gab es keine Stimmen und Gesichter, die sie im Schlaf verfolgten. Auch der Albtraum, bei dem sie gemeinsam mit einem Jungen um die Wette ritt, vom Pferd stürzte und in tiefes Wasser fiel, blieb ihr erspart.
Anfangs war ihre Anwesenheit in den Stallungen unentdeckt geblieben, doch dann hatte Jakob, der Pferdeheiler, sie aufgespürt und unter seine Fittiche genommen. Bei ihrer ersten Begegnung war sie zwölf Jahre alt gewesen und ihr Onkel wieder einmal aufgebrochen, um Schmugglergeschäften nachzugehen. Franka schlich am späten Nachmittag zum Gestüt und versteckte sich neugierig hinter hohen Büschen, um einen Hengst zu beobachten, den der Baron auf dem Markt in Norden gekauft hatte.
Das Pferd war massig, muskelbepackt und sein Fell hatte die Farbe von Kastanien. Ein selten schönes Tier. Es preschte mit geweiteten Nüstern über die Weide, wie ein Irrwisch. Franka bewunderte seine leichtfüßige Kraft, die Geschmeidigkeit der Bewegungen. Dichtes Langhaar umwehte ihn wie schwarze Flammen. Der Hengst schien in die Wildnis und nicht hierher zu gehören.
Die Pferdeknechte versuchten, einer nach dem anderen, sich dem Wildfang zu nähern, jedoch ohne Erfolg. Jan Meester selbst kam, doch auch ihn strafte das Tier mit Missachtung. Die erhobene Peitsche des Pferdebarons war dem wilden Hengst nur ein Schnauben wert. Einzig der Reitmeister schaffte es, sich ihm bis auf zwei Fuß zu nähern, bevor das Tier vor ihm aufstieg und wie der Teufel höchstpersönlich davonstob.
Schließlich brach der Abend an, und die Männer beschlossen, den wilden Burschen über Nacht auf der Weide zu lassen. Als Ruhe eingekehrt war, näherte sich der Hengst dem Zaun und begann Gras zu rupfen. Zum ersten Mal wirkte er entspannt. Nur die straff gespitzten Ohren deuteten auf Wachsamkeit hin.
Franka schlich zu dem Bottich mit Hafer, den die Männer hatten stehen lassen. Sie nahm eine Handvoll und schlüpfte durch die Holzbohlen. Dann sprach sie den Braunen an und näherte sich langsam, Schritt für Schritt. Das Pferd hörte auf zu kauen, und Franka blieb stehen und senkte den Blick.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Hengst den Kopf hob. Grashalme lugten zwischen seinen Lippen hervor. Für einen Moment verharrten beide, dann begann das Tier den Kiefer wieder zu bewegen. Es graste weiter und kam langsam näher. Schließlich hätte Franka nur mehr die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren, doch sie blieb reglos. Der Hengst schien nicht zu wissen, was davon zu halten war.
»Verdammt, was tust du da?«, zischelte eine Stimme in Frankas Rücken. »Versuche zu fliehen. Du kannst diesem dunklen Teufel nicht trauen, du Närrin!«
Franka beachtete den Ratschlag nicht. Sie konzentrierte sich nur auf das Pferd, streckte ihm ihre Hand entgegen und bot dem wilden Hengst Hafer an. Der Duft schien ihn zu erreichen. Die Nüstern weiteten sich.
»Nimm es ruhig, mein Lieber. Du brauchst vor mir nicht so stolz zu tun. Ich bin doch nur Franka. Wenn du willst, können wir Freunde sein.«
Der Braune blieb unschlüssig stehen. Der Hafer schien ihn zu locken, aber mehr noch die Stimme des Mädchens, das ihn nicht zu fürchten schien. Ein Schauer überlief den mächtigen Leib. Seine gespitzten Ohren bewegten sich wie fragend hin und her.
Franka war immer noch ganz ruhig. Sie spürte eine besondere Verbindung zu dem Wildfang. Er wollte zu ihr kommen, er wollte es so gerne.
»Du kannst diesen Hafer haben. Drüben steht noch ein ganzer Bottich voll. Ich hol ihn dir, aber zuerst musst du mir aus der Hand fressen.«
Franka hörte, wie die Person hinter ihr scharf den Atem einzog, als der Braune den Kopf vorreckte und mit seinen Nüstern einen Geruch aufzusaugen schien. Diesmal vielleicht den von Franka.
Schließlich war der Hengst bei ihr. Franka spürte seine Kraft, doch es war keine Angst in ihr. Es kam ihr vor, als ob der Hengst und sie zur gleichen Familie gehörten. Vielleicht empfand er es auch so. Seine Augen ruhten auf ihr, der Leib zitterte und dann senkte er den Kopf und las mit den Lippen ganz sanft die Körner aus ihrer Hand. Frankas spürte die weichen Bewegungen seines samtenen Mauls.
»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Lieber. Kannst dir in aller Ruhe die Leckerei einverleiben. Ist doch was anderes, als immer nur Gras zu fressen.«
Sie versenkte eine Hand in seine lange Mähne. Wie weich er war. Wie warm und gut sich der Hengst anfühlte.
Als das letzte Korn gefressen war, schmiegte sich Franka an den mächtigen Leib des Tieres. Er drängte sich ihr leicht entgegen.
»Du könntest bequem im Stall schlafen. Hier will dir niemand etwas Schlechtes. Was meinst du? Soll ich dich hinbringen? «
Sie löste sich von dem Hengst, der mit hoch erhobenem Kopf erneut über die Weide preschte. Lächelnd sah Franka ihm nach, bis er mit einer Würde, die niemandem anerzogen werden konnte, zu ihr zurückkehrte.
»Komm!«
Das Maul des Pferdes fuhr spielerisch an den Knöpfen ihres Kleides entlang. Schließlich nahm er einen zwischen die Zähne und zupfte daran. Franka gab ihm einen leichten Schlag auf die Wange.
»Lass das! Wenn du mir das Kleid zerreißt, dann bekomme ich Ärger mit Onkel Malte. Außerdem schmeckt so ein Knopf überhaupt nicht. Dir würde schlecht davon werden.«
Sie hörte hinter sich ein Aufstöhnen. Zuerst dachte Franka, der Hengst würde wüten, aber er schien eher überrascht von ihrem Tun. Vielleicht hatte ihm noch nie jemand die Leviten gelesen. Sie war - auch wenn dieser Bursche und sie sich anfreundeten - nicht gewillt, sich alles gefallen zu lassen. Er musste lernen, wo seine Grenzen waren.
»Willst du jetzt noch mehr Hafer und ein weiches Bett?«
Franka schob ihre Hand unter das Kinn des Hengstes, und der Braune folgte ihr. Franka führte ihn von der Weide, öffnete die zweite Hälfte der Flügeltür zu seinem Verschlag und schob das Tier hinein. Sie blieb noch eine Weile, bis sich das Pferd an die neue Umgebung gewöhnt hatte.
Am liebsten hätte sie sich zu ihm ins Stroh gelegt, doch Franka wusste, dass draußen jemand auf sie wartete. Sie verließ den Pferch und lief geradewegs Jakob, dem Pferdeheiler, in die Arme.
Er sah ihr kopfschüttelnd entgegen. »Ich habe Blut und Wasser geschwitzt! Nun sag mir nur, wie um Gottes willen du das geschafft hast?«
Franka zuckte mit den Schultern.
Jakob kniff die Augen zusammen und betrachtet sie eingehend. »Du bist Franka, nicht wahr? Die Leute im Dorf sprechen manchmal über dich.«
Franka nickte und schielte verlegen zu ihren Schuhspitzen. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. »Ich möchte gerne hier auf dem Gestüt arbeiten.«
»Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
Jakob sah auf sie herunter und musterte ungläubig Frankas kleine magere Gestalt. »Mm. Wenn ich sehe, wie du mit dem wütigen Burschen umgegangen bist, könnte das ganz nützlich sein. Die Entscheidung obliegt aber nicht mir, sondern Ole, dem Stallmeister. Da kommt er gerade, wie gerufen!«
Bei Oles Anblick sank Franka das Herz. Er machte ein verkniffenes Gesicht und zog die Stirn kraus.
»He, Jakob, hast du nichts Besseres zu tun, als Kindermagd zu spielen? Was tut die Kleine um diese Zeit noch hier?«
»Sie bietet uns ihre Hilfe an, und wenn ich du wäre, Ole, dann würde ich das Angebot nicht ausschlagen.« Er zwinkerte dem Stallmeister zu und berichtete mit wenigen Worten von der Zähmung des Hengstes. »Also? Es kann doch wahrlich nicht schaden, wenn wir dieses Mädchen auf dem Gestüt wirken lassen. Meine Augen werden immer schlechter. Sie kann mir neben der übrigen Arbeit beim Kräutersuchen helfen.«
Ole wandte sich mit gerunzelter Stirn Franka zu: »Malte Freerks ist dein Oheim, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Da bleibt nur zu hoffen, dass du nicht ein ebensolcher Faulpelz bist wie er.«
Franka schüttelte entschieden den Kopf. Ihre Augen flehten ihn an. »Ich werde fleißiger sein als jeder Knecht, das verspreche ich.«
»Also gut! Glaub aber nicht, dass der Pferdebaron groß seine Geldbörse für dich zückt. Ich werde dir höchstens mal eine Kleinigkeit zuschieben können.«
»Ich will kein Geld, sondern nur mit Pferden arbeiten.«
»Na dann, Franka. Ich will es mit dir versuchen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Bis morgen. Und bring dir ordentliches Schuhwerk mit.«
Jakob begleitete sie zurück nach Hause. Franka lief wie auf Wolken.
»Versprichst du mir, den Mund zu halten?«
»Worüber?«
»Darüber, dass es dir gelungen ist, den Teufelsbraten in ein Lämmchen zu verwandeln.«
»Ich erzähl es keinem, Ehrenwort!«
»Gut. Dann werde dir helfen, was das Arbeiten auf dem Gestüt angeht.«
Jakob selbst sah so aus, als ob ihm jemand helfen müsste. Die Beine des Pferdeheilers waren von vielen Reitunfällen verkrümmt, seine Hände steif und verformt. Auf dem Kopf trug er stets einen schäbigen Strohhut, den er einst einem Mennoniten abschwatzt hatte. Unter dem Hut lugte struppiges graues Haar hervor, das er scheinbar nie schneiden ließ. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht und gaben ihm einen traurigen Ausdruck, den nur die funkelnden blauen Augen Lüge straften. Dass Jakob kein Trauerkloß war, erkannte Franka schnell. Nicht lange, und sie waren ein Herz und eine Seele. Der Pferdeheiler wurde Franka zum väterlichen Freund.
Bald konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Mit Jakob teilte sie Freude und Leid. Er wischte ihr die Tränen des Zorns von den Wangen und machte ihr Mut, den Hänseleien der Dorfkinder zu trotzen. Jakob lehrte sie reiten und mit Fuhrwerken und Pferdegespannen umzugehen.
Franka lernte die Tage zu lieben, an denen ihr Onkel für länger seinen Geschäften nachging und sie bei Jakob sein konnte. Sie aßen gemeinsam in seiner Wohnung über der Sattelkammer die würzigen Eintöpfe, für die er berühmt war. Franka liebte sein kleines Domizil, in dem es stets nach Leder und Pferden roch. Neben der schmalen Schlafkammer, die nicht mehr beinhaltete als ein Strohlager mit einer geräumigen Holzkiste am Kopfende, gab es eine Küche, in der blank gescheuerte Töpfe und Pfannen sowie ein großer Tisch das Bild bestimmten. Dort saßen die beiden Freunde oft, und Franka lauschte hingebungsvoll Jakobs Geschichten, in denen es zumeist um die schwarzen Perlen des Gestüts, die Friesen, ging. Franka war seit jeher wie verzaubert von den wundervollen Geschöpfen mit dem wallenden Langhaar, der pechschwarzen Farbe und den sanften Augen.
Jakobs Gesicht trug einen feierlichen Ausdruck, wenn er davon erzählte, dass die Friesen eine uralte Rasse seien und schon in den Schriften des Tacitus, eines römischen Geschichtsschreibers, erwähnt wurden. Sie waren an den Ufern der Nordseeküste von den Frisii, dem germanischen Volksstamm der Friesen, gezüchtet worden.
»Im Mittelalter schätzte man sie als gute Streitrösser. Die Friesen waren die Ritterpferde schlechthin, unschlagbare Bastionen auf vier Beinen. Ihre heutige Eleganz und die erhabenen Bewegungen verdanken unsere Schwarzen der Veredelung mit spanischen Hengsten während des spanisch-niederländischen Krieges. Doch es sind immer noch Nachfahren jener mächtigen Ritterpferde, die wir hier auf dem Gestüt und auf Drakemond züchten. Das sollten wir nie vergessen.«
Die Liebe zu dem Land, dem Gestüt und den Pferden und ihre Gespräche darüber knüpften ein festes Band zwischen Franka und Jakob. Bald war es für alle ein vertrautes Bild, dass sie gemeinsam die Tiere versorgten, Ställe ausmisteten und am Trog standen, um Gesicht und Hände zu waschen.
Im Winter, als die Schulzeit wieder begann, zauberte Jakob zu Frankas größtem Erstaunen Bücher aus seiner großen Kiste hervor, aus denen sie sich vorlasen. Den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, saßen die beiden im Stroh und verbrachten die Stunden wie verloren für die Welt ringsum. In der Nase den Duft von Heu, neben sich die braune Loki, die sie schubste und ihre Lippen nach der Streu ausstreckte, auf der sie saßen.
Ihrem Onkel blieben diese Ausflüge nicht verborgen.
»Wenn du dir schon freiwillig die Hände schmutzig machst, dann wirst du dies zukünftig für mich tun«, bestimmte er.
Von da an bereitete Franka das Mittagessen an den Abenden vor und begleitete ihren Onkel täglich zum Gestüt. Malte Freerks versorgte die Reittiere der Meesters, zu denen auch Tyr gehörte, bald jedoch war es Franka, die die meiste Arbeit tat. Nie wurde ihr etwas zu viel, und sie war sich für nichts zu schade. Sie stapfte ungerührt durch den dicksten Pferdemist und näherte sich sogar unerschrocken dem wilden Hengst Wotan, um ihm die Hufe auszukratzen.
Das tägliche Reiten der Tiere aber war ihr Liebstes. Es schien, als ob Franka auf dem Rücken eines Pferdes geboren sei. Sie ritt bei Wind und Wetter und sprang mühelos über die breitesten Gräben. Jedes noch so unbändige Pferd wurde bei Franka lammfromm. Sie liebte die Pferde, und die Pferde liebten sie. War eines krank, dann fühlte auch Franka sich sterbenselend. Es hielt sie nicht zu Hause. Stundenlang, nächtelang leistete sie Jakob Gesellschaft, wenn er bei den kranken Tieren wachte.
Mit ihm suchte Franka an Sonntagen, wenn ihr Onkel noch schlief, die Umgebung nach Heilpflanzen ab, deren Verwendung für sie bald kein Geheimnis mehr war. Jakob gab freudig all sein Wissen an sie weiter, und Franka saugte seine Worte auf wie ein Schwamm.
»Wir brauchen Pfefferminze, Thymian, Kamille und Fenchel, Franka. Davon braue ich den Pferden im Winter einen warmen Tee. Der tut ihnen genauso gut wie uns und hält Krankheiten fern.«
»Werden die getrockneten Kräuter abgeseiht?«
»Die Pferde schlabbern das Nass samt Einlagen. Mit feinem Hafer und Leinsamen lässt sich auch ein leckerer Eintopf daraus machen. Nimm auch vom blühenden Löwenzahn, Franka, der regt die Verdauung an. Und sieh dich vor bei den Brennnesseln. «
»Wie war das noch? Sie sind harntreibend, aber auch entzündungshemmend. «
»Richtig, mein Kind.«
Stundenlang stromerten sie über die Wiesen, durch das nahe Wäldchen und am Fluss entlang. Mit Körben voller Blätter und Blüten kehrten sie lachend und singend zum Gestüt zurück. Manch schiefer Blick streifte die frühen Wanderer. Kräuterhexe rief die alte gehässige Dorle hinter Franka her und murmelte etwas von Hexenbesen und schwarzen Katzen. Franka scherte sich nicht darum.
Gemeinsam mit Jakob half sie Pferden, die Koliken hatten, verabreichte Hagebutten gegen Blähungen und behandelte nässende Ausschläge. Bald wusste Franka genauso gut wie Jakob, dass eine Fütterung aus Stiefmütterchenkraut, Löwenzahnwurzel und Brombeerblättern bei nässenden Scheuerstellen half und Spitzwegerich Insektenstiche linderte. Neben ihrem schnellen Auffassungsvermögen war es ihre intuitive Begabung im Umgang mit den Tieren, die Jakob sehr beeindruckte.
»Wie machst du das nur?«, fragte er eines Morgens nach einer durchwachten Nacht, in der Franka eine der hoffnungsvollen Stuten mit schweren Koliken vor einem qualvollen Ende gerettet hatte. Das Pferd war trotz all ihrer Bemühungen in die Knie gebrochen. Einem Tier, das sich aufgibt, ist nicht mehr zu helfen, das wusste auch Franka. Trotzdem hatte sie sich neben die Stute ins Stroh gelegt und auf sie eingeredet, bis das Pferd sich schließlich wie in Trance mit zitternden Flanken wieder aufrichtete. Gemeinsam waren sie mit dem Pferd gelaufen, bis es ihm nach einer schier endlosen Zeit wieder besser ging.
»Wie hast du Feronia dazu gebracht aufzustehen?«
»Ich kann es schlecht erklären, Jakob. Es gibt Momente, in denen ich spüre, was in den Pferden vorgeht. Dann bin ich ihnen ganz nahe, und sie hören auf mich. Ich habe die Stute angefleht, aufzustehen, und sie hat es getan.«
Jakob schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gar nicht erst zu versuchen brauchen. Wäre ich alleine gewesen, gäbe es dieses Pferd jetzt nicht mehr.«
Franka wollte abwiegeln, doch Jakob ließ sich nicht beirren. »Es ist so! Weißt du, Franka, ich habe mich immer damit getröstet, dass Pferde uns Menschen nie völlig vertrauen. In ihnen ist und bleibt ein winziger Argwohn. Vielleicht weil wir nicht immer Gefährten waren. In uralter Zeit wurden Pferde nicht geritten, sondern als Beute gejagt. Mag sein, dass sie im tiefsten Inneren noch heute darum wissen. Ich glaube, es gibt nur wenige Auserwählte, denen Pferde grenzenlos vertrauen. Du bist eine davon. In alter Zeit nannte man solche Menschen Pferdeflüsterer. Damals glaubte man noch, es wären Zaubersprüche, die sie den Tieren ins Ohr flüsterten und die diese dann gefügig machten.«
»Es hat nichts mit Zauberei zu tun. Da ist etwas zwischen mir und den Pferden, Jakob. Manchmal kommt es mir vor, als ob ich ihre Sprache kenne. Aus dem was Pferde tun, wie sie sich bewegen, erkenne ich, was sie fühlen, ob ein Tier etwas verweigert, weil es bockig ist, oder ob es Angst hat. Das zu wissen ist wichtig, um den richtigen Schritt zu tun. Hat es Angst, dann helfen weder Peitsche noch Sporen.«
»Diese Gabe ist ein Geschenk, mein Kind. Sprich mit niemandem darüber. Die Leute würden es für Hexerei halten.«
»Das ist es nicht, Jakob.«
»Ich weiß. Möge Gott geben, dass deine Gabe dich niemals in Schwierigkeiten bringt, und möge sie vielen Pferden zu Gutem gereichen.«
Von Jakob hatte Franka in den acht Jahren, die sie bereits zusammen arbeiteten, alles über Pferdeheilkunde, die Zucht der Tiere und den Betrieb eines Gestüts gelernt. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als an seiner Seite bleiben zu können, doch damit war es ja nun leider vorbei! Selbst eine hitzige Auseinandersetzung zwischen Ole und Jakob hatte daran nichts ändern können.
»Mein Gott, Jakob, was soll ich denn tun? Etwa darauf warten, dass sich einer der Heißsporne den Hals bricht? Um ein Haar wäre Remmer Dojen vom wildesten Gaul des Gestüts geflogen, nur weil er Franka mit seiner Reitkunst imponieren wollte. Dieser dumme Bengel!«
»Aber dafür kann Franka nichts!«
»Oh doch. Sie ist der alleinige Anlass dafür. Und weil das so ist, muss Franka gehen. Ich kann ja wohl kaum sämtliche Burschen vom Gestüt jagen und darauf hoffen, dass sich die Arbeit von alleine tut!«
Franka stampfte bei jedem Schritt auf dem Weg zum Hof beinahe auf vor Zorn. Heute Morgen würde sie trotz des jüngsten Verbots ihre Arbeit tun. Die Tiere waren das Wichtigste. Sie mussten versorgt werden.
Leises Wiehern klang zu Franka herüber, als sie die Ställe der Stuten hinter sich ließ. Ganze achtzehn von ihnen waren trächtig, und bald würde die Zeit des Fohlens beginnen. Es gab zwei Deckhengste auf dem Gestüt, mehrere Jährlinge und Zweijähre sowie sechzehn Hengste, deren Ausbildung so gut wie abgeschlossen war und die zum Verkauf standen.
Franka kam an einer großen Scheune und dem Hof vorbei, in dem Eckehard, der Hufschmied, wohnte. Neben dem Beschlagen der Tiere stellte er Sättel, ledernes Zaumzeug und Stiefel her. Noch brannte kein Feuer im Schmiedeofen. Alles war still, die Stalltüren geschlossen.
Endlich erreichte sie die Holzgebäude, in denen die Hengste untergebracht waren. Franka spähte durch die erste Tür. Nur die untere Hälfte war fest verschlossen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie Tyr entdeckte. Sein pechschwarzes Fell ließ ihn fast eins werden mit der Dunkelheit im hinteren Teil des Stalles. Als der Hengst Franka wahrnahm, kam er näher und wieherte freudig. Sie strich über seine Nüstern. Die Luft war warm und schwer vom süßen Geruch nach Heu und Dung. Franka legte ihren Arm um Tyrs Hals und lehnte ihre Stirn gegen den großen, warmen Pferdekopf.
»Guten Morgen. Hast du dich erholt von unserem Ausritt?«
Franka schloss die Augen und genoss für einen Moment das Zusammensein mit Tyr. Seine Mutter war eine der besten Zuchtstuten und sein Vater der berühmte Zeus. Der Deckhengst war vor zwei Jahren gestorben, Tyr gehörte zu seinem letzten Jahrgang.
Franka ging die Ställe entlang und begrüßte nun auch die anderen Schützlinge ihres Onkels. Sie nannte alle Pferde beim Namen, streichelte jedes einzelne, bevor sie mit der Arbeit begann. Franka schleppte randvolle Wasserkübel heran, holte Karotten, Hafer und Fuder von Heu. Eine ruhige Gelassenheit ergriff Besitz von ihr, als sie nach Bürste und Striegel griff. Später trieb sie Tyr und die anderen Hengste auf die Koppeln, mistete deren Einstellplätze aus und gab neue Streu hinein.
Dann begab sie sich in die Sattelkammer, über der Jakob wohnte. Kein Laut war von oben zu hören. Mit geschlossenen Augen nahm Franka den vertrauten Geruch nach Stroh und Leder in sich auf. Sie griff nach Zaum- und Sattelzeug, um diese einzufetten, und besserte das eine oder andere aus.
Schließlich langte Franka nach einer Bürste. Heute würde sie ausnahmsweise Tyrs langes Haar kämmen. Sonst verlas Franka die Mähne nur von Hand, da jedes Haar zu schade war, um es durch das Bürsten zu verlieren. Doch da Jan Meester nach langer Zeit wieder einmal auf dem Friesen reiten wollte, sollte er seine volle Pracht zeigen.
Sie musste sich eilen. Nicht mehr lange, und die Morgenbetriebsamkeit auf dem Gestüt würde beginnen. Franka trat auf den Platz vor den Ställen und blickte über das Gelände. Leichter Nebel lag über den Weiden. Bald schon würde die Kraft der Sonne die Schwaden vertreiben und alles in helles Licht tauchen. Franka erkannte die Umrisse grasender Pferde und nahm schemenhaft die Begrenzungen wahr. Hinter den Stallgebäuden lag das Trainiergelände. Es war überdacht, damit Adolphe, der Reitmeister, auch bei schlechtem Wetter seine übungen absolvieren konnte. Er war eigens vom alten Meester eingestellt worden und verstand sein Handwerk meisterhaft. Unter Adolphe Methieus Leitung kümmerten sich vier talentierte Reitknechte um die Grundausbildung der Pferde, die an die Höfe verkauft werden sollten. Dafür waren Ausdauer und Disziplin nötig. Es dauerte Jahre, damit die Hengste rittig genug waren und den Anforderungen der hohen Schule der Pferdedressur genügten. Jeder Reitknecht war für mehre Tiere verantwortlich und kümmerte sich neben dem Training auch um die Versorgung und das Wohlbefinden seines Schützlings. Schon früh, wenn die Hengste noch Kleinkinder auf vier Beinen waren, traf Adolphe die Wahl unter ihnen. Nicht in jedem Pferd steckte das Potenzial, ein Hengst für seine Reitkunstschule zu werden.
Adolphe, der Franzose war und auch leidlich Italienisch sprach, reiste jährlich mit einem Tross Hengste an die Fürstenhöfe. Er präsentierte die Pferde der Meesters, und sie hatten bislang stets gute Preise erzielt.
Im Gegensatz zu den Reitknechten, die einfachste Kleidung trugen, wirkte Adolphe mit seinen Kniehosen, der eng anliegenden Weste mit Halsbinde und dem Dreispitz stets wie ein Paradiesvogel. Nur die fehlende Perücke und die derben Strümpfe ließen erkennen, dass er auf einem Gestüt weilte und nicht bei Hofe.
Franka hatte sich oft in der Nähe des Trainiergeländes versteckt und den Meister der Reitkunst belauscht.
»Pferd und Reiter wollen auf dem Schlachtfeld überleben. Das müssen wir uns immer vor Augen führen und so die Hengste ausbilden«, hörte Franka ihn sagen, während die Reitburschen ehrfürchtig lauschten. »Im Nahkampf braucht es keine Beschleunigung, sondern Wendigkeit auf kleinstem Raum. Die Pferde müssen lernen, sich um die eigene Achse drehen zu können, auf den geringsten Wink hin Richtung und Tempo zu wechseln. Sie müssen auf jeder Hufe gleichermaßen flink sein, vorne und hinten steigen und auskeilen können, um sich auch in dichtem Getümmel Raum zu verschaffen. Leichtgängig, feinfühlig, nervenstark und sich dem Willen des Reiters bedingungslos unterordnend - so muss das ideale Militärpferd sein. Und solche Hengste will ich hier mit euch ausbilden.«
Zwar wurden die Pferde mittlerweile weniger an die Armee, als zu Repräsentationszwecken an die Fürstenhöfe verkauft, doch auch dort schätze man gut ausgebildete Reittiere, die Feuer und Temperament ausstrahlten.
In den letzten Jahren hatte Franka auch die reiterlichen Lektionen des Franzosen heimlich beobachtet und alles über die Grundgangarten, Seitengänge, Piaffen und Passagen gelernt. Onkel Maltes Abwesenheiten nutzte sie in Vollmondnächten zu Ausritten mit Tyr, bei denen sie sich an den Lehrstücken übten. Längst schon wusste sie, wie sein Verschlag sich öffnen ließ und war in das Geheimnis verschlossener Gatter eingeweiht. Manchmal gelang es ihnen auch, bei den täglichen Ausritten zu trainieren. Eines ihrer Ziele war ein verfallener Stall, in dem sie verschwanden und aus dem sie erhitzt wieder auftauchten.
Von Anfang an hatte auch Tyr Gefallen am Dressurreiten gefunden. Er war neugierig und lernwillig. Mittlerweile bewirkte allein der Gedanke und die winzigste Bewegung von Franka, dass Tyr die gewünschte Lektion ausführte, und er tat es mit einer Leichtigkeit, die den Eindruck vermittelte, auch die schwierigsten Figuren seien mühelos zu bewältigen.
Anfangs hatten sie - ganz nach den Vorgaben des Franzosen - vom Boden aus gearbeitet, später dann aus dem Sattel heraus. Tyr lernte, erste Hilfen und Hinweise von ihr anzunehmen. Sie erprobten sich am versammelten Schritt, bei dem das Pferd vermehrt Last mit der Hinterhand aufnahm und dadurch kürzere und erhabenere Schritte zeigte.
Als Tyrs Bein- und Rückenmuskulatur ausreichend gestärkt und die Hinterhand geschult war, wagte sich Franka an die Seitengänge, ursprünglich Kampfübungen, in denen sich der Hengst in ganz bestimmter Weise vorwärts und seitwärts bewegte. Man zeigte dem Gegner nur den Bug und nicht die Breitseite, täuschte ihn, wo es nur ging, um geschickt manövrieren zu können.
Es dauerte zwei Jahre und viele Vollmondnächte, bis sie mit ihm schwierige Lektionen wie den spanischen Schritt, der sich aus dem natürlichen Imponiergehabe eines Hengstes ableitete, die Piaffe, eine trabartige Bewegung auf der Stelle, oder die Pirouette, bei der sich das Pferd auf kleinstem Raum tummeln musste, perfekt beherrschte.
Manchmal fragte Franka sich, ob der Pferdebaron nicht merken müsste, auf welchem Juwel er ritt. Jan Meester wusste, dass sie es war, die Tyr jeden Tag bewegte, und hatte sich oft anerkennend über seinen guten Zustand und die gutmütige Lebhaftigkeit des Hengstes geäußert. Ihm war wohl aufgefallen, dass er den kleinsten Wink verstand und niemals müde zu werden schien, aber mehr auch nicht. Es brauchte nicht nur ein ausgebildetes Pferd, sondern auch den dazugehörigen Reiter, um die Reitkunst auf die Bühne zu bringen.
Franka lächelte vor sich hin. Wie gerne würde sie einem Menschen zeigen, zu was dieser Hengst fähig war. Oft hatte sie an Jakob gedacht, doch selbst ihn mochte sie nicht in ihr Geheimnis einweihen. Zu groß war die Furcht vor einem Verbot.
Das schrille Wiehern eines braunen Jährlings, der ausschlug und schließlich mit ein paar schnellen Sprüngen über die Koppel jagte, brachte Franka in die Gegenwart zurück. Sie lehnte sich gegen das hölzerne Tor und beobachtete den Wildfang.
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Unvermittelt hielt er inne. Eine zweite Gestalt, ein kleines Mädchen, lag bäuchlings über dem Holz. Als ihre Augen sich trafen, begann das Kind zu schreien.
Der Mann trieb sein Boot voran, erreichte den Baumstamm und warf das Paddel auf die Planken. Er streckte seine Hände aus, spannte die Muskeln an und zog. Die Frau rührte sich nicht. Ihr Gesicht trug einen leeren Ausdruck. Fluchend löste der Mann ihre Finger gewaltsam vom Holz, packte fest zu und zerrte die durchnässte Gestalt in das Boot. Der Kahn schwankte mächtig unter der Last und trieb vom Baumstamm fort.
Keuchend sank der Mann in die Knie. Sein Blick hing an dem Goldschmuck. Wieder schrie das Mädchen. Ein unentschlossener Moment, dann griff er nach dem Paddel und ruderte erneut an den Baumstamm heran. Das Mädchen streckte ihm die Arme entgegen. Er wollte sie zu fassen kriegen, doch es gelang ihm nicht. Mit einem Schrei glitt das Kind ins Wasser. Es tauchte unter und wieder auf, versuchte nach der Seitenwand des Bootes zu greifen, doch die Finger verfehlten ihr Ziel. Das Mädchen versank erneut, und er sah nur noch ihre nassen Strähnen an der Wasseroberfläche. Der Mann beugte sich vor, griff in die dichte Mähne, biss die Zähne zusammen und zog. Mit einer gewaltigen Anstrengung hievte er die Ertrinkende ins Boot. Beider Atem ging keuchend. Das Kind würgte. Wasser lief in Strömen aus Kleidung und Haaren in das schwankende Boot. Der Mann fluchte.
Das Mädchen klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Ihre Augen glitten zu der Frau. Sie rutschte auf die Gestalt zu, streichelte, sanfte Worte murmelnd, das Gesicht. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie rot gefärbtes Wasser sah, das aus dem Haar auf die Schiffsplanken lief.
Panisch wandte sie sich dem Mann zu, sagte etwas in einer Sprache, die er nicht kannte, richtete sich auf und griff nach seinen Händen. In ihren großen dunklen Augen lag ein Flehen. Ihre Finger fühlten sich eisig an vom kalten Wasser. Der Mann löste sich aus der Umklammerung und sank langsam in die Knie. Er schob sich zu der Frau vor, berührte zuerst den Gold- schmuck um ihren Hals, dann den Stoff des kostbaren Brokatmantels. Sein Blick streifte einen Beutel, den sie um die Hüften geknotet trug. Rasch öffnete er die Verschnürungen. Seine Augen weiteten sich, als er die glatten schweren Münzen sah.
Entrüstet zerrte das Mädchen wieder an ihm. Der Mann wischte ihre Hände fort. Er schob den Mantel der Verletzten auseinander, knöpfte das Kleid auf und legte ein Ohr an ihr Herz. Er lauschte. Da war nichts. Noch einmal hielt er den Atem an. Nichts!
»Sie ist tot!«
Das Kind begriff nicht.
»Tot!« Er machte eine entsprechende Handbewegung.
Das Mädchen schrie auf und stieß wieder Worte hervor, die er nicht verstand. Sie umklammerte seine Arme und zog und zerrte.
Das Boot drohte zu kentern. Wütend stieß er sie von sich. Das Mädchen fiel. Ihr Kopf schlug gegen das Holz des Bootes. Sie öffnete die Augen, rührte sich aber nicht.
Der Mann griff wortlos nach dem Paddel und hielt auf das Ufer zu.
I Weener
April bis Mai 1698
Der volle Mond lag Franka im Blut, sie spürte, wann sich der Himmelkörper rundete. Diese Nächte gehörten ihr und Tyr, und der Hengst wusste darum. Er wartete auf sie. Franka blickte sich nach allen Seiten um, denn niemand durfte erfahren, dass sie hier war. Auf dem Gestüt herrschte vollkommene Stille, die nur ab und zu durch ein leises Rascheln unterbrochen wurde. Franka öffnete zuerst das Vorhängeschloss und dann das Tor des Stalls. Tyr wieherte freudig und trabte mit federnden Sprüngen auf sie zu. Seine dunkle Mähne umwogte ihn wie eine seidige Wolke. Der pechschwarze Hengst sah wunderschön aus mit seinem edlen Kopf, der breiten Brust und dem langen Schweif, der fast den Boden berührte.
Franka streckte die Hände nach ihm aus, doch Tyr blieb in einiger Entfernung stehen. Den Schweif hoch gereckt zog er Pirouetten, tänzelte hin und her und kam schließlich näher.
Franka lachte und strich sanft über den mächtigen Hals des Hengstes. Tyr schnaubte leise und streckte sich wohlig.
Franka berührte sein Antlitz, strich ihm das Haar zwischen den Augen zusammen und verfolgte die Linien seines Kopfes mit den Fingerspitzen.
»Einen Hengst wie dich hätten sie im alten Orient mit Gold aufgewogen.«
Für einen Augenblick legte sie ihre Stirn an seine und verharrte still. Dann schwang sich Franka auf Tyrs Rücken, und sie verschmolzen zu einer Einheit. Franka spürte unter sich die mächtige Ansammlung von Kraft und Schnelligkeit, die sich mit ihren Gedanken verband. Sie ließen das Gestüt hinter sich.
Nicht lange, und Franka flog auf dem Rücken des Hengstes dahin, als ob er schwebte. Vor ihnen das weite Land, Himmel und Erde, unbegrenzt von Zäunen und Mauern. Wie herrlich das war!
Ich habe dir die Macht verliehen zu fliegen, ohne Flügel, zu siegen, ohne Schwert.
Der Gott der Araber sollte diese Worte gesagt haben, zumindest behauptete Jakob das. Franka hatte seine Stimme noch im Ohr.
»Allah schuf das Pferd, ein Wesen ohnegleichen, indem er eine Handvoll Südwind nahm und ihm Atem einhauchte. Alle Schätze der Erde legte er zwischen seine Augen, und Edelmut flocht er in das Haar seiner Stirnlocke.«
Es gab eine Legende um diese Worte. Gott hatte das Pferd geschaffen, damit es den Menschen dienen sollte, aber das Pferd weigerte sich. Da versprach der Allmächtige ihm, dass es nach seinem Tod wieder zu Wind und in ewiger Freiheit leben würde.
Jedes Mal wenn Franka in Vollmondnächten auf Tyr ritt, kam es ihr vor, als ob sie diese versprochene Freiheit schon im Diesseits ein Stück weit spüren konnte.
Als der Fluss in Sicht kam, hielten sie an. Aus Tyrs warmem Fell stiegen Dampfwolken in die Nachtluft auf. Frankas Blick schweifte zu dem silbrigen Band, in das der Mond die Ems verwandelt hatte. Wie von einem unsichtbaren Atem bewegt, kräuselte sich das Wasser in sanften Wellen. Die alten Weiden am Ufer schienen ihr wie Riesen, deren Frühlingslaub ihr Geheimnisse zuraunten. Franka fühlte sich wie verzaubert. Fast glaubte sie, Elfen und Einhörner zwischen den Bäumen wandeln zu sehen. Durch diese Unwirklichkeit drang der Schrei eines Nachtvogels zu ihr herüber.
Immer schon war da eine besondere Verbindung zu diesem Ort am Strom gewesen, eine Faszination, die Franka sich nicht erklären konnte. Es war ein erregendes Abenteuer, in Vollmondnächten den Hengst zu reiten, mit ihm hierher aufzubrechen. Nicht einmal Jakob wusste davon.
Im Mondlicht schimmerte Tyrs schwarzes Fell silbrig. Das Pferd stand ganz still, und für einen Moment hatte Franka das Gefühl, auf einer erlesenen kostbaren Bronzefigur zu sitzen. Doch dann spürte sie die Wärme des Hengstes. Er war ganz und gar lebendig! Mit ihm fühlte auch sie sich so. Franka nahm den Einklang zwischen ihnen wahr. In Augenblicken wie diesen war sie wunschlos glücklich.
Franka erwachte schlaftrunken und glaubte für einen Moment, immer noch wie eine Tochter des Windes auf Tyrs Rücken dahinzufliegen. Stattdessen lag sie längst wieder auf ihrem Strohlager, und die Müdigkeit umgab sie wie ein Schleier. Franka lauschte auf das Trommeln der Regentropfen, das sie geweckt hatte. Die Nacht war kurz gewesen. Franka schob die Vorhänge ihres Wandbettes beiseite und lugte zum Fenster hinüber. Der Morgen dämmerte bereits heran. Sie horchte erneut. Bis auf den Regen war alles ruhig. Zu ruhig!
Franka sprang aus dem Alkoven und öffnete leise die Tür zum Nebenraum. Das Bett war leer! Es würde bald hell werden, und ihr Onkel war immer noch nicht zurück!
Franka ging in die Küche mit den fleckigen Wänden und dem schlichten Mobiliar. Es gab einen Herd, eine alte Runddeckeltruhe aus Eichenholz mit dunklen Beschlägen und einen kleinen Schrank. Auf dem Tisch standen Tonschüsseln und ein Kupferkessel. Davor drei wackelige Stühle. Ein Berg Kleidung lag auf einem von ihnen und wartete darauf, geflickt zu werden.
Unruhig trat Franka ans Fenster und blickte durch die rautenförmige Scheibe auf den Sandweg, der zum Dorf führte. Der Zauber der Nacht hatte sich verloren. Die Bäume waren im Regen kaum mehr als dunkle Gerippe. Ihr Blick wanderte den leeren Pfad hinunter, dorthin, von wo er kommen musste.
Wäre ich doch ein Mann, dachte sie nicht zum ersten Mal.
Franka betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und seufzte. Nur eine Frau! Sie bewegte den Kopf hin und her und betrachtete ihr schmales Gesicht, die großen Augen und den sorgsam aufgesteckten Knoten. Mit der geraden Nase, den missbilligend verzogenen Lippen und dem entschlossenen Kinn sah sie gouvernantenhaft aus. Fehlten nur noch Rohrstock und Lehrbuch. Sie streckte sich die Zunge heraus.
Ein Brüllen von draußen unterbrach ihre Betrachtung.
»Franka!«
Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Ihr Onkel Malte lehnte im Türrahmen. Die Laterne lag am Boden. Seine Kleidung war dreckig und triefte vor Regen. Strähnen grauer Haare lugten wie Staubfäden unter dem Hut hervor. Seine dürre gebeugte Gestalt wirkte noch gekrümmter als sonst. Auf seinem Gesicht lag ein jämmerlicher Ausdruck.
Franka war auf den ersten Blick klar, dass er sich die ganze Nacht im Wirtshaus herumgetrieben und getrunken hatte. Der verdammte Kerl würde nicht arbeiten können. Sie musste ihn ins Bett schaffen und sich danach in aller Eile erneut zu den Stallungen aufmachen.
»Franka, mein süßes Schwesterkind«, lallte Malte Freerks. »So süß!«
Er griff nach ihr, seine Hände glitten über ihren Körper. Sie entwand sich ihm angeekelt. Wenn er nur nicht wieder mit dem Saufen angefangen hätte!
Franka schloss die Haustür und drängte ihn in seine Kammer. Erfolglos versuchte ihr Oheim, sich die Jacke aufzuknöpfen.
»So hilf doch deinem armen Onkel mal.« Er grinste dümmlich.
»Du solltest dich schämen!«
Er taumelte rückwärts. Sie stieß ihn in Richtung des Bettes. Der Geruch von Branntwein und Tabak ließ sie angewidert die Nase rümpfen.
»Zumindest heute hättest du nüchtern bleiben können. Der alte Meester ist von seiner Reise zurück. Jakob hat es mir gestern gesagt. Er wird bestimmt Tyr reiten wollen.«
Ihr Onkel schloss die Augen, als ginge ihn das nichts an.
»Die ganze Nacht saufen und Karten spielen und den Tag verschlafen. Kannst du mir sagen, wohin das führen soll?«
»Hör auf zu schimpfen. Ist ja nicht meine Schuld«, lallte er und ließ sich auf das Strohbett fallen. »Hätte gern ein anderes Leben. So eins wie das der Meesters. Saufen Wein aus Italien, trinken Bier aus Hamburg und speisen wie die Fürsten am französischen Hof. Und wem verdanken sie das alles? Den Pferde- knechten und Stallburschen, die die Drecksarbeit machen.«
»Du solltest froh sein, für die Meesters arbeiten zu dürfen. Was würde sonst aus uns werden?«
Er kam wieder hoch. »Ich will nicht mehr, hörst du? Ich will nicht mehr der Fußabtreter für dieses Volk sein.«
»Ach ja. Und ich soll nun statt deiner dafür herhalten?«
»Genau. Du bist mir noch einiges schuldig. Mehr als du ahnst, mein Liebchen. Mein Schwesterkindelein«, lallte er und kicherte vor sich hin. »Vielleicht sollte ich mich nach einem vermögenden Eidam umsehen, bevor du zu der alten Jungfer wirst, nach der du klingst. Oder dich bei Lukas claesen für gutes Geld stundenweise an die Händler verkaufen lassen, die bei ihm verkehren. Hast ja so einiges zu bieten.«
Er verdrehte genießerisch die Augen und griff erneut nach ihr. Franka sprang zur Seite, und seine Hände fassten ins Leere. Enttäuscht ließ er sich zurückfallen. Dann, von einem Augenblick zum nächsten, fing er an laut zu schnarchen.
In stummem Zorn stürmte Franka hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Man sollte ihn ertränken!
»Ich bin dir doch völlig gleichgültig und in deinen Augen nur zum Kochen und Schrubben auf der Welt«, hatte sie ihm vor einigen Tagen entgegengeschleudert.
»Nur weil ich mich nicht für jeden deiner Schritte interessiere? Ich glaube, mein Mädchen, wir sind zu verschieden, um ein Herz und eine Seele zu sein. Ich lebe mein Leben, und du kannst das deine leben. Natürlich nur, sofern hier alles ordentlich läuft. Nenn mir eine junge Frau von zwanzig Jahren, die mehr Freiheiten genießt als du. Sei also zufrieden und hör auf zu jammern!«
Nach dem Tod ihrer Mutter, Franka war damals fünf Jahre alt gewesen, hatte Onkel Malte sie aufgenommen. Die ersten Jahre konnte Franka sich kaum ins Gedächtnis rufen. Verworrene Erinnerungen begleiteten sie. Kaum ein Wort von dem, was ihr Onkel oder die Dorfbewohner sagten, war damals zu ihr durchgedrungen. Sie hatte sich gefühlt wie in einer völlig fremden Welt gestrandet.
In fiebrigen Albträumen schrie Franka nach ihrer Mutter, bis sie begriff, dass diese tot war. Irgendwann lichtete sich der Schleier grenzenloser Trauer. Von dem Zeitpunkt an hatte sie auch ihren Onkel zum ersten Mal richtig wahrgenommen. Malte Freerks war groß, schmächtig, aber zäh und lief, als ob eine schwere Last ihn nach unten zöge. Damals musste er an die vierzig gewesen sein, doch das graue ungepflegte Haar hatte ihn älter erscheinen lassen. Onkel Maltes Augen waren von einem wässrigen Blau. Wenn er wütend war, und das geschah oft, kniff er sie fest zusammen. Mit dem schmalen Mund und der Hakennase wirkte er dann wie ein Habicht kurz vor dem Reißen eines Beutetiers. Dieser Gesichtsausdruck lehrte Franka im Laufe der Jahre das Fürchten. Ihm folgten zumeist saftige Ohrfeigen. Anlass waren oft ihre Pflichten, die sie in seinen Augen nicht zufriedenstellend erfüllte.
Dass Onkel Malte sie nicht aus Mildtätigkeit aufgenommen hatte, machte er ihr schnell klar. »Ich werde dir Heim und Brot geben, aber dafür hast du dich nützlich zu machen. Wir lassen es langsam angehen, aber letztendlich wirst du mir den Haushalt führen, das Federvieh versorgen, waschen und stopfen. Eins der Weiber aus dem Dorf wird kommen und dir alles zeigen.«
Anna, die Frau des verstorbenen Schusters, eine alte verhutzelte Krämerseele, lehrte Franka den Umgang mit Waschzuber und Besen, mit Kochtopf und Feuerstelle.
Später waren immer mehr Aufgaben dazu gekommen. Franka übernahm es, auf dem Wochenmarkt einzukaufen, zu kochen, Brot zu backen und Butter anzusetzen. Sie versorgte neben den Hühnern auch Onkel Maltes Ziege und die Kuh. Die Pflege des Gemüsegärtchens oblag ihr obendrein.
In dem Maße, wie ihre Aufgaben wuchsen, schien Onkel Maltes Faulheit zuzunehmen. Seit Franka auch einen Großteil seiner Aufgaben auf dem Gestüt wahrnahm, war er mehr denn je auf Diebestour, wie sie es bei sich nannte. Die Ausflüge dienten sowohl dem Schmuggeln von Waren über die Ems, als auch dem Verprassen des ergaunerten Geldes.
Franka Verhältnis zu ihrem Oheim war schon in nüchternem Zustand nicht besonders gut, doch betrunken ekelte sie sich nur noch vor ihm. Und in letzter Zeit flößten ihr seine gierigen Augen und grabschenden Hände mehr und mehr Unbehagen ein.
In ihrem ganzen Leben war Franka von ihm weder gelobt noch belohnt, geschweige denn dankbar in den Arm genommen worden. Spurte sie nicht, setzte es Ohrfeigen.
»Was habe ich mir nur mit dir aufgebürdet? Ich wünschte, ich hätte dich ins Waisenhaus gegeben, als es noch Zeit dafür war. Aber Blut ist dicker als Wasser, und meine Schwester Lissy lag mir immer sehr am Herzen.«
Franka konnte kaum glauben, dass ihrem Onkel irgendjemand - mit Ausnahme seiner selbst - am Herzen lag, doch er brüstete sich immer wieder damit, aus Bruderliebe ein gutes Werk getan zu haben. Zumeist, wenn er betrunken vom Zechen nach Hause kam. Dann riss er Franka aus dem Schlaf und sie musste seinen Geschichten lauschen, in denen er stets ein strahlender Held war.
»Meine Schwester in Not abzuweisen, das hätte ich einfach nicht fertiggebracht. Also nahm ich sie auf, obwohl sie vom rechten Pfad abgewichen war und ein uneheliches Kind hatte. Ich nahm sie zu mir, gab ihr zu essen und heizte den Ofen ein. Sie sollte es gut haben. Doch Lissy hat ihren Fehltritt nicht verwinden können. Ich hielt sie zweimal davon ab, sich in die Ems zu stürzen, doch beim dritten Mal misslang es mir. Das Dunkel ihrer Seele forderte seinen Tribut.«
Seine salbungsvolle Stimme verursachte Franka jedes Mal Brechreiz. Darüber, wer ihr Vater war, schwieg er sich aus und zuckte nur die Schultern.
»Du bist ein Bastard, das ist alles was feststeht. Lissy hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Kannst froh sein, dass ich dich aufgenommen habe.«
An dem Flackern seiner Augen erkannte Franka, dass er log. In solchen Augenblicken wünschte sich Franka, sie wäre ein Mann und könnte ihn packen und die Wahrheit aus ihrem Onkel herauspressen.
Franka fluchte leise vor sich hin. Sie huschte in die Küche und begann in der großen Truhe zu kramen. Endlich fand sie, wonach sie suchte: eine verblichene Hose, ein Hemd und die alte abgetragene Jacke. Rasch streifte sie ihr Kleid ab, schlüpfte in die Sachen und band die Hose mit einem Seil auf ihren Hüften fest. Franka seufzte. Wer sie sah, würde lachen, aber was machte das schon. Mit einem langen Rock konnte man einfach keinen Stall ausmisten! Entschlossen band Franka sich ein Tuch um den Kopf und eilte hinaus.
Es hatte zu regnen aufgehört. Der Wind vertrieb schon die dunklen Wolken, und über der noch hinter dem Horizont verborgenen Sonne begann es hell zu leuchten.
Der Weg ins Dorf führte durch ein kleines Wäldchen. Franka ließ die Schatten der Bäume hinter sich und nahm den abschüssigen Pfad. Weiß getünchte, reetgedeckte Häuser kauerten dicht aneinandergedrängt an dem staubigen Weg. Weener bestand aus der dicht besiedelten Langen Straße mit dem Hafen, dem Sudenne und einigen Häusern im Westerenne. Der Ort lag an der Handelsroute ins Münsterland. Der jährliche Pferdemarkt an Sankt Johannis und die Warengeschäfte mit Ziegelsteinen, Getreide, Butter und Käse, die auf der Ems verfrachtet wurden, hatten dem Flecken bescheidenen Wohlstand eingebracht. Dieser sorgte dafür, dass auch die Gaststube claesen stets gut besucht war.
Franka spuckte im Vorbeigehen wütend vor dem Wirtshaus auf den Boden. Verdammter Lukas claesen! Verdammter Branntwein!
Sie hastete weiter, hatte heute weder einen Blick für das beeindruckende Steinhaus der Frones mit seinem holländischen Giebel noch für die Kirche, deren Torbogen den himmlischen vom weltlichen Bereich des Marktes trennte.
Am Rand des Dorfes, auf einer Warft mit vielen umliegenden Ländereien, lag die Fallingaburg, das Anwesen des Pferdebarons Jan Meester. Die Burg war eine alte Bauernfeste aus Tagen des Krieges, umgeben von einem tiefen Graben und einer moosbewachsenen Steinmauer. Immergrüner Efeu hatte das Gemäuer erobert, das umrahmt wurde vom Laub knorriger Bäume. Das Steinhaus trug ein steiles Satteldach und zwei Schornsteine, direkt auf den Giebeln.
Die Holzläden der Fenster waren schon geöffnet. Das erste Licht des Tages gab dem Glas der Scheiben einen milchigen Ton, doch Franka wusste, dass der Eindruck trog.
Einmal war sie in der Fallingaburg gewesen, um eine Nachricht zu überbringen, und hatte voller Staunen die Helligkeit wahrgenommen, die durch die Glasfenster drang. In der prachtvollen Stube mit großem Kamin und wertvollen Möbeln, den glasierten Fliesen und reich bemalten Wänden hatte Franka sich kaum sattsehen können.
Rieke, die bei den Meesters dem Haushalt vorstand, erzählte jedem, der es hören wollte, dass es neben der Stube noch ein Esszimmer gab und alle Familienmitglieder zudem eine Kammer mit Feuerstelle und Bettnische ihr eigen nannten. Von der Fallingaburg gelangte man über eine Brücke zu den Wirtschaftsgebäuden, Stallungen und Koppeln.
Seit Jahrhunderten diente die gewaltige Feste mit ihren dicken Mauern und dem Kellergewölbe verschiedenen Häuptlingsgeschlechtern als Sitz und war jetzt das Stammhaus Jan Meesters. Ihm gehörte auch das Steinhaus Drakemond im benachbarten Stapelmoor, ebenfalls eine alte Bauernburg. Dort züchtete sein Sohn Albert die berühmten Friesenpferde. Der zweite Sohn, Geert, war vor Jahren bei einer Geschäftsreise nach Wien von Räubern überfallen und ermordet worden. Als Kind hatte sich Franka die Geschichte wieder und wieder von der alten Anna erzählen lassen.
»Mit Händen und Füßen hat er die Koppel Hengste verteidigt, um schließlich doch den Kürzeren zu ziehen. Ein Kaufmann ist ihm zur Hilfe geeilt. In dessen Armen hat Geert schließlich sein Leben ausgehaucht.«
Jan und Albert Meester handelten mit Pferden in großem Stil. Ganze Koppeln wurden nach Brandenburg, Hannover, nach Sachsen und an die Fürstenhöfe und Bischofssitze geliefert. Auch Österreich, Italien und Frankreich bezogen Militär-, Kutsch- und Reitpferde, aber auch Zuchttiere aus Weener und Stapelmoor.
Jan Meester genoss hohes Ansehen bei der fürstlichen Familie, den Großbauern, Kaufleuten und Händlern. Mit dem einfachen Volk gab er sich dagegen nicht ab. Der Pferdebaron schien die Menschen in Diener und Herren aufzuteilen, und auf dem Gestüt überwogen die Diener. Einzig an den Stallmeister Ole Hinrichs, den Pferdeheiler Jakob und den Reitmeister Adolphe Methieu richtete Jan Meester jemals das Wort.
Franka spähte zum Anwesen herüber, konnte jedoch die stattliche Gestalt des Pferdebarons nirgends entdecken. Jan Meester war kaum größer als ihr Onkel, hielt sich im Gegensatz zu ihm aber sehr gerade. Das volle weiße Haar trug er lang und im Nacken zu einem Zopf gebunden. Auf dem Kopf saß zumeist ein Dreispitz, dessen Hutkrempe an drei Seiten hochgeschlagen war. Wenn der Pferdebaron über das Gestüt stolzierte, erinnerte er Franka mit seinen engen Kniehosen und dem schwarzen überwurfmantel, der sich im Wind blähte, an eine große Krähe.
Franka blickte sich rasch um und lief geduckt weiter auf die Stallungen zu. Zum Glück war auch bei den Wirtschaftsgebäuden noch alles ruhig. Hühner pickten rund um einen großen Misthaufen nach Futter. Zwei Hunde balgten sich im Staub.
Franka öffnete das Gatter und hastete an der Stutenweide vorbei. Sie passierte das kleine reetgedeckte Haus des Stallmeisters Ole Hinrichs und hielt mit angehaltenem Atem Ausschau nach der gedrungenen Gestalt mit dem roten Schopf. Wenn sie Glück hatte, war Ole noch im Haus. Schon in der letzten Woche hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auf dem Gestüt nicht mehr erwünscht war.
Zornig stieß Franka einen Stein aus dem Weg. Sie hatte darauf gehofft, für immer hier arbeiten zu dürfen, doch weil sie eine Frau war, wurde es ihr verweigert. Wie ungerecht! Jetzt blieben ihr nur noch heimliche Besuche und Ausritte bei Nacht.
Bis vor Kurzem war ihre Anwesenheit auf dem Gestüt wortlos hingenommen worden, manchmal hatte der Pferdebaron ihr sogar anerkennend zugenickt und eine Münze springen lassen. Nie gab es Streit zwischen ihr und den Burschen. Die Dorfbewohner hatten sich anfangs zwar das Maul darüber zerrissen, dass ein Mädchen Stallarbeiten verrichtete, doch sie waren Befremdliches von Franka gewohnt. Sie hatte stets eine besondere Rolle im dörflichen Leben gespielt. Ihre Klugheit, das Wissen um Heilkräuter und deren Verwendung, die Pflege erkrankter Pferde - all das hatte ihr zu Anerkennung verholfen. Die Knechte auf dem Gestüt hatten sie akzeptiert und ihre Fähigkeiten im Umgang mit den Pferden bewundert. Doch seit es Franka nicht mehr so einfach gelang, die Rundungen ihres Körpers zu vertuschen, war die Stimmung umgeschlagen. Noch vor zwei Jahren hatte sie wie ein schlaksiger, viel zu dürrer Pferdeknecht ausgesehen, aber jetzt zeichneten sich selbst unter dem weitesten Hemd beim Recken und Strecken weibliche Formen ab.
Franka presste die Lippen zusammen. Was konnte sie dafür, dass die jungen Burschen beim Striegeln nicht mehr auf die Tiere achteten, sondern ihr hinterherschauten, wenn sie in Hosen und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln Ställe ausmistete? Wie hatte sie sich über die Pfiffe erbost, genützt hatte es nichts.
Letzte Woche war Ole mit zerknirschtem Gesicht zu Franka gekommen. »Es fällt mir nicht leicht, aber ich muss dir das Arbeiten auf dem Gestüt, ja selbst das Betreten der Stallungen verbieten. «
»Das kann nicht dein Ernst sein, Ole. Du weißt, dass ich diese Kerle nicht ermutige. Bitte gib deinem Herzen einen Ruck. Ich halte es ohne die Pferde nicht aus!«
»So sehr ich es mir auch wünsche, Franka, es geht nicht länger. Du siehst ja selbst, wohin es führt, wenn eine Frau Männerarbeit verrichtet. Es ist an der Zeit, dass du dich in deine Rolle hineinfindest. Für Frauen gibt es keinen Platz auf einem Gestüt. «
Ole war ihr Freund, und doch konnte Franka nicht anders, als ihm gram zu sein. Was für ein schrecklicher Gedanke, nie mehr hier arbeiten zu können! Franka biss sich auf die Lippen, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Pferde waren ihr Leben! Franka dachte an ihre erste im Stall verbrachte Nacht.
Als kleines Mädchen war sie heimlich zur Fallingaburg gestromert und hatte Stunden damit zugebracht, die Pferde auf den Weiden zu beobachten. Schließlich war sie eines Abends über das verschlossene Gatter geklettert, hatte sich in die Box eines Hengstes geschlichen und war neben ihm ins Stroh gesunken. Immer noch konnte sie sich an das Glückgefühl erinnern, das sie durchströmt hatte. Für einen Moment glaubte Franka, wie damals die samtigen Pferdelippen auf ihrer Haut zu spüren. In den einsamen Nächten, die sie mit den Pferden verbrachte, gab es keine Stimmen und Gesichter, die sie im Schlaf verfolgten. Auch der Albtraum, bei dem sie gemeinsam mit einem Jungen um die Wette ritt, vom Pferd stürzte und in tiefes Wasser fiel, blieb ihr erspart.
Anfangs war ihre Anwesenheit in den Stallungen unentdeckt geblieben, doch dann hatte Jakob, der Pferdeheiler, sie aufgespürt und unter seine Fittiche genommen. Bei ihrer ersten Begegnung war sie zwölf Jahre alt gewesen und ihr Onkel wieder einmal aufgebrochen, um Schmugglergeschäften nachzugehen. Franka schlich am späten Nachmittag zum Gestüt und versteckte sich neugierig hinter hohen Büschen, um einen Hengst zu beobachten, den der Baron auf dem Markt in Norden gekauft hatte.
Das Pferd war massig, muskelbepackt und sein Fell hatte die Farbe von Kastanien. Ein selten schönes Tier. Es preschte mit geweiteten Nüstern über die Weide, wie ein Irrwisch. Franka bewunderte seine leichtfüßige Kraft, die Geschmeidigkeit der Bewegungen. Dichtes Langhaar umwehte ihn wie schwarze Flammen. Der Hengst schien in die Wildnis und nicht hierher zu gehören.
Die Pferdeknechte versuchten, einer nach dem anderen, sich dem Wildfang zu nähern, jedoch ohne Erfolg. Jan Meester selbst kam, doch auch ihn strafte das Tier mit Missachtung. Die erhobene Peitsche des Pferdebarons war dem wilden Hengst nur ein Schnauben wert. Einzig der Reitmeister schaffte es, sich ihm bis auf zwei Fuß zu nähern, bevor das Tier vor ihm aufstieg und wie der Teufel höchstpersönlich davonstob.
Schließlich brach der Abend an, und die Männer beschlossen, den wilden Burschen über Nacht auf der Weide zu lassen. Als Ruhe eingekehrt war, näherte sich der Hengst dem Zaun und begann Gras zu rupfen. Zum ersten Mal wirkte er entspannt. Nur die straff gespitzten Ohren deuteten auf Wachsamkeit hin.
Franka schlich zu dem Bottich mit Hafer, den die Männer hatten stehen lassen. Sie nahm eine Handvoll und schlüpfte durch die Holzbohlen. Dann sprach sie den Braunen an und näherte sich langsam, Schritt für Schritt. Das Pferd hörte auf zu kauen, und Franka blieb stehen und senkte den Blick.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Hengst den Kopf hob. Grashalme lugten zwischen seinen Lippen hervor. Für einen Moment verharrten beide, dann begann das Tier den Kiefer wieder zu bewegen. Es graste weiter und kam langsam näher. Schließlich hätte Franka nur mehr die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren, doch sie blieb reglos. Der Hengst schien nicht zu wissen, was davon zu halten war.
»Verdammt, was tust du da?«, zischelte eine Stimme in Frankas Rücken. »Versuche zu fliehen. Du kannst diesem dunklen Teufel nicht trauen, du Närrin!«
Franka beachtete den Ratschlag nicht. Sie konzentrierte sich nur auf das Pferd, streckte ihm ihre Hand entgegen und bot dem wilden Hengst Hafer an. Der Duft schien ihn zu erreichen. Die Nüstern weiteten sich.
»Nimm es ruhig, mein Lieber. Du brauchst vor mir nicht so stolz zu tun. Ich bin doch nur Franka. Wenn du willst, können wir Freunde sein.«
Der Braune blieb unschlüssig stehen. Der Hafer schien ihn zu locken, aber mehr noch die Stimme des Mädchens, das ihn nicht zu fürchten schien. Ein Schauer überlief den mächtigen Leib. Seine gespitzten Ohren bewegten sich wie fragend hin und her.
Franka war immer noch ganz ruhig. Sie spürte eine besondere Verbindung zu dem Wildfang. Er wollte zu ihr kommen, er wollte es so gerne.
»Du kannst diesen Hafer haben. Drüben steht noch ein ganzer Bottich voll. Ich hol ihn dir, aber zuerst musst du mir aus der Hand fressen.«
Franka hörte, wie die Person hinter ihr scharf den Atem einzog, als der Braune den Kopf vorreckte und mit seinen Nüstern einen Geruch aufzusaugen schien. Diesmal vielleicht den von Franka.
Schließlich war der Hengst bei ihr. Franka spürte seine Kraft, doch es war keine Angst in ihr. Es kam ihr vor, als ob der Hengst und sie zur gleichen Familie gehörten. Vielleicht empfand er es auch so. Seine Augen ruhten auf ihr, der Leib zitterte und dann senkte er den Kopf und las mit den Lippen ganz sanft die Körner aus ihrer Hand. Frankas spürte die weichen Bewegungen seines samtenen Mauls.
»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Lieber. Kannst dir in aller Ruhe die Leckerei einverleiben. Ist doch was anderes, als immer nur Gras zu fressen.«
Sie versenkte eine Hand in seine lange Mähne. Wie weich er war. Wie warm und gut sich der Hengst anfühlte.
Als das letzte Korn gefressen war, schmiegte sich Franka an den mächtigen Leib des Tieres. Er drängte sich ihr leicht entgegen.
»Du könntest bequem im Stall schlafen. Hier will dir niemand etwas Schlechtes. Was meinst du? Soll ich dich hinbringen? «
Sie löste sich von dem Hengst, der mit hoch erhobenem Kopf erneut über die Weide preschte. Lächelnd sah Franka ihm nach, bis er mit einer Würde, die niemandem anerzogen werden konnte, zu ihr zurückkehrte.
»Komm!«
Das Maul des Pferdes fuhr spielerisch an den Knöpfen ihres Kleides entlang. Schließlich nahm er einen zwischen die Zähne und zupfte daran. Franka gab ihm einen leichten Schlag auf die Wange.
»Lass das! Wenn du mir das Kleid zerreißt, dann bekomme ich Ärger mit Onkel Malte. Außerdem schmeckt so ein Knopf überhaupt nicht. Dir würde schlecht davon werden.«
Sie hörte hinter sich ein Aufstöhnen. Zuerst dachte Franka, der Hengst würde wüten, aber er schien eher überrascht von ihrem Tun. Vielleicht hatte ihm noch nie jemand die Leviten gelesen. Sie war - auch wenn dieser Bursche und sie sich anfreundeten - nicht gewillt, sich alles gefallen zu lassen. Er musste lernen, wo seine Grenzen waren.
»Willst du jetzt noch mehr Hafer und ein weiches Bett?«
Franka schob ihre Hand unter das Kinn des Hengstes, und der Braune folgte ihr. Franka führte ihn von der Weide, öffnete die zweite Hälfte der Flügeltür zu seinem Verschlag und schob das Tier hinein. Sie blieb noch eine Weile, bis sich das Pferd an die neue Umgebung gewöhnt hatte.
Am liebsten hätte sie sich zu ihm ins Stroh gelegt, doch Franka wusste, dass draußen jemand auf sie wartete. Sie verließ den Pferch und lief geradewegs Jakob, dem Pferdeheiler, in die Arme.
Er sah ihr kopfschüttelnd entgegen. »Ich habe Blut und Wasser geschwitzt! Nun sag mir nur, wie um Gottes willen du das geschafft hast?«
Franka zuckte mit den Schultern.
Jakob kniff die Augen zusammen und betrachtet sie eingehend. »Du bist Franka, nicht wahr? Die Leute im Dorf sprechen manchmal über dich.«
Franka nickte und schielte verlegen zu ihren Schuhspitzen. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. »Ich möchte gerne hier auf dem Gestüt arbeiten.«
»Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
Jakob sah auf sie herunter und musterte ungläubig Frankas kleine magere Gestalt. »Mm. Wenn ich sehe, wie du mit dem wütigen Burschen umgegangen bist, könnte das ganz nützlich sein. Die Entscheidung obliegt aber nicht mir, sondern Ole, dem Stallmeister. Da kommt er gerade, wie gerufen!«
Bei Oles Anblick sank Franka das Herz. Er machte ein verkniffenes Gesicht und zog die Stirn kraus.
»He, Jakob, hast du nichts Besseres zu tun, als Kindermagd zu spielen? Was tut die Kleine um diese Zeit noch hier?«
»Sie bietet uns ihre Hilfe an, und wenn ich du wäre, Ole, dann würde ich das Angebot nicht ausschlagen.« Er zwinkerte dem Stallmeister zu und berichtete mit wenigen Worten von der Zähmung des Hengstes. »Also? Es kann doch wahrlich nicht schaden, wenn wir dieses Mädchen auf dem Gestüt wirken lassen. Meine Augen werden immer schlechter. Sie kann mir neben der übrigen Arbeit beim Kräutersuchen helfen.«
Ole wandte sich mit gerunzelter Stirn Franka zu: »Malte Freerks ist dein Oheim, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Da bleibt nur zu hoffen, dass du nicht ein ebensolcher Faulpelz bist wie er.«
Franka schüttelte entschieden den Kopf. Ihre Augen flehten ihn an. »Ich werde fleißiger sein als jeder Knecht, das verspreche ich.«
»Also gut! Glaub aber nicht, dass der Pferdebaron groß seine Geldbörse für dich zückt. Ich werde dir höchstens mal eine Kleinigkeit zuschieben können.«
»Ich will kein Geld, sondern nur mit Pferden arbeiten.«
»Na dann, Franka. Ich will es mit dir versuchen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Bis morgen. Und bring dir ordentliches Schuhwerk mit.«
Jakob begleitete sie zurück nach Hause. Franka lief wie auf Wolken.
»Versprichst du mir, den Mund zu halten?«
»Worüber?«
»Darüber, dass es dir gelungen ist, den Teufelsbraten in ein Lämmchen zu verwandeln.«
»Ich erzähl es keinem, Ehrenwort!«
»Gut. Dann werde dir helfen, was das Arbeiten auf dem Gestüt angeht.«
Jakob selbst sah so aus, als ob ihm jemand helfen müsste. Die Beine des Pferdeheilers waren von vielen Reitunfällen verkrümmt, seine Hände steif und verformt. Auf dem Kopf trug er stets einen schäbigen Strohhut, den er einst einem Mennoniten abschwatzt hatte. Unter dem Hut lugte struppiges graues Haar hervor, das er scheinbar nie schneiden ließ. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht und gaben ihm einen traurigen Ausdruck, den nur die funkelnden blauen Augen Lüge straften. Dass Jakob kein Trauerkloß war, erkannte Franka schnell. Nicht lange, und sie waren ein Herz und eine Seele. Der Pferdeheiler wurde Franka zum väterlichen Freund.
Bald konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Mit Jakob teilte sie Freude und Leid. Er wischte ihr die Tränen des Zorns von den Wangen und machte ihr Mut, den Hänseleien der Dorfkinder zu trotzen. Jakob lehrte sie reiten und mit Fuhrwerken und Pferdegespannen umzugehen.
Franka lernte die Tage zu lieben, an denen ihr Onkel für länger seinen Geschäften nachging und sie bei Jakob sein konnte. Sie aßen gemeinsam in seiner Wohnung über der Sattelkammer die würzigen Eintöpfe, für die er berühmt war. Franka liebte sein kleines Domizil, in dem es stets nach Leder und Pferden roch. Neben der schmalen Schlafkammer, die nicht mehr beinhaltete als ein Strohlager mit einer geräumigen Holzkiste am Kopfende, gab es eine Küche, in der blank gescheuerte Töpfe und Pfannen sowie ein großer Tisch das Bild bestimmten. Dort saßen die beiden Freunde oft, und Franka lauschte hingebungsvoll Jakobs Geschichten, in denen es zumeist um die schwarzen Perlen des Gestüts, die Friesen, ging. Franka war seit jeher wie verzaubert von den wundervollen Geschöpfen mit dem wallenden Langhaar, der pechschwarzen Farbe und den sanften Augen.
Jakobs Gesicht trug einen feierlichen Ausdruck, wenn er davon erzählte, dass die Friesen eine uralte Rasse seien und schon in den Schriften des Tacitus, eines römischen Geschichtsschreibers, erwähnt wurden. Sie waren an den Ufern der Nordseeküste von den Frisii, dem germanischen Volksstamm der Friesen, gezüchtet worden.
»Im Mittelalter schätzte man sie als gute Streitrösser. Die Friesen waren die Ritterpferde schlechthin, unschlagbare Bastionen auf vier Beinen. Ihre heutige Eleganz und die erhabenen Bewegungen verdanken unsere Schwarzen der Veredelung mit spanischen Hengsten während des spanisch-niederländischen Krieges. Doch es sind immer noch Nachfahren jener mächtigen Ritterpferde, die wir hier auf dem Gestüt und auf Drakemond züchten. Das sollten wir nie vergessen.«
Die Liebe zu dem Land, dem Gestüt und den Pferden und ihre Gespräche darüber knüpften ein festes Band zwischen Franka und Jakob. Bald war es für alle ein vertrautes Bild, dass sie gemeinsam die Tiere versorgten, Ställe ausmisteten und am Trog standen, um Gesicht und Hände zu waschen.
Im Winter, als die Schulzeit wieder begann, zauberte Jakob zu Frankas größtem Erstaunen Bücher aus seiner großen Kiste hervor, aus denen sie sich vorlasen. Den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, saßen die beiden im Stroh und verbrachten die Stunden wie verloren für die Welt ringsum. In der Nase den Duft von Heu, neben sich die braune Loki, die sie schubste und ihre Lippen nach der Streu ausstreckte, auf der sie saßen.
Ihrem Onkel blieben diese Ausflüge nicht verborgen.
»Wenn du dir schon freiwillig die Hände schmutzig machst, dann wirst du dies zukünftig für mich tun«, bestimmte er.
Von da an bereitete Franka das Mittagessen an den Abenden vor und begleitete ihren Onkel täglich zum Gestüt. Malte Freerks versorgte die Reittiere der Meesters, zu denen auch Tyr gehörte, bald jedoch war es Franka, die die meiste Arbeit tat. Nie wurde ihr etwas zu viel, und sie war sich für nichts zu schade. Sie stapfte ungerührt durch den dicksten Pferdemist und näherte sich sogar unerschrocken dem wilden Hengst Wotan, um ihm die Hufe auszukratzen.
Das tägliche Reiten der Tiere aber war ihr Liebstes. Es schien, als ob Franka auf dem Rücken eines Pferdes geboren sei. Sie ritt bei Wind und Wetter und sprang mühelos über die breitesten Gräben. Jedes noch so unbändige Pferd wurde bei Franka lammfromm. Sie liebte die Pferde, und die Pferde liebten sie. War eines krank, dann fühlte auch Franka sich sterbenselend. Es hielt sie nicht zu Hause. Stundenlang, nächtelang leistete sie Jakob Gesellschaft, wenn er bei den kranken Tieren wachte.
Mit ihm suchte Franka an Sonntagen, wenn ihr Onkel noch schlief, die Umgebung nach Heilpflanzen ab, deren Verwendung für sie bald kein Geheimnis mehr war. Jakob gab freudig all sein Wissen an sie weiter, und Franka saugte seine Worte auf wie ein Schwamm.
»Wir brauchen Pfefferminze, Thymian, Kamille und Fenchel, Franka. Davon braue ich den Pferden im Winter einen warmen Tee. Der tut ihnen genauso gut wie uns und hält Krankheiten fern.«
»Werden die getrockneten Kräuter abgeseiht?«
»Die Pferde schlabbern das Nass samt Einlagen. Mit feinem Hafer und Leinsamen lässt sich auch ein leckerer Eintopf daraus machen. Nimm auch vom blühenden Löwenzahn, Franka, der regt die Verdauung an. Und sieh dich vor bei den Brennnesseln. «
»Wie war das noch? Sie sind harntreibend, aber auch entzündungshemmend. «
»Richtig, mein Kind.«
Stundenlang stromerten sie über die Wiesen, durch das nahe Wäldchen und am Fluss entlang. Mit Körben voller Blätter und Blüten kehrten sie lachend und singend zum Gestüt zurück. Manch schiefer Blick streifte die frühen Wanderer. Kräuterhexe rief die alte gehässige Dorle hinter Franka her und murmelte etwas von Hexenbesen und schwarzen Katzen. Franka scherte sich nicht darum.
Gemeinsam mit Jakob half sie Pferden, die Koliken hatten, verabreichte Hagebutten gegen Blähungen und behandelte nässende Ausschläge. Bald wusste Franka genauso gut wie Jakob, dass eine Fütterung aus Stiefmütterchenkraut, Löwenzahnwurzel und Brombeerblättern bei nässenden Scheuerstellen half und Spitzwegerich Insektenstiche linderte. Neben ihrem schnellen Auffassungsvermögen war es ihre intuitive Begabung im Umgang mit den Tieren, die Jakob sehr beeindruckte.
»Wie machst du das nur?«, fragte er eines Morgens nach einer durchwachten Nacht, in der Franka eine der hoffnungsvollen Stuten mit schweren Koliken vor einem qualvollen Ende gerettet hatte. Das Pferd war trotz all ihrer Bemühungen in die Knie gebrochen. Einem Tier, das sich aufgibt, ist nicht mehr zu helfen, das wusste auch Franka. Trotzdem hatte sie sich neben die Stute ins Stroh gelegt und auf sie eingeredet, bis das Pferd sich schließlich wie in Trance mit zitternden Flanken wieder aufrichtete. Gemeinsam waren sie mit dem Pferd gelaufen, bis es ihm nach einer schier endlosen Zeit wieder besser ging.
»Wie hast du Feronia dazu gebracht aufzustehen?«
»Ich kann es schlecht erklären, Jakob. Es gibt Momente, in denen ich spüre, was in den Pferden vorgeht. Dann bin ich ihnen ganz nahe, und sie hören auf mich. Ich habe die Stute angefleht, aufzustehen, und sie hat es getan.«
Jakob schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gar nicht erst zu versuchen brauchen. Wäre ich alleine gewesen, gäbe es dieses Pferd jetzt nicht mehr.«
Franka wollte abwiegeln, doch Jakob ließ sich nicht beirren. »Es ist so! Weißt du, Franka, ich habe mich immer damit getröstet, dass Pferde uns Menschen nie völlig vertrauen. In ihnen ist und bleibt ein winziger Argwohn. Vielleicht weil wir nicht immer Gefährten waren. In uralter Zeit wurden Pferde nicht geritten, sondern als Beute gejagt. Mag sein, dass sie im tiefsten Inneren noch heute darum wissen. Ich glaube, es gibt nur wenige Auserwählte, denen Pferde grenzenlos vertrauen. Du bist eine davon. In alter Zeit nannte man solche Menschen Pferdeflüsterer. Damals glaubte man noch, es wären Zaubersprüche, die sie den Tieren ins Ohr flüsterten und die diese dann gefügig machten.«
»Es hat nichts mit Zauberei zu tun. Da ist etwas zwischen mir und den Pferden, Jakob. Manchmal kommt es mir vor, als ob ich ihre Sprache kenne. Aus dem was Pferde tun, wie sie sich bewegen, erkenne ich, was sie fühlen, ob ein Tier etwas verweigert, weil es bockig ist, oder ob es Angst hat. Das zu wissen ist wichtig, um den richtigen Schritt zu tun. Hat es Angst, dann helfen weder Peitsche noch Sporen.«
»Diese Gabe ist ein Geschenk, mein Kind. Sprich mit niemandem darüber. Die Leute würden es für Hexerei halten.«
»Das ist es nicht, Jakob.«
»Ich weiß. Möge Gott geben, dass deine Gabe dich niemals in Schwierigkeiten bringt, und möge sie vielen Pferden zu Gutem gereichen.«
Von Jakob hatte Franka in den acht Jahren, die sie bereits zusammen arbeiteten, alles über Pferdeheilkunde, die Zucht der Tiere und den Betrieb eines Gestüts gelernt. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als an seiner Seite bleiben zu können, doch damit war es ja nun leider vorbei! Selbst eine hitzige Auseinandersetzung zwischen Ole und Jakob hatte daran nichts ändern können.
»Mein Gott, Jakob, was soll ich denn tun? Etwa darauf warten, dass sich einer der Heißsporne den Hals bricht? Um ein Haar wäre Remmer Dojen vom wildesten Gaul des Gestüts geflogen, nur weil er Franka mit seiner Reitkunst imponieren wollte. Dieser dumme Bengel!«
»Aber dafür kann Franka nichts!«
»Oh doch. Sie ist der alleinige Anlass dafür. Und weil das so ist, muss Franka gehen. Ich kann ja wohl kaum sämtliche Burschen vom Gestüt jagen und darauf hoffen, dass sich die Arbeit von alleine tut!«
Franka stampfte bei jedem Schritt auf dem Weg zum Hof beinahe auf vor Zorn. Heute Morgen würde sie trotz des jüngsten Verbots ihre Arbeit tun. Die Tiere waren das Wichtigste. Sie mussten versorgt werden.
Leises Wiehern klang zu Franka herüber, als sie die Ställe der Stuten hinter sich ließ. Ganze achtzehn von ihnen waren trächtig, und bald würde die Zeit des Fohlens beginnen. Es gab zwei Deckhengste auf dem Gestüt, mehrere Jährlinge und Zweijähre sowie sechzehn Hengste, deren Ausbildung so gut wie abgeschlossen war und die zum Verkauf standen.
Franka kam an einer großen Scheune und dem Hof vorbei, in dem Eckehard, der Hufschmied, wohnte. Neben dem Beschlagen der Tiere stellte er Sättel, ledernes Zaumzeug und Stiefel her. Noch brannte kein Feuer im Schmiedeofen. Alles war still, die Stalltüren geschlossen.
Endlich erreichte sie die Holzgebäude, in denen die Hengste untergebracht waren. Franka spähte durch die erste Tür. Nur die untere Hälfte war fest verschlossen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie Tyr entdeckte. Sein pechschwarzes Fell ließ ihn fast eins werden mit der Dunkelheit im hinteren Teil des Stalles. Als der Hengst Franka wahrnahm, kam er näher und wieherte freudig. Sie strich über seine Nüstern. Die Luft war warm und schwer vom süßen Geruch nach Heu und Dung. Franka legte ihren Arm um Tyrs Hals und lehnte ihre Stirn gegen den großen, warmen Pferdekopf.
»Guten Morgen. Hast du dich erholt von unserem Ausritt?«
Franka schloss die Augen und genoss für einen Moment das Zusammensein mit Tyr. Seine Mutter war eine der besten Zuchtstuten und sein Vater der berühmte Zeus. Der Deckhengst war vor zwei Jahren gestorben, Tyr gehörte zu seinem letzten Jahrgang.
Franka ging die Ställe entlang und begrüßte nun auch die anderen Schützlinge ihres Onkels. Sie nannte alle Pferde beim Namen, streichelte jedes einzelne, bevor sie mit der Arbeit begann. Franka schleppte randvolle Wasserkübel heran, holte Karotten, Hafer und Fuder von Heu. Eine ruhige Gelassenheit ergriff Besitz von ihr, als sie nach Bürste und Striegel griff. Später trieb sie Tyr und die anderen Hengste auf die Koppeln, mistete deren Einstellplätze aus und gab neue Streu hinein.
Dann begab sie sich in die Sattelkammer, über der Jakob wohnte. Kein Laut war von oben zu hören. Mit geschlossenen Augen nahm Franka den vertrauten Geruch nach Stroh und Leder in sich auf. Sie griff nach Zaum- und Sattelzeug, um diese einzufetten, und besserte das eine oder andere aus.
Schließlich langte Franka nach einer Bürste. Heute würde sie ausnahmsweise Tyrs langes Haar kämmen. Sonst verlas Franka die Mähne nur von Hand, da jedes Haar zu schade war, um es durch das Bürsten zu verlieren. Doch da Jan Meester nach langer Zeit wieder einmal auf dem Friesen reiten wollte, sollte er seine volle Pracht zeigen.
Sie musste sich eilen. Nicht mehr lange, und die Morgenbetriebsamkeit auf dem Gestüt würde beginnen. Franka trat auf den Platz vor den Ställen und blickte über das Gelände. Leichter Nebel lag über den Weiden. Bald schon würde die Kraft der Sonne die Schwaden vertreiben und alles in helles Licht tauchen. Franka erkannte die Umrisse grasender Pferde und nahm schemenhaft die Begrenzungen wahr. Hinter den Stallgebäuden lag das Trainiergelände. Es war überdacht, damit Adolphe, der Reitmeister, auch bei schlechtem Wetter seine übungen absolvieren konnte. Er war eigens vom alten Meester eingestellt worden und verstand sein Handwerk meisterhaft. Unter Adolphe Methieus Leitung kümmerten sich vier talentierte Reitknechte um die Grundausbildung der Pferde, die an die Höfe verkauft werden sollten. Dafür waren Ausdauer und Disziplin nötig. Es dauerte Jahre, damit die Hengste rittig genug waren und den Anforderungen der hohen Schule der Pferdedressur genügten. Jeder Reitknecht war für mehre Tiere verantwortlich und kümmerte sich neben dem Training auch um die Versorgung und das Wohlbefinden seines Schützlings. Schon früh, wenn die Hengste noch Kleinkinder auf vier Beinen waren, traf Adolphe die Wahl unter ihnen. Nicht in jedem Pferd steckte das Potenzial, ein Hengst für seine Reitkunstschule zu werden.
Adolphe, der Franzose war und auch leidlich Italienisch sprach, reiste jährlich mit einem Tross Hengste an die Fürstenhöfe. Er präsentierte die Pferde der Meesters, und sie hatten bislang stets gute Preise erzielt.
Im Gegensatz zu den Reitknechten, die einfachste Kleidung trugen, wirkte Adolphe mit seinen Kniehosen, der eng anliegenden Weste mit Halsbinde und dem Dreispitz stets wie ein Paradiesvogel. Nur die fehlende Perücke und die derben Strümpfe ließen erkennen, dass er auf einem Gestüt weilte und nicht bei Hofe.
Franka hatte sich oft in der Nähe des Trainiergeländes versteckt und den Meister der Reitkunst belauscht.
»Pferd und Reiter wollen auf dem Schlachtfeld überleben. Das müssen wir uns immer vor Augen führen und so die Hengste ausbilden«, hörte Franka ihn sagen, während die Reitburschen ehrfürchtig lauschten. »Im Nahkampf braucht es keine Beschleunigung, sondern Wendigkeit auf kleinstem Raum. Die Pferde müssen lernen, sich um die eigene Achse drehen zu können, auf den geringsten Wink hin Richtung und Tempo zu wechseln. Sie müssen auf jeder Hufe gleichermaßen flink sein, vorne und hinten steigen und auskeilen können, um sich auch in dichtem Getümmel Raum zu verschaffen. Leichtgängig, feinfühlig, nervenstark und sich dem Willen des Reiters bedingungslos unterordnend - so muss das ideale Militärpferd sein. Und solche Hengste will ich hier mit euch ausbilden.«
Zwar wurden die Pferde mittlerweile weniger an die Armee, als zu Repräsentationszwecken an die Fürstenhöfe verkauft, doch auch dort schätze man gut ausgebildete Reittiere, die Feuer und Temperament ausstrahlten.
In den letzten Jahren hatte Franka auch die reiterlichen Lektionen des Franzosen heimlich beobachtet und alles über die Grundgangarten, Seitengänge, Piaffen und Passagen gelernt. Onkel Maltes Abwesenheiten nutzte sie in Vollmondnächten zu Ausritten mit Tyr, bei denen sie sich an den Lehrstücken übten. Längst schon wusste sie, wie sein Verschlag sich öffnen ließ und war in das Geheimnis verschlossener Gatter eingeweiht. Manchmal gelang es ihnen auch, bei den täglichen Ausritten zu trainieren. Eines ihrer Ziele war ein verfallener Stall, in dem sie verschwanden und aus dem sie erhitzt wieder auftauchten.
Von Anfang an hatte auch Tyr Gefallen am Dressurreiten gefunden. Er war neugierig und lernwillig. Mittlerweile bewirkte allein der Gedanke und die winzigste Bewegung von Franka, dass Tyr die gewünschte Lektion ausführte, und er tat es mit einer Leichtigkeit, die den Eindruck vermittelte, auch die schwierigsten Figuren seien mühelos zu bewältigen.
Anfangs hatten sie - ganz nach den Vorgaben des Franzosen - vom Boden aus gearbeitet, später dann aus dem Sattel heraus. Tyr lernte, erste Hilfen und Hinweise von ihr anzunehmen. Sie erprobten sich am versammelten Schritt, bei dem das Pferd vermehrt Last mit der Hinterhand aufnahm und dadurch kürzere und erhabenere Schritte zeigte.
Als Tyrs Bein- und Rückenmuskulatur ausreichend gestärkt und die Hinterhand geschult war, wagte sich Franka an die Seitengänge, ursprünglich Kampfübungen, in denen sich der Hengst in ganz bestimmter Weise vorwärts und seitwärts bewegte. Man zeigte dem Gegner nur den Bug und nicht die Breitseite, täuschte ihn, wo es nur ging, um geschickt manövrieren zu können.
Es dauerte zwei Jahre und viele Vollmondnächte, bis sie mit ihm schwierige Lektionen wie den spanischen Schritt, der sich aus dem natürlichen Imponiergehabe eines Hengstes ableitete, die Piaffe, eine trabartige Bewegung auf der Stelle, oder die Pirouette, bei der sich das Pferd auf kleinstem Raum tummeln musste, perfekt beherrschte.
Manchmal fragte Franka sich, ob der Pferdebaron nicht merken müsste, auf welchem Juwel er ritt. Jan Meester wusste, dass sie es war, die Tyr jeden Tag bewegte, und hatte sich oft anerkennend über seinen guten Zustand und die gutmütige Lebhaftigkeit des Hengstes geäußert. Ihm war wohl aufgefallen, dass er den kleinsten Wink verstand und niemals müde zu werden schien, aber mehr auch nicht. Es brauchte nicht nur ein ausgebildetes Pferd, sondern auch den dazugehörigen Reiter, um die Reitkunst auf die Bühne zu bringen.
Franka lächelte vor sich hin. Wie gerne würde sie einem Menschen zeigen, zu was dieser Hengst fähig war. Oft hatte sie an Jakob gedacht, doch selbst ihn mochte sie nicht in ihr Geheimnis einweihen. Zu groß war die Furcht vor einem Verbot.
Das schrille Wiehern eines braunen Jährlings, der ausschlug und schließlich mit ein paar schnellen Sprüngen über die Koppel jagte, brachte Franka in die Gegenwart zurück. Sie lehnte sich gegen das hölzerne Tor und beobachtete den Wildfang.
© 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Jutta Oltmanns
Oltmanns, JuttaJutta Oltmanns, geboren 1964, schreibt neben ihrer Tätigkeit bei der Bundesanstalt für Verwaltungsdienstleistungen historische Romane. Ostfriesland ist zugleich Inspiration und Schauplatz ihrer Bücher. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten und zwei Söhnen in Warsingsfehn, wo sie an ihrem nächsten großen Roman arbeitet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jutta Oltmanns
- 2014, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409841
- ISBN-13: 9783453409842
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
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