Wolfsgarten
Ein Ort voller Spannung, Wunder und Geheimnisse Achim und Karl kehren in das Waisenhaus zurück, um ihre ehemalige Heimmutter zu besuchen. Auf ihren Wunsch hin begeben sie sich in den verlassenen Garten am Ende der Straße - und finden sich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wolfsgarten “
Ein Ort voller Spannung, Wunder und Geheimnisse Achim und Karl kehren in das Waisenhaus zurück, um ihre ehemalige Heimmutter zu besuchen. Auf ihren Wunsch hin begeben sie sich in den verlassenen Garten am Ende der Straße - und finden sich plötzlich in einer ganz anderen Welt wieder: Schatten irren umher, und angeblich treiben des Nachts Wölfe ihr Unwesen. Voller Beklemmung stellen die Jungen fest, dass sie den Garten nicht mehr verlassen können. Und über seine Mauern hinweg erkennen sie, dass die Welt da draußen nicht mehr die ihre ist ... Von der Autorin von 'Der Märchenerzähler'.
Klappentext zu „Wolfsgarten “
Ein Ort voller Spannung, Wunder und GeheimnisseAchim und Karl kehren in das Waisenhaus zurück, um ihre ehemalige Heimmutter zu besuchen. Auf ihren Wunsch hin begeben sie sich in den verlassenen Garten am Ende der Straße - und finden sich plötzlich in einer ganz anderen Welt wieder: Schatten irren umher, und angeblich treiben des Nachts Wölfe ihr Unwesen. Voller Beklemmung stellen die Jungen fest, dass sie den Garten nicht mehr verlassen können. Und über seine Mauern hinweg erkennen sie, dass die Welt da draußen nicht mehr die ihre ist ...
Von der Autorin von 'Der Märchenerzähler'
Lese-Probe zu „Wolfsgarten “
Wolfsgarten von Antonia Michaelis1. Kapitel,
in welchem sich zwei treffen, die sich lange nicht gesehen haben. In einem Bett liegt jemand, der gar nicht da ist, und ein seltsamer Brief kommt vor. Was aber wartet hinter der Mauer des wilden Gartens?
Achim sah den Bahnsteig entlang.
Es war niemand da.
Nur er und sein roter Koffer. Wo war Karl? Wo war Herr Sörendorf, der sie abholen sollte?
Er merkte, wie die Sorge in ihm aufstieg. Sie stieg aus dem Bauch bis in den Hals, bis hinter seine Stirn, bis in seine Ohren und rauschte dort.
„Vielleicht ist dies ein falscher Bahnsteig in einem falschen Ort?", flüsterte er. „Vielleicht ist es der falsche Tag? Vielleicht bin ich ein ganz falscher Achim?"
Der Gedanke beunruhigte ihn so sehr, dass er spürte, wie die Luft weniger wurde. Er tastete nach dem Asthma-Spray in seiner Hosentasche. Aber wenn ich ein falscher Achim wäre, dachte er, hätte ich kein Asthma. Der Bahnsteig war ebenfalls richtig. Das Kinderheim lag nur drei Straßen weiter, er wusste es genau. Es sah alles so aus wie damals, wenn er mit Karl und den anderen Heimkindern hier in den Zug gestiegen war, um Ausflüge zu machen. Das war lange her. Hundert Jahre, dachte Achim. Aber als er nachrechnete, war es nur ein Jahr.
Vor einem Jahr war er zu Ines und Paul gezogen, ans Meer, und hatte ein völlig neues Leben begonnen. Damals, im Kinderheim, war Karl sein bester Freund gewesen. Es war schrecklich gewesen, ihn im Kinderheim zurückzulassen. Aber dann hatte Karl auch Eltern gefunden, er hatte es Achim in einem Brief geschrieben. Er hatte das Heim kurz nach Achim verlassen.
... mehr
„Nur Maria", sagte Achim laut, „Maria ist dageblieben. Sie ist immer noch da. Und jetzt ist sie krank, und alles ist überhaupt nicht so, wie es sein soll - und wo ist nun Karl? Hat er vergessen, dass wir uns heute hier treffen?"
Er sah schon vor sich, wie er alleine neben das Bett trat, in dem Maria lag und auf eine unerklärliche Weise krank war, und wie er nicht wusste, was er sagen sollte. Karl hatte nie lange überlegen müssen, was man sagte oder tat. Achim überlegte grundsätzlich so lange, bis es sich nicht mehr lohnte, überhaupt etwas zu sagen oder zu tun.
Achim kniff die Augen zusammen, wünschte sich mit aller Macht, Karl wäre da, und sprühte das Asthmaspray in die Luft wie ein Zauberspray. Es war natürlich ein ganz normales Asthmaspray, doch an diesem speziellen Nachmittag konnte es - vielleicht - zaubern. Achim hatte kaum den Finger vom Sprühknopf genommen und die Augen wieder geöffnet, da dröhnte ein weiterer Zug die Geleise entlang, hielt kurz und plötzlich, sodass drinnen vermutlich alle Leute durcheinanderfielen - und dröhnte weiter. Als er in der Ferne verschwand, stand am anderen Ende des Bahnsteigs jemand. Es war jemand mit einem Seesack über der Schulter und einer gelb-weißen Segeljacke unter dem Arm. Und jetzt winkte er so wild mit der Segeljacke, dass Achim schon befürchtete, sie würde davonsegeln.
„Karl!", rief Achim erleichtert.
„Achim!", schrie Karl.
Dann rannte Karl los, und Achim rannte ebenfalls, den roten Rollkoffer hinter sich her schleifend, und in der Mitte stießen sie beinahe zusammen.
„Du bist noch stärker geworden", sagte Achim außer Puste.
„Du bist zum Glück nicht noch dünner geworden", sagte Karl.
„Du siehst aus wie ein richtiger Seemann", sagte Achim. „Braun gebrannt und alles."
Karl grinste. „Sollte mich wohl mal wieder waschen."
Danach schwiegen sie eine Weile. Wenn man sich ein Jahr lang nicht gesehen hat, ist es schwer, den richtigen Anfang zu finden. Ein Jahr zwischen elf und zwölf ist, wie gesagt, sehr lang. So lang wie fünf ICEs oder wie die Bibel. Beide Testamente. Es gab, dachte Achim, so viel, was gesagt werden musste, aber dieses lange, lange Jahr stand zwischen ihnen herum wie eine Wand.
„Es ist niemand da", sagte Achim endlich, „um uns abzuholen."
Karl sah sich um. „Wir sind doch da. Reicht das nicht? Herr Sörendorf hat sich bestimmt bloß vertrödelt. Vielleicht wollte er ein Abendessen für uns kochen und das Rezept war so langweilig, dass er darüber eingeschlafen ist?" Er klopfte Achim mit seiner Seemannspranke beruhigend auf die Schulter. Achim zuckte zusammen. Karl war wirklich zu stark.
„Komm", sagte Karl. „Gehen wir zu Fuß. Ist ja nicht weit."
So zog Achim den roten Rollkoffer die Straße entlang, und Karl ging mit breiten, wiegenden Seemanssschritten hinter ihm her. Um sie herum duftete ein lauer Vorort- Sommerabend. Eine Amsel führte in einer Hecke Selbstgespräche. Irgendwo grillte jemand Würstchen. Aber von hinter dem Horizont zog die Nacht heran, eine Nacht ohne Amselgesang und ohne Grillduft, eine Nacht voller Schatten. Achim konnte es spüren.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Karl, glaubst du, sie wacht auf? Glaubst du, sie redet mit uns? Glaubst du, es geht ihr besser?"
„Ich weiß nicht", antwortete Karl und blieb stehen. „Sie schläft ja gar nicht. Was glaubst du?" Und plötzlich klang er nicht mehr selbstsicher und zuversichtlich, und seine breiten Schultern wirkten nicht mehr so breit. Karl war dreizehn. Ein Jahr älter als Achim. Plötzlich sah er viel jünger aus als dreizehn. Plötzlich sah er aus, ... als hätte er Angst.
Achim griff nach seinem Arm und hielt ihn fest.
„Es ist alles so seltsam", sagte er. „Wie kann jemand im Bett liegen und nicht schlafen und trotzdem durch alle hindurch sehen? Das hat Herr Sörendorf doch am Telefon gesagt, oder? Sie sieht durch alle hindurch. Sie ist ... wie ... nicht da. Wo ist sie denn, Karl? Wo ist Maria? Ihr Körper liegt im Bett. Aber wo ist der Rest von Maria?"
„Wir hätten ihr mehr Briefe schreiben sollen", sagte Karl. „Ich habe ihr nur ein einziges Mal geschrieben."
Sie gingen langsam weiter durch den duftenden Sommerabend. „Meinst du, falls sie nie wieder gesund wird?", fragte Achim leise. „So wie man sagt: Ich hätte Tante Lisa häufiger besuchen sollen, nun ist sie tot?"
„Wer ist Tante Lisa?", fragte Karl.
„Ach, niemand", sagte Achim. „Es war nur ein Beispiel. Meinst du ... du glaubst doch nicht etwa, Maria ... stirbt?"
„Nein!" Karl hatte beinahe geschrien und er packte Achim und schüttelte ihn ein bisschen. „Hör auf mit dem Unsinn! Sie stirbt nicht! Herr Sörendorf hat uns angerufen, weil Maria von uns geredet hat. Die letzten Leute, von denen sie geredet hat, waren wir beide. Deshalb hat Herr Sörendorf gesagt, wir sollen kommen. Weil es vielleicht hilft, wenn wir mit ihr sprechen."
Achim nickte. „Du kannst jetzt aufhören, mich zu schütteln", sagte er.
Das Kinderheim war kleiner, als Achim es in Erinnerung hatte. Es besaß freundliche rote Fensterrahmen, aber plötzlich erinnerte es Achim an ein Krankenhaus. Der Rasen war zu gemäht und die Platten des Weges zu sauber, so, als würde jemand sie jeden Tag mit Desinfektionsmittel abwischen. Bei Ines und Paul, wo er jetzt wohnte, war alles ganz anders. Dort wuchs ein wenig Gras auf dem Weg, und die Blumen blühten wild bis ans Haus heran. Im Garten schwang die alte Schaukel im Sommerwind, und die Fenster waren nie so sauber wie im Kinderheim. Aber das Licht schien auf eine wärmere Art bei Ines und Paul. Bei seinen Eltern. So viel Mühe sich die Leute im Kinderheim auch gaben, das Licht würden sie nie so hinbekommen.
„Arme Maria", flüsterte Achim. „Warum wohnt sie eigentlich hier? Warum ist sie nie in ein Haus voller Licht und Blumen und Unaufgeräumtheiten gezogen?"
„Vielleicht wollte niemand sie haben", sagte Karl.
Die Vordertür des Kinderheims stand offen, und im Flur roch es nach Putzmitteln und Großküche. Die Amsel hatte aufgehört zu singen. Es war sehr still.
Karl drückte außen auf die elektrische Klingel und rief drinnen im Flur laut: „Hallo?" Und Achim rief leise „Hallo?", und da kam jemand die Treppe vom ersten Stock hinunter. Eine breite, helle Treppe mit gelbem Metallgeländer. Eine nette, jedoch irgendwie krankenhausartig abwischbare Treppe.
„Ach du Himmel, ihr seid schon da!", rief der, der die Treppe hinunterkam. Das war Herr Sörendorf, der Heimleiter; ein kleiner, rundlicher Mann mit freundlichen, traurigen Augen. An diesem Tag waren seine Augen dunkler als sonst.
„Entschuldigt", sagte er am Fuß der Treppe. „Ich wollte euch abholen. Es ist niemand da außer mir. Und dann ist etwas dazwischengekommen ... zwischen das Abholen ... tut mir leid."
„Es ist ja nicht so weit vom Bahnhof hierher", sagte Karl. „Aber wieso ist es so still? Wo sind alle? Die anderen Kinder und die Erwachsenen, die hier arbeiten, ... und alle?"
„Zeltlager", sagte der Heimleiter, als wäre es eine medizinische Diagnose. „Nur Maria und ich und ein paar ganz kleine Kinder sind noch da. Aber die sind schon im Bett. Karl, Achim, ich muss euch etwas zeigen. Ich habe es eben erst gefunden. Ich - nein." Er schüttelte wieder den Kopf. „So geht das nicht. Wir müssen mit dem Anfang anfangen."
Dann führte er die beiden in die Kinderheimküche, weil der Essenssaal zu groß und zu leer war. Er rückte ein paar Stühle an den Arbeitstisch und schmierte Brote und kochte Tee. In der Küche war alles genauso abwischbar wie außerhalb der Küche. Bei Ines und Paul, dachte Achim, waren die Möbel in der Küche aus altem Holz und am Kühlschrank hingen lauter Fotos. Fotos von Ines und Paul und ihrem Sohn Achim, wie sie den Strand entlangrannten. Und sicher hingen in Karls Küche Fotos von Karl und seiner neuen Familie. Doch in keiner Küche auf der ganzen Welt hingen Fotos von Maria mit ihrer Familie.
Nur ein ordentlich gerahmtes Foto hing hier, neben dem Fenster, mit allen Kinderheim-Erwachsenen und allen Kin- derheim-Kindern, die sich im Garten aufgestellt hatten. Achim suchte Maria auf dem Foto, doch in dem Meer von Gesichtern konnte er sie nicht finden.
„Achim?", sagte Herr Sörendorf. „Hörst du eigentlich zu?"
„Ich - ja, oh", sagte Achim und sah von dem Foto zu Herrn Sörendorfs besorgten, dunklen Augen.
„Also", fuhr Herr Sörendorf fort, „wir saßen hier am Küchentisch, nach dem Mittagessen, und Maria sagte, sie hätte etwas Seltsames gefunden. Ganz hinten, im obersten Fach des alten Küchenschranks, den wir nicht mehr benützen. Sie hatte wohl gedacht, man könnte mal wieder Staub wischen in diesem Schrank, und da hatte sie oben dieses Päckchen gefunden: ein vergilbtes, zerknülltes Stück Zeitung." Herr Sörendorf griff in seine Tasche und legte ein vergilbtes, zerknülltes Stück Zeitung auf den Tisch. Karl wickelte es aus, doch es war nichts darin. Herr Sörendorf lächelte. „Ich war so neugierig wie du. Ich fragte Maria, was in die Zeitung eingewickelt war. Sie öffnete den Mund, um mir zu antworten - doch dann überlegte sie es sich anders. ‚Ich muss nachdenken‘, sagte sie. ‚Wenn ich zu Ende nachgedacht habe, erzähle ich Ihnen, was in dem Päckchen im Schrank war. Als ich es auswickelte, fielen mir so viele Dinge wieder ein ... Dinge, die ich vergessen hatte. Ich bitte Sie nicht oft um etwas, Herr Sörendorf, aber nun bitte ich Sie, mir diesen Nachmittag freizugeben.‘ Ich sagte, ich käme schon alleine klar mit den paar Kindern. Und Maria ging nach oben in ihr Zimmer, um nachzudenken. Das Letzte, was sie sagte, schon auf der Treppe, war: ‚Haben Sie eigentlich etwas von Karl gehört? Oder von Achim?‘
‚Nein‘, antwortete ich. ‚Ich nehme an, es geht ihnen gut bei ihren neuen Eltern.‘
‚Ja‘, sagte Maria, ‚das nehme ich auch an. Es ist nur ... das, was ich gefunden habe ... es ist die bedeutungsloseste, einfachste, winzigste Sache ... aber es hängt eine Geschichte daran. Und wenn ich mich an diese Geschichte erinnert habe, würde ich sie gerne Karl und Achim erzählen. Gerade Karl und Achim könnten die Geschichte gut verstehen.‘ Das hat sie gesagt."
Herr Sörendorf sah Achim lange mit seinen dunklen Augen an und danach sah er Karl genauso lange an. „Sie mochte euch sehr", sagte er. „Ich glaube, sie war traurig, als ihr weggegangen seid."
„Mag", verbesserte Karl. „Sie mag uns. Sie ist ja nicht ge... sie ist ja noch da."
„Ja", sagte Herr Sörendorf. „Sie ist noch da. Sie liegt oben in ihrem Bett, seit drei Tagen. Damals wunderte mich, dass sie nicht zum Abendessen kam, und da lag sie in ihrem Bett, auf dem Rücken, und starrte an die Decke. ‚Maria‘, sagte ich, ‚Maria, ist alles in Ordnung?‘ Doch sie antwortete nicht. Sie schwieg. Ich beugte mich über sie, aber es war, als würde sie durch mich hindurchsehen. Und so ist es geblieben. Ab und zu geht sie wohl ins Bad oder trinkt etwas. Aber ich habe sie nie dabei gesehen. Der Hausarzt hat gesagt, sie muss in ein Krankenhaus, weil er nicht sehen kann, was ihr fehlt. Ich weiß, ich sollte sie dorthin bringen. Aber ich dachte, vielleicht ..." Er hob hilflos die Arme. „Vielleicht hilft es, wenn ihr mit ihr sprecht.
Und als ich euch abholen wollte, so wie wir es mit euren Eltern besprochen haben ... da habe ich das hier gefunden. Es war unters Bett gefallen."
Er griff zum zweiten Mal in seine Tasche. Was er diesmal auf den Tisch legte, war kein Stück Zeitung. Es war ein Briefumschlag. Doch er war nicht zugeklebt und die Adresse unvollständig. Jemand hatte AN: auf den Umschlag geschrieben und danach ein M, aber weiter war der Jemand nicht gekommen. Der Jemand war natürlich Maria gewesen. Achim nahm behutsam das Stück Papier aus dem Umschlag und entfaltete es.
„Lies vor!", drängte Karl.
Achim räusperte sich. „Du wirst dich fragen, wer dir schreibt", las er. „Ich bin es, Maria. Ich schreibe dir, obgleich ich nicht weiß, wo du bist und was du dort tust - oder wohin ich diesen Brief überhaupt schicken soll.
Aber irgendwem muss ich schreiben, irgendwem muss ich es erzählen:
Ich habe eine der Hagebutten gefunden. Eine dunkelrote Hagebutte mit weißen Tupfen, wie ein Fliegenpilz. Genauso sahen die Hagebutten in den Märchen aus. Du hast die Märchen doch nicht vergessen?
Weißt du noch - wenn man solch eine Hagebutte in die Erde legt, darf man sich etwas wünschen. Und wenn die Rose erblüht, die aus den Samen der Hagebutte wächst, und wenn man ihren Duft einatmet, geht der Wunsch in Erfüllung.
Ich werde noch ein wenig nachdenken und dann werde ich das grüne Tor öffnen und in den wilden Garten gehen. Erinnerst du dich an das alte Herrenhaus dort? Und an die steinerne Platte bei der Treppe? Erinnerst du dich an die Worte darauf? Ich werde sie nicht noch einmal lesen. Ich werde einen Platz für meine Hagebutte suchen. Ich werde sie in die Erde legen und mir etwas wünschen, und eine Rose wird wachsen, und ... Und nichts wird geschehen, denkst du jetzt. Es ist ein Märchen. Du hast recht. Aber wenn doch etwas geschieht? Manchmal sind Wünsche gefährlich. Wenn ich wünsche, werden vielleicht die Wölfe zurückkommen. Und die Furcht. Aber auch die Hoffnung. Ich muss es riskieren. Maria."
Achim sah auf.
„Wie bitte?", fragte Karl. „Steinerne Platte? Garten? Wölfe? Lies das noch mal." So las Achim den Brief noch einmal und noch einmal und noch ein viertes Mal. Und während er las, schwamm durch die freundlichen, dunklen Augen des Heimleiters ein Stück Furcht, und es wurde Winter in seinen Mundwinkeln.
„Sicher ist, dass Maria eine Hagebutte gefunden hat", sagte Achim schließlich. „Eine komische Hagebutte mit weißen Tupfen. Nur - wo ist die Hagebutte?" Er sah Herrn Sörendorf an. „Hat sie sie hier im Garten eingepflanzt?"
„Der wilde Garten mit dem grünen Tor", sagte Herr Sörendorf langsam. „Das ist nicht der Garten des Kinderheims. Er liegt hinter einer hohen Mauer, am Ende der Straße. Irgendwo darin steht ein altes Herrenhaus, genau wie sie geschrieben hat. Es wohnt niemand darin. Ihr müsst oft an der Mauer vorbeigegangen sein ... früher. Vielleicht habt ihr es gar nicht gemerkt."
„Und wenn sie dort war?", rief Karl. „Vielleicht hat sie sich weggeschlichen und diese komische Hagebutte in den wilden Garten gepflanzt und sich danach wieder ins Bett gelegt! Und irgendetwas ist geschehen, wegen der Rose, die gewachsen ist, und ..."
„Nein", sagte Herr Sörendorf. „Sie war die ganze Zeit über hier. Ganz sicher. Und außerdem ist es ein Märchen, nicht wahr? Es ist nur ein Märchen."
Da wurde Karl beinahe böse. „Irgendwas muss doch aber passiert sein!", rief er. Er sprang so heftig auf, dass die Brotbretter auf dem Tisch hüpften. „Es nützt nichts, nur hier herumzusitzen und zu grübeln. Ich gehe jetzt zu ihr und frage sie selbst."
Damit rannte er aus der Küche und stürmte die breite Treppe mit dem gelben Geländer hinauf. Marias Zimmer befand sich ganz vorne, gleich neben der Treppe, und es besaß eine blaue Tür. Blau wie das Meer, dachte Karl, über das er mit seinen Eltern gesegelt war: Miriam und Henk.
Wenn Henk da wäre, dachte er, wäre es ganz leicht, durch diese Tür zu gehen. Doch als Karl sich umsah, kamen nur Achim und Herr Sörendorf die Treppe herauf. Und sie sahen beide noch viel unsicherer aus als Karl selbst, der schmächtige Achim und der leicht gebeugte, ältliche Herr Sörendorf, der sich an dem gelben Geländer festhielt wie an einer Rettungsleine.
Karl stellte sich gerader hin, holte tief Luft und öffnete Marias blaue Tür.
Das Zimmer dahinter war winzig, es bestand eigentlich nur aus einem Schreibtisch, einem Fenster und einem Bett, und in diesem Bett lag Maria und sah an die Decke. Genauso, wie Herr Sörendorf es gesagt hatte. Das Bett war kein Kinderbett.
Denn Maria war kein Kind.
Maria war erwachsen. Für Karl und Achim war sie damals fast so wie eine Mutter gewesen. Sie arbeitete im Heim. Aber die anderen Leute, die im Heim arbeiteten, fuhren ab und zu nach Hause. Maria war nie nach Hause gefahren. Sie schien kein Zuhause zu haben. Karl schluckte. Maria lag vollkommen angezogen auf ihrer Bettdecke. Nur ihr Brustkorb hob und senkte sich beim Atmen.
Er betrat das Zimmer sehr vorsichtig. Früher war er oft hier gewesen; immer, wenn er etwas angestellt hatte oder hingefallen war und sie ihn getröstet hatte - doch jetzt kam es ihm vor, als wäre es ein ganz anderes Zimmer. Marias reglose Anwesenheit ließ die Möbel fremd und unwirklich scheinen. Es schien kälter zu sein als sonst, und es kam Karl vor, als wären die Wände in die Höhe gewachsen. Er schüttelte den Kopf und zwang sich, neben Marias Bett zu treten. Das Bett war das einzige alte Möbelstück im Raum. Es war aus dunklem Holz. Ins Kopfende waren Ranken und Vögel geschnitzt, wie es sie vielleicht in dem wilden Garten gab, hinter der Mauer. Maria hatte nie erzählt, woher sie das Bett hatte. Geerbt, bestimmt. Jetzt in der Dämmerung wirkten die geschnitzten Ranken beinahe echt, die Vögel schienen sich zu regen, und darunter leuchtete das helle Oval von Marias stillem Gesicht.
Achim trat hinter Karl. Als Karl sich umdrehte, sah er, dass Herr Sörendorf in der Tür stehen geblieben war. Die violette Dämmerung des Sommerabends ließ sich bereits im Zimmer nieder, doch keiner von ihnen machte Licht.
„Maria", flüsterte Karl. Maria reagierte nicht. Ihre Augen blickten an die Decke wie die Augen einer Blinden.
„Wir sind es", sagte Achim. „Karl und Achim. Kannst du uns hören?"
Maria starrte weiter an die Decke. Die Decke war weiß. Es gab nichts dort zu sehen.
„Maria!", rief Karl noch einmal. „Wo bist du?"
„Es nützt nichts, Karl", sagte Achim leise. „Wo immer sie ist ... sie kann uns dort nicht hören. Es ist zu weit weg."
Er schob Karl sanft zur Seite und ließ sich neben Marias Bett auf die Knie nieder. Karl kniete sich neben ihn. Ihre Gesichter waren Marias Gesicht jetzt ganz nah. Wie weiß ihre Haut war! Um ihre Nase scharten sich ein paar blasse, winzige Sommersprossen. „Ist das nicht komisch?", wisperte Achim. „Wir kennen sie eigentlich gar nicht. Sie war immer für uns da, aber wir wissen nichts über sie. Nicht mal, wie alt sie ist."
„Alt", flüsterte Karl. „Aber nicht uralt. Vielleicht Mitte dreißig."
„Sie könnte Kinder haben", flüsterte Achim. „Eigene, meine ich. Warum hat sie keine?"
Karl streckte die Hand aus, ganz vorsichtig, und legte sie auf Marias Wange. Er konnte die winzigen Härchen auf ihrer Haut spüren. Die Dämmerung ließ es gerade noch zu, Farben zu erkennen. Das Grau in Marias Augen war wie das Meer. Um das Grau herum waren ihre Augen gerötet.
„Achim", flüsterte Karl. „Sie hat geweint. Vor Kurzem."
„Aber warum?", flüsterte Achim.
Karl zuckte die Schultern. „Es ist furchtbar, so hier zu knien", sagte er. „Wie bei einer Totenwache. Man wird ganz traurig davon." Und er wollte sagen, dass es wohl besser wäre, wenn sie ins Bett gingen und morgen früh wiederkamen, da bemerkte er etwas. Etwas, das vielleicht wichtig war. Maria hatte ihre rechte Hand zu einer Faust geballt. Er strich darüber, um ihre Finger zu lösen, doch sie ließen sich nicht lösen. Ihre Hand war kalt und wie aus Stein.
„Ich habe es auch schon versucht", sagte Herr Sörendorf hinter ihnen. „Es ist, als befände sich die gesamte Kraft ihres Körpers in dieser Hand." Er seufzte. „Kommt. Vielleicht ändert sich morgen etwas."
„Morgen", sagte Karl. „Morgen", sagte Achim. Keines der Morgen klang besonders überzeugt. Sie waren bereits bei der Tür, als ein winziges Geräusch sie innehalten ließ. Das winzigste aller Geräusche. Als wäre etwas zu Boden gefallen. Sie drehten sich gleichzeitig um. Maria lag so reglos auf dem Bett wie zuvor. Die Dämmerung war dicker geworden, zäher, wie Leim. Die Möbel schienen jetzt nicht mehr zu schweben, sondern an ihrem Platz festzukleben.
„Ihre Hand", flüsterte Achim. „Karl, ihre Hand! Sieh nur."
„Du bist wohl die einzige lebende Person, die so altmodische Dinge sagt wie ‚Sieh nur‘", flüsterte Karl und versuchte zu lachen. Aber ihm war nicht nach Lachen. Ihm war ziemlich unbehaglich. Maria, die schlafende, nichtschlafende Maria, hatte die Faust geöffnet.
Und auf dem Boden, neben dem Bett, lag ein kleiner Gegenstand im Dämmerlicht. Achim ging zurück und hob ihn auf. Als er den Gegenstand ins Licht der Flurlampe hielt, sah Karl, was es war. Eine kleine, vertrocknete, dunkelrote Hagebutte. Eine rote Hagebutte mit weißen Tupfen wie ein Fliegenpilz.
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„Nur Maria", sagte Achim laut, „Maria ist dageblieben. Sie ist immer noch da. Und jetzt ist sie krank, und alles ist überhaupt nicht so, wie es sein soll - und wo ist nun Karl? Hat er vergessen, dass wir uns heute hier treffen?"
Er sah schon vor sich, wie er alleine neben das Bett trat, in dem Maria lag und auf eine unerklärliche Weise krank war, und wie er nicht wusste, was er sagen sollte. Karl hatte nie lange überlegen müssen, was man sagte oder tat. Achim überlegte grundsätzlich so lange, bis es sich nicht mehr lohnte, überhaupt etwas zu sagen oder zu tun.
Achim kniff die Augen zusammen, wünschte sich mit aller Macht, Karl wäre da, und sprühte das Asthmaspray in die Luft wie ein Zauberspray. Es war natürlich ein ganz normales Asthmaspray, doch an diesem speziellen Nachmittag konnte es - vielleicht - zaubern. Achim hatte kaum den Finger vom Sprühknopf genommen und die Augen wieder geöffnet, da dröhnte ein weiterer Zug die Geleise entlang, hielt kurz und plötzlich, sodass drinnen vermutlich alle Leute durcheinanderfielen - und dröhnte weiter. Als er in der Ferne verschwand, stand am anderen Ende des Bahnsteigs jemand. Es war jemand mit einem Seesack über der Schulter und einer gelb-weißen Segeljacke unter dem Arm. Und jetzt winkte er so wild mit der Segeljacke, dass Achim schon befürchtete, sie würde davonsegeln.
„Karl!", rief Achim erleichtert.
„Achim!", schrie Karl.
Dann rannte Karl los, und Achim rannte ebenfalls, den roten Rollkoffer hinter sich her schleifend, und in der Mitte stießen sie beinahe zusammen.
„Du bist noch stärker geworden", sagte Achim außer Puste.
„Du bist zum Glück nicht noch dünner geworden", sagte Karl.
„Du siehst aus wie ein richtiger Seemann", sagte Achim. „Braun gebrannt und alles."
Karl grinste. „Sollte mich wohl mal wieder waschen."
Danach schwiegen sie eine Weile. Wenn man sich ein Jahr lang nicht gesehen hat, ist es schwer, den richtigen Anfang zu finden. Ein Jahr zwischen elf und zwölf ist, wie gesagt, sehr lang. So lang wie fünf ICEs oder wie die Bibel. Beide Testamente. Es gab, dachte Achim, so viel, was gesagt werden musste, aber dieses lange, lange Jahr stand zwischen ihnen herum wie eine Wand.
„Es ist niemand da", sagte Achim endlich, „um uns abzuholen."
Karl sah sich um. „Wir sind doch da. Reicht das nicht? Herr Sörendorf hat sich bestimmt bloß vertrödelt. Vielleicht wollte er ein Abendessen für uns kochen und das Rezept war so langweilig, dass er darüber eingeschlafen ist?" Er klopfte Achim mit seiner Seemannspranke beruhigend auf die Schulter. Achim zuckte zusammen. Karl war wirklich zu stark.
„Komm", sagte Karl. „Gehen wir zu Fuß. Ist ja nicht weit."
So zog Achim den roten Rollkoffer die Straße entlang, und Karl ging mit breiten, wiegenden Seemanssschritten hinter ihm her. Um sie herum duftete ein lauer Vorort- Sommerabend. Eine Amsel führte in einer Hecke Selbstgespräche. Irgendwo grillte jemand Würstchen. Aber von hinter dem Horizont zog die Nacht heran, eine Nacht ohne Amselgesang und ohne Grillduft, eine Nacht voller Schatten. Achim konnte es spüren.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Karl, glaubst du, sie wacht auf? Glaubst du, sie redet mit uns? Glaubst du, es geht ihr besser?"
„Ich weiß nicht", antwortete Karl und blieb stehen. „Sie schläft ja gar nicht. Was glaubst du?" Und plötzlich klang er nicht mehr selbstsicher und zuversichtlich, und seine breiten Schultern wirkten nicht mehr so breit. Karl war dreizehn. Ein Jahr älter als Achim. Plötzlich sah er viel jünger aus als dreizehn. Plötzlich sah er aus, ... als hätte er Angst.
Achim griff nach seinem Arm und hielt ihn fest.
„Es ist alles so seltsam", sagte er. „Wie kann jemand im Bett liegen und nicht schlafen und trotzdem durch alle hindurch sehen? Das hat Herr Sörendorf doch am Telefon gesagt, oder? Sie sieht durch alle hindurch. Sie ist ... wie ... nicht da. Wo ist sie denn, Karl? Wo ist Maria? Ihr Körper liegt im Bett. Aber wo ist der Rest von Maria?"
„Wir hätten ihr mehr Briefe schreiben sollen", sagte Karl. „Ich habe ihr nur ein einziges Mal geschrieben."
Sie gingen langsam weiter durch den duftenden Sommerabend. „Meinst du, falls sie nie wieder gesund wird?", fragte Achim leise. „So wie man sagt: Ich hätte Tante Lisa häufiger besuchen sollen, nun ist sie tot?"
„Wer ist Tante Lisa?", fragte Karl.
„Ach, niemand", sagte Achim. „Es war nur ein Beispiel. Meinst du ... du glaubst doch nicht etwa, Maria ... stirbt?"
„Nein!" Karl hatte beinahe geschrien und er packte Achim und schüttelte ihn ein bisschen. „Hör auf mit dem Unsinn! Sie stirbt nicht! Herr Sörendorf hat uns angerufen, weil Maria von uns geredet hat. Die letzten Leute, von denen sie geredet hat, waren wir beide. Deshalb hat Herr Sörendorf gesagt, wir sollen kommen. Weil es vielleicht hilft, wenn wir mit ihr sprechen."
Achim nickte. „Du kannst jetzt aufhören, mich zu schütteln", sagte er.
Das Kinderheim war kleiner, als Achim es in Erinnerung hatte. Es besaß freundliche rote Fensterrahmen, aber plötzlich erinnerte es Achim an ein Krankenhaus. Der Rasen war zu gemäht und die Platten des Weges zu sauber, so, als würde jemand sie jeden Tag mit Desinfektionsmittel abwischen. Bei Ines und Paul, wo er jetzt wohnte, war alles ganz anders. Dort wuchs ein wenig Gras auf dem Weg, und die Blumen blühten wild bis ans Haus heran. Im Garten schwang die alte Schaukel im Sommerwind, und die Fenster waren nie so sauber wie im Kinderheim. Aber das Licht schien auf eine wärmere Art bei Ines und Paul. Bei seinen Eltern. So viel Mühe sich die Leute im Kinderheim auch gaben, das Licht würden sie nie so hinbekommen.
„Arme Maria", flüsterte Achim. „Warum wohnt sie eigentlich hier? Warum ist sie nie in ein Haus voller Licht und Blumen und Unaufgeräumtheiten gezogen?"
„Vielleicht wollte niemand sie haben", sagte Karl.
Die Vordertür des Kinderheims stand offen, und im Flur roch es nach Putzmitteln und Großküche. Die Amsel hatte aufgehört zu singen. Es war sehr still.
Karl drückte außen auf die elektrische Klingel und rief drinnen im Flur laut: „Hallo?" Und Achim rief leise „Hallo?", und da kam jemand die Treppe vom ersten Stock hinunter. Eine breite, helle Treppe mit gelbem Metallgeländer. Eine nette, jedoch irgendwie krankenhausartig abwischbare Treppe.
„Ach du Himmel, ihr seid schon da!", rief der, der die Treppe hinunterkam. Das war Herr Sörendorf, der Heimleiter; ein kleiner, rundlicher Mann mit freundlichen, traurigen Augen. An diesem Tag waren seine Augen dunkler als sonst.
„Entschuldigt", sagte er am Fuß der Treppe. „Ich wollte euch abholen. Es ist niemand da außer mir. Und dann ist etwas dazwischengekommen ... zwischen das Abholen ... tut mir leid."
„Es ist ja nicht so weit vom Bahnhof hierher", sagte Karl. „Aber wieso ist es so still? Wo sind alle? Die anderen Kinder und die Erwachsenen, die hier arbeiten, ... und alle?"
„Zeltlager", sagte der Heimleiter, als wäre es eine medizinische Diagnose. „Nur Maria und ich und ein paar ganz kleine Kinder sind noch da. Aber die sind schon im Bett. Karl, Achim, ich muss euch etwas zeigen. Ich habe es eben erst gefunden. Ich - nein." Er schüttelte wieder den Kopf. „So geht das nicht. Wir müssen mit dem Anfang anfangen."
Dann führte er die beiden in die Kinderheimküche, weil der Essenssaal zu groß und zu leer war. Er rückte ein paar Stühle an den Arbeitstisch und schmierte Brote und kochte Tee. In der Küche war alles genauso abwischbar wie außerhalb der Küche. Bei Ines und Paul, dachte Achim, waren die Möbel in der Küche aus altem Holz und am Kühlschrank hingen lauter Fotos. Fotos von Ines und Paul und ihrem Sohn Achim, wie sie den Strand entlangrannten. Und sicher hingen in Karls Küche Fotos von Karl und seiner neuen Familie. Doch in keiner Küche auf der ganzen Welt hingen Fotos von Maria mit ihrer Familie.
Nur ein ordentlich gerahmtes Foto hing hier, neben dem Fenster, mit allen Kinderheim-Erwachsenen und allen Kin- derheim-Kindern, die sich im Garten aufgestellt hatten. Achim suchte Maria auf dem Foto, doch in dem Meer von Gesichtern konnte er sie nicht finden.
„Achim?", sagte Herr Sörendorf. „Hörst du eigentlich zu?"
„Ich - ja, oh", sagte Achim und sah von dem Foto zu Herrn Sörendorfs besorgten, dunklen Augen.
„Also", fuhr Herr Sörendorf fort, „wir saßen hier am Küchentisch, nach dem Mittagessen, und Maria sagte, sie hätte etwas Seltsames gefunden. Ganz hinten, im obersten Fach des alten Küchenschranks, den wir nicht mehr benützen. Sie hatte wohl gedacht, man könnte mal wieder Staub wischen in diesem Schrank, und da hatte sie oben dieses Päckchen gefunden: ein vergilbtes, zerknülltes Stück Zeitung." Herr Sörendorf griff in seine Tasche und legte ein vergilbtes, zerknülltes Stück Zeitung auf den Tisch. Karl wickelte es aus, doch es war nichts darin. Herr Sörendorf lächelte. „Ich war so neugierig wie du. Ich fragte Maria, was in die Zeitung eingewickelt war. Sie öffnete den Mund, um mir zu antworten - doch dann überlegte sie es sich anders. ‚Ich muss nachdenken‘, sagte sie. ‚Wenn ich zu Ende nachgedacht habe, erzähle ich Ihnen, was in dem Päckchen im Schrank war. Als ich es auswickelte, fielen mir so viele Dinge wieder ein ... Dinge, die ich vergessen hatte. Ich bitte Sie nicht oft um etwas, Herr Sörendorf, aber nun bitte ich Sie, mir diesen Nachmittag freizugeben.‘ Ich sagte, ich käme schon alleine klar mit den paar Kindern. Und Maria ging nach oben in ihr Zimmer, um nachzudenken. Das Letzte, was sie sagte, schon auf der Treppe, war: ‚Haben Sie eigentlich etwas von Karl gehört? Oder von Achim?‘
‚Nein‘, antwortete ich. ‚Ich nehme an, es geht ihnen gut bei ihren neuen Eltern.‘
‚Ja‘, sagte Maria, ‚das nehme ich auch an. Es ist nur ... das, was ich gefunden habe ... es ist die bedeutungsloseste, einfachste, winzigste Sache ... aber es hängt eine Geschichte daran. Und wenn ich mich an diese Geschichte erinnert habe, würde ich sie gerne Karl und Achim erzählen. Gerade Karl und Achim könnten die Geschichte gut verstehen.‘ Das hat sie gesagt."
Herr Sörendorf sah Achim lange mit seinen dunklen Augen an und danach sah er Karl genauso lange an. „Sie mochte euch sehr", sagte er. „Ich glaube, sie war traurig, als ihr weggegangen seid."
„Mag", verbesserte Karl. „Sie mag uns. Sie ist ja nicht ge... sie ist ja noch da."
„Ja", sagte Herr Sörendorf. „Sie ist noch da. Sie liegt oben in ihrem Bett, seit drei Tagen. Damals wunderte mich, dass sie nicht zum Abendessen kam, und da lag sie in ihrem Bett, auf dem Rücken, und starrte an die Decke. ‚Maria‘, sagte ich, ‚Maria, ist alles in Ordnung?‘ Doch sie antwortete nicht. Sie schwieg. Ich beugte mich über sie, aber es war, als würde sie durch mich hindurchsehen. Und so ist es geblieben. Ab und zu geht sie wohl ins Bad oder trinkt etwas. Aber ich habe sie nie dabei gesehen. Der Hausarzt hat gesagt, sie muss in ein Krankenhaus, weil er nicht sehen kann, was ihr fehlt. Ich weiß, ich sollte sie dorthin bringen. Aber ich dachte, vielleicht ..." Er hob hilflos die Arme. „Vielleicht hilft es, wenn ihr mit ihr sprecht.
Und als ich euch abholen wollte, so wie wir es mit euren Eltern besprochen haben ... da habe ich das hier gefunden. Es war unters Bett gefallen."
Er griff zum zweiten Mal in seine Tasche. Was er diesmal auf den Tisch legte, war kein Stück Zeitung. Es war ein Briefumschlag. Doch er war nicht zugeklebt und die Adresse unvollständig. Jemand hatte AN: auf den Umschlag geschrieben und danach ein M, aber weiter war der Jemand nicht gekommen. Der Jemand war natürlich Maria gewesen. Achim nahm behutsam das Stück Papier aus dem Umschlag und entfaltete es.
„Lies vor!", drängte Karl.
Achim räusperte sich. „Du wirst dich fragen, wer dir schreibt", las er. „Ich bin es, Maria. Ich schreibe dir, obgleich ich nicht weiß, wo du bist und was du dort tust - oder wohin ich diesen Brief überhaupt schicken soll.
Aber irgendwem muss ich schreiben, irgendwem muss ich es erzählen:
Ich habe eine der Hagebutten gefunden. Eine dunkelrote Hagebutte mit weißen Tupfen, wie ein Fliegenpilz. Genauso sahen die Hagebutten in den Märchen aus. Du hast die Märchen doch nicht vergessen?
Weißt du noch - wenn man solch eine Hagebutte in die Erde legt, darf man sich etwas wünschen. Und wenn die Rose erblüht, die aus den Samen der Hagebutte wächst, und wenn man ihren Duft einatmet, geht der Wunsch in Erfüllung.
Ich werde noch ein wenig nachdenken und dann werde ich das grüne Tor öffnen und in den wilden Garten gehen. Erinnerst du dich an das alte Herrenhaus dort? Und an die steinerne Platte bei der Treppe? Erinnerst du dich an die Worte darauf? Ich werde sie nicht noch einmal lesen. Ich werde einen Platz für meine Hagebutte suchen. Ich werde sie in die Erde legen und mir etwas wünschen, und eine Rose wird wachsen, und ... Und nichts wird geschehen, denkst du jetzt. Es ist ein Märchen. Du hast recht. Aber wenn doch etwas geschieht? Manchmal sind Wünsche gefährlich. Wenn ich wünsche, werden vielleicht die Wölfe zurückkommen. Und die Furcht. Aber auch die Hoffnung. Ich muss es riskieren. Maria."
Achim sah auf.
„Wie bitte?", fragte Karl. „Steinerne Platte? Garten? Wölfe? Lies das noch mal." So las Achim den Brief noch einmal und noch einmal und noch ein viertes Mal. Und während er las, schwamm durch die freundlichen, dunklen Augen des Heimleiters ein Stück Furcht, und es wurde Winter in seinen Mundwinkeln.
„Sicher ist, dass Maria eine Hagebutte gefunden hat", sagte Achim schließlich. „Eine komische Hagebutte mit weißen Tupfen. Nur - wo ist die Hagebutte?" Er sah Herrn Sörendorf an. „Hat sie sie hier im Garten eingepflanzt?"
„Der wilde Garten mit dem grünen Tor", sagte Herr Sörendorf langsam. „Das ist nicht der Garten des Kinderheims. Er liegt hinter einer hohen Mauer, am Ende der Straße. Irgendwo darin steht ein altes Herrenhaus, genau wie sie geschrieben hat. Es wohnt niemand darin. Ihr müsst oft an der Mauer vorbeigegangen sein ... früher. Vielleicht habt ihr es gar nicht gemerkt."
„Und wenn sie dort war?", rief Karl. „Vielleicht hat sie sich weggeschlichen und diese komische Hagebutte in den wilden Garten gepflanzt und sich danach wieder ins Bett gelegt! Und irgendetwas ist geschehen, wegen der Rose, die gewachsen ist, und ..."
„Nein", sagte Herr Sörendorf. „Sie war die ganze Zeit über hier. Ganz sicher. Und außerdem ist es ein Märchen, nicht wahr? Es ist nur ein Märchen."
Da wurde Karl beinahe böse. „Irgendwas muss doch aber passiert sein!", rief er. Er sprang so heftig auf, dass die Brotbretter auf dem Tisch hüpften. „Es nützt nichts, nur hier herumzusitzen und zu grübeln. Ich gehe jetzt zu ihr und frage sie selbst."
Damit rannte er aus der Küche und stürmte die breite Treppe mit dem gelben Geländer hinauf. Marias Zimmer befand sich ganz vorne, gleich neben der Treppe, und es besaß eine blaue Tür. Blau wie das Meer, dachte Karl, über das er mit seinen Eltern gesegelt war: Miriam und Henk.
Wenn Henk da wäre, dachte er, wäre es ganz leicht, durch diese Tür zu gehen. Doch als Karl sich umsah, kamen nur Achim und Herr Sörendorf die Treppe herauf. Und sie sahen beide noch viel unsicherer aus als Karl selbst, der schmächtige Achim und der leicht gebeugte, ältliche Herr Sörendorf, der sich an dem gelben Geländer festhielt wie an einer Rettungsleine.
Karl stellte sich gerader hin, holte tief Luft und öffnete Marias blaue Tür.
Das Zimmer dahinter war winzig, es bestand eigentlich nur aus einem Schreibtisch, einem Fenster und einem Bett, und in diesem Bett lag Maria und sah an die Decke. Genauso, wie Herr Sörendorf es gesagt hatte. Das Bett war kein Kinderbett.
Denn Maria war kein Kind.
Maria war erwachsen. Für Karl und Achim war sie damals fast so wie eine Mutter gewesen. Sie arbeitete im Heim. Aber die anderen Leute, die im Heim arbeiteten, fuhren ab und zu nach Hause. Maria war nie nach Hause gefahren. Sie schien kein Zuhause zu haben. Karl schluckte. Maria lag vollkommen angezogen auf ihrer Bettdecke. Nur ihr Brustkorb hob und senkte sich beim Atmen.
Er betrat das Zimmer sehr vorsichtig. Früher war er oft hier gewesen; immer, wenn er etwas angestellt hatte oder hingefallen war und sie ihn getröstet hatte - doch jetzt kam es ihm vor, als wäre es ein ganz anderes Zimmer. Marias reglose Anwesenheit ließ die Möbel fremd und unwirklich scheinen. Es schien kälter zu sein als sonst, und es kam Karl vor, als wären die Wände in die Höhe gewachsen. Er schüttelte den Kopf und zwang sich, neben Marias Bett zu treten. Das Bett war das einzige alte Möbelstück im Raum. Es war aus dunklem Holz. Ins Kopfende waren Ranken und Vögel geschnitzt, wie es sie vielleicht in dem wilden Garten gab, hinter der Mauer. Maria hatte nie erzählt, woher sie das Bett hatte. Geerbt, bestimmt. Jetzt in der Dämmerung wirkten die geschnitzten Ranken beinahe echt, die Vögel schienen sich zu regen, und darunter leuchtete das helle Oval von Marias stillem Gesicht.
Achim trat hinter Karl. Als Karl sich umdrehte, sah er, dass Herr Sörendorf in der Tür stehen geblieben war. Die violette Dämmerung des Sommerabends ließ sich bereits im Zimmer nieder, doch keiner von ihnen machte Licht.
„Maria", flüsterte Karl. Maria reagierte nicht. Ihre Augen blickten an die Decke wie die Augen einer Blinden.
„Wir sind es", sagte Achim. „Karl und Achim. Kannst du uns hören?"
Maria starrte weiter an die Decke. Die Decke war weiß. Es gab nichts dort zu sehen.
„Maria!", rief Karl noch einmal. „Wo bist du?"
„Es nützt nichts, Karl", sagte Achim leise. „Wo immer sie ist ... sie kann uns dort nicht hören. Es ist zu weit weg."
Er schob Karl sanft zur Seite und ließ sich neben Marias Bett auf die Knie nieder. Karl kniete sich neben ihn. Ihre Gesichter waren Marias Gesicht jetzt ganz nah. Wie weiß ihre Haut war! Um ihre Nase scharten sich ein paar blasse, winzige Sommersprossen. „Ist das nicht komisch?", wisperte Achim. „Wir kennen sie eigentlich gar nicht. Sie war immer für uns da, aber wir wissen nichts über sie. Nicht mal, wie alt sie ist."
„Alt", flüsterte Karl. „Aber nicht uralt. Vielleicht Mitte dreißig."
„Sie könnte Kinder haben", flüsterte Achim. „Eigene, meine ich. Warum hat sie keine?"
Karl streckte die Hand aus, ganz vorsichtig, und legte sie auf Marias Wange. Er konnte die winzigen Härchen auf ihrer Haut spüren. Die Dämmerung ließ es gerade noch zu, Farben zu erkennen. Das Grau in Marias Augen war wie das Meer. Um das Grau herum waren ihre Augen gerötet.
„Achim", flüsterte Karl. „Sie hat geweint. Vor Kurzem."
„Aber warum?", flüsterte Achim.
Karl zuckte die Schultern. „Es ist furchtbar, so hier zu knien", sagte er. „Wie bei einer Totenwache. Man wird ganz traurig davon." Und er wollte sagen, dass es wohl besser wäre, wenn sie ins Bett gingen und morgen früh wiederkamen, da bemerkte er etwas. Etwas, das vielleicht wichtig war. Maria hatte ihre rechte Hand zu einer Faust geballt. Er strich darüber, um ihre Finger zu lösen, doch sie ließen sich nicht lösen. Ihre Hand war kalt und wie aus Stein.
„Ich habe es auch schon versucht", sagte Herr Sörendorf hinter ihnen. „Es ist, als befände sich die gesamte Kraft ihres Körpers in dieser Hand." Er seufzte. „Kommt. Vielleicht ändert sich morgen etwas."
„Morgen", sagte Karl. „Morgen", sagte Achim. Keines der Morgen klang besonders überzeugt. Sie waren bereits bei der Tür, als ein winziges Geräusch sie innehalten ließ. Das winzigste aller Geräusche. Als wäre etwas zu Boden gefallen. Sie drehten sich gleichzeitig um. Maria lag so reglos auf dem Bett wie zuvor. Die Dämmerung war dicker geworden, zäher, wie Leim. Die Möbel schienen jetzt nicht mehr zu schweben, sondern an ihrem Platz festzukleben.
„Ihre Hand", flüsterte Achim. „Karl, ihre Hand! Sieh nur."
„Du bist wohl die einzige lebende Person, die so altmodische Dinge sagt wie ‚Sieh nur‘", flüsterte Karl und versuchte zu lachen. Aber ihm war nicht nach Lachen. Ihm war ziemlich unbehaglich. Maria, die schlafende, nichtschlafende Maria, hatte die Faust geöffnet.
Und auf dem Boden, neben dem Bett, lag ein kleiner Gegenstand im Dämmerlicht. Achim ging zurück und hob ihn auf. Als er den Gegenstand ins Licht der Flurlampe hielt, sah Karl, was es war. Eine kleine, vertrocknete, dunkelrote Hagebutte. Eine rote Hagebutte mit weißen Tupfen wie ein Fliegenpilz.
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Autoren-Porträt von Antonia Michaelis
Michaelis, AntoniaAntonia Michaelis wurde 1979 in Kiel geboren. Fünf Jahre später begann sie, ihre Umwelt mit (damals noch unleserlichen) Büchern zu überschwemmen. Seitdem hat sie nicht mehr aufgehört zu schreiben: während ihrer Schulzeit in Augsburg oder auf ihren zahlreichen Auslandsreisen. Die Eindrücke und Erfahrungen, die sie auf diesen Reisen sammelte, fließen in ihre Romane ein. Heute lebt die junge Autorin, die inzwischen auch ein Medizinstudium abgeschlossen hat, im Nordosten Deutschlands. Für ihren Roman 'Der Märchenerzähler' wurde sie 2011 mit der Bad Segeberger Feder ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Antonia Michaelis
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2013, 320 Seiten, Maße: 12,9 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596811155
- ISBN-13: 9783596811151
- Erscheinungsdatum: 17.01.2013
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