Wir sind die Könige von Colorado
Roman
"Im Sommer 1963, als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Messer in die Brust." David E. Hilton hat mit Wir sind die Könige von Colorado einen Roman geschrieben, der an William Goldings Herr der Fliegen erinnert: ein Werk, das auf...
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Klappentext zu „Wir sind die Könige von Colorado “
"Im Sommer 1963, als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Messer in die Brust." David E. Hilton hat mit Wir sind die Könige von Colorado einen Roman geschrieben, der an William Goldings Herr der Fliegen erinnert: ein Werk, das auf schonungslose Weise Auskunft gibt über den Verlust der Unschuld, die Natur des Bösen und die Macht wahrer Freundschaft. Während der Vater überlebt, wird Will eigentlich noch ein Kind zu einem zweijährigen Zwangsaufenthalt auf einer abgelegenen Erziehungsranch hoch in den Bergen von Colorado verurteilt. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen muss er dort wilde Pferde zähmen. Die Arbeit ist hart, und schon bald muss Will erfahren, dass auf dieser Ranch nicht nur der Wille von Tieren gebrochen werden soll. Doch er findet auch Freunde: Coop, Benny und Mickey, die eine verschworene Gemeinschaft bilden. Während die Jungen der Willkür der sadistischen Aufseher und eines hinterhältigen Mitgefangenen ausgesetzt sind, machen sie sich immer wieder gegenseitig Mut: "Scheiß auf die Welt da draußen. Hier drinnen sind wir Könige. Wir sind die Könige von Colorado." Als eines Tages Pferde ausbrechen, soll ein Trupp von Gefangenen und Wärtern die Tiere wieder einfangen. Auch Will und seine Freunde nehmen an dieser Expedition teil bei der es für die Jungen schon bald ums nackte Überleben geht.
Lese-Probe zu „Wir sind die Könige von Colorado “
Wir sind die Könige von Colorado von David E. Hilton Kapitel 1
Im Sommer 1963, als ich dreizehn war, stieß ich meinem
Vater ein Davy-Crockett-Taschenmesser in die
Brust. Das ist fast fünfzig Jahre her. Wenn ich ehrlich
bin, muss ich zugeben, dass ich nichts als Leere empfinde,
wann immer ich an all das zurückdenke.
Es ist traurig, wenn ein Mann die wichtigsten Dinge
in seiner Vergangenheit wegschließt, nur um zu vergessen,
dass sie eine Zeit lang alles waren, was zählte. Alles,
was sein Leben geprägt und ihn zu dem gemacht hat,
der er ist - doch genau das habe ich getan. Ich glaube,
manchmal beginnt man sogar zu vergessen, was sich
überhaupt hinter dieser verschlossenen Tür, in diesem
Raum aus toten Erinnerungen, verbirgt. Aber dann,
manchmal, wird die Tür eingetreten, und ob man es
will oder nicht, man erinnert sich doch.
Das ist heute passiert.
Als ich aus dem Fahrstuhl trat, herrschte in der Eingangshalle
großer Aufruhr. Ich hörte Schreie und Schreckenslaute.
Leute liefen mit aufgerissenen Augen über
den langen Marmorflur. Jenseits der hohen Glastüren
auf der Vorderseite des Gebäudes bildete sich eine Menschenmenge.
Es hatte einen Unfall gegeben.
... mehr
Ein Pick-up mit Pferdeanhänger war von einem
schwarzen Landrover angefahren worden. Der Anhänger,
der die Hauptwucht des Zusammenstoßes abbekommen
hatte, war auf die Seite gekippt. Darin lag
eine wunderschöne weiße Stute, halb tot, um ihr Le-
ben kämpfend. Keine Polizeiwagen. Keine Sirenen. Der
Fahrer des eingedellten Pick-ups saß auf der Straße und
hielt sich benommen den Arm. Ein paar Leute holten
ihre Handys heraus und wählten den Notruf, andere
standen nur hilflos herum und gafften. Die Tür des
Anhängers baumelte lose in den Angeln, und die Stute
hing halb heraus, das Hinterteil im Wagen, Kopf und
Rumpf auf dem verdreckten Asphalt. Sie versuchte, den
Kopf zu heben; der Rest ihres Körpers regte sich nicht.
Ihr Rücken war auf unnatürliche Weise verdreht, aber
was ich am schlimmsten fand, war der Anblick des Blutes,
das unter ihrem Maul auf den Asphalt rann. Ihre
großen schwarzen Augen schossen im Chaos des Stadtzentrums
panisch hin und her.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und
lief zu ihr. »Nein«, flüsterte ich, als ich mich neben
sie kniete, und strich ihr mit der Hand über den Hals.
Sie wieherte, und es kam noch mehr Blut. Ein beinahe
menschliches Stöhnen entwich ihrem Brustkorb, und
sie versuchte erneut, den Kopf zu heben. Sie würde sterben,
und es gab nichts auf der Welt, was ich tun konnte,
außer hier bei ihr zu sein.
Sie unternahm eine letzte Anstrengung, sich aufzurappeln,
und wieherte erneut. Ihr schwerer Atem wurde
immer schwächer. Dann verlosch er.
Ich umarmte die Stute, so fest ich konnte, und weinte
um sie. Vielleicht machte ich mich zum Narren, aber
das war mir egal. In diesem Moment kamen die Menschen
und Orte, die ich so lange hinter jener verschlossenen
Tür eingesperrt hatte, wieder zum Vorschein, und
ich wurde von der Vergangenheit überrollt.
Kapitel 2
Der Himmel lodert auf, und sofort folgt das Echo des
Donners, ein anhaltendes Grollen, das gar kein Ende
zu nehmen scheint. In dem peitschenden Regen und
den Windböen heben und senken sich die Äste der Eiche
vor meinem Schlafzimmerfenster und kratzen mit
krummen Fingern an der Scheibe. Es klingt nach einem
scheußlichen Sturm.
Aber das ist es nicht, was mich geweckt hat. Das Bild
der sterbenden Stute hatte mich den ganzen Abend
nicht losgelassen: verdreht, mit gebrochenen Knochen,
nach Atem ringend. Ich glaube, ich habe sogar von ihr
geträumt. Von ihr und den Geheimnissen meiner Vergangenheit.
In kalten Schweiß gebadet, wachte ich auf und packte
mein Knie. Ich versuchte still zu liegen - den Schmerz
zu ignorieren und wieder einzuschlafen. Manchmal liege
ich stundenlang so wach. Ich könnte etwas gegen
die Schmerzen nehmen, nur dass ich dieser Tage ohnehin
schon so viele Tabletten schlucke. Ich frage mich
immer, was passieren würde, wenn ich es einfach sein
ließe. Ich spüre den Schmerz in allen Gelenken, aber
am schlimmsten ist er unterhalb meiner linken Schulter.
Wenn ich weit genug nach hinten greife, komme
ich gerade eben dort an und kann die dicke Linie aus
Narbengewebe ertasten.
Mein Arzt sagt, das sei der Beginn einer Arthritis, und
hat mir schon mehrfach geraten, aus dem kalten Klima
Chicagos wegzuziehen. Irgendwohin, wo es trocken ist,
nach Westen. Der Mann hat gut reden; er ist vierzig. Ich
kann nicht einfach aufbrechen und noch mal von vorn
anfangen. Nicht in meinem Alter. Nicht allein.
Für Männer wie mich gibt es keinen Neuanfang, dafür
immer mal wieder ein Ende. Heute, noch vor der Sache
mit dem Unfall, dem Blut und dem Pferd, hat mich das
Versicherungsunternehmen, bei dem ich seit dreiundzwanzig
Jahren arbeite, in einem Brief davon unterrichtet,
dass ich Teil der generischen Personalreduzierung
sei. Das stand da wirklich: generische Personalreduzierung.
Wahrscheinlich sollte das eher unpersönlich als gleichgültig
klingen, aber ich finde, es kommt beides darin
zum Ausdruck.
Als es an der Zeit war, den Personalbestand zu verringern,
mussten sie vermutlich nicht allzu lange überlegen,
von wem sie sich trennen sollten. Ich bin nicht
gerade ein herausragender Mitarbeiter gewesen. In den
letzten Jahren habe ich mich schwergetan und gemerkt,
dass ich mich zunehmend treiben ließ. Ich habe mir
nur noch so viel Mühe gegeben, wie unbedingt nötig
war, um mir keinen Ärger einzuhandeln. Zuletzt habe
ich mich fast wie ein Geist gefühlt: einsam und unsichtbar.
Offen gestanden bin ich überrascht, dass ich mich
überhaupt so lange halten konnte.
Während ich also meinen Schreibtisch räumte, bekam
ich zweimal Besuch. Zuerst von Wanda Bratcher,
unserer Empfangsdame. Sie ist schon fast genauso lange
in der Firma wie ich. Unbeholfen wünschte sie mir alles
Gute, um mich dann auch noch, ganz unerwartet, an
ihre Brust zu drücken. Als sie mich mit ihren dünnen
Armen umklammerte und »Viel Glück da draußen, William
Sheppard« flüsterte, fühlte ich mich wie ein Häft-
ling, der wieder in die Klauen der Gesellschaft entlassen
wird.
Der zweite Besucher war Ronald Perkins. Er ist vielleicht
der einzige Kollege, den ich als Freund bezeichnen
könnte, obwohl wir eigentlich nur im Büro miteinander
reden. Auch für ihn war es der letzte Tag. Ronald
ist ein vierschrötiger Mann, der einem liebend gern
schlechte Nachrichten überbringt. Es ist wirklich Pech
für ihn, dass er sich seine Kündigung nicht selbst aussprechen
konnte.
»Ich denke neuerdings viel über die Zeit nach.«
Ich log und sagte, das gehe mir nicht so. »Nev Lewis
und Jeff Morgan haben bestimmt auch viel über die
Zeit nachgedacht. Vielleicht sollten wir das besser nicht
tun.«
Beide waren letztes Frühjahr in Rente gegangen, und
beide waren kurz darauf gestorben.
Der Rest des Tages verlief überwiegend so, wie ich es
erwartet hatte. Eine kleine Gruppe von Kollegen lud
mich zum Mittagessen ein und überreichte mir eine
Karte mit einer Menge Unterschriften; einige Namen
kannte ich, andere sagten mir nicht das Geringste. Händeschütteln,
Schulterklopfen. Jedes »Viel Glück« eine
Erinnerung daran, dass ich es verdammt gut würde gebrauchen
können.
Ich sitze in demselben sinkenden Boot wie Ronald
Perkins. Zwar kann ich mich nach einer neuen Anstellung
umschauen, aber ich bezweifle, dass es für einen
Zweiundsechzigjährigen, der schon die Fahne hissen
und in Rente gehen könnte, besonders viele Möglichkeiten
gibt. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe Angst. Ich
will keiner von diesen gebrechlichen alten Männern
werden, die den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und
Endlosschleifen auf dem Wetterkanal anschauen.
Während ich auf die nackten roten Ziffern des Weckers
neben meinem Bett blicke, wird mir klar, dass ich
in dieser Nacht nicht wieder einschlafen werde. Diese
Nacht ist anders. Heute Nacht wird klar Schiff gemacht.
Heute Nacht ist Schluss.
Ich taste nach dem Schalter der kleinen Lampe neben
dem Bett, und lange Schatten fallen quer durchs Zimmer.
Auf meinem Nachttisch steht eine Blechdose. Ich
drehe sie in den Händen und horche auf das Schleifen
und Klickern darin. Jahrelang hatte ich diese Dose auf
einem Bord ganz oben in meinem Kleiderschrank versteckt,
und sie rief nur gelegentlich nach mir. Jetzt ist sie
eher ein Nachtlicht in meiner dunklen Welt, ein Trost,
auf den ich inzwischen ziemlich stark angewiesen bin.
Zu viel ist geschehen.
Draußen vor dem Fenster knackt es, als bräche ein
Knochen, und kurz darauf fällt ein Ast auf das Haus.
Und ich höre einen Geist flüstern: »Mach schon, Lunch.
Rauf auf den Scheißbaum. Rauf mit dir, oder ich schieß
dich tot.«
Der Anblick des sterbenden Pferdes hat die weggesperrten,
gespenstischen Erinnerungen meiner Vergangenheit
wiederbelebt. Erinnerungen an die, die ich einmal
meine engsten Freunde genannt habe. Und an den
einen, der mich bis heute nicht loslässt.
Mein kleines Schindelhaus an der Maplewood Avenue
fühlt sich leer und kalt an. Das war nicht immer so.
Leer und kalt ist es hier erst, seit Mina vor vier Jahren
gestorben ist. Wir haben so lange versucht, Kinder zu
bekommen, und schließlich sagten uns die Ärzte, es liege
an mir, dass Mina nicht schwanger werde. Sie war
stark und verlor nie ein böses Wort darüber. Das war
auch nicht nötig; ich sah den Schmerz in ihren Augen.
Adoption? Ich weiß nicht - wir haben spät geheiratet,
da waren wir schon fast vierzig. Nachdem wir es jahrelang
auf die herkömmliche Art versucht hatten, sagten
wir uns, wir seien wohl einfach zu alt und es solle wohl
nicht sein. Das klingt vielleicht dämlich, aber es ist die
Wahrheit.
Und so machten wir eben weiter mit unserem Leben
und genossen jede Sekunde. Wir scherten uns nicht um
den Kleinkram - Hypotheken, Rechnungen, Klatsch
und Tratsch. Das war alles ganz unwichtig. Sicher gab es
mal schlechte Zeiten und Streit. Aber wir hielten auch
Händchen und lachten viel. Samstags abends legte ich
meine Miles-Davis-Platten auf, und wir tanzten im Kerzenlicht.
Das machten wir achtzehn Jahre lang so, und
wir bekamen es nie über. Nie. Sie war alles, was ich an
Familie hatte, und sie fehlt mir. Aber damit ist im Grunde
nichts ausgesagt, was der Wahrheit auch nur nahe
kommt.
Heute Nacht hatte ich das eindeutige Gefühl, dass sie
neben mir im Bett lag. Ich spürte ihre Wärme. Wahrscheinlich
hatte ich von ihr geträumt, aber dann hörte
ich die leise Stimme aus meiner Vergangenheit. »Rauf
mit dir, oder ich schieß dich tot.«
Ich weiß schon seit einer Weile, was sich da anbahnt,
welchen Entschluss ich fassen werde. Und als ich das
schöne Pferd leiden sah, habe ich begriffen, was mich
all die Jahre zurückgehalten hat. Mein ganzes Leben
lang.
Ich gehe zu Minas antikem Schreibtisch in der Ecke
des Schlafzimmers und hole einen Packen Schreibpapier
heraus. Der Gedanke, meine Kindheit zu Papier
zu bringen, jagt mir eine Scheißangst ein. Denn damit
wird diese Zeit zu etwas Realem werden. Etwas, das man
in der Hand halten kann, anstatt es als bloßes Fantasiegebilde
abzutun. Aber noch viel unbehaglicher ist mir
bei dem Gedanken an ein Ende, ohne klar Schiff gemacht
zu haben.
Es ist mir egal, wer diese Seiten lesen könnte; ich
schreibe sie für mich. Wenn es mir gelingt, alles so wiederzugeben,
wie es war, werde ich vielleicht so etwas
wie Gerechtigkeit üben können oder sogar ein wenig
Rache. Nicht um meiner selbst willen, sondern für die,
die ich einmal meine Freunde genannt habe.
Es gibt ein Zitat, das mir gut gefällt. Ich habe es vor
Jahren aus einem Roman abgeschrieben. Ich weiß nicht
mehr, von wem es stammt, aber ich habe die Wörter auf
eine Serviette gekritzelt und sie aufbewahrt. Das Zitat
lautet so:
»Manche Geschichten wurzeln im Abenteuer, manche
im Konflikt. Andere stammen aus dem Herzen, und
die Schrecken und Freuden, die darin eingeschlossen
sind, scheinen oft so unermesslich, dass man sich wahrhaft
fragt, was aus den Kindern geworden ist, die wir
einst waren.«
Als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Messer
in die Brust.
Da werde ich anfangen.
Kapitel 3
Ich bin in Irish Chicago geboren, genauer: in Bridgeport.
Man lernt eine Menge über das Leben, wenn
man auf der South Side aufwächst, und in den frühen
Sechzigern lernte ich zu überleben. Ich habe mir alle
Mühe gegeben, große Teile meiner frühen Kindheit zu
vergessen, doch an die Prügel erinnere ich mich trotzdem.
Ich habe kaum Erinnerungen an meinen Vater im
nüchternen Zustand. Meistens sehe ich ihn betrunken
vor mir, mit einer widerlichen Schnapsfahne und dem
Gürtel in der Hand. Am liebsten trank er Whisky pur,
und bei dem Geruch dreht sich mir noch heute der
Magen um.
Er war ein kleiner Mann. Mit breiten Schultern und
massigem Brustkorb. Seine Augen waren so dunkel, dass
die Pupillen direkt in die Iris überzugehen schienen. Er
hatte dicke, kräftige Arme und grobe Hände. Ich hatte
mein Aussehen dagegen hauptsächlich von meiner
Mutter. Schlanke Glieder, helle Haut. Sogar ihr welliges
Haar hatte ich geerbt. Mein Vater nannte mich immer
Mädchen und Schwuchtel oder dergleichen, was ich nie
verstanden habe; schließlich spielte ich allzu gern Baseball
mit meinen Freunden auf der Straße, und ich hatte
noch nie etwas Hübscheres gesehen als Carrie Francello,
das Mädchen, das auf demselben Stockwerk wohnte
wie wir, gleich gegenüber.
Meistens reichte schon ganz wenig, ihn zu provozieren
- etwa, dass ich ein Comicheft auf dem Boden
liegen ließ oder ein bisschen Milch verschüttete.
»Raus mit dir, William!«, brüllte er dann. »Antreten
zur Tracht Prügel!« Und Jesus, Maria und Joseph, so viel
steht fest: Wenn ich nicht gehorcht hätte - es wäre die
Hölle und zehnmal schlimmer gewesen.
An meinem zehnten Geburtstag brach er mir den
Arm. Meine Mutter war nicht zu Hause, weil sie gerade
meine Geburtstagstorte von Gillpatrick's abholte, und
Mrs Francello fand mich weinend unter der Treppe.
Sie nahm mich auf den Arm und trug mich zum Arzt,
vier Querstraßen weit. Es war ein unglaublicher Akt der
Freundlichkeit, aber zugleich auch ein ziemlich gewagtes
Unterfangen. Sich in die Angelegenheiten anderer
Leute einzumischen war in meinem Viertel tabu.
Mein bester Freund war Jimmy Curio. Wir waren
keine Blutsbrüder oder so etwas Albernes, aber bei all
unseren gemeinsamen Baseballspielen war ich Second
Baseman und er Shortstop, und wann immer ich in der
Scheiße steckte, konnte ich auf ihn zählen. Manchmal
übernachtete ich bei ihm, wenn seine Eltern sich nicht
gerade stritten. Einmal fragte er mich, wie ich das bloß
aushielte, ständig von meinem Alten so misshandelt zu
werden. Es ist komisch, aber ich war schon so daran gewöhnt,
dass ich zuerst gar nicht verstand, was er meinte.
Er an meiner Stelle, sagte er, wäre längst abgehauen.
Oder hätte den Dreckskerl umgebracht. Er lachte dabei,
als sollte das ein Witz sein oder so was. Ich wurde verlegen,
und um schnell das Thema zu wechseln, fragte ich
ihn, ob er glaube, dass Carrie Francello mir je erlauben
würde, sie auf den Mund zu küssen. Aber was Jimmy
gesagt hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich lag
die meisten Nächte wach und fragte mich, warum um
Gottes willen ich nichts getan hatte.
Heute glaube ich, es hatte viel mit meiner Mutter
zu tun. Das klingt absurd, aber so war es. Ich konnte
damals keinen Schritt tun, ohne daran zu denken, was
sie dazu sagen würde. Mir ist klar, dass sich das anhört,
als wäre ich ein Muttersöhnchen gewesen - und vielleicht
stimmt das auch, keine Ahnung -, aber es war
mehr als das. Ohne es mir bewusst zu machen, hatte
ich ihr gegenüber eine Beschützerrolle eingenommen.
Versuchte, sie vor allem und jedem zu bewahren und
irgendwie unsere Familie zu retten.
Der andauernde Kampf meiner Jugend drehte sich
darum, welches Gefühl die Oberhand gewann: der Instinkt,
meine Mutter zu beschützen, oder die panische
Angst vor meinem Vater. Viel zu oft siegte die Angst.
Heiligabend 1962. Ich betrat die Wohnung und hörte
meine Mutter schluchzen, dann gedämpft aufschreien.
Die Geräusche kamen vom Ende des Flurs, aus dem
Schlafzimmer, und an dem brutalen Alkoholgestank in
der Luft erkannte ich, dass Dad früher als sonst heimgekehrt
war. Ihre Stimme klang dumpf, so als drücke
sie das Gesicht in ein Kissen, aber je weiter ich den Flur
entlangschlich, desto mehr verstand ich. Sie sprach von
mir. Zwischen all den Neins und Bittes weinte sie, er solle
doch aufhören, ich könne jeden Moment nach Hause
kommen. Die Tür war nur angelehnt, und ich erlag
der Versuchung, mich weiter vorzuwagen, um zu sehen,
was er mit ihr machte.
Wieder ein Geräusch. Er hatte sie geschlagen, und sie
hatte aufgeschrien. Vorsichtig bewegte ich mich in die
Nähe des Türspalts und beugte mich vor. Ich erhaschte
einen Blick auf seinen Arm, der im selben Moment erneut
auf sie niedersauste. Mit der anderen Hand hielt er
ein Büschel ihrer Haare gepackt. Sie blutete und flehte
ihn an aufzuhören.
Ich war zwölf und fühlte mich hilflos wie eh und je.
Leise zog ich mich ins Wohnzimmer zurück und wischte
mir die Tränen aus den Augen. Ging zum Plattenspieler,
setzte die Nadel auf die Bing-Crosby-Weihnachtsplatte,
das Mom so liebte, und kauerte mich auf den Boden
neben den Weihnachtsbaum. »Stille Nacht« erfüllte
den Raum, und trotzdem hörte ich meinen Vater noch
stöhnen und meine Mutter schluchzen. Ihr Weinen war
jetzt leiser geworden, und ich wusste, dass sie ihr Gesicht
in der Matratze vergrub, damit ich es nicht mitbekam.
Ich versuchte, das alles aus meinen Gedanken
zu verdrängen, und hörte stattdessen, was Jimmy Curio
gesagt hatte. Dass er längst abgehauen wäre - oder vielleicht
etwas anderes getan hätte.
Später am Abend ging meine Mutter mir aus dem
Weg. Ich legte mich früh schlafen, und als ich gerade
das Licht ausknipsen wollte, klopfte sie an meine Tür.
Ich versuchte, sie nicht anzuschauen, ihre aufgeplatzte
Lippe und das blutunterlaufene Auge nicht zu sehen.
Sie küsste mich auf die Stirn und bemerkte wohl den
Ausdruck auf meinem Gesicht.
»Er ist ein guter Mann, William. Es war ... meine
Schuld.«
Ich schloss die Augen und tat so, als wäre sie gar nicht
da gewesen. In dieser Nacht schwor ich mir, dass ich sie
beschützen würde, wenn sie es selber nicht tat.
Dann, im darauffolgenden Sommer - nur wenige Wochen
bevor das neue Schuljahr begann -, passierte es.
Eines Nachts im August kam mein Vater vom Milligan's,
an der 31st Street, zur Tür hereingestolpert und fing wieder
Streit mit Mom an. Das Abendessen, zu dem er sich
um Stunden verspätet hatte, stand kalt auf dem Herd.
»Kannst nicht mal das Scheißessen warm halten?«,
lallte er und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er
ihr eine Ohrfeige mit dem Handrücken verpasste. »Ich
reiß mir den Arsch auf und krieg zum Dank kalten Fraß
vorgesetzt?« Als Nächstes schlug er ihr mit der flachen
Hand die Nase blutig. Sie schrie auf, fiel zu Boden und
versuchte, ihr Gesicht mit den Armen zu schützen. In
einer Hand hielt sie eine lange Schnur Rosenkranzperlen,
die mit jedem ihrer angstvollen Reflexe durch die
Luft zuckte. Sie rief wieder und wieder seinen Namen,
aber er ließ nicht von ihr ab; dafür war er viel zu betrunken.
Durch den Spalt meiner angelehnten Tür sah ich,
dass er auf sie eintrat wie auf einen räudigen Hund. Da
war eine so unfassbare Wut in seinem Gesicht. Dann
sah ich den panischen Blick meiner Mutter, der mich
hinter ihren gekreuzten, zitternden Armen weit fort
wünschte.
»Muss dir wohl noch 'ne kleine Lektion erteilen, was,
meine Süße?« Er nahm den Kochtopf mit den kalten Ravioli
vom Herd und schleuderte das Essen auf sie. Dann
holte er aus und knallte ihn ihr gegen den Arm. Als ich
das Knacken hörte, verkrampfte sich mein Magen.
Er hielt den Topf in der bebenden Faust, schon zum
nächsten Schlag bereit.
Instinktiv nahm ich den erstbesten Gegenstand
von meinem Schreibtisch. Er lag ganz unschuldig neben
meinen abgegriffenen Fahrradspielkarten. Dann
trat ich aus dem Zimmer. »Lass meine Muter in Ruhe«,
sagte ich.
Der Topf sank herab. Mein Vater hielt inne, drehte
sich um und blinzelte.
»Ah, und du bist der Nächste. Kannst schon mal zu
Jesus beten, dass ich -«
»Ja, das mach ich«, sagte ich mit leiser Stimme und
ging auf ihn zu. Es war das erste Mal, dass ich ihm die
Stirn bot. Er stand nur da, den Topf in der Hand. Ich
glaube, er wusste einfach nicht, wie er reagieren sollte.
Ich zog die Hand hinter meinem Rücken hervor, und erst
da sah er das aufgeklappte Taschenmesser. Auf beiden
Seiten des Griffs war Davy Crockett mit Waschbärmütze
abgebildet. Ironischerweise hatte mein Vater selbst es
mir erst ein Jahr zuvor zu Weihnachten geschenkt.
Er bewegte ruckartig den Arm, um sich zu wehren,
und der Eisentopf fiel krachend zu Boden. Meine Mutter
schrie. Außer mir vor Wut, ließ ich den Arm vorschnellen.
Dann schrie mein Vater. Das Messer drang in
die linke Seite seines Rumpfs ein. Ich hielt es fest, und
es glitt mühelos wieder heraus, fast so, als hätte sein
Körper es ausgespuckt. Sofort kam Blut. Ich zögerte keine
Sekunde und stach erneut zu, dieses Mal in die Hüfte.
Jetzt blieb das Messer stecken, und ich ging mit meinen
bloßen Fäusten auf ihn los.
»Fass mich nie wieder an! Und meine Mutter auch
nicht! Wir lieben dich nicht mehr, also hau einfach ab!
Hau endlich ab, verdammt noch mal!«
Mir schien, als seien Minuten vergangen, aber das
konnte nicht stimmen. Viel zu bald rissen mich zwei
kräftige Hände gewaltsam zurück.
»Was hast du getan, Junge? Himmel noch mal, was
hast du da getan?«
Es war Arnold Francello, Carries Vater. Mein Zorn
verrauchte, und voller Entsetzen realisierte ich, was ich
getan hatte.
Vor uns auf dem Boden lag mein Vater in einer langsam
größer werdenden Lache seines eigenen Bluts und
versuchte vergeblich, das Messer zu packen, das ihm
noch aus der Hüfte ragte. Meine Mutter schrie erneut
auf, beugte sich über ihn und nahm sein Gesicht in beide
Hände. Sie sah sich nur ein einziges Mal nach mir
um, und ihr Blick traf mich bis ins Mark. Es war ein
kurzer Blick, aber ich werde nie den Abscheu vergessen,
der darin lag.
»Wie konntest du das tun, William! Oh, mein Gott.
Wie konntest du nur!« Sie küsste meinen Vater auf die
Stirn, so wie sie mich Heiligabend geküsst hatte, nachdem
sie von ihm vergewaltigt worden war.
»Komm mit, Junge«, sagte Mr Francello und zog mich
weg. Ich wollte etwas sagen, damit sie verstand, dass
ich ihr Beschützer war. Ihr Retter. Aber in dem Moment
wäre jede Erklärung zwecklos gewesen. Nichts hätte sie
davon abgehalten, ihn zu streicheln, als schwände gerade
das Kostbarste, was sie im Leben besaß, unter ihren
Händen dahin.
Verraten fühlte ich mich nicht. Wie leicht hätte sich
dieses Gefühl in mein Herz stehlen können. Stattdessen
empfand ich Mitleid mit ihr. Und das schmerzte noch
wesentlich mehr.
Kapitel 4
Am 7. September 1963 brach ich zur Swope Ranch auf,
einer Erziehungsanstalt für Jungen in Colorado. An der
Greyhound-Station Ecke Clark und Randolph Street wurde
ich in einen langen, silber lackierten Bus mit blauen
Verzierungen gesetzt. Einen großen Bahnhof hatte ich
nicht - Jimmy war da, die Hände in den Hosentaschen.
Meine Mutter stand neben mir, den Tränen nahe, und
zupfte an meinem Kragen herum, als führe ich ins Sommerferienlager
und nicht in den Jugendknast. Ich hielt
die ganze Zeit nach Carrie Francello Ausschau, vielleicht
würde sie ja kommen und mir den Kuss auf den Mund
geben, von dem ich immer geträumt hatte - aber sie
ließ sich nicht blicken.
Es gab nicht viel zu sagen. Wir wussten alle, dass wir
wahrscheinlich bloß die Fassung verlieren und anfangen
würden zu heulen, wenn wir zu viel redeten. Jimmy
sagte: »Du wirst schon klarkommen. Ich sorg dafür, dass
dein Handschuh immer gut eingefettet ist.« Er wusste
bestimmt nicht, was er mir sonst mit auf den Weg geben
sollte. Wer konnte es ihm verdenken?
»Sei stark«, sagte meine Mutter. Die ganze Sache lag
schon fast vier Wochen zurück, aber die schemenhaften
Umrisse der Veilchen in ihrem Gesicht waren noch
immer zu sehen. Ihr Gipsarm stand in scharfem Kontrast
zu dem marineblauen Kleid, das sie an diesem Tag
trug, und ich wollte ihr sagen, dass ich es für sie getan
hatte. Dieser Blick, den sie mir an dem Abend zugeworfen
hatte, so voller Abscheu - dafür hatte sie sich nie
entschuldigt. Sie hatte mir nie gesagt, dass sie stolz auf
mich sei.
»Und gib dein Bestes«, sagte sie. So etwas mochte
ein Junge zu hören bekommen, der an seinem ersten
Schultag zur Tür hinausging. Ich umarmte sie, immer
noch auf ihre Anerkennung aus. Fortwährend auf ihre
Anerkennung aus. Da begann sie zu weinen. Mit ihrem
gesunden Arm drückte sie mich an sich.
»Meinst du, du kommst zurecht?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht. Hielt mich nur fest, weil sie
spürte, dass es Zeit war.
Man hatte mir eine Begleitperson zugewiesen. Ein
Polizist würde auf dem ganzen Weg neben mir sitzen.
Er trug einen teuer aussehenden Anzug und roch nach
Zedernholzspänen. Jetzt klopfte er mit den Fingerknöcheln
gegen die Buswand. »Es wird Zeit, Ma'am.«
Jimmy tippte sich an die Mütze, wie Mantle es getan
hätte. Aber meine Mutter stand einfach nur da und
starrte mich an, als der Polizist mich in den Bus geleitete.
Sie sagte kein einziges Wort mehr. Starrte mich nur
an, als glaubte sie, sie würde mich womöglich nie mehr
wiedersehen.
Er hieß Rhymes, aber ich nannte ihn insgeheim Stinkig;
auf der gesamten Fahrt benahm er sich, als hätte
man ihm in seinem ganzen Leben noch nie etwas Lästigeres
zugemutet. Er richtete nur zweimal das Wort an
mich - erst, um mir zu sagen, dass ich mich im Schlaf
gefälligst nicht gegen ihn lehnen solle, und später dann,
um mich anzuherrschen, ich solle den Mund halten.
Darüber hinaus hatte er nichts an sich, woran ich mich
erinnern könnte.
Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf an die
Fensterscheibe. Ich dachte an den ganzen Aufruhr der
letzten drei Wochen zurück.
Die Ärzte brauchten zwei Anläufe, um den Arm meiner
Mutter wieder zu richten; der Knochen war komplett
durchgebrochen gewesen. Bei der Urteilsverkündung
weinte sie, hinten im Gerichtssaal, still vor sich hin. Ich
blickte auf ihren starren Gipsverband, der über die ganze
Länge ihres Arms reichte. Ihre Veilchen standen in
voller Blüte - sie sah aus, als hätte Sonny Liston ihr eins
auf beide Augen gegeben. Dieses erbarmungswürdige
Geschöpf konnte nicht meine Mutter sein, aber mein
gebrochenes Herz sagte mir etwas anderes.
Mein Vater hatte von der Taschenmesserattacke eine
perforierte Lunge, aber er starb nicht daran - allerdings
erfuhr ich später, dass er dem Tod denkbar nahe gekommen
war. Ich glaube, all die Wut in ihm hat ihm
geholfen, das zu überstehen. Meine Mutter sagte, die
Operation habe vier Stunden gedauert; die Ärzte hatten
anscheinend größte Schwierigkeiten gehabt, die inneren
Blutungen zu stillen.
Für die Dauer meines Prozesses war ich in einer Jugendeinrichtung
untergebracht, die man eigentlich
auch als Gefängnis bezeichnen konnte. Ich hatte dort
eine Zelle mit einem Bett und einer Wolldecke, einer
nicht allzu komfortablen Metalltoilette und einer Tür
mit schweren Eisenstangen.
Erst am Abend realisierte ich, was überhaupt passiert
war, und versuchte, meine Tränen zu verbergen. Es ist
komisch, dass ich selbst an so einem Ort meine Würde
bewahren wollte, aber so war es. Ich gehörte nicht hierhin.
Ich war ein braves Kind. Nur vierundzwanzig Stun-
den vorher hatte ich mir in unserem AM-Radio »The
Phantom« angehört und einen Batman-Comic gelesen.
Als der Richter mein Urteil verkündete, hätte er mir
ebenso gut einen Schlag in die Magengrube versetzen
können. Genauso fühlte es sich an. Seine Stimme war
völlig emotionslos; er sah mich nicht einmal an. Ich
sollte für einen Zeitraum von nicht weniger als vierundzwanzig
Monaten in eine Erziehungsanstalt in Colorado
geschickt werden. Zwei Jahre meines Lebens - weg.
Einfach so.
In meinem Block, gleich gegenüber von meiner Zelle,
saßen zwei Jungs ein. Brüder. Cofresi mit Nachnamen,
Italiener vielleicht. Einer sah alt genug aus, um im
Milligan's Drinks zu bestellen, der andere kaum jünger.
Gleich nach dem Urteilsspruch erfuhr ich zwei Dinge
von ihnen. Erstens, dass man mir eine verdammt viel
längere Strafe hätte aufbrummen können. Der Ältere
von beiden, der sein Haar mit Pomade geglättet und
nach hinten gekämmt trug, erzählte mir, ein Junge in
meinem Alter habe kürzlich sechs Jahre gekriegt, nachdem
er ein Harold's Chicken Shack überfallen und dem
Geschäftsführer ins Bein geschossen hatte. Wenn ich
meinem Alten das Messer erst mit sechzehn in die Brust
gerammt hätte, wäre ich für gut und gerne fünf Jahre
in den Joliet-Knast gewandert, wenn nicht für länger,
meinten sie.
Und zweitens versicherten sie mir, dass die Swope
Ranch ein regelrechter Albtraum sei. Der Jüngere der
beiden ließ sich stundenlang über einen Cousin aus,
der acht Monate da draußen verbracht hatte. Hinterher
sei er nicht mehr derselbe gewesen. Er habe bei dem
Versuch, ein Pferd zu satteln, einen Tritt an den Kopf
bekommen und stehe seitdem oft minutenlang neben
sich, ohne den blassesten Schimmer zu haben, was gerade
passiert sei. Manchmal pisse er sich sogar in die
Hose. Seine Eltern dankten Gott, dass er überhaupt wieder
da sei; es gebe Gerüchte über Jungs, die dort hingekarrt
würden und nie mehr zurückkämen.
Wir brauchten zwei volle Tage, um die Ranch in Gunnison
County zu erreichen. Nachts war es am schlimmsten.
Ich fühlte mich einsam, wenn die Welt hinter
meinem Fenster in Dunkelheit versank; das Land bei
Helligkeit an mir vorbeigleiten zu sehen war meine einzige
Rettung.
In den dreizehn Jahren meines Lebens hatte ich
noch nie einen Fuß aus Chicago hinausgesetzt, und so
erschienen mir die Gipfel Colorados fast genauso exotisch
wie die Dschungel Afrikas. Ich schaute aus dem
Fenster, als der Bus sich in die Rocky Mountains hinaufschlängelte,
nur Zentimeter vom Rand der Straße entfernt,
hinter dem es jäh bergab ging. Oft klebte ich regelrecht
an der Scheibe, von den gigantischen Dimensionen
schier überwältigt. Alles, was ich sah, war neu und
so aufregend und furchteinflößend, dass ich mir fast in
die Hose machte.
Und dann der Hagelsturm. Er ist das Einzige von dieser
ganzen Gebirgsfahrt, woran ich mich mit absoluter
Deutlichkeit erinnere. Gleich hinter Denver, westlich
der Stadt, begann ein derartiges Gekurve und Geschlinger,
dass mir schließlich kotzübel wurde. Ich riss mein
Fenster auf und lehnte mich so weit wie irgend möglich
hinaus. Als ich fertig war und die zugekniffenen Augen
wieder öffnete, sah ich gerade noch ein Schild, auf dem
schlicht KONTINENTALE WASSERSCHEIDE stand.
Hier und da lag ein bisschen Schnee. Vielleicht war
mein Verhalten ansteckend, denn auf einmal machten
auch ein paar andere Passagiere ihre Fenster auf und ließen
die frische Luft in den Bus hereinströmen.
Und obwohl es mitten am Vormittag war, begann es
draußen dunkler zu werden. Mir nichts, dir nichts. Der
Regen, der dann einsetzte, dauerte nur wenige Sekunden,
bevor er schlagartig zu Eis wurde. Ich hatte noch
nie Hagel gesehen und muss das Bild eines verängstigten
Hosenscheißers abgegeben haben, so wie ich mit
heruntergeklappter Kinnlade da saß und aus dem Fenster
starrte. Es fing mit kleinen Körnchen an, einem Kieselsteinschauer
gleich, aus dem jedoch binnen Kurzem
ein Golfballschauer wurde, und bald hatte der Sturm
auch den letzten Rest von Tageslicht ausgelöscht, und
die Welt war dunkel. Je weniger von der Straße zu sehen
war, desto langsamer kroch der Bus voran, und als das
Jaulen des Motors schließlich ganz verstummte, hörten
wir nichts als das Eis, das auf unser Dach prasselte,
ein Geräusch wie von über den Gehweg springenden
Murmeln. Ich drehte mich zu Stinkig um und fragte ihn
flüsternd, ob er so etwas schon einmal erlebt habe. Darauf
herrschte er mich an, ich solle den Mund halten.
Ich war vor Angst und Staunen wie gelähmt. Innerhalb
weniger Minuten war die dunkle Straße, die wir
hoch- und runtergekurvt waren, von einem blendend
weißen Teppich überdeckt. Und als der Sturm vorbei
war, ragten einzig die ramponierten Bäume aus dem Eis
hervor.
Kapitel 5
Nachdem der Blausilberne den Berg auf der Westseite
des Passes wieder hinuntergekrochen war, fuhr er über
kurvenreiche Straßen bis zum Highway 50 und erreichte
schließlich die Ortschaft Gunnison. Der Himmel klarte
allmählich auf, und dünne Sonnenspeichen bohrten
sich durch die Wolken.
Der Greyhound wurde langsamer und ruckelte, als
der Fahrer Gang um Gang herunterschaltete, bis er auf
der Main Street an einer Kreuzung zum Stehen kam. Sie
war das erste Anzeichen von Zivilisation, seit wir Denver
am Tag zuvor verlassen hatten. Es gab einen Friseursalon
namens Arthur's mit einer riesengroßen Zuckerstange
davor - ein verblasstes Schild im Fenster ließ uns
wissen, dass ein Männerhaarschnitt dienstags nur den
halben Preis kostete -, außerdem Simonton's Autohaus
und einen Sears & Roebuck. Ein Stück weiter war das
Studio eines Radiosenders - KGUC - und dahinter der
Gunnison-County-Busbahnhof.
Als unser Bus dort einfuhr, sagte Stinkig (mehr zu sich
selbst): »Da wären wir.« Er griff nach unten und nahm
seinen Hut und die Zeitung vom Vortag vom Boden auf.
Draußen sah ich mehrere geparkte Autos und ein paar
Männer in Anzügen stehen, bei ihnen zwei Männer mit
Cowboyhüten.
Ich fühlte mich auf einmal ganz seltsam, so ohne
jegliches Gepäck. Es war, wie vor der Schule zu stehen
und zu merken, dass man seinen Ranzen im Bus
vergessen hat. Meine einzige Habe steckte in meiner
Brusttasche: ein handtellergroßes Schwarz-Weiß-Foto
von meiner Mutter. Das war mir vor den anderen Jungs
auf der Ranch zwar peinlich, aber die Angst vor dem,
was mich erwartete, war einfach zu groß. Ich war dreizehn
und noch nie von zu Hause fort gewesen, es sei
denn, man zählte die paar Male mit, die ich bei Jimmy
Curio übernachtet hatte, der zwei Häuser die Straße
runter wohnte.
Der Bus hielt an, und alle zwängten sich in den
schmalen Gang und stolperten und drängten Richtung
Tür. Die Luft draußen war eiskalt, und ein beißender
Wind blies mir ins Gesicht. Stinkig ging zu den Cowboyhüten,
während ich im Schatten des Busses stehen
blieb und mich fremd und fehl am Platz fühlte. Stinkig
drehte sich um und zeigte auf mich, und die Blicke der
Cowboys folgten seinem Finger. Einer von ihnen hatte
einen dicken Schnurrbart und war der größte Mann, den
ich je gesehen hatte. Er fing meinen Blick auf, grinste
und spuckte auf den Boden. Ich war noch nie richtigen
Cowboys begegnet. Sie sahen kein bisschen so aus wie
die, die ich aus der »Roy Rogers Show« kannte. Diese
hier waren echt. Sie trugen Pistolen in einem Halfter
an der Hüfte, hatten dreckige Hosen an, und ihre Gesichter
waren gefurcht und ledrig. Keiner von beiden
wirkte freundlich. Eher machten sie den Eindruck von
zwei hungrigen Hunden.
Stinkig gab ihnen einen Hefter mit Papieren, warf
mir einen letzten verächtlichen Blick zu und stieg wieder
in den Bus. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah,
und ich bin fast überrascht, dass ich überhaupt noch
ein Bild von ihm im Kopf habe.
Der Cowboy, der einem Wolkenkratzer glich, kam
auf mich zu und öffnete einen kleinen Beutel an seinem
Gürtel. »Hände nach vorne.«
Ich zögerte verunsichert.
»Hände vor, verdammt! Wenn ich das noch mal sagen
muss, mach ich die Herzchen hinter deinem knochigen
Rücken fest.«
Die Leute, die noch im Bus saßen, beobachteten uns
durchs Fenster; der kleine Tumult hatte ihre Neugier
geweckt. Ich schaute nicht weg, wie Wolkenkratzer es
wohl erwartet hatte. Ich sah ihm direkt in die Augen,
dem Mann, der sein Urteil über mich bereits gefällt, der
schon entschieden hatte, dass ich nichts taugte. Ich
streckte die Hände aus.
Die Handschellen fühlten sich kalt an, und als ich sie
zuschnappen hörte, traf mich mit einem Schlag die harte
Wirklichkeit. Ich würde keinen Urlaub in den Bergen
machen - ich war nicht auf dem Weg ins Ferienlager.
Ich war ein Gefangener und hatte eine harte Strafe zu
verbüßen.
»Beweg deinen kleinen Arsch auf die Rückbank«,
sagte er. Er packte mich an der Schulter und dirigierte
mich zur offenen Tür eines schwarzen Olds aus den
frühen Fünfzigern. »Du gehörst jetzt uns. Für die nächsten
...« Er warf einen Blick in die Papiere. Sein schwerer
Schnurrbart dehnte sich bis über die Mundwinkel hinaus.
»Verdammt, Jungs, der kleine Scheißer bleibt für
zwei Ganze bei uns.«
Ich stieg in den Wagen. Ein dritter Cowboy saß auf
der Rückbank neben mir. Er war viel älter als die beiden
anderen, und seine Haut war nicht so gebräunt. Als er
seinen breitkrempigen Hut abnahm, kam darunter weißes
lockiges Haar zum Vorschein. »Ein guter Rat von
einem alten Mann«, sagte er. »Gib dem da«, er wies mit
dem Kopf zu dem Fenster, hinter dem der große Cowboy
stand, »keinen Grund, dich noch mehr zu hassen,
als er es schon tut. Die anderen sind größtenteils in
Ordnung, aber bei Frank Kroft steckt der Hass in jedem
seiner zweihundertzehn Zentimeter.«
»Danke«, sagte ich. Und ich meinte es ernst. Er war
der erste Mensch, der wirklich mit mir sprach, seit ich
Chicago verlassen hatte.
»Frank Kroft. Ein ganz gemeiner Dreckskerl. Der andere,
der mit den breiten Schultern, ist Elmore Holling.«
Ich schwieg. Elmore Holling war wie ein Notre-Dame-
Linebacker gebaut. Unter anderen Umständen hätte
seine massige Statur neben Frank Krofts Magerkeit und
schockierender Größe komisch gewirkt. Hollings glattes
Gesicht ließ ihn jünger aussehen als seinen Kollegen,
aber keinen Deut weniger grob.
»Ich heiße Grimsley«, sagte der Mann neben mir.
»Werd Gus genannt. Zwei Jahre also? Hab ich richtig
gehört?«
»Ja, Sir. Glaub schon.«
»Gab hier schon Schlimmeres. Besseres allerdings
auch.«
Ich hätte ihm gern Fragen gestellt, aber es schien mir
klüger, den Mund zu halten. Bloß nicht unnötig Aufmerksamkeit
erregen.
Ich war ein Nervenbündel. Es fehlte nicht viel, und
ich hätte auf die Rückbank gekotzt. Ein knappes Jahr
vorher, als es mit meinem Vater immer schlimmer wurde,
hatte ich zum ersten Mal geraucht. Ein paar Jungs
aus der Nachbarschaft beobachteten mich und lachten,
als ich mir eine Chesterfield anzündete. Dann lachten
sie noch mehr, weil ich taumelte und wie verrückt husten
musste. Ich hatte die Zigaretten aus der Kommode
meines Vaters geklaut - keine ganze Schachtel, nur ein
paar für den Anfang. Ziemlich absurd für einen Jungen,
der das genaue Gegenteil seines Vaters sein wollte. Jetzt
auf der Rückbank des Olds hätte ich für eine Zigarette
alles gegeben. Scheiße, sogar eine Lucky Strike hätte ich
genommen.
Gus Grimsley lehnte sich zurück und blickte aus
dem Fenster. Die beiden anderen Cowboys rissen die
vorderen Türen auf und stiegen ein. Selbst nachdem er
den Hut abgenommen hatte, stieß Frank Kroft mit dem
Kopf noch fast an die Wagendecke. Der andere, der Gus
zufolge Holling hieß, ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
Als der Motor anfing zu brummen, erwachte das Radio
zum Leben, und Buddy Hollys »Party Doll« erklang.
»Stell den Scheiß ab, Holling«, sagte Frank. »Man
könnte ja meinen, wir machen hier einen gottverdammten
Sonntagsausflug.«
Holling verdrehte die Augen und schaltete die Musik
aus. Wir fuhren auf einer schmalen, kurvenreichen Straße
in südlicher Richtung aus der Stadt hinaus. Unterwegs
wurde wenig geredet. Frank Kroft sagte, ein Zaun auf
der Westseite müsse an ein paar Stellen geflickt werden,
und wenn jemand namens Addison in der Zwischenzeit
nicht zwei Stuten in die vorderen Boxen gebracht hätte,
würde er diese Nacht in der Scheiße schlafen. Mit mir
sprach niemand, und das war mir nur recht.
Eine Stunde lang fuhren wir die steilen zweispurigen
Straßen der Rockies hinauf. Abseits des Standstreifens
sah ich irgendwann ein Schild, von dem ich ablas, dass
wir den UNCOMPAHGRE FOREST erreicht hatten. Ein
paar Meilen später bogen wir in eine kleinere Straße
ein, die kurz darauf in einen holperigen ungepflasterten
Weg überging. Dann ein weiteres Schild: SWOPE
RANCH ERZIEHUNGSANSTALT - PRIVATGELÄNDE
- ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Das
ist es also, dachte ich. Hier werde ich die nächsten zwei
Jahre meines Lebens verbringen.
Der Wagen schaukelte durch dichte Fichten-, Espen-
und Bergahorngehölze, und danach ging es fast die ganze
Zeit bergab. Ich sah zu Gus hinüber, der die Augen
geschlossen hatte. Mein Herz raste, und mir war wieder
schlecht. So mussten sich die Strafgefangenen fühlen,
die auf dem Weg nach Joliet waren.
Bin ich das, ein Strafgefangener?
»Willkommen in deinem neuen Zuhause, Sheppard«,
sagte Frank Kroft.
Ich nahm das Bild in mich auf, das sich mir durch die
Frontscheibe bot.
Vor uns erstreckte sich ein weites Tal, so grün wie die
grünsten Wiesen, die ich je gesehen hatte, eingebettet
zwischen steilen Hängen und dunklen Kieferngruppen.
Es schien sich bis ins Unendliche auszudehnen und lag
jetzt, am späten Nachmittag, schon im Schatten des
schneebedeckten Gipfels im Westen. Wir waren gerade
auf dem einzig möglichen Weg ins Tal hinuntergefahren,
durch sein einziges Tor zur Außenwelt.
In der Mitte des Beckens standen mehrere primitiv
wirkende Gebäude und zwei lange Scheunen. Bretterzäune
säumten alle außen liegenden Koppeln. Dort, auf
den Koppeln, waren Pferde. Ganze Scharen von Pferden.
Manche bildeten Gruppen, die schnell neben- und
hintereinander herliefen und die Richtung wechselten
wie Vogelschwärme. Andere grasten nur. Bis zu diesem
Tag hatte ich noch nie mit eigenen Augen ein Pferd gesehen.
Auf der Ranch herrschte rege Betriebsamkeit. Lastwagen
transportierten Heuballen von den Scheunen zu
den Feldern, Jungen schleppten schwere Säcke auf der
Schulter oder ritten auf den Koppeln. Einige strichen
eine Scheune, wenige Meter von zwei anderen Jungs
entfernt, die neben einem Gatter Löcher für Zaunpfähle
in den Boden gruben.
Nicht weit von uns war ein riesiger Pferdepferch, wo
irgendein tumultartiges Treiben im Gange war. Jungen
und Männer hockten wie die Geier in einer Reihe auf
dem hohen Zaungeländer und schrien und riefen, als
ginge es um ihr Leben. In dem Pferch saß eine Gestalt
auf einem gewaltigen rotbraunen Pferd. Es schwang
den Kopf hin und her, schnaubte und wieherte. Als wir
vorbeifuhren, keilte es mit beiden Hinterbeinen gleichzeitig
aus und warf den Reiter unsanft ab. Das Publikum
applaudierte und schrie noch lauter.
Vor einem großen Gebäude mit einer tiefen Veranda,
die sich über die ganze Länge des Dachvorsprungs
erstreckte, hielten wir an. Es war zweistöckig und
hatte zwei überdimensionale Fenster über dem Eingang.
Die Fassade hatte etwas Unheimliches an sich, sie sah
aus wie ein Gesicht, mit Doppeltüren als weit geöffnetem
Mund.
»Endstation, Kleiner«, sagte Kroft, nachdem er sich
zu mir umgedreht hatte. Sein Atem stank nach einer
Mischung aus Zigaretten und Scheiße. Er lächelte und
entblößte dabei seine braungelben Zähne, und ich fragte
mich, ob er sie je putzte.
Als ich aus dem Olds ausgestiegen war, füllte ich meine
Lungen mit der frischen Luft. Es roch durchdringend
nach Pferdedung und süßsaurem Heu.
»Wirst dich dran gewöhnen - an die Scheiße in der
Luft«, sagte Frank. Er beugte sich mit glänzenden Augen
vor. »Für uns riecht das nach Geld. Aber für dich bloß
nach stinkendem Mist.« Er klatschte sich den fettigen
Hut auf den Kopf und drehte sich zu dem Gebäude um.
»Komm mit.«
»Ist wirklich so«, sagte Gus.
»Was?«, fragte ich.
»Dass man sich dran gewöhnt. Nach einer Weile.«
Ich beobachtete, wie er sich aus dem Wagen mühte,
und bemerkte erst jetzt, dass er ganz schön gebrechlich
war. Er schien noch älter zu sein, als ich zuerst angenommen
hatte, und ich musste plötzlich an meinen Großvater
Jack mit seinem Roy-Rogers-Hut auf dem Kopf
denken. Langsam steuerte Gus auf das zweistöckige Gebäude
zu, und ich fragte mich, wie lange er wohl schon
auf der Ranch war.
Ich blickte mich um, nahm alles in mich auf. Irgendetwas
stimmte nicht, ich wusste bloß nicht, was es war.
Ich hatte es schon gespürt, als wir in das Tal hinein- und
auf das Gelände der Ranch gefahren waren. Als ob etwas
fehlte oder nicht am richtigen Platz wäre. Ich verwarf
dieses Gefühl - sagte mir, ich sei bloß nervös, und
folgte den Männern.
Die Holzbohlen knarrten, als ich die Stufen zur Veranda
hinaufstieg und hinter Kroft und Holling das
Haus betrat. Drinnen roch es intensiv nach Leder und
Holzbeize. Auf der einen Seite war ein dunkel lasierter
Tresen, der über die ganze Länge der Wand reichte, wo
durch der Raum eher wie die Lobby eines alten Hotels
wirkte und nicht wie der Eingangsbereich einer Haftanstalt.
Kroft öffnete eine der zahlreichen Türen, und
wir gelangten in ein kleines Zimmer und von da aus in
einen noch kleineren Raum.
»Setz dich da hin«, sagte Elmore Holling und zeigte
auf den Tisch und die Stühle aus Metall. Gus Grimsley
tippte sich an den Hut, und sie ließen mich allein. Als
Holling die schwere Tür hinter sich zuzog, erfüllte ein
lautes, metallisches Kreischen den Raum. Dann war alles
still.
Ich setzte mich. Wartete. Der Raum war kalt und hatte
keine Fenster; eine einsame Glühbirne, die nackt von
der hohen Decke hing, spendete schales Licht. Farblos
und grell fiel es auf alles, was sich in seinem Radius befand.
An der gegenüberliegenden Wand war eine Uhr,
geschützt von einem Wust kreuz und quer über das Ziffernblatt
verlaufender Drähte. Daneben ein Bild von einem
karmesinroten Sonnenuntergang über einer Grasebene.
Ansonsten waren die Wände kahl.
Aber immerhin dieses Bild. Auf seine Art diente es als
Fenster. Bestimmt hatten alle, die hier auf meinem Platz
am Tisch gesessen hatten, die getuschte Landschaft betrachtet
und sich wie ich gewünscht, sie könnten durch
den Rahmen kriechen, durch dieses schmale Fenster,
und in die friedliche Welt auf der anderen Seite fliehen.
Vielleicht ein neues Leben anfangen, die Vergangenheit
hinter sich lassen.
Die Tür ging auf.
Frank Kroft kam herein, wobei er den Kopf einziehen
musste, um sich nicht zu stoßen. Er hatte ein Klemmbrett
in der Hand, unter dessen Metallklammer ein Pa-
cken Papiere steckte. Ihm folgte ein großer, stämmiger
Mann, der einen Overall aus steifem Jeansstoff trug. Er
war fast so groß wie Frank, und dazu wölbte sich unter
seinem Overall noch ein gewaltiger Bauch hervor. Sein
Gesicht war hinter einem dichten, grau melierten Bart
verborgen. Er hatte eine lange Holzpfeife im Mund, und
ich musste daran denken, wie ich ein paar Jahre zuvor
im Marshall Field's Café dem Weihnachtsmann gegenübergetreten
war. Ich hatte in jener Woche schon vier
Mal bei ihm Schlange gestanden. Der Weihnachtsmann
hatte eine dunkle, blank polierte Pfeife geraucht, und
der starke, holzige Tabakgeruch war mir gleichzeitig angenehm
und zuwider gewesen. Jetzt ging es mir genauso.
Der Mann im Overall schloss die Tür und setzte sich
mir gegenüber. Frank warf das Klemmbrett auf den
Tisch, zog einen Stuhl zurück und setzte sich ebenfalls.
Der andere nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich
würde mal sagen ...« Seine Stimme war tief und ungeschliffen.
»... die Arbeit ist ganz auf dich zugeschnitten,
Frank.« Er trug eine schwarze Hornbrille und schob
sie auf seiner dicken Nase weiter nach oben. Mit einem
Seufzen nahm er das Klemmbrett vom Tisch und blätterte
in den ersten paar Seiten.
»Die nächste Herde kommt erst in einem Monat«,
sagte Frank. »Ich kümmere mich drum.«
Ich fühlte mich furchtbar klein, wie ich da so unbeachtet
vor ihnen saß.
»Klar, Frank. Wie immer.«
Er blätterte noch ein bisschen weiter und legte das
Klemmbrett dann auf den Tisch.
»Nun wollen wir doch mal sehen, was wir hier ha-
ben.« Er blickte auf und sah mich scharf an, ohne etwas
zu sagen. Das Schweigen im Raum war unbehaglich; der
Sekundenzeiger der Uhr tickte, tickte, tickte.
Er wartete, vielleicht darauf, dass ich etwas sagte. Aber
ich schwieg.
»Hm.« Er schaute wieder auf das Klemmbrett. »Wir
werden deinen Willen schon brechen, Mister Sheppard.
So wie wir es mit jedem Tier da draußen machen. Schritt
für Schritt.«
Kroft lachte in sich hinein, ganz braungelbe Zähne
und Schnurrbart.
»William Paul Sheppard. Du bist für vierundzwanzig
Monate hier. Zwei Jahre. In diesen zwei Jahren wirst du
für mich arbeiten. Mein Name ist Walter Barrow. Du
wirst mich Sir nennen, Mr Barrow oder auch Direktor
Barrow, klar?«
Ich sprach leise und sah ihm unverwandt in die Augen.
»Ja, Sir.«
»Sehr gut. So, und bevor wir weitermachen, lass uns
eins gleich mal klarstellen. Es ist ein Luxus für dich, hier
zu sein, Mister Sheppard. Ein Privileg. Du könntest in
dieser Minute auch in der Zelle irgendeiner staatlichen
Jugendvollzugsanstalt sitzen, wo man Gottes weiten
Himmel nur zu sehen kriegt, wenn sie einem erlauben,
mal rauszugehen. Hier auf der Ranch wirst du fast den
ganzen Tag draußen sein. Aber glaub mir, Junge, leicht
wird das nicht. Es wird hart. Du wirst schuften, und du
wirst schwitzen. Und wenn du auch nur einen einzigen
Zentimeter aus der Reihe tanzt, William, kriegst du es
mit uns zu tun.«
»M-hmm«, bestätigte Kroft.
»Vielleicht ist dir schon aufgefallen, Mister Sheppard,
dass die Swope Ranch keine Sicherheitstore hat, weder
Eisenzäune noch hohe Mauern.«
Das war es. Ich wusste doch, dass hier irgendetwas
merkwürdig war. Keine Tore. Noch bevor er zu einer Erklärung
ansetzte, verstand ich den Grund: Es war nicht
nötig.
»Diese Ranch befindet sich in einem Tal, das mehr
als viertausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, im
Schatten eines der beiden Viereinhalbtausender des Landes.
Im Winter ist die einzige befahrbare Straße, die aus
dem Tal hinausführt, im Schnitt einen Meter hoch mit
Schnee bedeckt. Selbst im Sommer sinkt die Temperatur
in dieser Höhe nachts fast auf den Gefrierpunkt. Ohne
den Luxus eines Fahrzeugs sind wir etliche Tagesreisen
von jeglicher Form der Zivilisation entfernt. Wenn ein
Gefangener sich trotzdem irgendeiner optimistischen
Wahnidee hingibt und zu fliehen versucht, verfahren
wir nach einer strengen Methode. Wir werden dich
abknallen, William, wenn wir dich außerhalb unserer
Grenzen antreffen, und zwar ohne lange zu fackeln. In
den zwölf Jahren, die diese Ranch jetzt als Erziehungsanstalt
dient, hat nicht ein einziger Gefangener diesen
Versuch unternommen. Die Berge hier oben sind gnadenlos,
das ist die einfache Wahrheit.«
Er konnte mir sicher an den Augen ablesen, dass ich
ihm glaubte.
»Zurzeit verbüßen achtundsiebzig Jungs ihre Strafe
auf der Ranch. Mit dir sind es neunundsiebzig. Du
bekommst von uns zwei Paar Einheits-Bluejeans, einen
Pullover, einen Mantel und zwei Hemden. Ein Paar Arbeitsstiefel
spendieren wir dir auch noch.
Wir haben eine Art Militärbaracke für alle Jungs, mit
Innentoilette und allem. Die ist erst letztes Jahr fertig
geworden, du brauchst also zum Scheißen nicht nach
draußen zu gehen.«
Er schaute noch einmal in die Papiere. »Mr Kroft
bringt dich jetzt zur Kleiderkammer, da wird man deine
Maße feststellen, und dann geht's zu den anderen.«
Er schlug die Seiten wieder nach vorn und reichte
Frank das Klemmbrett. »Den eigenen Vater abgestochen.
Ihn fast umgebracht.«
Ich wusste nicht genau, was ich darauf sagen sollte.
»Ich hätte mir wohl mehr Mühe geben müssen.«
Zu meinem Erstaunen lachten beide und tauschten
einen vielsagenden Blick.
Barrow wandte sich wieder mir zu. »O ja, Mister
Sheppard. Dir werden wir noch ganz gewaltig die Leviten
lesen.«
© Weltbild
Ein Pick-up mit Pferdeanhänger war von einem
schwarzen Landrover angefahren worden. Der Anhänger,
der die Hauptwucht des Zusammenstoßes abbekommen
hatte, war auf die Seite gekippt. Darin lag
eine wunderschöne weiße Stute, halb tot, um ihr Le-
ben kämpfend. Keine Polizeiwagen. Keine Sirenen. Der
Fahrer des eingedellten Pick-ups saß auf der Straße und
hielt sich benommen den Arm. Ein paar Leute holten
ihre Handys heraus und wählten den Notruf, andere
standen nur hilflos herum und gafften. Die Tür des
Anhängers baumelte lose in den Angeln, und die Stute
hing halb heraus, das Hinterteil im Wagen, Kopf und
Rumpf auf dem verdreckten Asphalt. Sie versuchte, den
Kopf zu heben; der Rest ihres Körpers regte sich nicht.
Ihr Rücken war auf unnatürliche Weise verdreht, aber
was ich am schlimmsten fand, war der Anblick des Blutes,
das unter ihrem Maul auf den Asphalt rann. Ihre
großen schwarzen Augen schossen im Chaos des Stadtzentrums
panisch hin und her.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und
lief zu ihr. »Nein«, flüsterte ich, als ich mich neben
sie kniete, und strich ihr mit der Hand über den Hals.
Sie wieherte, und es kam noch mehr Blut. Ein beinahe
menschliches Stöhnen entwich ihrem Brustkorb, und
sie versuchte erneut, den Kopf zu heben. Sie würde sterben,
und es gab nichts auf der Welt, was ich tun konnte,
außer hier bei ihr zu sein.
Sie unternahm eine letzte Anstrengung, sich aufzurappeln,
und wieherte erneut. Ihr schwerer Atem wurde
immer schwächer. Dann verlosch er.
Ich umarmte die Stute, so fest ich konnte, und weinte
um sie. Vielleicht machte ich mich zum Narren, aber
das war mir egal. In diesem Moment kamen die Menschen
und Orte, die ich so lange hinter jener verschlossenen
Tür eingesperrt hatte, wieder zum Vorschein, und
ich wurde von der Vergangenheit überrollt.
Kapitel 2
Der Himmel lodert auf, und sofort folgt das Echo des
Donners, ein anhaltendes Grollen, das gar kein Ende
zu nehmen scheint. In dem peitschenden Regen und
den Windböen heben und senken sich die Äste der Eiche
vor meinem Schlafzimmerfenster und kratzen mit
krummen Fingern an der Scheibe. Es klingt nach einem
scheußlichen Sturm.
Aber das ist es nicht, was mich geweckt hat. Das Bild
der sterbenden Stute hatte mich den ganzen Abend
nicht losgelassen: verdreht, mit gebrochenen Knochen,
nach Atem ringend. Ich glaube, ich habe sogar von ihr
geträumt. Von ihr und den Geheimnissen meiner Vergangenheit.
In kalten Schweiß gebadet, wachte ich auf und packte
mein Knie. Ich versuchte still zu liegen - den Schmerz
zu ignorieren und wieder einzuschlafen. Manchmal liege
ich stundenlang so wach. Ich könnte etwas gegen
die Schmerzen nehmen, nur dass ich dieser Tage ohnehin
schon so viele Tabletten schlucke. Ich frage mich
immer, was passieren würde, wenn ich es einfach sein
ließe. Ich spüre den Schmerz in allen Gelenken, aber
am schlimmsten ist er unterhalb meiner linken Schulter.
Wenn ich weit genug nach hinten greife, komme
ich gerade eben dort an und kann die dicke Linie aus
Narbengewebe ertasten.
Mein Arzt sagt, das sei der Beginn einer Arthritis, und
hat mir schon mehrfach geraten, aus dem kalten Klima
Chicagos wegzuziehen. Irgendwohin, wo es trocken ist,
nach Westen. Der Mann hat gut reden; er ist vierzig. Ich
kann nicht einfach aufbrechen und noch mal von vorn
anfangen. Nicht in meinem Alter. Nicht allein.
Für Männer wie mich gibt es keinen Neuanfang, dafür
immer mal wieder ein Ende. Heute, noch vor der Sache
mit dem Unfall, dem Blut und dem Pferd, hat mich das
Versicherungsunternehmen, bei dem ich seit dreiundzwanzig
Jahren arbeite, in einem Brief davon unterrichtet,
dass ich Teil der generischen Personalreduzierung
sei. Das stand da wirklich: generische Personalreduzierung.
Wahrscheinlich sollte das eher unpersönlich als gleichgültig
klingen, aber ich finde, es kommt beides darin
zum Ausdruck.
Als es an der Zeit war, den Personalbestand zu verringern,
mussten sie vermutlich nicht allzu lange überlegen,
von wem sie sich trennen sollten. Ich bin nicht
gerade ein herausragender Mitarbeiter gewesen. In den
letzten Jahren habe ich mich schwergetan und gemerkt,
dass ich mich zunehmend treiben ließ. Ich habe mir
nur noch so viel Mühe gegeben, wie unbedingt nötig
war, um mir keinen Ärger einzuhandeln. Zuletzt habe
ich mich fast wie ein Geist gefühlt: einsam und unsichtbar.
Offen gestanden bin ich überrascht, dass ich mich
überhaupt so lange halten konnte.
Während ich also meinen Schreibtisch räumte, bekam
ich zweimal Besuch. Zuerst von Wanda Bratcher,
unserer Empfangsdame. Sie ist schon fast genauso lange
in der Firma wie ich. Unbeholfen wünschte sie mir alles
Gute, um mich dann auch noch, ganz unerwartet, an
ihre Brust zu drücken. Als sie mich mit ihren dünnen
Armen umklammerte und »Viel Glück da draußen, William
Sheppard« flüsterte, fühlte ich mich wie ein Häft-
ling, der wieder in die Klauen der Gesellschaft entlassen
wird.
Der zweite Besucher war Ronald Perkins. Er ist vielleicht
der einzige Kollege, den ich als Freund bezeichnen
könnte, obwohl wir eigentlich nur im Büro miteinander
reden. Auch für ihn war es der letzte Tag. Ronald
ist ein vierschrötiger Mann, der einem liebend gern
schlechte Nachrichten überbringt. Es ist wirklich Pech
für ihn, dass er sich seine Kündigung nicht selbst aussprechen
konnte.
»Ich denke neuerdings viel über die Zeit nach.«
Ich log und sagte, das gehe mir nicht so. »Nev Lewis
und Jeff Morgan haben bestimmt auch viel über die
Zeit nachgedacht. Vielleicht sollten wir das besser nicht
tun.«
Beide waren letztes Frühjahr in Rente gegangen, und
beide waren kurz darauf gestorben.
Der Rest des Tages verlief überwiegend so, wie ich es
erwartet hatte. Eine kleine Gruppe von Kollegen lud
mich zum Mittagessen ein und überreichte mir eine
Karte mit einer Menge Unterschriften; einige Namen
kannte ich, andere sagten mir nicht das Geringste. Händeschütteln,
Schulterklopfen. Jedes »Viel Glück« eine
Erinnerung daran, dass ich es verdammt gut würde gebrauchen
können.
Ich sitze in demselben sinkenden Boot wie Ronald
Perkins. Zwar kann ich mich nach einer neuen Anstellung
umschauen, aber ich bezweifle, dass es für einen
Zweiundsechzigjährigen, der schon die Fahne hissen
und in Rente gehen könnte, besonders viele Möglichkeiten
gibt. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe Angst. Ich
will keiner von diesen gebrechlichen alten Männern
werden, die den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und
Endlosschleifen auf dem Wetterkanal anschauen.
Während ich auf die nackten roten Ziffern des Weckers
neben meinem Bett blicke, wird mir klar, dass ich
in dieser Nacht nicht wieder einschlafen werde. Diese
Nacht ist anders. Heute Nacht wird klar Schiff gemacht.
Heute Nacht ist Schluss.
Ich taste nach dem Schalter der kleinen Lampe neben
dem Bett, und lange Schatten fallen quer durchs Zimmer.
Auf meinem Nachttisch steht eine Blechdose. Ich
drehe sie in den Händen und horche auf das Schleifen
und Klickern darin. Jahrelang hatte ich diese Dose auf
einem Bord ganz oben in meinem Kleiderschrank versteckt,
und sie rief nur gelegentlich nach mir. Jetzt ist sie
eher ein Nachtlicht in meiner dunklen Welt, ein Trost,
auf den ich inzwischen ziemlich stark angewiesen bin.
Zu viel ist geschehen.
Draußen vor dem Fenster knackt es, als bräche ein
Knochen, und kurz darauf fällt ein Ast auf das Haus.
Und ich höre einen Geist flüstern: »Mach schon, Lunch.
Rauf auf den Scheißbaum. Rauf mit dir, oder ich schieß
dich tot.«
Der Anblick des sterbenden Pferdes hat die weggesperrten,
gespenstischen Erinnerungen meiner Vergangenheit
wiederbelebt. Erinnerungen an die, die ich einmal
meine engsten Freunde genannt habe. Und an den
einen, der mich bis heute nicht loslässt.
Mein kleines Schindelhaus an der Maplewood Avenue
fühlt sich leer und kalt an. Das war nicht immer so.
Leer und kalt ist es hier erst, seit Mina vor vier Jahren
gestorben ist. Wir haben so lange versucht, Kinder zu
bekommen, und schließlich sagten uns die Ärzte, es liege
an mir, dass Mina nicht schwanger werde. Sie war
stark und verlor nie ein böses Wort darüber. Das war
auch nicht nötig; ich sah den Schmerz in ihren Augen.
Adoption? Ich weiß nicht - wir haben spät geheiratet,
da waren wir schon fast vierzig. Nachdem wir es jahrelang
auf die herkömmliche Art versucht hatten, sagten
wir uns, wir seien wohl einfach zu alt und es solle wohl
nicht sein. Das klingt vielleicht dämlich, aber es ist die
Wahrheit.
Und so machten wir eben weiter mit unserem Leben
und genossen jede Sekunde. Wir scherten uns nicht um
den Kleinkram - Hypotheken, Rechnungen, Klatsch
und Tratsch. Das war alles ganz unwichtig. Sicher gab es
mal schlechte Zeiten und Streit. Aber wir hielten auch
Händchen und lachten viel. Samstags abends legte ich
meine Miles-Davis-Platten auf, und wir tanzten im Kerzenlicht.
Das machten wir achtzehn Jahre lang so, und
wir bekamen es nie über. Nie. Sie war alles, was ich an
Familie hatte, und sie fehlt mir. Aber damit ist im Grunde
nichts ausgesagt, was der Wahrheit auch nur nahe
kommt.
Heute Nacht hatte ich das eindeutige Gefühl, dass sie
neben mir im Bett lag. Ich spürte ihre Wärme. Wahrscheinlich
hatte ich von ihr geträumt, aber dann hörte
ich die leise Stimme aus meiner Vergangenheit. »Rauf
mit dir, oder ich schieß dich tot.«
Ich weiß schon seit einer Weile, was sich da anbahnt,
welchen Entschluss ich fassen werde. Und als ich das
schöne Pferd leiden sah, habe ich begriffen, was mich
all die Jahre zurückgehalten hat. Mein ganzes Leben
lang.
Ich gehe zu Minas antikem Schreibtisch in der Ecke
des Schlafzimmers und hole einen Packen Schreibpapier
heraus. Der Gedanke, meine Kindheit zu Papier
zu bringen, jagt mir eine Scheißangst ein. Denn damit
wird diese Zeit zu etwas Realem werden. Etwas, das man
in der Hand halten kann, anstatt es als bloßes Fantasiegebilde
abzutun. Aber noch viel unbehaglicher ist mir
bei dem Gedanken an ein Ende, ohne klar Schiff gemacht
zu haben.
Es ist mir egal, wer diese Seiten lesen könnte; ich
schreibe sie für mich. Wenn es mir gelingt, alles so wiederzugeben,
wie es war, werde ich vielleicht so etwas
wie Gerechtigkeit üben können oder sogar ein wenig
Rache. Nicht um meiner selbst willen, sondern für die,
die ich einmal meine Freunde genannt habe.
Es gibt ein Zitat, das mir gut gefällt. Ich habe es vor
Jahren aus einem Roman abgeschrieben. Ich weiß nicht
mehr, von wem es stammt, aber ich habe die Wörter auf
eine Serviette gekritzelt und sie aufbewahrt. Das Zitat
lautet so:
»Manche Geschichten wurzeln im Abenteuer, manche
im Konflikt. Andere stammen aus dem Herzen, und
die Schrecken und Freuden, die darin eingeschlossen
sind, scheinen oft so unermesslich, dass man sich wahrhaft
fragt, was aus den Kindern geworden ist, die wir
einst waren.«
Als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Messer
in die Brust.
Da werde ich anfangen.
Kapitel 3
Ich bin in Irish Chicago geboren, genauer: in Bridgeport.
Man lernt eine Menge über das Leben, wenn
man auf der South Side aufwächst, und in den frühen
Sechzigern lernte ich zu überleben. Ich habe mir alle
Mühe gegeben, große Teile meiner frühen Kindheit zu
vergessen, doch an die Prügel erinnere ich mich trotzdem.
Ich habe kaum Erinnerungen an meinen Vater im
nüchternen Zustand. Meistens sehe ich ihn betrunken
vor mir, mit einer widerlichen Schnapsfahne und dem
Gürtel in der Hand. Am liebsten trank er Whisky pur,
und bei dem Geruch dreht sich mir noch heute der
Magen um.
Er war ein kleiner Mann. Mit breiten Schultern und
massigem Brustkorb. Seine Augen waren so dunkel, dass
die Pupillen direkt in die Iris überzugehen schienen. Er
hatte dicke, kräftige Arme und grobe Hände. Ich hatte
mein Aussehen dagegen hauptsächlich von meiner
Mutter. Schlanke Glieder, helle Haut. Sogar ihr welliges
Haar hatte ich geerbt. Mein Vater nannte mich immer
Mädchen und Schwuchtel oder dergleichen, was ich nie
verstanden habe; schließlich spielte ich allzu gern Baseball
mit meinen Freunden auf der Straße, und ich hatte
noch nie etwas Hübscheres gesehen als Carrie Francello,
das Mädchen, das auf demselben Stockwerk wohnte
wie wir, gleich gegenüber.
Meistens reichte schon ganz wenig, ihn zu provozieren
- etwa, dass ich ein Comicheft auf dem Boden
liegen ließ oder ein bisschen Milch verschüttete.
»Raus mit dir, William!«, brüllte er dann. »Antreten
zur Tracht Prügel!« Und Jesus, Maria und Joseph, so viel
steht fest: Wenn ich nicht gehorcht hätte - es wäre die
Hölle und zehnmal schlimmer gewesen.
An meinem zehnten Geburtstag brach er mir den
Arm. Meine Mutter war nicht zu Hause, weil sie gerade
meine Geburtstagstorte von Gillpatrick's abholte, und
Mrs Francello fand mich weinend unter der Treppe.
Sie nahm mich auf den Arm und trug mich zum Arzt,
vier Querstraßen weit. Es war ein unglaublicher Akt der
Freundlichkeit, aber zugleich auch ein ziemlich gewagtes
Unterfangen. Sich in die Angelegenheiten anderer
Leute einzumischen war in meinem Viertel tabu.
Mein bester Freund war Jimmy Curio. Wir waren
keine Blutsbrüder oder so etwas Albernes, aber bei all
unseren gemeinsamen Baseballspielen war ich Second
Baseman und er Shortstop, und wann immer ich in der
Scheiße steckte, konnte ich auf ihn zählen. Manchmal
übernachtete ich bei ihm, wenn seine Eltern sich nicht
gerade stritten. Einmal fragte er mich, wie ich das bloß
aushielte, ständig von meinem Alten so misshandelt zu
werden. Es ist komisch, aber ich war schon so daran gewöhnt,
dass ich zuerst gar nicht verstand, was er meinte.
Er an meiner Stelle, sagte er, wäre längst abgehauen.
Oder hätte den Dreckskerl umgebracht. Er lachte dabei,
als sollte das ein Witz sein oder so was. Ich wurde verlegen,
und um schnell das Thema zu wechseln, fragte ich
ihn, ob er glaube, dass Carrie Francello mir je erlauben
würde, sie auf den Mund zu küssen. Aber was Jimmy
gesagt hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich lag
die meisten Nächte wach und fragte mich, warum um
Gottes willen ich nichts getan hatte.
Heute glaube ich, es hatte viel mit meiner Mutter
zu tun. Das klingt absurd, aber so war es. Ich konnte
damals keinen Schritt tun, ohne daran zu denken, was
sie dazu sagen würde. Mir ist klar, dass sich das anhört,
als wäre ich ein Muttersöhnchen gewesen - und vielleicht
stimmt das auch, keine Ahnung -, aber es war
mehr als das. Ohne es mir bewusst zu machen, hatte
ich ihr gegenüber eine Beschützerrolle eingenommen.
Versuchte, sie vor allem und jedem zu bewahren und
irgendwie unsere Familie zu retten.
Der andauernde Kampf meiner Jugend drehte sich
darum, welches Gefühl die Oberhand gewann: der Instinkt,
meine Mutter zu beschützen, oder die panische
Angst vor meinem Vater. Viel zu oft siegte die Angst.
Heiligabend 1962. Ich betrat die Wohnung und hörte
meine Mutter schluchzen, dann gedämpft aufschreien.
Die Geräusche kamen vom Ende des Flurs, aus dem
Schlafzimmer, und an dem brutalen Alkoholgestank in
der Luft erkannte ich, dass Dad früher als sonst heimgekehrt
war. Ihre Stimme klang dumpf, so als drücke
sie das Gesicht in ein Kissen, aber je weiter ich den Flur
entlangschlich, desto mehr verstand ich. Sie sprach von
mir. Zwischen all den Neins und Bittes weinte sie, er solle
doch aufhören, ich könne jeden Moment nach Hause
kommen. Die Tür war nur angelehnt, und ich erlag
der Versuchung, mich weiter vorzuwagen, um zu sehen,
was er mit ihr machte.
Wieder ein Geräusch. Er hatte sie geschlagen, und sie
hatte aufgeschrien. Vorsichtig bewegte ich mich in die
Nähe des Türspalts und beugte mich vor. Ich erhaschte
einen Blick auf seinen Arm, der im selben Moment erneut
auf sie niedersauste. Mit der anderen Hand hielt er
ein Büschel ihrer Haare gepackt. Sie blutete und flehte
ihn an aufzuhören.
Ich war zwölf und fühlte mich hilflos wie eh und je.
Leise zog ich mich ins Wohnzimmer zurück und wischte
mir die Tränen aus den Augen. Ging zum Plattenspieler,
setzte die Nadel auf die Bing-Crosby-Weihnachtsplatte,
das Mom so liebte, und kauerte mich auf den Boden
neben den Weihnachtsbaum. »Stille Nacht« erfüllte
den Raum, und trotzdem hörte ich meinen Vater noch
stöhnen und meine Mutter schluchzen. Ihr Weinen war
jetzt leiser geworden, und ich wusste, dass sie ihr Gesicht
in der Matratze vergrub, damit ich es nicht mitbekam.
Ich versuchte, das alles aus meinen Gedanken
zu verdrängen, und hörte stattdessen, was Jimmy Curio
gesagt hatte. Dass er längst abgehauen wäre - oder vielleicht
etwas anderes getan hätte.
Später am Abend ging meine Mutter mir aus dem
Weg. Ich legte mich früh schlafen, und als ich gerade
das Licht ausknipsen wollte, klopfte sie an meine Tür.
Ich versuchte, sie nicht anzuschauen, ihre aufgeplatzte
Lippe und das blutunterlaufene Auge nicht zu sehen.
Sie küsste mich auf die Stirn und bemerkte wohl den
Ausdruck auf meinem Gesicht.
»Er ist ein guter Mann, William. Es war ... meine
Schuld.«
Ich schloss die Augen und tat so, als wäre sie gar nicht
da gewesen. In dieser Nacht schwor ich mir, dass ich sie
beschützen würde, wenn sie es selber nicht tat.
Dann, im darauffolgenden Sommer - nur wenige Wochen
bevor das neue Schuljahr begann -, passierte es.
Eines Nachts im August kam mein Vater vom Milligan's,
an der 31st Street, zur Tür hereingestolpert und fing wieder
Streit mit Mom an. Das Abendessen, zu dem er sich
um Stunden verspätet hatte, stand kalt auf dem Herd.
»Kannst nicht mal das Scheißessen warm halten?«,
lallte er und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er
ihr eine Ohrfeige mit dem Handrücken verpasste. »Ich
reiß mir den Arsch auf und krieg zum Dank kalten Fraß
vorgesetzt?« Als Nächstes schlug er ihr mit der flachen
Hand die Nase blutig. Sie schrie auf, fiel zu Boden und
versuchte, ihr Gesicht mit den Armen zu schützen. In
einer Hand hielt sie eine lange Schnur Rosenkranzperlen,
die mit jedem ihrer angstvollen Reflexe durch die
Luft zuckte. Sie rief wieder und wieder seinen Namen,
aber er ließ nicht von ihr ab; dafür war er viel zu betrunken.
Durch den Spalt meiner angelehnten Tür sah ich,
dass er auf sie eintrat wie auf einen räudigen Hund. Da
war eine so unfassbare Wut in seinem Gesicht. Dann
sah ich den panischen Blick meiner Mutter, der mich
hinter ihren gekreuzten, zitternden Armen weit fort
wünschte.
»Muss dir wohl noch 'ne kleine Lektion erteilen, was,
meine Süße?« Er nahm den Kochtopf mit den kalten Ravioli
vom Herd und schleuderte das Essen auf sie. Dann
holte er aus und knallte ihn ihr gegen den Arm. Als ich
das Knacken hörte, verkrampfte sich mein Magen.
Er hielt den Topf in der bebenden Faust, schon zum
nächsten Schlag bereit.
Instinktiv nahm ich den erstbesten Gegenstand
von meinem Schreibtisch. Er lag ganz unschuldig neben
meinen abgegriffenen Fahrradspielkarten. Dann
trat ich aus dem Zimmer. »Lass meine Muter in Ruhe«,
sagte ich.
Der Topf sank herab. Mein Vater hielt inne, drehte
sich um und blinzelte.
»Ah, und du bist der Nächste. Kannst schon mal zu
Jesus beten, dass ich -«
»Ja, das mach ich«, sagte ich mit leiser Stimme und
ging auf ihn zu. Es war das erste Mal, dass ich ihm die
Stirn bot. Er stand nur da, den Topf in der Hand. Ich
glaube, er wusste einfach nicht, wie er reagieren sollte.
Ich zog die Hand hinter meinem Rücken hervor, und erst
da sah er das aufgeklappte Taschenmesser. Auf beiden
Seiten des Griffs war Davy Crockett mit Waschbärmütze
abgebildet. Ironischerweise hatte mein Vater selbst es
mir erst ein Jahr zuvor zu Weihnachten geschenkt.
Er bewegte ruckartig den Arm, um sich zu wehren,
und der Eisentopf fiel krachend zu Boden. Meine Mutter
schrie. Außer mir vor Wut, ließ ich den Arm vorschnellen.
Dann schrie mein Vater. Das Messer drang in
die linke Seite seines Rumpfs ein. Ich hielt es fest, und
es glitt mühelos wieder heraus, fast so, als hätte sein
Körper es ausgespuckt. Sofort kam Blut. Ich zögerte keine
Sekunde und stach erneut zu, dieses Mal in die Hüfte.
Jetzt blieb das Messer stecken, und ich ging mit meinen
bloßen Fäusten auf ihn los.
»Fass mich nie wieder an! Und meine Mutter auch
nicht! Wir lieben dich nicht mehr, also hau einfach ab!
Hau endlich ab, verdammt noch mal!«
Mir schien, als seien Minuten vergangen, aber das
konnte nicht stimmen. Viel zu bald rissen mich zwei
kräftige Hände gewaltsam zurück.
»Was hast du getan, Junge? Himmel noch mal, was
hast du da getan?«
Es war Arnold Francello, Carries Vater. Mein Zorn
verrauchte, und voller Entsetzen realisierte ich, was ich
getan hatte.
Vor uns auf dem Boden lag mein Vater in einer langsam
größer werdenden Lache seines eigenen Bluts und
versuchte vergeblich, das Messer zu packen, das ihm
noch aus der Hüfte ragte. Meine Mutter schrie erneut
auf, beugte sich über ihn und nahm sein Gesicht in beide
Hände. Sie sah sich nur ein einziges Mal nach mir
um, und ihr Blick traf mich bis ins Mark. Es war ein
kurzer Blick, aber ich werde nie den Abscheu vergessen,
der darin lag.
»Wie konntest du das tun, William! Oh, mein Gott.
Wie konntest du nur!« Sie küsste meinen Vater auf die
Stirn, so wie sie mich Heiligabend geküsst hatte, nachdem
sie von ihm vergewaltigt worden war.
»Komm mit, Junge«, sagte Mr Francello und zog mich
weg. Ich wollte etwas sagen, damit sie verstand, dass
ich ihr Beschützer war. Ihr Retter. Aber in dem Moment
wäre jede Erklärung zwecklos gewesen. Nichts hätte sie
davon abgehalten, ihn zu streicheln, als schwände gerade
das Kostbarste, was sie im Leben besaß, unter ihren
Händen dahin.
Verraten fühlte ich mich nicht. Wie leicht hätte sich
dieses Gefühl in mein Herz stehlen können. Stattdessen
empfand ich Mitleid mit ihr. Und das schmerzte noch
wesentlich mehr.
Kapitel 4
Am 7. September 1963 brach ich zur Swope Ranch auf,
einer Erziehungsanstalt für Jungen in Colorado. An der
Greyhound-Station Ecke Clark und Randolph Street wurde
ich in einen langen, silber lackierten Bus mit blauen
Verzierungen gesetzt. Einen großen Bahnhof hatte ich
nicht - Jimmy war da, die Hände in den Hosentaschen.
Meine Mutter stand neben mir, den Tränen nahe, und
zupfte an meinem Kragen herum, als führe ich ins Sommerferienlager
und nicht in den Jugendknast. Ich hielt
die ganze Zeit nach Carrie Francello Ausschau, vielleicht
würde sie ja kommen und mir den Kuss auf den Mund
geben, von dem ich immer geträumt hatte - aber sie
ließ sich nicht blicken.
Es gab nicht viel zu sagen. Wir wussten alle, dass wir
wahrscheinlich bloß die Fassung verlieren und anfangen
würden zu heulen, wenn wir zu viel redeten. Jimmy
sagte: »Du wirst schon klarkommen. Ich sorg dafür, dass
dein Handschuh immer gut eingefettet ist.« Er wusste
bestimmt nicht, was er mir sonst mit auf den Weg geben
sollte. Wer konnte es ihm verdenken?
»Sei stark«, sagte meine Mutter. Die ganze Sache lag
schon fast vier Wochen zurück, aber die schemenhaften
Umrisse der Veilchen in ihrem Gesicht waren noch
immer zu sehen. Ihr Gipsarm stand in scharfem Kontrast
zu dem marineblauen Kleid, das sie an diesem Tag
trug, und ich wollte ihr sagen, dass ich es für sie getan
hatte. Dieser Blick, den sie mir an dem Abend zugeworfen
hatte, so voller Abscheu - dafür hatte sie sich nie
entschuldigt. Sie hatte mir nie gesagt, dass sie stolz auf
mich sei.
»Und gib dein Bestes«, sagte sie. So etwas mochte
ein Junge zu hören bekommen, der an seinem ersten
Schultag zur Tür hinausging. Ich umarmte sie, immer
noch auf ihre Anerkennung aus. Fortwährend auf ihre
Anerkennung aus. Da begann sie zu weinen. Mit ihrem
gesunden Arm drückte sie mich an sich.
»Meinst du, du kommst zurecht?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht. Hielt mich nur fest, weil sie
spürte, dass es Zeit war.
Man hatte mir eine Begleitperson zugewiesen. Ein
Polizist würde auf dem ganzen Weg neben mir sitzen.
Er trug einen teuer aussehenden Anzug und roch nach
Zedernholzspänen. Jetzt klopfte er mit den Fingerknöcheln
gegen die Buswand. »Es wird Zeit, Ma'am.«
Jimmy tippte sich an die Mütze, wie Mantle es getan
hätte. Aber meine Mutter stand einfach nur da und
starrte mich an, als der Polizist mich in den Bus geleitete.
Sie sagte kein einziges Wort mehr. Starrte mich nur
an, als glaubte sie, sie würde mich womöglich nie mehr
wiedersehen.
Er hieß Rhymes, aber ich nannte ihn insgeheim Stinkig;
auf der gesamten Fahrt benahm er sich, als hätte
man ihm in seinem ganzen Leben noch nie etwas Lästigeres
zugemutet. Er richtete nur zweimal das Wort an
mich - erst, um mir zu sagen, dass ich mich im Schlaf
gefälligst nicht gegen ihn lehnen solle, und später dann,
um mich anzuherrschen, ich solle den Mund halten.
Darüber hinaus hatte er nichts an sich, woran ich mich
erinnern könnte.
Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf an die
Fensterscheibe. Ich dachte an den ganzen Aufruhr der
letzten drei Wochen zurück.
Die Ärzte brauchten zwei Anläufe, um den Arm meiner
Mutter wieder zu richten; der Knochen war komplett
durchgebrochen gewesen. Bei der Urteilsverkündung
weinte sie, hinten im Gerichtssaal, still vor sich hin. Ich
blickte auf ihren starren Gipsverband, der über die ganze
Länge ihres Arms reichte. Ihre Veilchen standen in
voller Blüte - sie sah aus, als hätte Sonny Liston ihr eins
auf beide Augen gegeben. Dieses erbarmungswürdige
Geschöpf konnte nicht meine Mutter sein, aber mein
gebrochenes Herz sagte mir etwas anderes.
Mein Vater hatte von der Taschenmesserattacke eine
perforierte Lunge, aber er starb nicht daran - allerdings
erfuhr ich später, dass er dem Tod denkbar nahe gekommen
war. Ich glaube, all die Wut in ihm hat ihm
geholfen, das zu überstehen. Meine Mutter sagte, die
Operation habe vier Stunden gedauert; die Ärzte hatten
anscheinend größte Schwierigkeiten gehabt, die inneren
Blutungen zu stillen.
Für die Dauer meines Prozesses war ich in einer Jugendeinrichtung
untergebracht, die man eigentlich
auch als Gefängnis bezeichnen konnte. Ich hatte dort
eine Zelle mit einem Bett und einer Wolldecke, einer
nicht allzu komfortablen Metalltoilette und einer Tür
mit schweren Eisenstangen.
Erst am Abend realisierte ich, was überhaupt passiert
war, und versuchte, meine Tränen zu verbergen. Es ist
komisch, dass ich selbst an so einem Ort meine Würde
bewahren wollte, aber so war es. Ich gehörte nicht hierhin.
Ich war ein braves Kind. Nur vierundzwanzig Stun-
den vorher hatte ich mir in unserem AM-Radio »The
Phantom« angehört und einen Batman-Comic gelesen.
Als der Richter mein Urteil verkündete, hätte er mir
ebenso gut einen Schlag in die Magengrube versetzen
können. Genauso fühlte es sich an. Seine Stimme war
völlig emotionslos; er sah mich nicht einmal an. Ich
sollte für einen Zeitraum von nicht weniger als vierundzwanzig
Monaten in eine Erziehungsanstalt in Colorado
geschickt werden. Zwei Jahre meines Lebens - weg.
Einfach so.
In meinem Block, gleich gegenüber von meiner Zelle,
saßen zwei Jungs ein. Brüder. Cofresi mit Nachnamen,
Italiener vielleicht. Einer sah alt genug aus, um im
Milligan's Drinks zu bestellen, der andere kaum jünger.
Gleich nach dem Urteilsspruch erfuhr ich zwei Dinge
von ihnen. Erstens, dass man mir eine verdammt viel
längere Strafe hätte aufbrummen können. Der Ältere
von beiden, der sein Haar mit Pomade geglättet und
nach hinten gekämmt trug, erzählte mir, ein Junge in
meinem Alter habe kürzlich sechs Jahre gekriegt, nachdem
er ein Harold's Chicken Shack überfallen und dem
Geschäftsführer ins Bein geschossen hatte. Wenn ich
meinem Alten das Messer erst mit sechzehn in die Brust
gerammt hätte, wäre ich für gut und gerne fünf Jahre
in den Joliet-Knast gewandert, wenn nicht für länger,
meinten sie.
Und zweitens versicherten sie mir, dass die Swope
Ranch ein regelrechter Albtraum sei. Der Jüngere der
beiden ließ sich stundenlang über einen Cousin aus,
der acht Monate da draußen verbracht hatte. Hinterher
sei er nicht mehr derselbe gewesen. Er habe bei dem
Versuch, ein Pferd zu satteln, einen Tritt an den Kopf
bekommen und stehe seitdem oft minutenlang neben
sich, ohne den blassesten Schimmer zu haben, was gerade
passiert sei. Manchmal pisse er sich sogar in die
Hose. Seine Eltern dankten Gott, dass er überhaupt wieder
da sei; es gebe Gerüchte über Jungs, die dort hingekarrt
würden und nie mehr zurückkämen.
Wir brauchten zwei volle Tage, um die Ranch in Gunnison
County zu erreichen. Nachts war es am schlimmsten.
Ich fühlte mich einsam, wenn die Welt hinter
meinem Fenster in Dunkelheit versank; das Land bei
Helligkeit an mir vorbeigleiten zu sehen war meine einzige
Rettung.
In den dreizehn Jahren meines Lebens hatte ich
noch nie einen Fuß aus Chicago hinausgesetzt, und so
erschienen mir die Gipfel Colorados fast genauso exotisch
wie die Dschungel Afrikas. Ich schaute aus dem
Fenster, als der Bus sich in die Rocky Mountains hinaufschlängelte,
nur Zentimeter vom Rand der Straße entfernt,
hinter dem es jäh bergab ging. Oft klebte ich regelrecht
an der Scheibe, von den gigantischen Dimensionen
schier überwältigt. Alles, was ich sah, war neu und
so aufregend und furchteinflößend, dass ich mir fast in
die Hose machte.
Und dann der Hagelsturm. Er ist das Einzige von dieser
ganzen Gebirgsfahrt, woran ich mich mit absoluter
Deutlichkeit erinnere. Gleich hinter Denver, westlich
der Stadt, begann ein derartiges Gekurve und Geschlinger,
dass mir schließlich kotzübel wurde. Ich riss mein
Fenster auf und lehnte mich so weit wie irgend möglich
hinaus. Als ich fertig war und die zugekniffenen Augen
wieder öffnete, sah ich gerade noch ein Schild, auf dem
schlicht KONTINENTALE WASSERSCHEIDE stand.
Hier und da lag ein bisschen Schnee. Vielleicht war
mein Verhalten ansteckend, denn auf einmal machten
auch ein paar andere Passagiere ihre Fenster auf und ließen
die frische Luft in den Bus hereinströmen.
Und obwohl es mitten am Vormittag war, begann es
draußen dunkler zu werden. Mir nichts, dir nichts. Der
Regen, der dann einsetzte, dauerte nur wenige Sekunden,
bevor er schlagartig zu Eis wurde. Ich hatte noch
nie Hagel gesehen und muss das Bild eines verängstigten
Hosenscheißers abgegeben haben, so wie ich mit
heruntergeklappter Kinnlade da saß und aus dem Fenster
starrte. Es fing mit kleinen Körnchen an, einem Kieselsteinschauer
gleich, aus dem jedoch binnen Kurzem
ein Golfballschauer wurde, und bald hatte der Sturm
auch den letzten Rest von Tageslicht ausgelöscht, und
die Welt war dunkel. Je weniger von der Straße zu sehen
war, desto langsamer kroch der Bus voran, und als das
Jaulen des Motors schließlich ganz verstummte, hörten
wir nichts als das Eis, das auf unser Dach prasselte,
ein Geräusch wie von über den Gehweg springenden
Murmeln. Ich drehte mich zu Stinkig um und fragte ihn
flüsternd, ob er so etwas schon einmal erlebt habe. Darauf
herrschte er mich an, ich solle den Mund halten.
Ich war vor Angst und Staunen wie gelähmt. Innerhalb
weniger Minuten war die dunkle Straße, die wir
hoch- und runtergekurvt waren, von einem blendend
weißen Teppich überdeckt. Und als der Sturm vorbei
war, ragten einzig die ramponierten Bäume aus dem Eis
hervor.
Kapitel 5
Nachdem der Blausilberne den Berg auf der Westseite
des Passes wieder hinuntergekrochen war, fuhr er über
kurvenreiche Straßen bis zum Highway 50 und erreichte
schließlich die Ortschaft Gunnison. Der Himmel klarte
allmählich auf, und dünne Sonnenspeichen bohrten
sich durch die Wolken.
Der Greyhound wurde langsamer und ruckelte, als
der Fahrer Gang um Gang herunterschaltete, bis er auf
der Main Street an einer Kreuzung zum Stehen kam. Sie
war das erste Anzeichen von Zivilisation, seit wir Denver
am Tag zuvor verlassen hatten. Es gab einen Friseursalon
namens Arthur's mit einer riesengroßen Zuckerstange
davor - ein verblasstes Schild im Fenster ließ uns
wissen, dass ein Männerhaarschnitt dienstags nur den
halben Preis kostete -, außerdem Simonton's Autohaus
und einen Sears & Roebuck. Ein Stück weiter war das
Studio eines Radiosenders - KGUC - und dahinter der
Gunnison-County-Busbahnhof.
Als unser Bus dort einfuhr, sagte Stinkig (mehr zu sich
selbst): »Da wären wir.« Er griff nach unten und nahm
seinen Hut und die Zeitung vom Vortag vom Boden auf.
Draußen sah ich mehrere geparkte Autos und ein paar
Männer in Anzügen stehen, bei ihnen zwei Männer mit
Cowboyhüten.
Ich fühlte mich auf einmal ganz seltsam, so ohne
jegliches Gepäck. Es war, wie vor der Schule zu stehen
und zu merken, dass man seinen Ranzen im Bus
vergessen hat. Meine einzige Habe steckte in meiner
Brusttasche: ein handtellergroßes Schwarz-Weiß-Foto
von meiner Mutter. Das war mir vor den anderen Jungs
auf der Ranch zwar peinlich, aber die Angst vor dem,
was mich erwartete, war einfach zu groß. Ich war dreizehn
und noch nie von zu Hause fort gewesen, es sei
denn, man zählte die paar Male mit, die ich bei Jimmy
Curio übernachtet hatte, der zwei Häuser die Straße
runter wohnte.
Der Bus hielt an, und alle zwängten sich in den
schmalen Gang und stolperten und drängten Richtung
Tür. Die Luft draußen war eiskalt, und ein beißender
Wind blies mir ins Gesicht. Stinkig ging zu den Cowboyhüten,
während ich im Schatten des Busses stehen
blieb und mich fremd und fehl am Platz fühlte. Stinkig
drehte sich um und zeigte auf mich, und die Blicke der
Cowboys folgten seinem Finger. Einer von ihnen hatte
einen dicken Schnurrbart und war der größte Mann, den
ich je gesehen hatte. Er fing meinen Blick auf, grinste
und spuckte auf den Boden. Ich war noch nie richtigen
Cowboys begegnet. Sie sahen kein bisschen so aus wie
die, die ich aus der »Roy Rogers Show« kannte. Diese
hier waren echt. Sie trugen Pistolen in einem Halfter
an der Hüfte, hatten dreckige Hosen an, und ihre Gesichter
waren gefurcht und ledrig. Keiner von beiden
wirkte freundlich. Eher machten sie den Eindruck von
zwei hungrigen Hunden.
Stinkig gab ihnen einen Hefter mit Papieren, warf
mir einen letzten verächtlichen Blick zu und stieg wieder
in den Bus. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah,
und ich bin fast überrascht, dass ich überhaupt noch
ein Bild von ihm im Kopf habe.
Der Cowboy, der einem Wolkenkratzer glich, kam
auf mich zu und öffnete einen kleinen Beutel an seinem
Gürtel. »Hände nach vorne.«
Ich zögerte verunsichert.
»Hände vor, verdammt! Wenn ich das noch mal sagen
muss, mach ich die Herzchen hinter deinem knochigen
Rücken fest.«
Die Leute, die noch im Bus saßen, beobachteten uns
durchs Fenster; der kleine Tumult hatte ihre Neugier
geweckt. Ich schaute nicht weg, wie Wolkenkratzer es
wohl erwartet hatte. Ich sah ihm direkt in die Augen,
dem Mann, der sein Urteil über mich bereits gefällt, der
schon entschieden hatte, dass ich nichts taugte. Ich
streckte die Hände aus.
Die Handschellen fühlten sich kalt an, und als ich sie
zuschnappen hörte, traf mich mit einem Schlag die harte
Wirklichkeit. Ich würde keinen Urlaub in den Bergen
machen - ich war nicht auf dem Weg ins Ferienlager.
Ich war ein Gefangener und hatte eine harte Strafe zu
verbüßen.
»Beweg deinen kleinen Arsch auf die Rückbank«,
sagte er. Er packte mich an der Schulter und dirigierte
mich zur offenen Tür eines schwarzen Olds aus den
frühen Fünfzigern. »Du gehörst jetzt uns. Für die nächsten
...« Er warf einen Blick in die Papiere. Sein schwerer
Schnurrbart dehnte sich bis über die Mundwinkel hinaus.
»Verdammt, Jungs, der kleine Scheißer bleibt für
zwei Ganze bei uns.«
Ich stieg in den Wagen. Ein dritter Cowboy saß auf
der Rückbank neben mir. Er war viel älter als die beiden
anderen, und seine Haut war nicht so gebräunt. Als er
seinen breitkrempigen Hut abnahm, kam darunter weißes
lockiges Haar zum Vorschein. »Ein guter Rat von
einem alten Mann«, sagte er. »Gib dem da«, er wies mit
dem Kopf zu dem Fenster, hinter dem der große Cowboy
stand, »keinen Grund, dich noch mehr zu hassen,
als er es schon tut. Die anderen sind größtenteils in
Ordnung, aber bei Frank Kroft steckt der Hass in jedem
seiner zweihundertzehn Zentimeter.«
»Danke«, sagte ich. Und ich meinte es ernst. Er war
der erste Mensch, der wirklich mit mir sprach, seit ich
Chicago verlassen hatte.
»Frank Kroft. Ein ganz gemeiner Dreckskerl. Der andere,
der mit den breiten Schultern, ist Elmore Holling.«
Ich schwieg. Elmore Holling war wie ein Notre-Dame-
Linebacker gebaut. Unter anderen Umständen hätte
seine massige Statur neben Frank Krofts Magerkeit und
schockierender Größe komisch gewirkt. Hollings glattes
Gesicht ließ ihn jünger aussehen als seinen Kollegen,
aber keinen Deut weniger grob.
»Ich heiße Grimsley«, sagte der Mann neben mir.
»Werd Gus genannt. Zwei Jahre also? Hab ich richtig
gehört?«
»Ja, Sir. Glaub schon.«
»Gab hier schon Schlimmeres. Besseres allerdings
auch.«
Ich hätte ihm gern Fragen gestellt, aber es schien mir
klüger, den Mund zu halten. Bloß nicht unnötig Aufmerksamkeit
erregen.
Ich war ein Nervenbündel. Es fehlte nicht viel, und
ich hätte auf die Rückbank gekotzt. Ein knappes Jahr
vorher, als es mit meinem Vater immer schlimmer wurde,
hatte ich zum ersten Mal geraucht. Ein paar Jungs
aus der Nachbarschaft beobachteten mich und lachten,
als ich mir eine Chesterfield anzündete. Dann lachten
sie noch mehr, weil ich taumelte und wie verrückt husten
musste. Ich hatte die Zigaretten aus der Kommode
meines Vaters geklaut - keine ganze Schachtel, nur ein
paar für den Anfang. Ziemlich absurd für einen Jungen,
der das genaue Gegenteil seines Vaters sein wollte. Jetzt
auf der Rückbank des Olds hätte ich für eine Zigarette
alles gegeben. Scheiße, sogar eine Lucky Strike hätte ich
genommen.
Gus Grimsley lehnte sich zurück und blickte aus
dem Fenster. Die beiden anderen Cowboys rissen die
vorderen Türen auf und stiegen ein. Selbst nachdem er
den Hut abgenommen hatte, stieß Frank Kroft mit dem
Kopf noch fast an die Wagendecke. Der andere, der Gus
zufolge Holling hieß, ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
Als der Motor anfing zu brummen, erwachte das Radio
zum Leben, und Buddy Hollys »Party Doll« erklang.
»Stell den Scheiß ab, Holling«, sagte Frank. »Man
könnte ja meinen, wir machen hier einen gottverdammten
Sonntagsausflug.«
Holling verdrehte die Augen und schaltete die Musik
aus. Wir fuhren auf einer schmalen, kurvenreichen Straße
in südlicher Richtung aus der Stadt hinaus. Unterwegs
wurde wenig geredet. Frank Kroft sagte, ein Zaun auf
der Westseite müsse an ein paar Stellen geflickt werden,
und wenn jemand namens Addison in der Zwischenzeit
nicht zwei Stuten in die vorderen Boxen gebracht hätte,
würde er diese Nacht in der Scheiße schlafen. Mit mir
sprach niemand, und das war mir nur recht.
Eine Stunde lang fuhren wir die steilen zweispurigen
Straßen der Rockies hinauf. Abseits des Standstreifens
sah ich irgendwann ein Schild, von dem ich ablas, dass
wir den UNCOMPAHGRE FOREST erreicht hatten. Ein
paar Meilen später bogen wir in eine kleinere Straße
ein, die kurz darauf in einen holperigen ungepflasterten
Weg überging. Dann ein weiteres Schild: SWOPE
RANCH ERZIEHUNGSANSTALT - PRIVATGELÄNDE
- ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Das
ist es also, dachte ich. Hier werde ich die nächsten zwei
Jahre meines Lebens verbringen.
Der Wagen schaukelte durch dichte Fichten-, Espen-
und Bergahorngehölze, und danach ging es fast die ganze
Zeit bergab. Ich sah zu Gus hinüber, der die Augen
geschlossen hatte. Mein Herz raste, und mir war wieder
schlecht. So mussten sich die Strafgefangenen fühlen,
die auf dem Weg nach Joliet waren.
Bin ich das, ein Strafgefangener?
»Willkommen in deinem neuen Zuhause, Sheppard«,
sagte Frank Kroft.
Ich nahm das Bild in mich auf, das sich mir durch die
Frontscheibe bot.
Vor uns erstreckte sich ein weites Tal, so grün wie die
grünsten Wiesen, die ich je gesehen hatte, eingebettet
zwischen steilen Hängen und dunklen Kieferngruppen.
Es schien sich bis ins Unendliche auszudehnen und lag
jetzt, am späten Nachmittag, schon im Schatten des
schneebedeckten Gipfels im Westen. Wir waren gerade
auf dem einzig möglichen Weg ins Tal hinuntergefahren,
durch sein einziges Tor zur Außenwelt.
In der Mitte des Beckens standen mehrere primitiv
wirkende Gebäude und zwei lange Scheunen. Bretterzäune
säumten alle außen liegenden Koppeln. Dort, auf
den Koppeln, waren Pferde. Ganze Scharen von Pferden.
Manche bildeten Gruppen, die schnell neben- und
hintereinander herliefen und die Richtung wechselten
wie Vogelschwärme. Andere grasten nur. Bis zu diesem
Tag hatte ich noch nie mit eigenen Augen ein Pferd gesehen.
Auf der Ranch herrschte rege Betriebsamkeit. Lastwagen
transportierten Heuballen von den Scheunen zu
den Feldern, Jungen schleppten schwere Säcke auf der
Schulter oder ritten auf den Koppeln. Einige strichen
eine Scheune, wenige Meter von zwei anderen Jungs
entfernt, die neben einem Gatter Löcher für Zaunpfähle
in den Boden gruben.
Nicht weit von uns war ein riesiger Pferdepferch, wo
irgendein tumultartiges Treiben im Gange war. Jungen
und Männer hockten wie die Geier in einer Reihe auf
dem hohen Zaungeländer und schrien und riefen, als
ginge es um ihr Leben. In dem Pferch saß eine Gestalt
auf einem gewaltigen rotbraunen Pferd. Es schwang
den Kopf hin und her, schnaubte und wieherte. Als wir
vorbeifuhren, keilte es mit beiden Hinterbeinen gleichzeitig
aus und warf den Reiter unsanft ab. Das Publikum
applaudierte und schrie noch lauter.
Vor einem großen Gebäude mit einer tiefen Veranda,
die sich über die ganze Länge des Dachvorsprungs
erstreckte, hielten wir an. Es war zweistöckig und
hatte zwei überdimensionale Fenster über dem Eingang.
Die Fassade hatte etwas Unheimliches an sich, sie sah
aus wie ein Gesicht, mit Doppeltüren als weit geöffnetem
Mund.
»Endstation, Kleiner«, sagte Kroft, nachdem er sich
zu mir umgedreht hatte. Sein Atem stank nach einer
Mischung aus Zigaretten und Scheiße. Er lächelte und
entblößte dabei seine braungelben Zähne, und ich fragte
mich, ob er sie je putzte.
Als ich aus dem Olds ausgestiegen war, füllte ich meine
Lungen mit der frischen Luft. Es roch durchdringend
nach Pferdedung und süßsaurem Heu.
»Wirst dich dran gewöhnen - an die Scheiße in der
Luft«, sagte Frank. Er beugte sich mit glänzenden Augen
vor. »Für uns riecht das nach Geld. Aber für dich bloß
nach stinkendem Mist.« Er klatschte sich den fettigen
Hut auf den Kopf und drehte sich zu dem Gebäude um.
»Komm mit.«
»Ist wirklich so«, sagte Gus.
»Was?«, fragte ich.
»Dass man sich dran gewöhnt. Nach einer Weile.«
Ich beobachtete, wie er sich aus dem Wagen mühte,
und bemerkte erst jetzt, dass er ganz schön gebrechlich
war. Er schien noch älter zu sein, als ich zuerst angenommen
hatte, und ich musste plötzlich an meinen Großvater
Jack mit seinem Roy-Rogers-Hut auf dem Kopf
denken. Langsam steuerte Gus auf das zweistöckige Gebäude
zu, und ich fragte mich, wie lange er wohl schon
auf der Ranch war.
Ich blickte mich um, nahm alles in mich auf. Irgendetwas
stimmte nicht, ich wusste bloß nicht, was es war.
Ich hatte es schon gespürt, als wir in das Tal hinein- und
auf das Gelände der Ranch gefahren waren. Als ob etwas
fehlte oder nicht am richtigen Platz wäre. Ich verwarf
dieses Gefühl - sagte mir, ich sei bloß nervös, und
folgte den Männern.
Die Holzbohlen knarrten, als ich die Stufen zur Veranda
hinaufstieg und hinter Kroft und Holling das
Haus betrat. Drinnen roch es intensiv nach Leder und
Holzbeize. Auf der einen Seite war ein dunkel lasierter
Tresen, der über die ganze Länge der Wand reichte, wo
durch der Raum eher wie die Lobby eines alten Hotels
wirkte und nicht wie der Eingangsbereich einer Haftanstalt.
Kroft öffnete eine der zahlreichen Türen, und
wir gelangten in ein kleines Zimmer und von da aus in
einen noch kleineren Raum.
»Setz dich da hin«, sagte Elmore Holling und zeigte
auf den Tisch und die Stühle aus Metall. Gus Grimsley
tippte sich an den Hut, und sie ließen mich allein. Als
Holling die schwere Tür hinter sich zuzog, erfüllte ein
lautes, metallisches Kreischen den Raum. Dann war alles
still.
Ich setzte mich. Wartete. Der Raum war kalt und hatte
keine Fenster; eine einsame Glühbirne, die nackt von
der hohen Decke hing, spendete schales Licht. Farblos
und grell fiel es auf alles, was sich in seinem Radius befand.
An der gegenüberliegenden Wand war eine Uhr,
geschützt von einem Wust kreuz und quer über das Ziffernblatt
verlaufender Drähte. Daneben ein Bild von einem
karmesinroten Sonnenuntergang über einer Grasebene.
Ansonsten waren die Wände kahl.
Aber immerhin dieses Bild. Auf seine Art diente es als
Fenster. Bestimmt hatten alle, die hier auf meinem Platz
am Tisch gesessen hatten, die getuschte Landschaft betrachtet
und sich wie ich gewünscht, sie könnten durch
den Rahmen kriechen, durch dieses schmale Fenster,
und in die friedliche Welt auf der anderen Seite fliehen.
Vielleicht ein neues Leben anfangen, die Vergangenheit
hinter sich lassen.
Die Tür ging auf.
Frank Kroft kam herein, wobei er den Kopf einziehen
musste, um sich nicht zu stoßen. Er hatte ein Klemmbrett
in der Hand, unter dessen Metallklammer ein Pa-
cken Papiere steckte. Ihm folgte ein großer, stämmiger
Mann, der einen Overall aus steifem Jeansstoff trug. Er
war fast so groß wie Frank, und dazu wölbte sich unter
seinem Overall noch ein gewaltiger Bauch hervor. Sein
Gesicht war hinter einem dichten, grau melierten Bart
verborgen. Er hatte eine lange Holzpfeife im Mund, und
ich musste daran denken, wie ich ein paar Jahre zuvor
im Marshall Field's Café dem Weihnachtsmann gegenübergetreten
war. Ich hatte in jener Woche schon vier
Mal bei ihm Schlange gestanden. Der Weihnachtsmann
hatte eine dunkle, blank polierte Pfeife geraucht, und
der starke, holzige Tabakgeruch war mir gleichzeitig angenehm
und zuwider gewesen. Jetzt ging es mir genauso.
Der Mann im Overall schloss die Tür und setzte sich
mir gegenüber. Frank warf das Klemmbrett auf den
Tisch, zog einen Stuhl zurück und setzte sich ebenfalls.
Der andere nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich
würde mal sagen ...« Seine Stimme war tief und ungeschliffen.
»... die Arbeit ist ganz auf dich zugeschnitten,
Frank.« Er trug eine schwarze Hornbrille und schob
sie auf seiner dicken Nase weiter nach oben. Mit einem
Seufzen nahm er das Klemmbrett vom Tisch und blätterte
in den ersten paar Seiten.
»Die nächste Herde kommt erst in einem Monat«,
sagte Frank. »Ich kümmere mich drum.«
Ich fühlte mich furchtbar klein, wie ich da so unbeachtet
vor ihnen saß.
»Klar, Frank. Wie immer.«
Er blätterte noch ein bisschen weiter und legte das
Klemmbrett dann auf den Tisch.
»Nun wollen wir doch mal sehen, was wir hier ha-
ben.« Er blickte auf und sah mich scharf an, ohne etwas
zu sagen. Das Schweigen im Raum war unbehaglich; der
Sekundenzeiger der Uhr tickte, tickte, tickte.
Er wartete, vielleicht darauf, dass ich etwas sagte. Aber
ich schwieg.
»Hm.« Er schaute wieder auf das Klemmbrett. »Wir
werden deinen Willen schon brechen, Mister Sheppard.
So wie wir es mit jedem Tier da draußen machen. Schritt
für Schritt.«
Kroft lachte in sich hinein, ganz braungelbe Zähne
und Schnurrbart.
»William Paul Sheppard. Du bist für vierundzwanzig
Monate hier. Zwei Jahre. In diesen zwei Jahren wirst du
für mich arbeiten. Mein Name ist Walter Barrow. Du
wirst mich Sir nennen, Mr Barrow oder auch Direktor
Barrow, klar?«
Ich sprach leise und sah ihm unverwandt in die Augen.
»Ja, Sir.«
»Sehr gut. So, und bevor wir weitermachen, lass uns
eins gleich mal klarstellen. Es ist ein Luxus für dich, hier
zu sein, Mister Sheppard. Ein Privileg. Du könntest in
dieser Minute auch in der Zelle irgendeiner staatlichen
Jugendvollzugsanstalt sitzen, wo man Gottes weiten
Himmel nur zu sehen kriegt, wenn sie einem erlauben,
mal rauszugehen. Hier auf der Ranch wirst du fast den
ganzen Tag draußen sein. Aber glaub mir, Junge, leicht
wird das nicht. Es wird hart. Du wirst schuften, und du
wirst schwitzen. Und wenn du auch nur einen einzigen
Zentimeter aus der Reihe tanzt, William, kriegst du es
mit uns zu tun.«
»M-hmm«, bestätigte Kroft.
»Vielleicht ist dir schon aufgefallen, Mister Sheppard,
dass die Swope Ranch keine Sicherheitstore hat, weder
Eisenzäune noch hohe Mauern.«
Das war es. Ich wusste doch, dass hier irgendetwas
merkwürdig war. Keine Tore. Noch bevor er zu einer Erklärung
ansetzte, verstand ich den Grund: Es war nicht
nötig.
»Diese Ranch befindet sich in einem Tal, das mehr
als viertausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, im
Schatten eines der beiden Viereinhalbtausender des Landes.
Im Winter ist die einzige befahrbare Straße, die aus
dem Tal hinausführt, im Schnitt einen Meter hoch mit
Schnee bedeckt. Selbst im Sommer sinkt die Temperatur
in dieser Höhe nachts fast auf den Gefrierpunkt. Ohne
den Luxus eines Fahrzeugs sind wir etliche Tagesreisen
von jeglicher Form der Zivilisation entfernt. Wenn ein
Gefangener sich trotzdem irgendeiner optimistischen
Wahnidee hingibt und zu fliehen versucht, verfahren
wir nach einer strengen Methode. Wir werden dich
abknallen, William, wenn wir dich außerhalb unserer
Grenzen antreffen, und zwar ohne lange zu fackeln. In
den zwölf Jahren, die diese Ranch jetzt als Erziehungsanstalt
dient, hat nicht ein einziger Gefangener diesen
Versuch unternommen. Die Berge hier oben sind gnadenlos,
das ist die einfache Wahrheit.«
Er konnte mir sicher an den Augen ablesen, dass ich
ihm glaubte.
»Zurzeit verbüßen achtundsiebzig Jungs ihre Strafe
auf der Ranch. Mit dir sind es neunundsiebzig. Du
bekommst von uns zwei Paar Einheits-Bluejeans, einen
Pullover, einen Mantel und zwei Hemden. Ein Paar Arbeitsstiefel
spendieren wir dir auch noch.
Wir haben eine Art Militärbaracke für alle Jungs, mit
Innentoilette und allem. Die ist erst letztes Jahr fertig
geworden, du brauchst also zum Scheißen nicht nach
draußen zu gehen.«
Er schaute noch einmal in die Papiere. »Mr Kroft
bringt dich jetzt zur Kleiderkammer, da wird man deine
Maße feststellen, und dann geht's zu den anderen.«
Er schlug die Seiten wieder nach vorn und reichte
Frank das Klemmbrett. »Den eigenen Vater abgestochen.
Ihn fast umgebracht.«
Ich wusste nicht genau, was ich darauf sagen sollte.
»Ich hätte mir wohl mehr Mühe geben müssen.«
Zu meinem Erstaunen lachten beide und tauschten
einen vielsagenden Blick.
Barrow wandte sich wieder mir zu. »O ja, Mister
Sheppard. Dir werden wir noch ganz gewaltig die Leviten
lesen.«
© Weltbild
... weniger
Autoren-Porträt von David E. Hilton
David E. Hilton, Jahrgang 1974, ist als Junge oft mit seinen Eltern zum Skifahren in den Bergen gewesen. Auf dem Weg dorthin kam die Familie stets an einem verwitterten Schild mit der Aufschrift "Erziehungsanstalt" vorbei. Die Frage, wie diese Anstalt wohl ausgesehen und was sich dort ereignet haben mag, hat David E. Hilton mit seinem ersten Roman beantwortet. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Austin, Texas.Bettina Abarbanell, geboren 1961, lebt und arbeitet seit vielen Jahren als Übersetzerin in Potsdam. 2014 wurde sie mit dem "Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis" ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: David E. Hilton
- 2011, 1, 416 Seiten, Maße: 13,4 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Abarbanell, Bettina
- Übersetzer: Bettina Abarbanell
- Verlag: ARCHE VERLAG
- ISBN-10: 3716026476
- ISBN-13: 9783716026472
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