Wir in Kahlenbeck
Roman
Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine...
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Produktinformationen zu „Wir in Kahlenbeck “
Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine spartanische Welt voller Regeln und Verbote, durchdrungen von elitärem Geist, Askese und Weltverachtung. Gleichwohl gärt unter der Oberfläche der Geist pubertärer Rebellion und herrscht unter den Jugendlichen eine gnadenlose Hackordnung, in der schwächere Schüler und Außenseiter ungeniert gedemütigt, schikaniert und ausgegrenzt werden.
Von den inneren Widersprüchen des Collegiums ist Carl Pacher tief geprägt. Denn einerseits ringt der schwärmerische und manchmal bestürzend naive Junge um Selbstüberwindung und den rechten Glauben. Aber zugleich kann er sich gegen frühreife erotische Phantasien ebenso wenig wehren wie gegen die Sehnsucht nach der unbedingten Liebe. Lange verehrt er so heimlich das Küchenmädchen Ursula, das für ihn unerreichbar scheint, nicht zuletzt, weil es um einiges älter ist als er. Doch dann wird sein stilles Werben wie durch ein Wunder erhört. Dabei hat die Verbindung zu Ursula kaum eine Chance auf Dauer, aber das will Carl lange Zeit einfach nicht wahrhaben ...
Sowohl tiefgründig als auch aberwitzig und komisch, ist »Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein beeindruckender Roman über Religion und Spiritualität, über Freundschaft und Rivalität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist höchste erzählerische Kunst.
Von den inneren Widersprüchen des Collegiums ist Carl Pacher tief geprägt. Denn einerseits ringt der schwärmerische und manchmal bestürzend naive Junge um Selbstüberwindung und den rechten Glauben. Aber zugleich kann er sich gegen frühreife erotische Phantasien ebenso wenig wehren wie gegen die Sehnsucht nach der unbedingten Liebe. Lange verehrt er so heimlich das Küchenmädchen Ursula, das für ihn unerreichbar scheint, nicht zuletzt, weil es um einiges älter ist als er. Doch dann wird sein stilles Werben wie durch ein Wunder erhört. Dabei hat die Verbindung zu Ursula kaum eine Chance auf Dauer, aber das will Carl lange Zeit einfach nicht wahrhaben ...
Sowohl tiefgründig als auch aberwitzig und komisch, ist »Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein beeindruckender Roman über Religion und Spiritualität, über Freundschaft und Rivalität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist höchste erzählerische Kunst.
Klappentext zu „Wir in Kahlenbeck “
Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine spartanische Welt voller Regeln und Verbote, durchdrungen von elitärem Geist, Askese und Weltverachtung. Gleichwohl gärt unter der Oberfläche der Geist pubertärer Rebellion und herrscht unter den Jugendlichen eine gnadenlose Hackordnung, in der schwächere Schüler und Außenseiter ungeniert gedemütigt, schikaniert und ausgegrenzt werden.Von den inneren Widersprüchen des Collegiums ist Carl Pacher tief geprägt. Denn einerseits ringt der schwärmerische und manchmal bestürzend naive Junge um Selbstüberwindung und den rechten Glauben. Aber zugleich kann er sich gegen frühreife erotische Phantasien ebenso wenig wehren wie gegen die Sehnsucht nach der unbedingten Liebe. Lange verehrt er so heimlich das Küchenmädchen Ursula, das für ihn unerreichbar scheint, nicht zuletzt, weil es um einiges älter ist als er. Doch dann wird sein stilles Werben wie durch ein Wunder erhört. Dabei hat die Verbindung zu Ursula kaum eine Chance auf Dauer, aber das will Carl lange Zeit einfach nicht wahrhaben ...
Sowohl tiefgründig als auch aberwitzig und komisch, ist »Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein beeindruckender Roman über Religion und Spiritualität, über Freundschaft und Rivalität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist höchste erzählerische Kunst.
Lese-Probe zu „Wir in Kahlenbeck “
Wir in Kahlenbeck von Christoph PetersProlog. Advent in Henneward
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»An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Isaias ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.«
Das Winterdunkel draußen hat die Farben der Bleiglasfenster geschluckt. In den hoch aufragenden Spitzbögen grüngraue Felder, von flachen Wülsten eingefaßt. Schraffuren liegen schwarz auf, Liniennetze, die keine Szenen werden. Gerade noch zu erahnen, wenn man weiß, daß sie dort sind: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Der allmächtige Weltenschöpfer krönt den Erlösersohn; der Erlösersohn hält sein Kreuz im Arm wie einen Freund; die Taube im Strahlenkranz. Unten Engelscharen, vielköpfig, geflügelt, singend, im Gebet. Das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit. Keine Furcht soll über euch kommen.
So stellt es sich sonntags dar, über Weihrauch, der zum Thron des Höchsten emporsteigt, Glanz wie am ersten Morgen eines neuen Himmels, einer neuen Erde. Dahinter Licht, das die Unendlichkeit füllt, heller als die wirkliche Morgensonne über dem stinkenden Fluß. Jetzt nicht einmal mehr Schemen des Heiligen, die Sphären opak verschmiert. Kaltluft stürzt aus undichten Fugen und Fehlstellen, sickert in Mantelkrägen, Ausschnitte. »Tauet Himmel den Gerechten / Wolken regnet ihn herab.« Die Orgel schleppt sich durch das Lied, der Gesang ohne Trost. Aber einmal wird aus den Seufzern Jubel werden.
Die Kinderbänke vorn sind dicht besetzt, Jungen rechts, Mädchen links; gut gefüllt auch die Frauenblöcke dahinter. Im Bereich der Männer hingegen ist Platz. Sie stehen im Vorraum unter dem Turm, rauchen vor der Kirchentür, reden über Schweinepreise, die Schließung der Molkerei. »Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!« Aus der Luke im Gewölbe zwischen Apsis und Schiff hängt der Adventskranz am fingerdicken Stahlseil bis auf Höhe des Kanzelbaldachins. Tannenzweige um eine schmiedeeiserne Form geflochten, mit roten Bändern umwickelt, zwei Kerzen brennen, leichtes Schaukeln, sie flackern unruhig, bis nah ans Erlöschen. »Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um seine Hüften. Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung.«
Der gewaltige Mann, Johannes, unerbittlich im Kampf gegen das Tier in sich, Rufer in der Wüste, sein Wort eine Geißel der Sünden, Schwert der Unterscheidung. Niemand kann ihm ins Angesicht widerstehen.
Die Stimme von Pastor Hünermann knarzt, als entspränge sie dem Röhrenradio, das seit der Hitlerzeit in Tante Rias Küche steht. Er hält inne, holt ein akkurat gefaltetes Taschentuch aus dem schwarzen Ärmel unter Albe und golddurchwirkter Kasel, tupft sich die Stirn. Der Schweiß ist aus dem vergangenen Sommer, trocken und unsichtbar. Heute schwitzt niemand. Nässe und Kälte sikkern durch Anoraks, Wollpullover - wegen des Sparhaushalts, wegen der Schwingtüren. Das Frieren durchkreuzt die Andacht. »Als Johannes sah, daß viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut.«
Die Pharisäer sind ein unkenntlicher Schleiflaut, die Saddu-zä-er vier langgezogene Einzelsilben. Pastor Hünermanns Betonungen haben mit dem Sinn der Schrift nichts zu tun. Vier Tage ist er verschüttet gewesen, lag mit einer Kopfverletzung unter den Trümmern eines zerbombten Hauses. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.«
Arndts rupft Maaß an der Jacke. Maaß rammt Arndts seinen Ellbogen in die Rippen. Das Geräusch eines Aufschreis, den vor die Lippen gepreßte Hände ersticken. Bernd Rogge friemelt sich einen Popel aus der Nase, bringt ihn auf der Daumenkuppe in Stellung, zielt, schnippt ihn Ulli Koch auf die Schulter. Ulli Koch ist klein und dumm. Er bemerkt es nicht, sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Kichern und seiner armen Person.
Oben im Bogen, hinter dem der Altarraum sich öffnet, breitet der Heiland überlebensgroß die Arme am Kreuz aus. Seine Liebe zu den Menschen entströmt jeder Pore des gemarterten Leibes. Blut und Wasser rinnen aus der geöffneten Seite: lebendiges Wasser, das Wasser des Lebens. Wer davon trinkt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Es schimmert lackrot, man denkt, es tropft auf den Boden. »Schon hält er die Schaufel in der Hand. Er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.«
Pastor Hünermann macht eine Pause, kratzt sich mit gestrecktem Zeigefinger im Ohr. Leinberger flüstert Arndts zu: »Deine Schwester ist eine Pimpinelle.«
»Pimpinellen gibt es gar nicht.«
»Wetten, daß es die gibt?«
»Und du bist ein Pimmelpisser.«
Der Gekreuzigte mag nur eine Figur sein, Holz, Kreidegrund, Farbe, doch der wirkliche Jesus wohnt darin, unser Bruder und Herr, gegenwärtig und nah, gegenwärtiger fast als im Sakrament. Er kann die Augen aufschlagen, den Kopf heben, Hände und Füße lösen. Wenn Er nur will. Das Holz gehorcht Ihm. Zeit und Raum, die Schwerkraft, alle Naturgesetze sind Ihm dienstbar, durch Ihn und zu Seinem Ruhm wurden sie erschaffen. Es wäre eine Lektion für das Volk, das vergessen hat, was Er als Sühne für die Sünden der vielen getan hat. Mit geschmiedeten Eisennägeln an die Balken geschlagen. Gestorben und hinabgestiegen in das Reich des Todes, auferstanden von den Toten, Er sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird Er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.
Cherubim und Seraphim, Mächte und Gewalten unterstehen seinem Befehl. »Guck mal, Ulli Koch fallen Popel aus den Ohren.«
»Wieder nicht gewaschen, Ulli!«
Wahrlich ich sage euch: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Sie verhöhnen Ihn, sie beschmutzen Sein geweihtes Haus. Wer guten Willens ist, die Tür seines Herzens dem Gekreuzigten öffnet, hat Mühe, den Worten der Frohbotschaft zu folgen. Carl ist guten Willens, vielleicht der einzige hier und heute, dessen Willen gut ist. Arndts sagt: »Ich will Pommes essen, mit Majo und Ketchup.«
Er lacht, man hört ihn im ganzen Kirchenraum. Niemand von den Erwachsenen schreitet ein. Es wird von Woche zu Woche schlimmer. Carl denkt an den Zorn Gottes, an die Wiederkunft des Herrn. Die Zeit ist nahe, man muß ihre Zeichen erkennen. Durch die Welt läuft ein Riß, an dessen Grund sich die Hölle auftut. Er spaltet die Familien, die Staaten, die Erde. Die Waffenlager quellen über, genügend Atombomben, um alles, was da ist, hundertfach zu vernichten. In Rußland und China werden die Gläubigen vor Gericht gezerrt, ins Gefängnis geworfen, ermordet. Überschwemmungen, Hungersnöte. Die große Drangsal steht bevor, das alles verschlingende Feuer. Ohne göttlichen Beistand schafft es keiner, bis zum Schluß auszuharren. Dann endlich wird von einem Ende der Erde bis zum anderen die Posaune erschallen, stählern, durchdringend. Der Menschensohn wird auf einer Wolke einreiten, in der Hand eine scharfgeschliffene Sichel. Das interessiert sie nicht. Sie denken, das lächerliche Leben, Gier, Gemeinheit und Zerstreuung, gingen immer so weiter. Leinberger und Rogge haben sich ganz dem Bösen verschrieben, in ihren Herzen hat der Teufel sich eine behagliche Wohnstatt eingerichtet. Die anderen sind bloß lau, träge, nachlässig. Das Licht des Glaubens in ihnen ist erloschen. Vielleicht wurde es nie entzündet. Rogges Vater taucht nur an Weihnachten in der Kirche auf, der Bauer Arndts, der Schreiner Maaß rauchen und quatschen draußen. Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan. »Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.«
»Lob sei dir, Christus.«
Auf dem Gesicht des Gekreuzigten Sanftmut - trotz des Martertodes, trotz der Gleichgültigkeit, die Ihm entgegenschlägt.
»In der Lesung aus dem Buch I-sa-ijas malt der Prophet uns ein schönes Bild: Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. So war es im Paradies, so wird es im himmlischen Jerusalem sein. Aber in unseren Tagen ist die Welt voll von Gewalt und Krieg, wohin man auch blickt. Vielen Menschen erscheinen die Worte des Propheten wie Hohn und Trug.«
Maaß zieht Schleim den Rachen hinauf, läßt einen hellgelben Pfropf aus gespitzten Lippen ab, saugt ihn lauthals wieder ein. »Ich kotz' gleich«, sagt Arndts.
»Mach doch«, sagt Maaß, klappt sein Gebetbuch auf, legt es sich auf die Knie, um die Hose zu schützen, läßt den Pfropf tiefer sinken, nur ein dünner Speichelfaden hält den Schleim noch am Mund.
Eine Regung Seines Heiligen Arms würde reichen, um das hier ein für allemal zu beenden. Nie wieder würden sie sich so benehmen.
Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt, und jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.
»Aber ganz gleich, was wir auch tun, wie tief wir auch in Sünden verstrickt sind, der Heiland wendet sich uns immer wieder voll Erbarmen zu.«
»Die Affen rasen durch den Wald / der eine macht den andern kalt / wo ist die Kokosnuß, / wo ist die Kokosnuß, / wer hat die Kokosnuß gekla-ha-haut?«
»Darum wollen wir umkehren, unsere Schuld bereuen, auch regelmäßig zur Beichte gehen und Vergebung empfangen, auf daß wir gereinigt und bereit sind für das heilige Sakrament der Eucharistie und dereinst, wenn die Gräber geöffnet werden und die Toten auferstehen, alle gemeinsam in den Himmel kommen zu ewiger Freude. Amen.«
»Hier stinkt's.«
»Ulli Koch hat einen fahren lassen.«
»Die Sau.«
»Stimmt gar nicht.«
»Der Mief sitzt in der Unterhose fest.«
»Credo in unum de-e-e-um. «
Es ist ein Schmerz. Und Zorn. Eingeklemmt, verkantet. Er zerreißt Carls Brust. Dahinter ein Schrei. Wenn der Schrei sich befreit und herausbricht, zerspringen die Fenster, das bunte Glas. Splitter der Heiligen Dreifaltigkeit, der Himmlischen Heerscharen regnen herab, zerschneiden Gesichter und Hände.
» Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen.« Niemand um ihn herum spricht das Glaubensbekenntnis mit.
Carl denkt, daß er sie ermahnen, daß er sie warnen, ihnen in Liebe erläutern muß, was der Herr getan hat, damit sie sich besinnen. Seine Rede wäre sacht und stark zugleich: ›Schaut, was Er auf sich genommen hat, die größte Schmach und Schande.‹
Sie würden ihn anglotzen, trüb und unverständig wie das Vieh in den Ställen, ihn für verrückt halten. Lachen - Rogge als erster, und alle würden einfallen. Montag bekäme er Prügel. Leinberger würde ihn auf den Asphalt werfen, bespucken, zum Gespött der Schule machen. Davon würde sein Ruf sich nie wieder erholen.
Arndts verteilt jetzt Kaugummis. Gleich wird er Carl einen Streifen anbieten. ›Begreift ihr denn nicht, was die Liebe Jesu bedeutet für jeden von euch, von uns, ohne diese Liebe können wir nicht einen Atemzug tun.‹
»Nimmst du?«
Carl will sagen: ›Schäm dich, das Haus Gottes zu einer Räuberhöhle zu machen, wo man schmatzt und furzt und pöbelt. Kehre um, wenn dir dein ewiges Leben lieb ist.‹
Er hört den Hall seiner Stimme in dem hohen Raum, streng und erhaben steht sie da. Es ist ganz still geworden. Dann das immer gewaltiger anschwellende Gelächter. Bis in die letzte Reihe schwappt es, wo die Bauern und Schlosser, die Melker, Bäcker und der Amtmann Sölling einstimmen. Sie halten ihn für einen Spinner, für ein überkandideltes Söhnchen.
Carl senkt demonstrativ den Kopf, sieht Arndts aufforderndes Grinsen am oberen Rand seines Blickfelds. Kein Augenkontakt. Augenkontakt wäre Zustimmung. Es darf keine Verständigung mit den Gotteslästerern geben, nicht ein einziges Wort. Schon >Nein( wäre zu viel. Er bemüht sich, sein Gesicht, seine Körperhaltung ganz von Versenkung, Andacht, Gebet durchdringen zu lassen. Alles an ihm muß furchtbare Kraft und beschämende Demut ausstrahlen. Dann wird Arndts sich stumm und erschrocken abwenden und sein Benehmen ändern.
»Nimm, ist Wrigley's.«
Pfefferminzgeruch. Carls Wangenmuskeln verkrampfen sich. Er sagt nichts, beißt die Zähne zusammen, preßt die Lippen aufeinander, bis sie kurz vor dem Platzen sind. Schüttelt den Kopf. Es ist eher ein Zucken, abrupt wie eine Nervenstörung. Arndts antwortet mit einer Grimasse, dreht sich nach vorn, flüstert Maaß etwas zu. Maaß wirft einen verächtlichen Blick zurück, zuckt mit den Achseln.
»Barmherziger Gott, wir bekennen, daß wir immer wieder versagen und uns nicht auf unsere Verdienste berufen können. Komm uns zu Hilfe und ersetze, was uns fehlt.«
Carl atmet schwer, hebt den Blick zum Himmel, der ein gemauertes Gewölbe ist. Seit Jahrhunderten steigen die Gebete dorthin auf. Die Steine haben sich vollgesogen mit Glaube, Hoffnung, Liebe. Er wendet sich dem Gekreuzigten zu, der in Gehorsam und Geduld alles ertragen hat, Spott und Geißel und Dornenkrone. ›Weise Du sie zurecht, o Herr. Laß sie zittern vor Furcht.‹
Ein Senfkorn - nur so groß wie ein Senfkorn muß er sein, der Glaube, dann kann er Berge versetzen.
Carl wird rot, spürt Hitze in den Wangen: Sein Glaube ist kleiner. Er reicht nicht einmal für den Mut, seine Klassenkameraden zurechtzuweisen. Schon bei der Vorstellung, »Laßt doch den Blödsinn« zu sagen, überwältigen ihn Verzagtheit und Angst.
»Heilig, heilig, heilig, Gott, Herr aller Mächte und Gewalten.«
»Peinlich, peinlich, peinlich, all die Pfaffen in Irrenanstalten«, kommt das Echo aus der Reihe vor ihm.
»Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit.«
Carl horcht in sich hinein, ob nicht irgendwo in seinem Innern etwas zu hören ist, das leise Säuseln, das ihn beim Namen nennt, kaum vernehmlich in all dem Geläute, dem Stimmengewirr. Er atmet flach, damit es nicht übertönt wird von der Luft, die seine Nasenwände entlangstreicht. Er hört nichts. Die gegeneinanderreibenden Stoffe, Parka, Pullover, Cordhose sind beim Hinknien so laut, daß nichts mehr zu verstehen wäre von dem, was der Stille am Grund seiner Seele entsteigen könnte. Sosehr er sich auch anstrengt, in ihre hintersten Winkel zu horchen, da wispern nur die erbärmlichen Einflüsterungen, die aus ihm selber stammen: ›Kleingläubiger!‹ - ›Steh auf, wenn du Gott wahrhaftig liebst!‹ - ›So ein Unsinn!‹ - ›Erhebe dich, bekenne deinen Glauben!‹ - ›Es ist lächerlich.‹ - ›Feigling!‹ - ›Du bist lächerlich. Erbärmlich. Ein Wurm.‹
»Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes: mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
Carl sieht den Heiland an, der sich ihm voll Erbarmen zugewandt hat, schaut, ob sich nicht vielleicht doch ein Finger der angenagelten Hand, ein Mundwinkel im heiligen Gesicht regt, damit er den Mut faßt, aufzustehen, herauszutreten, sich aufrecht und gerade in den Gang zu stellen und das Wort zu ergreifen: )Steig herab von diesem Kreuz, Herr Jesus, und lehre das Volk, das in die Irre geht, Deine Macht zu erkennen: Steig herab.<
Carl weiß, daß es geschehen würde, wenn er ohne das Zweifeln wäre. Aber er zweifelt. Der Zweifel hockt in dem Herzenswinkel, von dem aus sich das Säuseln zur Gewißheit, vom Windhauch zum Sturm aufblähen müßte, doch es raunt nur: )Nichts wird geschehen, rein gar nichts.<
)Jesus, Sohn Gottes, des Allmächtigen: Gib mir ein Zeichen, ein winziges Zeichen, daß mein Glaube von Dir angenommen wird.<
Sosehr er den Herrn dort oben auch anstarrt, bis seine Augen Schlitze werden, durch die das Licht in Strahlenkränzen wie von Wunderkerzen explodiert - nichts ist anders als immer.
»Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
Gleich wird es zu spät sein. Warum spricht Er ihm nicht dieses eine Wort ins Herz, daß die Kraft einströmt, ihn durchflutet, überlaufen läßt. Dann würde er furchtlos das Wunder wirken, wie es zugesagt ist: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.
»Jerusalem erhebe dich, steig auf den Berg und schau die Freude, die von deinem Gott zu dir kommt«, sagt Pastor Hünermann.
Alle stehen auf.
Es ist zu spät. Die ersten gehen nach vorn, um den Leib des Herrn zu empfangen. Auf dem Weg zur Kommunionbank tritt Arndts Ulli Koch in die Kniekehle. Ulli Koch wehrt sich nicht. Die Orgel, ein Leierkasten, spielt »Wachet auf, ruft uns die Stimme«. Ein Trauermarsch zu Ehren eines Toten, der alles verloren hat.
Er hat es nicht geschafft. Er ist nichtswürdig. Ein Nichts. Weniger als ein Nichts.
...
Copyright © 2012 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Isaias ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.«
Das Winterdunkel draußen hat die Farben der Bleiglasfenster geschluckt. In den hoch aufragenden Spitzbögen grüngraue Felder, von flachen Wülsten eingefaßt. Schraffuren liegen schwarz auf, Liniennetze, die keine Szenen werden. Gerade noch zu erahnen, wenn man weiß, daß sie dort sind: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Der allmächtige Weltenschöpfer krönt den Erlösersohn; der Erlösersohn hält sein Kreuz im Arm wie einen Freund; die Taube im Strahlenkranz. Unten Engelscharen, vielköpfig, geflügelt, singend, im Gebet. Das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit. Keine Furcht soll über euch kommen.
So stellt es sich sonntags dar, über Weihrauch, der zum Thron des Höchsten emporsteigt, Glanz wie am ersten Morgen eines neuen Himmels, einer neuen Erde. Dahinter Licht, das die Unendlichkeit füllt, heller als die wirkliche Morgensonne über dem stinkenden Fluß. Jetzt nicht einmal mehr Schemen des Heiligen, die Sphären opak verschmiert. Kaltluft stürzt aus undichten Fugen und Fehlstellen, sickert in Mantelkrägen, Ausschnitte. »Tauet Himmel den Gerechten / Wolken regnet ihn herab.« Die Orgel schleppt sich durch das Lied, der Gesang ohne Trost. Aber einmal wird aus den Seufzern Jubel werden.
Die Kinderbänke vorn sind dicht besetzt, Jungen rechts, Mädchen links; gut gefüllt auch die Frauenblöcke dahinter. Im Bereich der Männer hingegen ist Platz. Sie stehen im Vorraum unter dem Turm, rauchen vor der Kirchentür, reden über Schweinepreise, die Schließung der Molkerei. »Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!« Aus der Luke im Gewölbe zwischen Apsis und Schiff hängt der Adventskranz am fingerdicken Stahlseil bis auf Höhe des Kanzelbaldachins. Tannenzweige um eine schmiedeeiserne Form geflochten, mit roten Bändern umwickelt, zwei Kerzen brennen, leichtes Schaukeln, sie flackern unruhig, bis nah ans Erlöschen. »Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um seine Hüften. Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung.«
Der gewaltige Mann, Johannes, unerbittlich im Kampf gegen das Tier in sich, Rufer in der Wüste, sein Wort eine Geißel der Sünden, Schwert der Unterscheidung. Niemand kann ihm ins Angesicht widerstehen.
Die Stimme von Pastor Hünermann knarzt, als entspränge sie dem Röhrenradio, das seit der Hitlerzeit in Tante Rias Küche steht. Er hält inne, holt ein akkurat gefaltetes Taschentuch aus dem schwarzen Ärmel unter Albe und golddurchwirkter Kasel, tupft sich die Stirn. Der Schweiß ist aus dem vergangenen Sommer, trocken und unsichtbar. Heute schwitzt niemand. Nässe und Kälte sikkern durch Anoraks, Wollpullover - wegen des Sparhaushalts, wegen der Schwingtüren. Das Frieren durchkreuzt die Andacht. »Als Johannes sah, daß viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut.«
Die Pharisäer sind ein unkenntlicher Schleiflaut, die Saddu-zä-er vier langgezogene Einzelsilben. Pastor Hünermanns Betonungen haben mit dem Sinn der Schrift nichts zu tun. Vier Tage ist er verschüttet gewesen, lag mit einer Kopfverletzung unter den Trümmern eines zerbombten Hauses. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.«
Arndts rupft Maaß an der Jacke. Maaß rammt Arndts seinen Ellbogen in die Rippen. Das Geräusch eines Aufschreis, den vor die Lippen gepreßte Hände ersticken. Bernd Rogge friemelt sich einen Popel aus der Nase, bringt ihn auf der Daumenkuppe in Stellung, zielt, schnippt ihn Ulli Koch auf die Schulter. Ulli Koch ist klein und dumm. Er bemerkt es nicht, sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Kichern und seiner armen Person.
Oben im Bogen, hinter dem der Altarraum sich öffnet, breitet der Heiland überlebensgroß die Arme am Kreuz aus. Seine Liebe zu den Menschen entströmt jeder Pore des gemarterten Leibes. Blut und Wasser rinnen aus der geöffneten Seite: lebendiges Wasser, das Wasser des Lebens. Wer davon trinkt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Es schimmert lackrot, man denkt, es tropft auf den Boden. »Schon hält er die Schaufel in der Hand. Er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.«
Pastor Hünermann macht eine Pause, kratzt sich mit gestrecktem Zeigefinger im Ohr. Leinberger flüstert Arndts zu: »Deine Schwester ist eine Pimpinelle.«
»Pimpinellen gibt es gar nicht.«
»Wetten, daß es die gibt?«
»Und du bist ein Pimmelpisser.«
Der Gekreuzigte mag nur eine Figur sein, Holz, Kreidegrund, Farbe, doch der wirkliche Jesus wohnt darin, unser Bruder und Herr, gegenwärtig und nah, gegenwärtiger fast als im Sakrament. Er kann die Augen aufschlagen, den Kopf heben, Hände und Füße lösen. Wenn Er nur will. Das Holz gehorcht Ihm. Zeit und Raum, die Schwerkraft, alle Naturgesetze sind Ihm dienstbar, durch Ihn und zu Seinem Ruhm wurden sie erschaffen. Es wäre eine Lektion für das Volk, das vergessen hat, was Er als Sühne für die Sünden der vielen getan hat. Mit geschmiedeten Eisennägeln an die Balken geschlagen. Gestorben und hinabgestiegen in das Reich des Todes, auferstanden von den Toten, Er sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird Er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.
Cherubim und Seraphim, Mächte und Gewalten unterstehen seinem Befehl. »Guck mal, Ulli Koch fallen Popel aus den Ohren.«
»Wieder nicht gewaschen, Ulli!«
Wahrlich ich sage euch: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Sie verhöhnen Ihn, sie beschmutzen Sein geweihtes Haus. Wer guten Willens ist, die Tür seines Herzens dem Gekreuzigten öffnet, hat Mühe, den Worten der Frohbotschaft zu folgen. Carl ist guten Willens, vielleicht der einzige hier und heute, dessen Willen gut ist. Arndts sagt: »Ich will Pommes essen, mit Majo und Ketchup.«
Er lacht, man hört ihn im ganzen Kirchenraum. Niemand von den Erwachsenen schreitet ein. Es wird von Woche zu Woche schlimmer. Carl denkt an den Zorn Gottes, an die Wiederkunft des Herrn. Die Zeit ist nahe, man muß ihre Zeichen erkennen. Durch die Welt läuft ein Riß, an dessen Grund sich die Hölle auftut. Er spaltet die Familien, die Staaten, die Erde. Die Waffenlager quellen über, genügend Atombomben, um alles, was da ist, hundertfach zu vernichten. In Rußland und China werden die Gläubigen vor Gericht gezerrt, ins Gefängnis geworfen, ermordet. Überschwemmungen, Hungersnöte. Die große Drangsal steht bevor, das alles verschlingende Feuer. Ohne göttlichen Beistand schafft es keiner, bis zum Schluß auszuharren. Dann endlich wird von einem Ende der Erde bis zum anderen die Posaune erschallen, stählern, durchdringend. Der Menschensohn wird auf einer Wolke einreiten, in der Hand eine scharfgeschliffene Sichel. Das interessiert sie nicht. Sie denken, das lächerliche Leben, Gier, Gemeinheit und Zerstreuung, gingen immer so weiter. Leinberger und Rogge haben sich ganz dem Bösen verschrieben, in ihren Herzen hat der Teufel sich eine behagliche Wohnstatt eingerichtet. Die anderen sind bloß lau, träge, nachlässig. Das Licht des Glaubens in ihnen ist erloschen. Vielleicht wurde es nie entzündet. Rogges Vater taucht nur an Weihnachten in der Kirche auf, der Bauer Arndts, der Schreiner Maaß rauchen und quatschen draußen. Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan. »Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.«
»Lob sei dir, Christus.«
Auf dem Gesicht des Gekreuzigten Sanftmut - trotz des Martertodes, trotz der Gleichgültigkeit, die Ihm entgegenschlägt.
»In der Lesung aus dem Buch I-sa-ijas malt der Prophet uns ein schönes Bild: Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. So war es im Paradies, so wird es im himmlischen Jerusalem sein. Aber in unseren Tagen ist die Welt voll von Gewalt und Krieg, wohin man auch blickt. Vielen Menschen erscheinen die Worte des Propheten wie Hohn und Trug.«
Maaß zieht Schleim den Rachen hinauf, läßt einen hellgelben Pfropf aus gespitzten Lippen ab, saugt ihn lauthals wieder ein. »Ich kotz' gleich«, sagt Arndts.
»Mach doch«, sagt Maaß, klappt sein Gebetbuch auf, legt es sich auf die Knie, um die Hose zu schützen, läßt den Pfropf tiefer sinken, nur ein dünner Speichelfaden hält den Schleim noch am Mund.
Eine Regung Seines Heiligen Arms würde reichen, um das hier ein für allemal zu beenden. Nie wieder würden sie sich so benehmen.
Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt, und jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.
»Aber ganz gleich, was wir auch tun, wie tief wir auch in Sünden verstrickt sind, der Heiland wendet sich uns immer wieder voll Erbarmen zu.«
»Die Affen rasen durch den Wald / der eine macht den andern kalt / wo ist die Kokosnuß, / wo ist die Kokosnuß, / wer hat die Kokosnuß gekla-ha-haut?«
»Darum wollen wir umkehren, unsere Schuld bereuen, auch regelmäßig zur Beichte gehen und Vergebung empfangen, auf daß wir gereinigt und bereit sind für das heilige Sakrament der Eucharistie und dereinst, wenn die Gräber geöffnet werden und die Toten auferstehen, alle gemeinsam in den Himmel kommen zu ewiger Freude. Amen.«
»Hier stinkt's.«
»Ulli Koch hat einen fahren lassen.«
»Die Sau.«
»Stimmt gar nicht.«
»Der Mief sitzt in der Unterhose fest.«
»Credo in unum de-e-e-um. «
Es ist ein Schmerz. Und Zorn. Eingeklemmt, verkantet. Er zerreißt Carls Brust. Dahinter ein Schrei. Wenn der Schrei sich befreit und herausbricht, zerspringen die Fenster, das bunte Glas. Splitter der Heiligen Dreifaltigkeit, der Himmlischen Heerscharen regnen herab, zerschneiden Gesichter und Hände.
» Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen.« Niemand um ihn herum spricht das Glaubensbekenntnis mit.
Carl denkt, daß er sie ermahnen, daß er sie warnen, ihnen in Liebe erläutern muß, was der Herr getan hat, damit sie sich besinnen. Seine Rede wäre sacht und stark zugleich: ›Schaut, was Er auf sich genommen hat, die größte Schmach und Schande.‹
Sie würden ihn anglotzen, trüb und unverständig wie das Vieh in den Ställen, ihn für verrückt halten. Lachen - Rogge als erster, und alle würden einfallen. Montag bekäme er Prügel. Leinberger würde ihn auf den Asphalt werfen, bespucken, zum Gespött der Schule machen. Davon würde sein Ruf sich nie wieder erholen.
Arndts verteilt jetzt Kaugummis. Gleich wird er Carl einen Streifen anbieten. ›Begreift ihr denn nicht, was die Liebe Jesu bedeutet für jeden von euch, von uns, ohne diese Liebe können wir nicht einen Atemzug tun.‹
»Nimmst du?«
Carl will sagen: ›Schäm dich, das Haus Gottes zu einer Räuberhöhle zu machen, wo man schmatzt und furzt und pöbelt. Kehre um, wenn dir dein ewiges Leben lieb ist.‹
Er hört den Hall seiner Stimme in dem hohen Raum, streng und erhaben steht sie da. Es ist ganz still geworden. Dann das immer gewaltiger anschwellende Gelächter. Bis in die letzte Reihe schwappt es, wo die Bauern und Schlosser, die Melker, Bäcker und der Amtmann Sölling einstimmen. Sie halten ihn für einen Spinner, für ein überkandideltes Söhnchen.
Carl senkt demonstrativ den Kopf, sieht Arndts aufforderndes Grinsen am oberen Rand seines Blickfelds. Kein Augenkontakt. Augenkontakt wäre Zustimmung. Es darf keine Verständigung mit den Gotteslästerern geben, nicht ein einziges Wort. Schon >Nein( wäre zu viel. Er bemüht sich, sein Gesicht, seine Körperhaltung ganz von Versenkung, Andacht, Gebet durchdringen zu lassen. Alles an ihm muß furchtbare Kraft und beschämende Demut ausstrahlen. Dann wird Arndts sich stumm und erschrocken abwenden und sein Benehmen ändern.
»Nimm, ist Wrigley's.«
Pfefferminzgeruch. Carls Wangenmuskeln verkrampfen sich. Er sagt nichts, beißt die Zähne zusammen, preßt die Lippen aufeinander, bis sie kurz vor dem Platzen sind. Schüttelt den Kopf. Es ist eher ein Zucken, abrupt wie eine Nervenstörung. Arndts antwortet mit einer Grimasse, dreht sich nach vorn, flüstert Maaß etwas zu. Maaß wirft einen verächtlichen Blick zurück, zuckt mit den Achseln.
»Barmherziger Gott, wir bekennen, daß wir immer wieder versagen und uns nicht auf unsere Verdienste berufen können. Komm uns zu Hilfe und ersetze, was uns fehlt.«
Carl atmet schwer, hebt den Blick zum Himmel, der ein gemauertes Gewölbe ist. Seit Jahrhunderten steigen die Gebete dorthin auf. Die Steine haben sich vollgesogen mit Glaube, Hoffnung, Liebe. Er wendet sich dem Gekreuzigten zu, der in Gehorsam und Geduld alles ertragen hat, Spott und Geißel und Dornenkrone. ›Weise Du sie zurecht, o Herr. Laß sie zittern vor Furcht.‹
Ein Senfkorn - nur so groß wie ein Senfkorn muß er sein, der Glaube, dann kann er Berge versetzen.
Carl wird rot, spürt Hitze in den Wangen: Sein Glaube ist kleiner. Er reicht nicht einmal für den Mut, seine Klassenkameraden zurechtzuweisen. Schon bei der Vorstellung, »Laßt doch den Blödsinn« zu sagen, überwältigen ihn Verzagtheit und Angst.
»Heilig, heilig, heilig, Gott, Herr aller Mächte und Gewalten.«
»Peinlich, peinlich, peinlich, all die Pfaffen in Irrenanstalten«, kommt das Echo aus der Reihe vor ihm.
»Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit.«
Carl horcht in sich hinein, ob nicht irgendwo in seinem Innern etwas zu hören ist, das leise Säuseln, das ihn beim Namen nennt, kaum vernehmlich in all dem Geläute, dem Stimmengewirr. Er atmet flach, damit es nicht übertönt wird von der Luft, die seine Nasenwände entlangstreicht. Er hört nichts. Die gegeneinanderreibenden Stoffe, Parka, Pullover, Cordhose sind beim Hinknien so laut, daß nichts mehr zu verstehen wäre von dem, was der Stille am Grund seiner Seele entsteigen könnte. Sosehr er sich auch anstrengt, in ihre hintersten Winkel zu horchen, da wispern nur die erbärmlichen Einflüsterungen, die aus ihm selber stammen: ›Kleingläubiger!‹ - ›Steh auf, wenn du Gott wahrhaftig liebst!‹ - ›So ein Unsinn!‹ - ›Erhebe dich, bekenne deinen Glauben!‹ - ›Es ist lächerlich.‹ - ›Feigling!‹ - ›Du bist lächerlich. Erbärmlich. Ein Wurm.‹
»Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes: mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
Carl sieht den Heiland an, der sich ihm voll Erbarmen zugewandt hat, schaut, ob sich nicht vielleicht doch ein Finger der angenagelten Hand, ein Mundwinkel im heiligen Gesicht regt, damit er den Mut faßt, aufzustehen, herauszutreten, sich aufrecht und gerade in den Gang zu stellen und das Wort zu ergreifen: )Steig herab von diesem Kreuz, Herr Jesus, und lehre das Volk, das in die Irre geht, Deine Macht zu erkennen: Steig herab.<
Carl weiß, daß es geschehen würde, wenn er ohne das Zweifeln wäre. Aber er zweifelt. Der Zweifel hockt in dem Herzenswinkel, von dem aus sich das Säuseln zur Gewißheit, vom Windhauch zum Sturm aufblähen müßte, doch es raunt nur: )Nichts wird geschehen, rein gar nichts.<
)Jesus, Sohn Gottes, des Allmächtigen: Gib mir ein Zeichen, ein winziges Zeichen, daß mein Glaube von Dir angenommen wird.<
Sosehr er den Herrn dort oben auch anstarrt, bis seine Augen Schlitze werden, durch die das Licht in Strahlenkränzen wie von Wunderkerzen explodiert - nichts ist anders als immer.
»Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
Gleich wird es zu spät sein. Warum spricht Er ihm nicht dieses eine Wort ins Herz, daß die Kraft einströmt, ihn durchflutet, überlaufen läßt. Dann würde er furchtlos das Wunder wirken, wie es zugesagt ist: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.
»Jerusalem erhebe dich, steig auf den Berg und schau die Freude, die von deinem Gott zu dir kommt«, sagt Pastor Hünermann.
Alle stehen auf.
Es ist zu spät. Die ersten gehen nach vorn, um den Leib des Herrn zu empfangen. Auf dem Weg zur Kommunionbank tritt Arndts Ulli Koch in die Kniekehle. Ulli Koch wehrt sich nicht. Die Orgel, ein Leierkasten, spielt »Wachet auf, ruft uns die Stimme«. Ein Trauermarsch zu Ehren eines Toten, der alles verloren hat.
Er hat es nicht geschafft. Er ist nichtswürdig. Ein Nichts. Weniger als ein Nichts.
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Autoren-Porträt von Christoph Peters
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand "Tage in Tokio" (2021) und "Der Sandkasten" (2022).
Bibliographische Angaben
- Autor: Christoph Peters
- 2012, Originalausgabe., 506 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630873219
- ISBN-13: 9783630873213
- Erscheinungsdatum: 27.08.2012
Rezension zu „Wir in Kahlenbeck “
"Einer der beeindruckendsten deutschsprachigen Romane der vergangenen Jahre - philosophisch durchgearbeitet, mitreißend erzählt." Christoph Schröder / KulturSPIEGEL
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