Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht!
Die Biografie
Die Biografie des Frühjahrs
Er ist Politiker mit Leib und Seele, manchmal auch Querdenker und Rebell: Wolfgang Bosbach, einer der bekanntesten und anerkanntesten Unions- Politiker Deutschlands. Der 61-Jährige ist Vorsitzender des Innenausschusses...
Er ist Politiker mit Leib und Seele, manchmal auch Querdenker und Rebell: Wolfgang Bosbach, einer der bekanntesten und anerkanntesten Unions- Politiker Deutschlands. Der 61-Jährige ist Vorsitzender des Innenausschusses...
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Produktinformationen zu „Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht! “
Klappentext zu „Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht! “
Die Biografie des FrühjahrsEr ist Politiker mit Leib und Seele, manchmal auch Querdenker und Rebell: Wolfgang Bosbach, einer der bekanntesten und anerkanntesten Unions- Politiker Deutschlands. Der 61-Jährige ist Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag, Kritiker der Euro-Rettungsschirme, dreifacher Familienvater - und unheilbar an Prostatakrebs erkrankt. Bestsellerautorin Anna von Bayern erzählt in enger Zusammenarbeit mit Wolfgang Bosbach seine Lebensgeschichte und zeigt einen Politiker, der fest entschlossen ist, mit Leidenschaft gegen den Krebs und weiter für seine Werte und Ziele zu kämpfen.
Wolfgang Bosbach hat sein Leben der Politik verschrieben: Seit über 40 Jahren ist er Mitglied der CDU, seit 19 Jahren sitzt er im Bundestag, mehr als einmal wäre er fast Minister geworden. Er gilt als Politiker, der Rückgrat zeigt und Tacheles redet - selbst wenn er sich dafür gegen die eigene Fraktion stellen muss. Seit seiner Krebsdiagnose hat er sich mit der Frage beschäftigt, was er mit der ihm verbleibenden Zeit anfängt. Die Antwort lautet: »Jetzt erst recht. Bundespolitik mit Hingabe. Vollgas.« Anna von Bayern, die ihn seit Monaten zu unterschiedlichen Anlässen begleitet und mit seiner Familie und vielen Wegbegleitern spricht, erzählt in diesem Buch sein Leben und nähert sich dabei auch Fragen wie: Wie süchtig ist einer, der auch todkrank nicht von der Politik lassen kann? Wie blickt man zurück, wenn man so krank ist? Und wie blickt man nach vorn? Das sehr persönliche Porträt eines Menschen, der sich nicht unterkriegen lassen will - auch wenn das Leben wieder einmal die Richtung ändert.
Ausstattung: 16 Seiten Farbbildteil
Lese-Probe zu „Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht! “
Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht! von Anna von Bayern LICHT UND SCHATTEN
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Schlechte Nachrichten eilen sich selbst voraus. »Wollen Sie sich nicht erst einmal setzen?«, fragt der Professor, als Wolfgang Bosbach erfahren soll, ob er leben oder sterben wird. Unter dem großen Fenster liegt die ehemalige Bundeshauptstadt in rot-gelben Herbstfarben seltsam ruhig da. Nein, eigentlich will er sich nicht setzen, weil er es jetzt schon weiß: Der Krebs hat gestreut und ist unheilbar. So sagt es auch der Professor im September 2011: »unheilbar«, und zeigt auf ein bunt gesprenkeltes Bild seines Skeletts. »Wie lange habe ich noch?«, fragt Bosbach. Nach der gelungenen Prostataoperation 2010 war von 23 Jahren die Rede gewesen. An diese Zahl hatte er sich in all ihrer Unbarmherzigkeit ein bisschen gewöhnt. 23 Jahre, dann wäre er 81, würde vielleicht noch Enkelkinder groß werden sehen. Mit 81 Jahren kann man auch mal sterben, denkt er, auch wenn seine Eltern schon älter und noch sehr fit sind. Nach der OP war der Arzt optimistisch. Der Tumor hatte die Prostatakapsel nicht gesprengt, es wurde nervenschonend operiert, ein besseres Ergebnis hätte man sich nicht wünschen können, hieß es. Bosbach hatte sich gefreut. Doch der PSA- Wert, diese gnadenlose Messzahl des Prostatakrebses, hält sich nicht an die Prognose. Er bleibt nicht auf null, sondern steigt von Monat zu Monat, von Untersuchung zu Untersuchung wieder an. Vor Weihnachten beginnt Bosbach eine Strahlentherapie, während der nächsten zwei Monate geht er fünfmal die Woche hin. Danach ist er erschöpft. Er legt sich die Behandlungen möglichst immer auf den frühen Morgen, damit er am Abend wieder Veranstaltungen im Wahlkreis besuchen kann. Das klappt ganz gut, keine weiteren Nebenwirkungen. Leider auch sonst keine Wirkung, denkt sich Bosbach, als der PSA-Wert weiter ansteigt. Für die Bestrahlung hätten die Ärzte auch eine normale Taschenlampe nehmen können, der Effekt wäre der gleiche gewesen.
Über zwei Stunden dauert heute die Prozedur. Zunächst wird ihm atomar aufgeladener Zucker gespritzt, dann muss er still in einer Röhre liegen für das PET-CT, das Bildgebungsverfahren, das mit Röntgenstrahlen die Tumorzellen im Körper finden soll. Er durfte vorher nicht essen, der Magen knurrt. Die genauere Diagnose durch eine Magnetresonanztherapie kommt für ihn nicht infrage wegen des Herzschrittmachers, den Bosbach seit sieben Jahren trägt. Seine Herzmuskelschwäche ist die Folge einer verschleppten Grippe aus seinem ersten Bundestagswahlkampf zehn Jahre zuvor. Damals wollte er seine Fahrradtour durch den ganzen Wahlkreis nicht abbrechen, um sich auszukurieren. Wie hätte es denn ausgesehen, wenn der Kandidat schlapp macht, bevor er überhaupt gewählt ist? Die Medikamente für das Herz vertrug er nicht gut, sie machten ihn schlapp, irgendwann hörte er auf, sie zu nehmen, bis die Herzleistung im Frühjahr 2004 nur noch 19 Prozent betrug und er die Treppen zu seinem Haus nicht mehr ohne Pause hochkam. Er flog trotzdem zur Sitzungswoche nach Berlin, wo ihm der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer einen Arzt an der Berliner Charité vermittelte, der ihm gleich einen Herzschrittmacher und einen Defibrillator gegen den plötzlichen Herzstillstand einsetzte. Das Herz blieb nicht stehen, doch der Defibrillator rettete ihm trotzdem das Leben, weil nach einer Operation, bei der seine Batterien ausgetauscht wurden, der erhöhte PSA-Wert auffiel. Das müsse nichts Schlimmes sein, aber er solle mal zum Urologen gehen,
hieß es. Dort war Bosbach noch nie, er habe immer gedacht, der Urologe mache was mit Zeitmessung, scherzte er damals. Auch zur Vorsorge war er bis dahin nie gegangen, ihm habe ja nichts gefehlt.
Wenn er rechtzeitig erkannt wird, sind die Heilungschancen bei Prostatakrebs gut. Doch Bosbach hat auf einer Skala von sechs bis zehn schon einen sogenannten Gleason-Score von sieben, dunkelgelb oder hellorange, je nach Ansicht. Bosbach entscheidet sich für dunkelgelb. Weil am 9. Mai in Nordrhein-Westfalen gewählt wird, legt er den OP-Termin auf den 11. Mai. Bis dahin sind es zwar noch acht Wochen, aber die sind durchgetaktet mit Wahlkampfterminen. Dann die Hoffnung nach der OP. Und jetzt die Metastasen, die Bosbach vorkommen wie ein Raubtier im eigenen Körper. Der unbekannte Feind leuchtet ihm vom Bild seines Körpers entgegen, besonders bunt sind Becken und Wirbelsäule. Bosbach bringt die gnadenlose Aufnahme zu seinem Onkologen wie ein Schüler seinen Eltern ein miserables Zeugnis. Ich weiß, es ist schlecht, nur wie schlecht ist es? Um Heilung könne es jetzt nicht mehr gehen, sagt der Arzt, sondern um Lebensverlängerung und Lebensqualität. Und was ist mit den 23 Jahren? »Die müssen wir jetzt schon deutlich nach unten reduzieren «, sagt der Arzt und wirkt dabei so niedergeschlagen, dass Bosbach kurz überlegt, ob er ihn nicht trösten soll. »Können Sie das präzisieren?«, fragt Bosbach. Nein, das kann er nicht. Es könne ja in ein paar Jahren auch neue Therapieformen oder Medikamente geben. Wie zu sich selbst sagt der Onkologe dann, man dürfe den Kopf jetzt nicht hängen lassen.
Er gibt eine Anleitung zum Leben-nicht-unnötig-Verkürzen, das Übliche: nicht rauchen, wenig trinken, viel Sport. »Da rennen Sie bei mir mit Anlauf offene Türen ein«, sagt Bosbach. Er hat nie geraucht, kaum Alkohol getrunken, immer viel Sport gemacht, und als er das erzählt, klingt er fast trotzig, so als müsse der Krebs sich in ihm geirrt haben. »Sonst noch etwas?« fragt er.
»Nein«, sagt der Mediziner, »machen Sie einfach die Dinge, die Ihnen Spaß machen.« Und da ist Bosbach dann doch ein wenig erleichtert. Denn die Dinge, die ihm Spaß machen, das sind seine 16-Stunden-Tage als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, die rund 400 jährlichen Redeveranstaltungen im ganzen Land, seine Arbeit in der Kanzlei, die Wochenendtermine im Wahlkreis. Dass der Onkologe mit seiner Empfehlung zu einem gleichmäßigen Lebensrhythmus vielleicht etwas anderes meint als das ständige Pendeln zwischen Bergisch Gladbach und Berlin, die vielen tausend Kilometer auf Deutschlands Straßen, die langen Nächte und frühen Morgen zwischen Bundestag, Partei, Kanzlei, Interviews, Fernsehauftritten und Wahlkreis, das ist erst einmal zweitrangig. Für Bosbach ergibt sich zwischen diesen Fluchtpunkten der Rhythmus seines Lebens - gleichmäßig in seiner Ungleichmäßigkeit.
Der Arzt schlägt eine medikamentöse Hormonentzugstherapie vor, wie sie bei geringer Lebenserwartung häufig empfohlen wird. Sie kann nicht heilen, aber durch den Entzug von Testosteron soll die Ausbreitung der Tumorzellen verlangsamt oder eingedämmt werden. Drei bis vier Jahre könne die Therapie wirken, sagt er, dann passe sich der Krebs dem Hormonentzug an und wachse weiter. Zu den Nebenwirkungen würden Antriebsschwäche, Hitzewallungen, Osteoporose, Verlust der Libido und der Potenz, Zunahme des Körperfetts sowie Blutarmut zählen. Alles, was Bosbach hört, ist: »drei bis vier Jahre«. Das ist die wichtigste Aussage für ihn wegen der Kandidatur für den nächsten Bundestag. In diesem Moment weiß er: Er wird weitermachen wie bisher. Jetzt erst recht. Bundespolitik mit ganzer Kraft. Vollgas.
Wolfgang Bosbach hat für seinen offenen Umgang mit seiner Krebserkrankung viel Anerkennung erfahren. Nicht nur weil dieser Umgang gerade in der Politik ungewöhnlich ist, wo Krankheit als Tabu gilt, weil man Schwäche jeglicher Art tunlichst für sich behält. Er hat vor allem Respekt für die Haltung geerntet, mit der er seine Diagnose akzeptiert hat und nun mit ihr lebt. Damit löst er bei seinen Mitmenschen die Frage nach deren eigenem Umgang mit der Sterblichkeit aus: Wie würden wir unser Leben ändern, wenn wir wüssten, dass uns nur noch wenig davon bleibt (und den meisten von uns bleibt ja zu wenig)? Die Frage testet unsere eigenen Prioritäten, unser Menschenbild und die Treue zu unseren Träumen. Sie hinterfragt, ob wir das Leben führen, das wir führen wollen. Würden wir alles ändern? Oder nichts, wie Bosbach? Bedeutet seine Antwort, dass er das gute Leben für sich gefunden hat, oder ist seine Produktivität nur die Sublimierung seiner Todesangst? Ist er ein Meister des Akzeptierens oder des Verdrängens? Setzt er sein Leben aufs Spiel für die »Wichtigkeitsdroge öffentliche Aufmerksamkeit«, wie Jürgen Leinemann es vielen Spitzenpolitikern attestiert hat, oder arbeitet er einfach aus Leidenschaft, die ja per se maßlos ist? Ist es überhaupt möglich, nach fast zwei Jahrzehnten im Deutschen Bundestag und als zentrale Figur seiner Partei, als stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender und Vorsitzender des Innenausschusses, nicht süchtig nach der »Droge Macht« zu werden? Und wie bitter ist dann für ihn die Niederlage, als ihm der erhoffte Schritt in die erste Reihe, ins Ministeramt verwehrt bleibt?
Wolfgang Bosbach, mehr Fach- als Machtpolitiker, hat eine Schwäche für Zahlen, Daten und Fakten. Vor politischen Entscheidungsprozessen legt er Wert auf das, was er als Jurist die »Verständigung über die Sachlage« nennt. »Zahlen, Daten, Fakten «, ruft er seiner Mitarbeiterin zu, wenn er inhaltliche Ausarbeitungen braucht. Die paukt er dann, bis sie sitzen. Auch Bosbach selbst, Einzelhandelskaufmann, Karnevalsprinz, staatlich geprüfter Betriebswirt, Volljurist, Rechtsanwalt, Karnevalspräsident, kann man malen mit Zahlen: 61 Jahre alt, seit 25 Jahren verheiratet, drei Töchter, seit 41 Jahren CDU-Mitglied, seit 20 Jahren Parlamentarier, dreimal gegen die eigene Fraktion gestimmt, zuletzt gegen die Ausweitung des sogenannten Euro- Rettungsschirms. Im 17. Deutschen Bundestag einer von 620 Abgeordneten, der 52. im alphabetischen Verzeichnis, einer von 22 Ausschussvorsitzenden. Seriensieger mit Rekordergebnissen, 2013 mit sagenhaften 58,5 Prozent wiedergewählt. Jährlich Tausende von Einladungen, 200 Hotelübernachtungen, 30000 Kilometer im eigenen Auto, zeitweilig 14 Punkte in Flensburg (vier werden ihm nach einem »Aufbauseminar für verhaltensauffällige Kraftfahrer« erlassen). Unzählige Interviews, 85 Fernsehauftritte in ARD und ZDF im Jahr 2012, nur drei andere Politiker waren dort häufiger zu sehen als er.1 Wöchentlich durchschnittlich 200 Zuschriften, fast 10 000 beantwortet er jährlich individuell. Drei Tore für den FC Bundestag im linken Mittelfeld. 42 Prozent Herzleistung, vierteljährliche Krebskontrolle, null Skandale.
So weit Bosbach in Zahlen. Man kann aber auch versuchen, die Punkte entlang dieser Zahlen zu verbinden, um den Menschen Bosbach zu umreißen. Seine Karriere vom Realschulabsolventen und Supermarktleiter im beschaulichen Bergisch Gladbach zum Rechtsanwalt in der bundesdeutschen Spitzenpolitik ist erstaunlich, seine Ablehnung der erweiterten Euro- Rettungsmaßnahmen, der European Financial Stability Facility (EFSF), im September 2011 gegen seine Fraktion nach seinen vielen Jahren als braver Parteisoldat nicht minder. Seine Sprache ist erfrischend direkt, seine Werte sind erfrischend untrendy, seine Schlagfertigkeit und sein Witz oft genial. Allein deshalb lohnt es sich, ihn kennenzulernen. Natürlich passt ein Leben nicht in ein Buch und das Leben von Wolfgang Bosbach schon gar nicht. Aber ein Versuch lohnt sich trotzdem, denn sein Leben veranschaulicht nicht nur die vergangenen 20 Jahre der deutschen Politik, die er teilweise entscheidend mitgeprägt hat, sondern auch deren Machtgesetze. Sein außergewöhnlicher Aufstieg ist der eines klassisch Konservativen, der mit Fleiß, Unabhängigkeit und Humor zu einem der bekanntesten und beliebtesten Spitzenpolitiker ohne Spitzenamt wird. Durchaus zu Populismus fähig lehnt er doch den zeitgeistigen Pragmatismus seiner Partei ab. Was lehrt seine Karriere über den politischen Betrieb, den Zustand der CDU und insbesondere das System Angela Merkels? Sind Unabhängigkeit und das Bestehen auf unveränderlichen Grundwerten für eine Karriere in diesem System vielleicht primär hinderlich? Wenn der Konservative in der CDU schon nicht mehr geschätzt wird, wird er dann in Deutschland überhaupt noch gebraucht? Und was sagt unsere Faszination an einem öffentlich Todkranken, an seiner Mischung aus Schwäche und Stärke, aus Angst und Mut, über uns selbst aus? Beobachten wir Kranke neugierig in den Medien, in den zig Arztfernsehserien, weil wir selbst so gerne gesund sind, so schrecklich gerne überleben, wie es Ines Kappert in der Tageszeitung formulierte?2
Auf all diese Fragen habe ich Antworten gesucht in den vielen Monaten, in denen ich Wolfgang Bosbach auf Veranstaltungen und Reisen, im Wahlkampf und in seinem Alltag in Berlin begleitete. Ich habe über seine Schlagfertigkeit gelacht, mich über seine Widersprüchlichkeit gewundert und am häufigsten über ihn gestaunt. Er hat mir erzählt, wie die Politiker die Wähler für dumm verkaufen, wie unverhältnismäßig Einsatz und Ertrag in seinem Geschäft sind und wie er einmal am Wahlabend geweint hat. Wir haben gesprochen über seinen Kampf zwischen Körper und Geist, den hohen Preis seines Wirkens, und wie das Leben trotz aller Widrigkeiten Sinn machen kann. Er hat mir erklärt, wie man am besten auf einen ausfälligen Kanzleramtsminister reagiert, was die Logik eines links gedrehten Supermarktumlaufes ist und das Geheimnis einer glücklichen Ehe und warum der Karneval sich nach dem Mond richtet so wie Ebbe und Flut.
Bosbachs verhinderte Topkarriere ist symptomatisch für das inhaltliche Vakuum, das Angela Merkel in der Partei geschaffen hat, die nun allein auf sie zugeschnitten ist. Die teilweise sehr öffentliche Geringschätzung seiner Positionen sollte jeden Demokraten beunruhigen, weil konservative und unabhängig wirkende und kommunizierende Politiker in Deutschland dringend gebraucht werden. Nicht nur im Sinne der für die Gesundheit unseres politischen Systems unerlässlichen Meinungsvielfalt, sondern auch weil unabänderliche konservative Werte in unserer Gesellschaft nicht ausgedient haben. Auf einer persönlicheren Ebene lehren Leben und Laufbahn Bosbachs vor allem eines: Wenn man versucht, jede Entscheidung und jede Handlung für sich zu betrachten und um ihrer selbst willen zu vollziehen, ist das Leben sowohl im Erfolg wie auch im Misserfolg besser erträglich. Es geht dabei nicht darum, sich zu finden, sondern sich in dem zu verlieren, an das man glaubt.
Wolfgang Bosbachs Geschichte ist relevant und spannend, weil sie aus demselben Stoff gestrickt ist wie alle großen Geschichten: aus Leidenschaft und Macht, aus Sieg und Niederlage, aus Liebe und Verlust.
AUFSTAND MIT ANSAGE
Weil er mit Hiobsbotschaften keine Zeit verschwendet, fasst Wolfgang Bosbach sich kurz. In einem Satz sagt er seinen drei Töchtern Caroline, Natalie und Viktoria, dass er todkrank ist. So sei es, so gehe es jetzt weiter, und mehr gebe es dazu bis zu einem neuen Befund nicht zu sagen. »Und jetzt nicht den Papa mit traurigen Augen anschauen, armer Papa, das will ich nicht, da kriege ich die Krise.« Danach möchte er zu Hause nicht mehr über den Krebs sprechen. Auch wenn man sich auf eine solch niederschmetternde Diagnose nicht vorbereiten kann, hat Wolfgang Bosbach sie doch in den vergangenen Monaten angesichts des steigenden PSA-Wertes zumindest in Betracht ziehen können. Für seine Töchter hingegen sitzt der Schock tief. Dennoch akzeptieren sie, dass ihr Vater mit ihnen darüber nicht mehr reden will. Nur dass er es andererseits so bereitwillig in der Öffentlichkeit tut, das ist schwierig für die Familie. Mit dem Stern spricht er wenig später über die Angst vor dem Tod (»Keine, wenn der kommt, bin ich ja weg«), über Inkontinenz und Erektionsstörungen (»Damit hatte ich nur ein paar Tage zu tun, dann war das Thema durch«). Dem Spiegel erzählt er, dass er gerne zu Hause sterben würde (»Ich möchte meinen Lieben dann alles sagen können, was für mich noch wichtig ist und was ich ihnen schon immer sagen wollte«) und wie er sich sein Begräbnis vorstellt (»Nicht nur Kirchenlieder und keine langen Reden, die Leute wollen was zu essen haben«). In Bild lässt er sich lachend mit seinem ebenfalls krebskranken Freund, dem Bestatter Fritz Roth, ablichten (»Wir haben beide Krebs! Wir lachen trotzdem!«), und Bunte erzählt er, dass er mit Gott gehadert habe (»mit dem Krebs nicht«). Er spricht in Talkshows über Krebs, über Vorsorge, über den Tod und über seinen christlichen Glauben an ein Leben danach.
Als seine Frau Sabine eines Morgens in der Zeitung lesen muss, dass ihr Mann »dem Tod ins Auge sieht«, platzt ihr der Kragen. Ob denn das alles sein müsse? Irgendwann würden die Leute sagen: Der Bosbach, ist der immer noch nicht tot? Von Freunden und Bekannten genauso wie von Wildfremden werden sie und die Töchter unentwegt auf die Krankheit ihres Mannes angesprochen. Ständig ruft jemand an, der eine Therapieempfehlung aussprechen möchte. Weil Sabine Bosbach weiß, dass die Anrufer es nur gut meinen, möchte sie sie nicht einfach abwürgen. Manchmal klingelt sie dann mit dem Hörer in der Hand an ihrer eigenen Haustür, Besuch sei da, sie müsse leider auflegen. Einmal steht ein fremdes älteres Ehepaar vor der Tür. Die Frau packt ihren Mann am Schlafittchen und hält ihn der erstaunten Frau Bosbach entgegen. »Das ist mein Mann! Sehen sie den? Der müsste schon zwei Jahre tot sein!«, ruft sie. Die Dame möchte Herrn Bosbach ein Vitaminpräparat empfehlen, von dem sie überzeugt ist, dass es ihren Mann geheilt hat. Frau Bosbach bedankt sich für die Mühe, das Präparat hat sie bereits. So wohlmeinend die Menschen auch sind, so sehr belastet es sie, permanent mit der Krankheit ihres Mannes konfrontiert zu werden. Sie merkt, dass die Kinder darunter leiden. Sie will den Fernseher schon nicht mehr anmachen und die Zeitung morgens nicht aufschlagen. Sie will das alles nicht mehr, sagt sie ihrem Mann und bittet ihn um Verständnis.
Doch für Wolfgang Bosbach ist der Gang in die Öffentlichkeit so etwas wie die Flucht nach vorn. So lange er konnte, hat er seine Krankheiten geheim gehalten. Die Herzmuskelerkrankung in seinem ersten Wahlkampf durfte auf keinen Fall herauskommen, deshalb nahm er sich nicht die Zeit, sie auszukurieren. Er fürchtete, die Leute würden sich fragen, ob er im Vollbesitz seiner Kräfte sei, ob er das Pensum wirklich bewältigen könne, ob er sich auch nicht übernehme.3 Auch über die erste Krebsdiagnose spricht er nicht. Er lässt sich in Hamburg operieren, wo er nicht befürchten muss, Menschen zu begegnen, die er kennt. Doch als die Strahlentherapie beginnt, weiß er, dass er in die Offensive gehen muss. Im Wartezimmer in seiner Heimat kennen ihn zwei Drittel der Leute. Dann wird sich schnell herumsprechen, dass Bosbach zum Onkologen muss. Und bevor er für halb tot erklärt wird, sagt er lieber selber, wie es um ihn steht. Allerdings sagt er es eben nicht nur einmal, sondern wiederholt es jedem, der es hören will. Vielleicht ist die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema für ihn auch therapeutisch. Die Reaktionen auf seine Verletzlichkeit, das Mitgefühl und der Zuspruch, rühren ihn. Vielleicht tut es gut, über so schwere Dinge wie den eigenen Tod mit Menschen zu reden, die davon emotional nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit Journalisten kann Bosbach ganz sachlich über seine Unheilbarkeit sprechen und dabei immer wieder sagen, dass er nicht mit Dingen hadert, die er nicht ändern kann. Vielleicht muss er es so oft sagen, weil er hofft, es irgendwann selbst zu glauben.
Ich bin mit Wolfgang Bosbach auf der Lieblingsinsel der Deutschen verabredet, um über das zu sprechen, was ihm wichtig ist. Eigene Memoiren hat er nie schreiben wollen, weil er sich nicht wichtiger nehme, als er ist, sagt er. Das spare der Partei außerdem viel Geld, denn dann müsste sie seine Bücher nicht kaufen, um sie bei Jubilarenehrungen zu verschenken.4 Doch meinen Vorschlag, über ihn zu schreiben, nimmt er an. Wolfgang Bosbach, muss man wissen, kann nicht Nein sagen. Wir kennen einander, weil ich mich als Redakteurin der Bild am Sonntag immer mal wieder an ihn wandte. Brauchte man am Samstagabend noch eine Einschätzung oder ein Zitat zu einem innenpolitischen Thema, war Bosbach stets eine sichere Bank: immer zu erreichen, unkompliziert, seine Worte präzise, sachdienlich und wenn nötig zugespitzt. Mit dieser extrem seltenen Kombination ist Bosbach für jeden politischen Journalisten sein Gewicht in Gold wert. Auf Mallorca macht er mit seiner 21-jährigen Tochter Natalie vier Tage Urlaub. Anlass ist die jährliche Reise seiner Fußballfreunde, der Sponsoren des SV Bergisch Gladbach, dessen Präsident Bosbach lange war. Die alljährliche Zusammenkunft möchte er nicht verpassen, allerdings wohnen die beiden nicht bei der Reisegruppe, sondern in einem Hotel in Sa Coma, etwa hundert Meter vom Strand entfernt. Im Pool inmitten des parkähnlichen Gartens tummeln sich vorwiegend deutsche Rentner. Bosbach hat Halbpension gebucht: Das Buffet sei gut. Er hat dieses Hotel gewählt, weil gleich gegenüber eine Tennisakademie liegt, in der er täglich trainiert. Die Tochter des Besitzers war mal auf der Weltrangliste platziert. Bosbach spielt mit ihrem Bruder, der sei auch nicht schlecht. »Tagsüber schnarch und Sport, abends können wir reden«, hatte Bosbach mir geschrieben, aber weil es ein kühler Tag ist, hat er nun doch schon am Vormittag Zeit. »In fünf Minuten?«, frage ich per SMS. »Sitze schon und warte. Kenne ich vom Schuhkauf mit meinen Damen«, antwortet Bosbach.
Die Hotellobby ist leer, eine Traumschiffversion von Moonlight Shadow läuft nicht leise genug. Bosbach sitzt hinten am Fenster zum Garten auf einem rosa Sofa. Er trägt ein modisch gebleichtes, gestreiftes Jeanshemd, eine helle Hose, weiße Turnschuhe und ist braun gebrannt wie immer. Er sieht fit aus. Einen Kaffee möchte er nicht. »Ich muss morgens immer so viel laufen«, sagt er und meint: auf das Klo, deshalb versuche er, möglichst wenig zu trinken. Jeden Morgen muss er Entwässerungstabletten nehmen. »Dann laufe ich eigentlich alle zwanzig Minuten.« Mühsam sei das bei morgendlichen Sitzungen. Da habe er schon mal versucht, die Tabletten erst später zu nehmen, aber das wurde irgendwann zu verlockend, er verlor den Überblick, ob er sie an diesem Tag bereits eingenommen hatte oder nicht. »Also zwinge ich mich jetzt dazu, sie immer gleich morgens zu nehmen.« Wirklich störend sei das im Flieger, wenn er zum dritten Mal in einer Stunde über den Nachbarn hinweg zum Gang klettern müsse. »Aber am Kölner Flughafen wissen die schon, wenn ich morgens komme, dass ich einen Gangplatz brauche.« Bosbach lacht: Sonst könne er mit den Nebenwirkungen seiner Medikamente ganz gut leben. Nur furchtbar müde mache ihn die Hormonentzugstherapie, sagt er. Seine langen Tage wirken auf mich nicht wie die eines müden Mannes. »Gegen die Müdigkeit muss ich immer auf den Beinen bleiben«, sagt er. »Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich sofort ein.« Eines müsse er aber sagen, wechselt er plötzlich das Thema und zeigt auf meine rosa Strickjacke: »Ihr Pullover passt prima zum Sofa.«
Bosbach spricht das Rheinisch seiner Heimat Bergisch Gladbach, verschluckt keine Silbe; er spricht es strukturiert und druckreif. Keine Füllwörter, kein Ähs und Öhs. Er betont oft den zweiten Vokal und spricht die Konsonanten scharf aus, deutliches R, sodass seine Sprache einen Rhythmus hat, dem man gerne zuhört. Jedenfalls scheint das eine ältere Dame im bunten Sommerkleid so zu empfinden, die sich vor Bosbach aufgebaut hat.
»Jetzt ist mir alles klar. Ich kenne Ihre Stimme«, sagt sie.
»Entschuldigung, habe ich Sie gestört?«, fragt Bosbach.
»Nein, das ist doch unser toller Politiker von der CDU. Wie war noch der Name?« Die Dame wendet sich zu ihrem Mann, der einige Meter hinter ihr stehen geblieben ist und offensichtlich gerne ganz anderswo wäre.
»Jetzt machen Sie es bitte nicht wie ein Herr neulich in der Bäckerei, der sagte mir: Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, schön, dass Sie mal hier waren, Herr Dr. Wiefelspütz. Mein Name ist Bosbach.« Wiefelspütz ist ein Parlamentskollege von der SPD.
»Ich dachte erst, Sie seien unser Zahnarzt. Aber Ihre Stimme verrät sie. Ihr Aussehen nicht so.« Sie holt aus zu einem Bericht über ihre Anreise, ihre Urlaubsgewohnheiten im Allgemeinen und ihre diesjährigen Erlebnisse im Besonderen. Ihrem Mann ist vor einigen Tagen die Brieftasche gestohlen worden. Bosbach hört nicht unbedingt geduldig, aber aufmerksam zu und bietet seine Hilfe bei den Behördengängen an. »Obwohl ja 'ne gestohlene Kreditkarte noch immer billiger ist, als wenn die Frau damit einkaufen geht«, schiebt er hinterher. Jetzt kommt Tochter Natalie durch die Lobby. Ihr ist es im Zimmer zu kalt, die Heizung lässt sich nicht hochdrehen, sondern richtet sich nach der Außentemperatur. »Dann leg ein paar Eiswürfel aufs Thermostat. Tschö, mein Schatz!« Bosbach, so scheint es, hat auf alles eine schnelle Antwort. Ich möchte von ihm wissen, wie es sich für ihn angefühlt hat, als er mal sprachlos war. Es geht um das Thema, das seine Bekanntheit mehr noch als seine Krankheit bundesweit gesteigert hat: seine Ablehnung der Regierungslinie in der Euro-Rettungsfrage. Um seine Wandlung vom Parteisoldaten zum Rebellen, als der er sich nicht sieht. Auch jetzt, eineinhalb Jahre später, ist er noch etwas ungläubig beim Gedanken an die Geschehnisse jenes 26. September 2011. Damals ist er tatsächlich sprachlos gewesen, und das überrascht niemanden mehr als ihn selbst.
Er denkt, der Kampf um seine ablehnende Haltung gegenüber der Erweiterung der EFSF, euphemistisch auch Euro-Rettungsschirm genannt, sei ausgefochten. Deshalb geht er ganz entspannt zum Treffen der NRW-Landesgruppe der CDU-Bundestagsfraktion. Er hat ohnehin anderes im Kopf. Kurz zuvor hat er von der Unheilbarkeit seiner Krankheit erfahren, was ihm eine neue Distanz zum politischen Geschäft geschaffen hat. Dennoch: Es ist ein wichtiges Treffen, denn es geht darum, die Regierungsmehrheit für die anstehende EFSF-Erweiterung zu sichern. So wichtig, dass selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in die Landesvertretung Nordrhein-Westfalens an der Berliner Hiroshimastraße gekommen sind. Doch die inhaltliche Diskussion ist bereits geführt und die Mehrheit der Partei auf der Linie der Kanzlerin, die sich unter »Euro-Rettung um jeden Preis« zusammenfassen lässt. Die Sache ist durch, denkt Bosbach. Doch der Abend soll ein Wendepunkt in seiner 39-jährigen politischen Karriere werden.
Er ist nicht auf Linie, das ist in seiner Partei bekannt, das ist sein Kampf. Er hatte dem ersten Rettungspaket für Griechenland, dem Währungsunionfinanzstabilitätsgesetz, ein Jahr zuvor noch zugestimmt. Damals stand Griechenland vor der Staatspleite, man befürchtete eine »Ansteckungsgefahr« für andere Krisenländer. Die Spekulanten, die auf eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands gewettet hatten, würden sich das nächste Land vornehmen, so die Argumentation. In der Folge könnte die Währungsunion zerbrechen. Der Bundestag beschloss das Gesetz, mit dem die Regierung ermächtigt wurde, einen Kredit an Griechenland von bis zu 22,4 Milliarden zu garantieren, mit deutlicher Mehrheit. In der Koalition gab es fünf Abweichler, Bosbach war nicht darunter. Er stimmte zu. Kurz darauf wurde die EFSF als ein provisorischer Stabilisierungsmechanismus gegründet, Deutschland haftete mit 123 Milliarden Euro. Eine einmalige Maßnahme sollte das sein. Doch nur ein Jahr später ist die Lage nicht etwa besser, sondern weitere Staaten brauchen Hilfe: Portugal, Irland, Spanien, Italien. Nun soll nicht nur die deutsche Bürgschaft auf mindestens 211 Milliarden steigen. Die EFSF soll außerdem ermächtigt werden, Darlehen an Regierungen zur Kapitalisierung von Banken zu vergeben und Anleihen von Krisenländern aufzukaufen. Eine einmalige, befristete Aktion droht vielfältig und dauerhaft zu werden. Bosbach hält das für falsch. Er ist dagegen.
© 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München
Schlechte Nachrichten eilen sich selbst voraus. »Wollen Sie sich nicht erst einmal setzen?«, fragt der Professor, als Wolfgang Bosbach erfahren soll, ob er leben oder sterben wird. Unter dem großen Fenster liegt die ehemalige Bundeshauptstadt in rot-gelben Herbstfarben seltsam ruhig da. Nein, eigentlich will er sich nicht setzen, weil er es jetzt schon weiß: Der Krebs hat gestreut und ist unheilbar. So sagt es auch der Professor im September 2011: »unheilbar«, und zeigt auf ein bunt gesprenkeltes Bild seines Skeletts. »Wie lange habe ich noch?«, fragt Bosbach. Nach der gelungenen Prostataoperation 2010 war von 23 Jahren die Rede gewesen. An diese Zahl hatte er sich in all ihrer Unbarmherzigkeit ein bisschen gewöhnt. 23 Jahre, dann wäre er 81, würde vielleicht noch Enkelkinder groß werden sehen. Mit 81 Jahren kann man auch mal sterben, denkt er, auch wenn seine Eltern schon älter und noch sehr fit sind. Nach der OP war der Arzt optimistisch. Der Tumor hatte die Prostatakapsel nicht gesprengt, es wurde nervenschonend operiert, ein besseres Ergebnis hätte man sich nicht wünschen können, hieß es. Bosbach hatte sich gefreut. Doch der PSA- Wert, diese gnadenlose Messzahl des Prostatakrebses, hält sich nicht an die Prognose. Er bleibt nicht auf null, sondern steigt von Monat zu Monat, von Untersuchung zu Untersuchung wieder an. Vor Weihnachten beginnt Bosbach eine Strahlentherapie, während der nächsten zwei Monate geht er fünfmal die Woche hin. Danach ist er erschöpft. Er legt sich die Behandlungen möglichst immer auf den frühen Morgen, damit er am Abend wieder Veranstaltungen im Wahlkreis besuchen kann. Das klappt ganz gut, keine weiteren Nebenwirkungen. Leider auch sonst keine Wirkung, denkt sich Bosbach, als der PSA-Wert weiter ansteigt. Für die Bestrahlung hätten die Ärzte auch eine normale Taschenlampe nehmen können, der Effekt wäre der gleiche gewesen.
Über zwei Stunden dauert heute die Prozedur. Zunächst wird ihm atomar aufgeladener Zucker gespritzt, dann muss er still in einer Röhre liegen für das PET-CT, das Bildgebungsverfahren, das mit Röntgenstrahlen die Tumorzellen im Körper finden soll. Er durfte vorher nicht essen, der Magen knurrt. Die genauere Diagnose durch eine Magnetresonanztherapie kommt für ihn nicht infrage wegen des Herzschrittmachers, den Bosbach seit sieben Jahren trägt. Seine Herzmuskelschwäche ist die Folge einer verschleppten Grippe aus seinem ersten Bundestagswahlkampf zehn Jahre zuvor. Damals wollte er seine Fahrradtour durch den ganzen Wahlkreis nicht abbrechen, um sich auszukurieren. Wie hätte es denn ausgesehen, wenn der Kandidat schlapp macht, bevor er überhaupt gewählt ist? Die Medikamente für das Herz vertrug er nicht gut, sie machten ihn schlapp, irgendwann hörte er auf, sie zu nehmen, bis die Herzleistung im Frühjahr 2004 nur noch 19 Prozent betrug und er die Treppen zu seinem Haus nicht mehr ohne Pause hochkam. Er flog trotzdem zur Sitzungswoche nach Berlin, wo ihm der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer einen Arzt an der Berliner Charité vermittelte, der ihm gleich einen Herzschrittmacher und einen Defibrillator gegen den plötzlichen Herzstillstand einsetzte. Das Herz blieb nicht stehen, doch der Defibrillator rettete ihm trotzdem das Leben, weil nach einer Operation, bei der seine Batterien ausgetauscht wurden, der erhöhte PSA-Wert auffiel. Das müsse nichts Schlimmes sein, aber er solle mal zum Urologen gehen,
hieß es. Dort war Bosbach noch nie, er habe immer gedacht, der Urologe mache was mit Zeitmessung, scherzte er damals. Auch zur Vorsorge war er bis dahin nie gegangen, ihm habe ja nichts gefehlt.
Wenn er rechtzeitig erkannt wird, sind die Heilungschancen bei Prostatakrebs gut. Doch Bosbach hat auf einer Skala von sechs bis zehn schon einen sogenannten Gleason-Score von sieben, dunkelgelb oder hellorange, je nach Ansicht. Bosbach entscheidet sich für dunkelgelb. Weil am 9. Mai in Nordrhein-Westfalen gewählt wird, legt er den OP-Termin auf den 11. Mai. Bis dahin sind es zwar noch acht Wochen, aber die sind durchgetaktet mit Wahlkampfterminen. Dann die Hoffnung nach der OP. Und jetzt die Metastasen, die Bosbach vorkommen wie ein Raubtier im eigenen Körper. Der unbekannte Feind leuchtet ihm vom Bild seines Körpers entgegen, besonders bunt sind Becken und Wirbelsäule. Bosbach bringt die gnadenlose Aufnahme zu seinem Onkologen wie ein Schüler seinen Eltern ein miserables Zeugnis. Ich weiß, es ist schlecht, nur wie schlecht ist es? Um Heilung könne es jetzt nicht mehr gehen, sagt der Arzt, sondern um Lebensverlängerung und Lebensqualität. Und was ist mit den 23 Jahren? »Die müssen wir jetzt schon deutlich nach unten reduzieren «, sagt der Arzt und wirkt dabei so niedergeschlagen, dass Bosbach kurz überlegt, ob er ihn nicht trösten soll. »Können Sie das präzisieren?«, fragt Bosbach. Nein, das kann er nicht. Es könne ja in ein paar Jahren auch neue Therapieformen oder Medikamente geben. Wie zu sich selbst sagt der Onkologe dann, man dürfe den Kopf jetzt nicht hängen lassen.
Er gibt eine Anleitung zum Leben-nicht-unnötig-Verkürzen, das Übliche: nicht rauchen, wenig trinken, viel Sport. »Da rennen Sie bei mir mit Anlauf offene Türen ein«, sagt Bosbach. Er hat nie geraucht, kaum Alkohol getrunken, immer viel Sport gemacht, und als er das erzählt, klingt er fast trotzig, so als müsse der Krebs sich in ihm geirrt haben. »Sonst noch etwas?« fragt er.
»Nein«, sagt der Mediziner, »machen Sie einfach die Dinge, die Ihnen Spaß machen.« Und da ist Bosbach dann doch ein wenig erleichtert. Denn die Dinge, die ihm Spaß machen, das sind seine 16-Stunden-Tage als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, die rund 400 jährlichen Redeveranstaltungen im ganzen Land, seine Arbeit in der Kanzlei, die Wochenendtermine im Wahlkreis. Dass der Onkologe mit seiner Empfehlung zu einem gleichmäßigen Lebensrhythmus vielleicht etwas anderes meint als das ständige Pendeln zwischen Bergisch Gladbach und Berlin, die vielen tausend Kilometer auf Deutschlands Straßen, die langen Nächte und frühen Morgen zwischen Bundestag, Partei, Kanzlei, Interviews, Fernsehauftritten und Wahlkreis, das ist erst einmal zweitrangig. Für Bosbach ergibt sich zwischen diesen Fluchtpunkten der Rhythmus seines Lebens - gleichmäßig in seiner Ungleichmäßigkeit.
Der Arzt schlägt eine medikamentöse Hormonentzugstherapie vor, wie sie bei geringer Lebenserwartung häufig empfohlen wird. Sie kann nicht heilen, aber durch den Entzug von Testosteron soll die Ausbreitung der Tumorzellen verlangsamt oder eingedämmt werden. Drei bis vier Jahre könne die Therapie wirken, sagt er, dann passe sich der Krebs dem Hormonentzug an und wachse weiter. Zu den Nebenwirkungen würden Antriebsschwäche, Hitzewallungen, Osteoporose, Verlust der Libido und der Potenz, Zunahme des Körperfetts sowie Blutarmut zählen. Alles, was Bosbach hört, ist: »drei bis vier Jahre«. Das ist die wichtigste Aussage für ihn wegen der Kandidatur für den nächsten Bundestag. In diesem Moment weiß er: Er wird weitermachen wie bisher. Jetzt erst recht. Bundespolitik mit ganzer Kraft. Vollgas.
Wolfgang Bosbach hat für seinen offenen Umgang mit seiner Krebserkrankung viel Anerkennung erfahren. Nicht nur weil dieser Umgang gerade in der Politik ungewöhnlich ist, wo Krankheit als Tabu gilt, weil man Schwäche jeglicher Art tunlichst für sich behält. Er hat vor allem Respekt für die Haltung geerntet, mit der er seine Diagnose akzeptiert hat und nun mit ihr lebt. Damit löst er bei seinen Mitmenschen die Frage nach deren eigenem Umgang mit der Sterblichkeit aus: Wie würden wir unser Leben ändern, wenn wir wüssten, dass uns nur noch wenig davon bleibt (und den meisten von uns bleibt ja zu wenig)? Die Frage testet unsere eigenen Prioritäten, unser Menschenbild und die Treue zu unseren Träumen. Sie hinterfragt, ob wir das Leben führen, das wir führen wollen. Würden wir alles ändern? Oder nichts, wie Bosbach? Bedeutet seine Antwort, dass er das gute Leben für sich gefunden hat, oder ist seine Produktivität nur die Sublimierung seiner Todesangst? Ist er ein Meister des Akzeptierens oder des Verdrängens? Setzt er sein Leben aufs Spiel für die »Wichtigkeitsdroge öffentliche Aufmerksamkeit«, wie Jürgen Leinemann es vielen Spitzenpolitikern attestiert hat, oder arbeitet er einfach aus Leidenschaft, die ja per se maßlos ist? Ist es überhaupt möglich, nach fast zwei Jahrzehnten im Deutschen Bundestag und als zentrale Figur seiner Partei, als stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender und Vorsitzender des Innenausschusses, nicht süchtig nach der »Droge Macht« zu werden? Und wie bitter ist dann für ihn die Niederlage, als ihm der erhoffte Schritt in die erste Reihe, ins Ministeramt verwehrt bleibt?
Wolfgang Bosbach, mehr Fach- als Machtpolitiker, hat eine Schwäche für Zahlen, Daten und Fakten. Vor politischen Entscheidungsprozessen legt er Wert auf das, was er als Jurist die »Verständigung über die Sachlage« nennt. »Zahlen, Daten, Fakten «, ruft er seiner Mitarbeiterin zu, wenn er inhaltliche Ausarbeitungen braucht. Die paukt er dann, bis sie sitzen. Auch Bosbach selbst, Einzelhandelskaufmann, Karnevalsprinz, staatlich geprüfter Betriebswirt, Volljurist, Rechtsanwalt, Karnevalspräsident, kann man malen mit Zahlen: 61 Jahre alt, seit 25 Jahren verheiratet, drei Töchter, seit 41 Jahren CDU-Mitglied, seit 20 Jahren Parlamentarier, dreimal gegen die eigene Fraktion gestimmt, zuletzt gegen die Ausweitung des sogenannten Euro- Rettungsschirms. Im 17. Deutschen Bundestag einer von 620 Abgeordneten, der 52. im alphabetischen Verzeichnis, einer von 22 Ausschussvorsitzenden. Seriensieger mit Rekordergebnissen, 2013 mit sagenhaften 58,5 Prozent wiedergewählt. Jährlich Tausende von Einladungen, 200 Hotelübernachtungen, 30000 Kilometer im eigenen Auto, zeitweilig 14 Punkte in Flensburg (vier werden ihm nach einem »Aufbauseminar für verhaltensauffällige Kraftfahrer« erlassen). Unzählige Interviews, 85 Fernsehauftritte in ARD und ZDF im Jahr 2012, nur drei andere Politiker waren dort häufiger zu sehen als er.1 Wöchentlich durchschnittlich 200 Zuschriften, fast 10 000 beantwortet er jährlich individuell. Drei Tore für den FC Bundestag im linken Mittelfeld. 42 Prozent Herzleistung, vierteljährliche Krebskontrolle, null Skandale.
So weit Bosbach in Zahlen. Man kann aber auch versuchen, die Punkte entlang dieser Zahlen zu verbinden, um den Menschen Bosbach zu umreißen. Seine Karriere vom Realschulabsolventen und Supermarktleiter im beschaulichen Bergisch Gladbach zum Rechtsanwalt in der bundesdeutschen Spitzenpolitik ist erstaunlich, seine Ablehnung der erweiterten Euro- Rettungsmaßnahmen, der European Financial Stability Facility (EFSF), im September 2011 gegen seine Fraktion nach seinen vielen Jahren als braver Parteisoldat nicht minder. Seine Sprache ist erfrischend direkt, seine Werte sind erfrischend untrendy, seine Schlagfertigkeit und sein Witz oft genial. Allein deshalb lohnt es sich, ihn kennenzulernen. Natürlich passt ein Leben nicht in ein Buch und das Leben von Wolfgang Bosbach schon gar nicht. Aber ein Versuch lohnt sich trotzdem, denn sein Leben veranschaulicht nicht nur die vergangenen 20 Jahre der deutschen Politik, die er teilweise entscheidend mitgeprägt hat, sondern auch deren Machtgesetze. Sein außergewöhnlicher Aufstieg ist der eines klassisch Konservativen, der mit Fleiß, Unabhängigkeit und Humor zu einem der bekanntesten und beliebtesten Spitzenpolitiker ohne Spitzenamt wird. Durchaus zu Populismus fähig lehnt er doch den zeitgeistigen Pragmatismus seiner Partei ab. Was lehrt seine Karriere über den politischen Betrieb, den Zustand der CDU und insbesondere das System Angela Merkels? Sind Unabhängigkeit und das Bestehen auf unveränderlichen Grundwerten für eine Karriere in diesem System vielleicht primär hinderlich? Wenn der Konservative in der CDU schon nicht mehr geschätzt wird, wird er dann in Deutschland überhaupt noch gebraucht? Und was sagt unsere Faszination an einem öffentlich Todkranken, an seiner Mischung aus Schwäche und Stärke, aus Angst und Mut, über uns selbst aus? Beobachten wir Kranke neugierig in den Medien, in den zig Arztfernsehserien, weil wir selbst so gerne gesund sind, so schrecklich gerne überleben, wie es Ines Kappert in der Tageszeitung formulierte?2
Auf all diese Fragen habe ich Antworten gesucht in den vielen Monaten, in denen ich Wolfgang Bosbach auf Veranstaltungen und Reisen, im Wahlkampf und in seinem Alltag in Berlin begleitete. Ich habe über seine Schlagfertigkeit gelacht, mich über seine Widersprüchlichkeit gewundert und am häufigsten über ihn gestaunt. Er hat mir erzählt, wie die Politiker die Wähler für dumm verkaufen, wie unverhältnismäßig Einsatz und Ertrag in seinem Geschäft sind und wie er einmal am Wahlabend geweint hat. Wir haben gesprochen über seinen Kampf zwischen Körper und Geist, den hohen Preis seines Wirkens, und wie das Leben trotz aller Widrigkeiten Sinn machen kann. Er hat mir erklärt, wie man am besten auf einen ausfälligen Kanzleramtsminister reagiert, was die Logik eines links gedrehten Supermarktumlaufes ist und das Geheimnis einer glücklichen Ehe und warum der Karneval sich nach dem Mond richtet so wie Ebbe und Flut.
Bosbachs verhinderte Topkarriere ist symptomatisch für das inhaltliche Vakuum, das Angela Merkel in der Partei geschaffen hat, die nun allein auf sie zugeschnitten ist. Die teilweise sehr öffentliche Geringschätzung seiner Positionen sollte jeden Demokraten beunruhigen, weil konservative und unabhängig wirkende und kommunizierende Politiker in Deutschland dringend gebraucht werden. Nicht nur im Sinne der für die Gesundheit unseres politischen Systems unerlässlichen Meinungsvielfalt, sondern auch weil unabänderliche konservative Werte in unserer Gesellschaft nicht ausgedient haben. Auf einer persönlicheren Ebene lehren Leben und Laufbahn Bosbachs vor allem eines: Wenn man versucht, jede Entscheidung und jede Handlung für sich zu betrachten und um ihrer selbst willen zu vollziehen, ist das Leben sowohl im Erfolg wie auch im Misserfolg besser erträglich. Es geht dabei nicht darum, sich zu finden, sondern sich in dem zu verlieren, an das man glaubt.
Wolfgang Bosbachs Geschichte ist relevant und spannend, weil sie aus demselben Stoff gestrickt ist wie alle großen Geschichten: aus Leidenschaft und Macht, aus Sieg und Niederlage, aus Liebe und Verlust.
AUFSTAND MIT ANSAGE
Weil er mit Hiobsbotschaften keine Zeit verschwendet, fasst Wolfgang Bosbach sich kurz. In einem Satz sagt er seinen drei Töchtern Caroline, Natalie und Viktoria, dass er todkrank ist. So sei es, so gehe es jetzt weiter, und mehr gebe es dazu bis zu einem neuen Befund nicht zu sagen. »Und jetzt nicht den Papa mit traurigen Augen anschauen, armer Papa, das will ich nicht, da kriege ich die Krise.« Danach möchte er zu Hause nicht mehr über den Krebs sprechen. Auch wenn man sich auf eine solch niederschmetternde Diagnose nicht vorbereiten kann, hat Wolfgang Bosbach sie doch in den vergangenen Monaten angesichts des steigenden PSA-Wertes zumindest in Betracht ziehen können. Für seine Töchter hingegen sitzt der Schock tief. Dennoch akzeptieren sie, dass ihr Vater mit ihnen darüber nicht mehr reden will. Nur dass er es andererseits so bereitwillig in der Öffentlichkeit tut, das ist schwierig für die Familie. Mit dem Stern spricht er wenig später über die Angst vor dem Tod (»Keine, wenn der kommt, bin ich ja weg«), über Inkontinenz und Erektionsstörungen (»Damit hatte ich nur ein paar Tage zu tun, dann war das Thema durch«). Dem Spiegel erzählt er, dass er gerne zu Hause sterben würde (»Ich möchte meinen Lieben dann alles sagen können, was für mich noch wichtig ist und was ich ihnen schon immer sagen wollte«) und wie er sich sein Begräbnis vorstellt (»Nicht nur Kirchenlieder und keine langen Reden, die Leute wollen was zu essen haben«). In Bild lässt er sich lachend mit seinem ebenfalls krebskranken Freund, dem Bestatter Fritz Roth, ablichten (»Wir haben beide Krebs! Wir lachen trotzdem!«), und Bunte erzählt er, dass er mit Gott gehadert habe (»mit dem Krebs nicht«). Er spricht in Talkshows über Krebs, über Vorsorge, über den Tod und über seinen christlichen Glauben an ein Leben danach.
Als seine Frau Sabine eines Morgens in der Zeitung lesen muss, dass ihr Mann »dem Tod ins Auge sieht«, platzt ihr der Kragen. Ob denn das alles sein müsse? Irgendwann würden die Leute sagen: Der Bosbach, ist der immer noch nicht tot? Von Freunden und Bekannten genauso wie von Wildfremden werden sie und die Töchter unentwegt auf die Krankheit ihres Mannes angesprochen. Ständig ruft jemand an, der eine Therapieempfehlung aussprechen möchte. Weil Sabine Bosbach weiß, dass die Anrufer es nur gut meinen, möchte sie sie nicht einfach abwürgen. Manchmal klingelt sie dann mit dem Hörer in der Hand an ihrer eigenen Haustür, Besuch sei da, sie müsse leider auflegen. Einmal steht ein fremdes älteres Ehepaar vor der Tür. Die Frau packt ihren Mann am Schlafittchen und hält ihn der erstaunten Frau Bosbach entgegen. »Das ist mein Mann! Sehen sie den? Der müsste schon zwei Jahre tot sein!«, ruft sie. Die Dame möchte Herrn Bosbach ein Vitaminpräparat empfehlen, von dem sie überzeugt ist, dass es ihren Mann geheilt hat. Frau Bosbach bedankt sich für die Mühe, das Präparat hat sie bereits. So wohlmeinend die Menschen auch sind, so sehr belastet es sie, permanent mit der Krankheit ihres Mannes konfrontiert zu werden. Sie merkt, dass die Kinder darunter leiden. Sie will den Fernseher schon nicht mehr anmachen und die Zeitung morgens nicht aufschlagen. Sie will das alles nicht mehr, sagt sie ihrem Mann und bittet ihn um Verständnis.
Doch für Wolfgang Bosbach ist der Gang in die Öffentlichkeit so etwas wie die Flucht nach vorn. So lange er konnte, hat er seine Krankheiten geheim gehalten. Die Herzmuskelerkrankung in seinem ersten Wahlkampf durfte auf keinen Fall herauskommen, deshalb nahm er sich nicht die Zeit, sie auszukurieren. Er fürchtete, die Leute würden sich fragen, ob er im Vollbesitz seiner Kräfte sei, ob er das Pensum wirklich bewältigen könne, ob er sich auch nicht übernehme.3 Auch über die erste Krebsdiagnose spricht er nicht. Er lässt sich in Hamburg operieren, wo er nicht befürchten muss, Menschen zu begegnen, die er kennt. Doch als die Strahlentherapie beginnt, weiß er, dass er in die Offensive gehen muss. Im Wartezimmer in seiner Heimat kennen ihn zwei Drittel der Leute. Dann wird sich schnell herumsprechen, dass Bosbach zum Onkologen muss. Und bevor er für halb tot erklärt wird, sagt er lieber selber, wie es um ihn steht. Allerdings sagt er es eben nicht nur einmal, sondern wiederholt es jedem, der es hören will. Vielleicht ist die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema für ihn auch therapeutisch. Die Reaktionen auf seine Verletzlichkeit, das Mitgefühl und der Zuspruch, rühren ihn. Vielleicht tut es gut, über so schwere Dinge wie den eigenen Tod mit Menschen zu reden, die davon emotional nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit Journalisten kann Bosbach ganz sachlich über seine Unheilbarkeit sprechen und dabei immer wieder sagen, dass er nicht mit Dingen hadert, die er nicht ändern kann. Vielleicht muss er es so oft sagen, weil er hofft, es irgendwann selbst zu glauben.
Ich bin mit Wolfgang Bosbach auf der Lieblingsinsel der Deutschen verabredet, um über das zu sprechen, was ihm wichtig ist. Eigene Memoiren hat er nie schreiben wollen, weil er sich nicht wichtiger nehme, als er ist, sagt er. Das spare der Partei außerdem viel Geld, denn dann müsste sie seine Bücher nicht kaufen, um sie bei Jubilarenehrungen zu verschenken.4 Doch meinen Vorschlag, über ihn zu schreiben, nimmt er an. Wolfgang Bosbach, muss man wissen, kann nicht Nein sagen. Wir kennen einander, weil ich mich als Redakteurin der Bild am Sonntag immer mal wieder an ihn wandte. Brauchte man am Samstagabend noch eine Einschätzung oder ein Zitat zu einem innenpolitischen Thema, war Bosbach stets eine sichere Bank: immer zu erreichen, unkompliziert, seine Worte präzise, sachdienlich und wenn nötig zugespitzt. Mit dieser extrem seltenen Kombination ist Bosbach für jeden politischen Journalisten sein Gewicht in Gold wert. Auf Mallorca macht er mit seiner 21-jährigen Tochter Natalie vier Tage Urlaub. Anlass ist die jährliche Reise seiner Fußballfreunde, der Sponsoren des SV Bergisch Gladbach, dessen Präsident Bosbach lange war. Die alljährliche Zusammenkunft möchte er nicht verpassen, allerdings wohnen die beiden nicht bei der Reisegruppe, sondern in einem Hotel in Sa Coma, etwa hundert Meter vom Strand entfernt. Im Pool inmitten des parkähnlichen Gartens tummeln sich vorwiegend deutsche Rentner. Bosbach hat Halbpension gebucht: Das Buffet sei gut. Er hat dieses Hotel gewählt, weil gleich gegenüber eine Tennisakademie liegt, in der er täglich trainiert. Die Tochter des Besitzers war mal auf der Weltrangliste platziert. Bosbach spielt mit ihrem Bruder, der sei auch nicht schlecht. »Tagsüber schnarch und Sport, abends können wir reden«, hatte Bosbach mir geschrieben, aber weil es ein kühler Tag ist, hat er nun doch schon am Vormittag Zeit. »In fünf Minuten?«, frage ich per SMS. »Sitze schon und warte. Kenne ich vom Schuhkauf mit meinen Damen«, antwortet Bosbach.
Die Hotellobby ist leer, eine Traumschiffversion von Moonlight Shadow läuft nicht leise genug. Bosbach sitzt hinten am Fenster zum Garten auf einem rosa Sofa. Er trägt ein modisch gebleichtes, gestreiftes Jeanshemd, eine helle Hose, weiße Turnschuhe und ist braun gebrannt wie immer. Er sieht fit aus. Einen Kaffee möchte er nicht. »Ich muss morgens immer so viel laufen«, sagt er und meint: auf das Klo, deshalb versuche er, möglichst wenig zu trinken. Jeden Morgen muss er Entwässerungstabletten nehmen. »Dann laufe ich eigentlich alle zwanzig Minuten.« Mühsam sei das bei morgendlichen Sitzungen. Da habe er schon mal versucht, die Tabletten erst später zu nehmen, aber das wurde irgendwann zu verlockend, er verlor den Überblick, ob er sie an diesem Tag bereits eingenommen hatte oder nicht. »Also zwinge ich mich jetzt dazu, sie immer gleich morgens zu nehmen.« Wirklich störend sei das im Flieger, wenn er zum dritten Mal in einer Stunde über den Nachbarn hinweg zum Gang klettern müsse. »Aber am Kölner Flughafen wissen die schon, wenn ich morgens komme, dass ich einen Gangplatz brauche.« Bosbach lacht: Sonst könne er mit den Nebenwirkungen seiner Medikamente ganz gut leben. Nur furchtbar müde mache ihn die Hormonentzugstherapie, sagt er. Seine langen Tage wirken auf mich nicht wie die eines müden Mannes. »Gegen die Müdigkeit muss ich immer auf den Beinen bleiben«, sagt er. »Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich sofort ein.« Eines müsse er aber sagen, wechselt er plötzlich das Thema und zeigt auf meine rosa Strickjacke: »Ihr Pullover passt prima zum Sofa.«
Bosbach spricht das Rheinisch seiner Heimat Bergisch Gladbach, verschluckt keine Silbe; er spricht es strukturiert und druckreif. Keine Füllwörter, kein Ähs und Öhs. Er betont oft den zweiten Vokal und spricht die Konsonanten scharf aus, deutliches R, sodass seine Sprache einen Rhythmus hat, dem man gerne zuhört. Jedenfalls scheint das eine ältere Dame im bunten Sommerkleid so zu empfinden, die sich vor Bosbach aufgebaut hat.
»Jetzt ist mir alles klar. Ich kenne Ihre Stimme«, sagt sie.
»Entschuldigung, habe ich Sie gestört?«, fragt Bosbach.
»Nein, das ist doch unser toller Politiker von der CDU. Wie war noch der Name?« Die Dame wendet sich zu ihrem Mann, der einige Meter hinter ihr stehen geblieben ist und offensichtlich gerne ganz anderswo wäre.
»Jetzt machen Sie es bitte nicht wie ein Herr neulich in der Bäckerei, der sagte mir: Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, schön, dass Sie mal hier waren, Herr Dr. Wiefelspütz. Mein Name ist Bosbach.« Wiefelspütz ist ein Parlamentskollege von der SPD.
»Ich dachte erst, Sie seien unser Zahnarzt. Aber Ihre Stimme verrät sie. Ihr Aussehen nicht so.« Sie holt aus zu einem Bericht über ihre Anreise, ihre Urlaubsgewohnheiten im Allgemeinen und ihre diesjährigen Erlebnisse im Besonderen. Ihrem Mann ist vor einigen Tagen die Brieftasche gestohlen worden. Bosbach hört nicht unbedingt geduldig, aber aufmerksam zu und bietet seine Hilfe bei den Behördengängen an. »Obwohl ja 'ne gestohlene Kreditkarte noch immer billiger ist, als wenn die Frau damit einkaufen geht«, schiebt er hinterher. Jetzt kommt Tochter Natalie durch die Lobby. Ihr ist es im Zimmer zu kalt, die Heizung lässt sich nicht hochdrehen, sondern richtet sich nach der Außentemperatur. »Dann leg ein paar Eiswürfel aufs Thermostat. Tschö, mein Schatz!« Bosbach, so scheint es, hat auf alles eine schnelle Antwort. Ich möchte von ihm wissen, wie es sich für ihn angefühlt hat, als er mal sprachlos war. Es geht um das Thema, das seine Bekanntheit mehr noch als seine Krankheit bundesweit gesteigert hat: seine Ablehnung der Regierungslinie in der Euro-Rettungsfrage. Um seine Wandlung vom Parteisoldaten zum Rebellen, als der er sich nicht sieht. Auch jetzt, eineinhalb Jahre später, ist er noch etwas ungläubig beim Gedanken an die Geschehnisse jenes 26. September 2011. Damals ist er tatsächlich sprachlos gewesen, und das überrascht niemanden mehr als ihn selbst.
Er denkt, der Kampf um seine ablehnende Haltung gegenüber der Erweiterung der EFSF, euphemistisch auch Euro-Rettungsschirm genannt, sei ausgefochten. Deshalb geht er ganz entspannt zum Treffen der NRW-Landesgruppe der CDU-Bundestagsfraktion. Er hat ohnehin anderes im Kopf. Kurz zuvor hat er von der Unheilbarkeit seiner Krankheit erfahren, was ihm eine neue Distanz zum politischen Geschäft geschaffen hat. Dennoch: Es ist ein wichtiges Treffen, denn es geht darum, die Regierungsmehrheit für die anstehende EFSF-Erweiterung zu sichern. So wichtig, dass selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in die Landesvertretung Nordrhein-Westfalens an der Berliner Hiroshimastraße gekommen sind. Doch die inhaltliche Diskussion ist bereits geführt und die Mehrheit der Partei auf der Linie der Kanzlerin, die sich unter »Euro-Rettung um jeden Preis« zusammenfassen lässt. Die Sache ist durch, denkt Bosbach. Doch der Abend soll ein Wendepunkt in seiner 39-jährigen politischen Karriere werden.
Er ist nicht auf Linie, das ist in seiner Partei bekannt, das ist sein Kampf. Er hatte dem ersten Rettungspaket für Griechenland, dem Währungsunionfinanzstabilitätsgesetz, ein Jahr zuvor noch zugestimmt. Damals stand Griechenland vor der Staatspleite, man befürchtete eine »Ansteckungsgefahr« für andere Krisenländer. Die Spekulanten, die auf eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands gewettet hatten, würden sich das nächste Land vornehmen, so die Argumentation. In der Folge könnte die Währungsunion zerbrechen. Der Bundestag beschloss das Gesetz, mit dem die Regierung ermächtigt wurde, einen Kredit an Griechenland von bis zu 22,4 Milliarden zu garantieren, mit deutlicher Mehrheit. In der Koalition gab es fünf Abweichler, Bosbach war nicht darunter. Er stimmte zu. Kurz darauf wurde die EFSF als ein provisorischer Stabilisierungsmechanismus gegründet, Deutschland haftete mit 123 Milliarden Euro. Eine einmalige Maßnahme sollte das sein. Doch nur ein Jahr später ist die Lage nicht etwa besser, sondern weitere Staaten brauchen Hilfe: Portugal, Irland, Spanien, Italien. Nun soll nicht nur die deutsche Bürgschaft auf mindestens 211 Milliarden steigen. Die EFSF soll außerdem ermächtigt werden, Darlehen an Regierungen zur Kapitalisierung von Banken zu vergeben und Anleihen von Krisenländern aufzukaufen. Eine einmalige, befristete Aktion droht vielfältig und dauerhaft zu werden. Bosbach hält das für falsch. Er ist dagegen.
© 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Anna von Bayern
Anna von Bayern, Jahrgang 1978, ist Autorin und Politische Korrespondentin der "Bild am Sonntag". Zuvor war sie freie Journalistin, u.a. für das "SZ-Magazin" und "Die Welt", und hat Kurzgeschichten veröffentlicht u.a. im Eichborn Verlag und bei Suhrkamp. Nach einem Bachelor in Geschichte und Politik an der Stanford University machte sie einen Master of Arts im Creative Writing an der University of East Anglia und ein Volontariat an der Axel Springer Akademie. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anna von Bayern
- 2014, Originalausgabe, 224 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453200551
- ISBN-13: 9783453200555
- Erscheinungsdatum: 27.02.2014
Rezension zu „Wolfgang Bosbach: Jetzt erst recht! “
Ein sehr lesenswertes Buch" Markus Lanz
Pressezitat
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