Zeitsprung ins Jetzt
Ausgezeichnet mit dem Blue Peter Book of the Year 2010
Ein Experiment mit Folgen
Rachel und Ben entdecken unter der Erde ein verborgenes Labor und zwei Kinder im Kälteschlaf. Plötzlich erwachen die beiden: Polly und Freddy sind zwölf und dreizehn Jahre alt - und das seit 1956! Während Rachel und Ben noch...
Rachel und Ben entdecken unter der Erde ein verborgenes Labor und zwei Kinder im Kälteschlaf. Plötzlich erwachen die beiden: Polly und Freddy sind zwölf und dreizehn Jahre alt - und das seit 1956! Während Rachel und Ben noch...
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zeitsprung ins Jetzt “
Klappentext zu „Zeitsprung ins Jetzt “
Ein Experiment mit FolgenRachel und Ben entdecken unter der Erde ein verborgenes Labor und zwei Kinder im Kälteschlaf. Plötzlich erwachen die beiden: Polly und Freddy sind zwölf und dreizehn Jahre alt - und das seit 1956! Während Rachel und Ben noch dabei sind, ihren neuen Freunden etwas über Handys, Computer, CDs und das Leben von heute beizubringen, sind ihnen feindliche Geheimagenten schon auf der Spur ...
Eine spannende Abenteuer- und Freundschaftsgeschichte - ausgezeichnet mit dem Blue Peter Book Award 2010 in der Kategorie "Das Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte".
Lese-Probe zu „Zeitsprung ins Jetzt “
Zeitsprung ins Jetzt von Ali SparkesKapitel 1
Als der Satellit vom Himmel fiel, veränderte sich das Leben von Ben und Rachel Corder für immer. Es war eine Katastrophe. In der einen Minute schien ihre Welt noch voller Farben, Lichter und Geräusche, und in der nächsten war sie vollkommen grau und wimmelte vor Insekten. »Nein! Nein! Nein! Nein!«, heulte Rachel panisch, während Ben die Fernbedienung auf den Fernseher richtete und wieder und wieder auf die Knöpfe drückte, als ob dies irgendetwas bewirken könnte. »Wir hätten Onkel J das Ding nicht anschließen lassen dürfen«, sagte Ben. »Satellitenschüsseln sollten von Leuten installiert werden, die etwas davon verstehen, nicht von irgendeinem Onkel! Jetzt haben wir nur noch den alten Antennenanschluss. Schalte mal auf TV um ... ob da überhaupt noch was zu empfangen ist.« Rachel robbte durch das Zimmer und drückte den TV- Knopf unterhalb des Bildschirms, der das Gerät auf die alten terrestrischen, ohne Satellit empfangbaren Fernsehkanäle umschaltete. Falls es davon überhaupt noch welche gab. Es war ein Akt der Verzweiflung.
... mehr
Wenige Minuten zuvor hatten sie noch Hunderte unterschiedliche Sender sehen können, die von Musikvideos über Dokumentarfilme bis hin zu Cartoons alles boten: Popdiven, die ihre Hüften vor der Kamera schwenkten, gierige Dinosaurier, die durch lebensechte, am Computer generierte Sümpfe stampften, reale Leute, die mit anderen realen Leuten in Reality-Shows stritten, geklonte Disney-Teenager mit perfekten Zähnen und perfekten Gesangs- und Tanzeinlagen. Und nun hatten sie ... ja was? Die hohen, uralten Eichen, die das Haus umgaben, machten es nahezu unmöglich, einen öffentlich-rechtlichen Sender wie BBC1 zu empfangen. Mit dem zweiten Programm der BBC klappte es etwas besser, der Privatsender Channel 4 kam und ging, wie er wollte, und den Rest konnte man getrost vergessen. Um elf Uhr vormittags hingen Ben und Rachel in ihrer üblichen Haltung vor dem Fernseher, die Haltung, die sie fast den ganzen, verregneten Sommer über eingenommen hatten: Sie lagen bäuchlings auf dem abgewetzten Parkettboden im Wohnzimmer, auf die Ellbogen gestützt und den Blick auf die Wiederholung einer uralten Krimiserie aus den Siebzigern geheftet. »Wir werden Onkel J bitten müssen, einen Fernsehtechniker anzurufen, wofür er aber bestimmt wieder eine halbe Ewigkeit brauchen wird«, seufzte Ben.
Gedankenverloren zog er mit dem Fingernagel einen feuchten Fleck auf dem Boden nach, während Rachel eine lose Holzdiele auf- und abwippen ließ und in Richtung Bildschirm blinzelte, auf dem ein Siebzigerjahre- Detektiv ein Verbrechen löste, umschwirrt von erbarmungslosen Killerbienen. Die Bienen gehörten allerdings nicht zu dem Kriminalfall. Der Fernsehempfang war einfach furchtbar schlecht. Aus dem überlasteten TV-Gerät drang ein heißer, staubiger Geruch, doch die beiden Geschwister waren an diesem Vormittag schlichtweg zu träge und antriebsarm, um irgendetwas dagegen zu unternehmen. Gern wären sie nach draußen ins Freie gegangen, aber der endlose Regen machte das Spielen in ihrem riesigen, verwilderten Garten nahezu unmöglich. Steil abfallend und von wuchernden Sträuchern und Bäumen bedeckt, hatte er sich in ein gewaltiges Schlammbad verwandelt, vor allem auf dem unteren Rasen am Bachufer, wo sie normalerweise spielten. Dort versank man bis zu den Knöcheln im Matsch. Aber auch im Haus konnten sie nicht problemlos spielen, da Onkel J in seinem Labor unter dem Dach arbeitete. Ben und Rachel machten beim Herumtoben leider immer ziemlich viel Lärm, und Onkel J wurde deswegen leider immer ziemlich sauer, weil er sich dann nicht mehr konzentrieren konnte.
Im Grunde war Onkel Jerome kein schlechter Kerl. Er war bloß superschlau und brachte, wenn er sich in seine Arbeit vertieft hatte, für alles andere nur wenig Geduld auf. Das Ganze ließ sich etwas leichter ertragen, wenn ihre Eltern zu Hause waren, doch in diesem Sommer befanden sie sich mal wieder auf Tournee - wie fast jeden Sommer. Bens und Rachels Eltern traten als Varietékünstler auf. Wirklich. Ihr Vater konnte Feuer schlucken und zersägte ihre Mutter jeden Abend in zwei Hälften. Die beiden waren ziemlich gut und wurden daher viel gebucht, und die meisten Engagements gab es nun mal von Mai bis September. Im Moment schipperten sie auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff übers Meer. Und das bedeutete, dass Onkel Jerome, der mit ihnen in dem großen alten Haus am Stadtrand wohnte, zu ihrem Babysitter wurde, sobald die Varietésaison losging. Eigentlich war er ein ziemlich guter Babysitter, weil es ihn kaum interessierte, was sein dreizehnjähriger Neffe und seine zwölfjährige Nichte so alles ausheckten ... so lange es nicht Mord und Totschlag beinhaltete, oder schlimmer noch, eine Menge Lärm. »Glaubst du, er würde es überhaupt bemerken, wenn wir tot wären?«, murmelte Ben, das Kinn auf die Hände gestützt und den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, wo der Siebzigerjahre-Detektiv in seinem Cabrio durch den Bienenschwarm raste.
»Wer ... Onkel J?«, fragte Rachel, rollte sich auf den Rücken, gähnte gelangweilt und starrte an die hohe Stuck- decke. »Die ersten Tage bestimmt nicht. Es sei denn, es würde uns gelingen, gleichzeitig tot und laut zu sein.« Ben grinste. »Vielleicht wenn ich mit meinem letzten Atemzug auf die Fernbedienung fallen und den Lautstärkeregler einklemmen würde. Stell dir vor, Scooby-Doo wäre an, und das Gewicht meines toten Körpers würde die Folge lauter und lauter werden lassen.« Rachel kicherte. Nichtstun und Langeweile hatten sie mürbe gemacht. »Oder wenn ich mich im Deckenventilator im Esszimmer verfangen würde«, überlegte sie. »Das heißt, falls er stark genug wäre, einen Leichnam zu tragen. Und falls er eingeschaltet wäre. Dann würde ich Runde um Runde über dem Esstisch drehen und mit meinen toten Füßen jedes Mal gegen die Keksdose scheppern. « Sie lachte sich schlapp. »Allerdings müsstest du den Ventilator für mich einschalten, ehe du tot auf die Fernbedienung fällst.« Die beiden konnten gar nicht mehr aufhören zu kichern. Und dann flog der Fernseher in die Luft: Es gab einen blauen Blitz und einen lauten Knall, und der beißende Geruch von versengtem Staub drang den beiden plötzlich in die Nase. Ruckartig richteten sie sich auf und starrten einen Moment auf den schwarzen Bildschirm, ehe Ben aufsprang, zur Steckdose rannte und den Stecker zog. »Au!«, stieß er hervor. »Der ist ja total heiß!« Ängstlich schauten sie sich die Rückseite des Fernsehapparats an. Der heiße, staubige Geruch kam vor allem aus dem dunkelgrauen Plastikgehäuse mit der Fernsehröhre. Glücklicherweise hatte aber nichts Feuer gefangen. Die Geschwister setzten sich wieder auf den Boden und schauten sich ratlos an. Zugegeben, in den letzten zwanzig Sekunden hatte ihnen der Fernseher vermutlich mehr Aufregung und Spannung beschert als in den vergangenen fünf Wochen, aber jetzt blieben ihnen nicht einmal mehr die Siebzigerjahre-Krimis. Die letzte Ferienwoche schien sich plötzlich ins Unendliche auszudehnen. Noch mehr Regen. Noch weniger Fernsehen. »Oh nein«, murmelte Ben matt. »Ich fürchte, wir werden bald wieder Monopoly spielen.« »So weit ist es noch lange nicht«, widersprach Rachel. »Vielleicht hört es ja auf zu regnen.« Verloren starrten die beiden hinaus in den dunkelgrünen, matschigen Garten. Hinter dem Perlenvorhang aus Wassertropfen, die vom Himmel prasselten, fiel das Gelände steil zum unteren Rasen am Bachufer ab. Bens und Rachels Eltern waren als Gärtner einfach hoffnungslos, aber das spielte keine Rolle. Während eines normalen Sommers eignete sich der Garten hervorragend zum Spielen. Er besaß etliche hohe Bäume und Gewächse - alte Eichen, Ebereschen, Eschen und Holunder sowie mehrere ertragreiche Apfelbäume und Haselnusssträucher, die etwa einem Dutzend Eichhörnchen als Speisekammer dienten. Durch das wuchernde Gras und die dichten Büsche huschten regelmäßig Füchse, und Eichelhäher kreischten lauthals in den Bäumen. Es war ein Naturgarten; so bezeichnete ihn jedenfalls ihre Mutter. Auf diese Weise rechtfertigte sie auch die Tatsache, dass sie nie den Rasen mähte. Ein- oder zweimal im Jahr beauftragte die Familie einen Gartenbetrieb, um den Wildwuchs ein wenig zurückzuschneiden, damit sie wieder vor die Haustür treten konnte. Doch die meiste Zeit blieb der Garten sich selbst überlassen, genau wie der dichte, undurchdringliche Wald jenseits des Bachs, der ebenfalls zum Anwesen gehörte. Im Grunde war der Garten klasse, überlegte Rachel. Sie lehnte die Stirn gegen das kalte, wellige Glas der Schiebefenster. Ihr tiefer Seufzer ließ die Scheibe beschlagen. Aber wenn es draußen nass war ... dermaßen nass war ... konnte man den Garten nicht nutzen. Man schaffte es ja nicht mal hinunter zum Bachufer, es sei denn, mit dem Kopf voran.
»Mist«, sagte Ben. Niedergeschlagen hockte er sich auf den alten Lederpuff neben Rachel und ließ die Stirn ebenfalls gegen die Fensterscheibe sinken. Und dann hörte es plötzlich auf zu regnen. Einfach so. Und die Sonne kam zum Vorschein. »Was ist denn das für ein merkwürdiges Licht?«, fragte Ben. Rachel war sich nicht sicher, ob ihr Bruder wirklich nur scherzte. Zum ersten Mal seit über drei Wochen lächelte ihnen die Sommersonne zu. Die beiden jubelten lauthals. Stießen Freudenschreie aus. Sprangen auf und ab und rannten in den Flur. Am oberen Treppenabsatz tauchte Onkel Jerome auf und schaute zu ihnen hinab. »Was ist das für ein Radau?«, rief er grimmig. »Die Sonne! Die Sonne!« Aufgeregt hüpfte Rachel durch den Flur, während Ben ihre Gummistiefel aus dem Schrank unter der Treppe fischte. »Guck doch!« Onkel Jerome sah blinzelnd zur großen Haustür mit den Buntglasscheiben. Die Grün-, Rot- und Gelbtöne der farbigen Glasflächen spiegelten sich in den matten Fliesen des Flurbodens. Sogar Onkel Jerome begann zu lächeln. »Das ist ja mal eine gute Nachricht!«, meinte er. »Jetzt könnt ihr eine Weile nach draußen und wir müssen uns nicht mehr gegenseitig in den Wahnsinn treiben.« In dem Moment, als Ben die Haustür öffnete, klatschte ihm eine tropfnasse Geißblattblüte ins Gesicht. Aber das war ihm egal. Seine Schwester und er stürmten die Veranda hinunter und blieben auf dem schmalen Kiesweg stehen, der oberhalb des steil abfallenden Teils des Gartens verlief. Sie reckten die blassen Gesichter in den Himmel und spürten, wie ihnen die helle Sonne mit ihren sanften, warmen, lang ersehnten Strahlen über Nase und Wangen strich. »Ah! Endlich!«, sagte Rachel aus tiefstem Herzen. Sie hatte das Gefühl, vor Freude fast in Tränen ausbrechen zu müssen. Selbst der Anblick der herabgestürzten Satellitenschüssel, die neben der Veranda an ihrem Kabel baumelte, störte sie nun nicht mehr. Die Geschwister stürmten am Zierbrunnen vorbei und hinüber zum riesigen Ahornbaum, der oberhalb des Bachufers in einem dichten Gewirr aus hellem Stamm und Ästen wuchs - ein idealer Halt, um sich vorsichtig die ersten Meter der rutschigen Grünfläche hinunterzulassen. Danach folgte ein Sprung zu den Rhododendronbüschen, die einen möglichen Sturz hoffentlich abfangen würden, ehe man durch kniehohe Sträucher und Liliengewächse streifen musste, um zum unteren Rasen zu gelangen. Der untere Rasen erinnerte an einen gewaltigen Schokoladenpudding: Das Gras lag zehn bis elf Zentimeter hoch unter Schlammwasser verborgen. Der Bach war weit über seine Ufer getreten. Auf der gegenüberliegenden Seite stieg das Ufer wieder steil an, fest im Griff der knorrigen Wurzeln der Bäume, die dort schon seit Hunderten von Jahren standen. Ben und Rachel wateten mit ihren Gummistiefeln über den Rasen und spritzten eine Menge Wasser auf, als sie das steinige Flussbett durchquerten. Am anderen Ufer angekommen, hielten sie sich an den Baumwurzeln fest und hievten sich die Böschung hinauf. »Versteck?«, fragte Ben nur. »Wenn es nicht weggespült worden ist!«, erwiderte Rachel. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg zu einer Ansammlung von Holzbrettern und alten Türen, aus denen sie sich im Sommer zuvor ein Versteck gebaut hatten. Wie eine Art Zelt lehnten die Bretter gegen den fast waagerecht wachsenden Ast einer Buche. Im Inneren ihres Verstecks erwarteten sie triefend nasse Plastikwannen, und die hölzerne Teekiste, die sie als Tisch genutzt hatten, war durchweicht und verschimmelt. »Wir hätten alles mit einer Kunststoffplane abdecken sollen «, seufzte Rachel. Doch Ben hörte ihr gar nicht zu. Gebannt starrte er auf irgendetwas, das sich zwischen den Bäumen befand. Er runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.
»Was ist los?«, fragte Rachel und versuchte, seinem Blick zu folgen. »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Ben. »Da hinten ist irgendwas ... irgendetwas Glänzendes. Siehst du? Da unten. Im Boden steckt irgendetwas Glänzendes.« Rachel schob sich neben Ben und starrte in die Richtung, in die er zeigte. Er hatte recht. Da war wirklich etwas ... etwas Glattes, das im fahlen Sonnenlicht glitzerte, tief zwischen Wurzeln und Efeu und dunkelbrauner Erde verborgen. »Wahrscheinlich eine alte Radkappe von einem Auto oder so was Ähnliches«, meinte Rachel. »Vermutlich hat mal wieder jemand einfach seinen Krempel hier abgeladen. Hey! Warte auf mich!« Ben war bereits losgerannt und rutschte und schlitterte über den knorrigen Waldboden, um den Gegenstand genauer zu untersuchen. Rachel kletterte hinter ihm her. Vermutlich würde sich das Ding als Müll entpuppen, aber falls nicht, wollte sie dabei sein. Als sie Ben eingeholt hatte, hockte er bereits über dem Ding und wischte faulige Blätter, Erde und Moos von der Oberfläche. Aus der Nähe betrachtet, erinnerte es an ein Autolenkrad - ein altmodisches, großes Lenkrad aus Metall, wie man es von Oldtimern kannte. Es steckte mit einer leichten Neigung in der Erde, halb verdeckt von den stark zersetzten Überresten eines alten Baumstamms. Es hatte den Anschein, als wäre der Baumstamm durch die heftigen Regengüsse ein Stück die Böschung hinuntergerutscht. »Was ist das?« »Keine Ahnung«, sagte Ben und stöhnte vor Anstrengung beim Versuch, das Lenkrad aus dem Boden zu befreien. Es war ihm gelungen, seine Finger an zwei Stellen um die kreisförmige Metallröhre zu krallen, aber obwohl er kräftig daran zog, rührte sich das Ding nicht vom Fleck. Rachel hockte sich neben ihn und grub ihre Finger ebenfalls in die kalte Erde, die das Metall umgab. Instinktiv holten beide tief Luft; dann zogen sie aus Leibeskräften. Angestrengtes Ächzen und Stöhnen drang durch das dichte Gestrüpp und scheuchte ein paar Ringeltauben auf, die schwerfällig zwischen den hohen Ästen hin und her flatterten und sich gurrend über die Störung beschwerten. Doch das Lenkrad rührte sich keinen Millimeter. »Vermutlich ist es an irgendetwas im Boden befestigt«, sagte Ben und grub die Finger tiefer in die dunkle Erde, die das Objekt umgab. »Komm, hilf mir.« Rachel verstand nicht, warum er so aufgeregt war. Es handelte sich doch nur um ein Lenkrad. Trotzdem zuckte sie die Achseln, kniete sich auf die feuchte Erde und ignorierte das Wasser, das von ihrer Jeans wie von einem Schwamm aufgesogen wurde. Dann formte sie die Finger zu einem Spaten, so wie ihr Bruder.
Nach gut einem Monat unaufhörlichen Regens war der Boden vollkommen durchweicht und gab bereitwillig nach. Schon bald hatten die beiden eine Art Krater rund um das Lenkrad freigelegt, in dessen Mitte jetzt eine dicke Metallstange zu erkennen war, die senkrecht in das Erdreich führte. »Was ist das für ein Metall?«, fragte Rachel und schnipste einen sich windenden, verärgerten Regenwurm von ihren Fingern. »Stahl, vermute ich«, sagte Ben, obwohl er es nicht genau wusste. »Jedenfalls irgendetwas sehr Hartes und Massives. Grab weiter.« Ihre Kleidung wurde nun richtig dreckig, aber das kümmerte die beiden nicht. Onkel Jerome würde es gar nicht auffallen, und da sie ihre Sachen ohnehin selbst wuschen, würde bei ihrer Rückkehr niemand mit tadelndem Schnaufen und verärgert verschränkten Armen auf sie warten. Wenige Minuten später war der Krater mehrere Zentimeter tief, und die Erde schien nur noch feucht, nicht mehr völlig durchweicht. Allmählich verlor Ben die Geduld. Er packte das Lenkrad und rüttelte daran, doch es tat sich nichts. Entnervt setzte er sich auf seine matschigen Fersen und strich sich den dunkelblonden Pony aus den Augen, was eine breite Spur erdiger Waldtusche auf seiner Braue hinterließ. »Das Ding müsste eigentlich langsam nachgeben!«, murrte er verärgert. »Wir müssten in der Lage sein, es herauszuziehen! Dann können wir einen Gokart oder was Ähnliches damit bauen.« Auch Rachel hockte sich auf die Fersen und atmete schwer von der Anstrengung. »Vielleicht ist es ja gar kein Lenkrad«, überlegte sie. Ben runzelte die dreckbespritzte Stirn und dachte nach. Dann stand er auf und betrachtete die umliegenden Bäume. Als Nächstes stellte er mit seinen schlammverkrusteten Händen ein paar vage Berechnungen an, hielt sie senkrecht und musterte den Himmel durch die Lücken zwischen den tropffeuchten Blättern. Dann wandte er sich wieder dem Lenkrad zu. »Das Ding liegt absolut waagerecht!«, stellte er nachdenklich fest. »Wirklich?« »Ja. Am Anfang konnte man das nicht genau erkennen, weil der Untergrund hier eine Neigung hat. Wir sind ja schließlich auf einer Uferböschung.« Erneut ließ er sich auf den Boden sinken, kniete sich an den Rand des Kraters und stützte Ellbogen und Unterarme auf das widerspenstige Metallrad. Dann kaute er eine Weile auf der Unterlippe, wie immer, wenn ihm eine Idee kam. »Ich glaube, das Ding ist mit irgendetwas Großem, Schwerem unter der Erde verbunden. Es muss sich hier schon seit Jahren befinden, aber der Baumstamm hat darauf gelegen. Los, lass uns weitermachen!« Mit neuem Schwung tauchte er in den Krater und buddelte weiter. Rachel schloss sich ihm an: Sie schob ihre Finger tief in die Erde, riss das Geflecht aus feinen Wurzeln auseinander, schaufelte schwere Erdklumpen nach oben und warf sie aus der Ausgrabungsstätte. Beide Geschwister wirkten plötzlich wie aufgedreht, das hier war viel besser als Fernsehen. Schon nach kurzer Zeit stieß Ben einen kleinen Schrei aus. Seine Finger waren auf weiteres Metall gestoßen ... die dicke Säule, die senkrecht ins Erdreich führte, verband das Rad mit einer flachen Metallplatte. Gemeinsam versuchten sie, die Platte aus ihrem dunkelbraunen Schlammbett zu lösen, aber sie war so unbeweglich wie das Rad. Verblüfft ließen Ben und Rachel sich zurücksinken und starrten ihren Fund an. Dann stieß Ben einen Freuden- schrei aus und rieb die metallene Oberfläche weiter frei, etwa fünf Zentimeter unterhalb der Säule. Unter seinen Fingern flog die Erde nur so beiseite. Das Metall war an dieser Stelle gewölbt, es bildete eine Art Relief: Ein geschwungener Bogen zog sich um den Fuß der Säule herum und mündete in einer dreieckigen Spitze. »Das ist ein Pfeil!«, keuchte Ben. »Ein Pfeil!« »Und was bedeutet das?« Ben betrachtete seine Schwester mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen. »Das ist ein Pfeil! Wie die auf Wasserhähnen oder Flaschendeckeln. Er sagt uns, in welche Richtung wir das Rad drehen müssen!« Rachel starrte auf das Rad und dann auf den Pfeil. »Kapierst du denn nicht?«, rief Ben; seine Stimme klang vor Aufregung viel heller als sonst. »Das Ding lässt sich öffnen! Da unten ist irgendetwas ... und es lässt sich öffnen! «
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wenige Minuten zuvor hatten sie noch Hunderte unterschiedliche Sender sehen können, die von Musikvideos über Dokumentarfilme bis hin zu Cartoons alles boten: Popdiven, die ihre Hüften vor der Kamera schwenkten, gierige Dinosaurier, die durch lebensechte, am Computer generierte Sümpfe stampften, reale Leute, die mit anderen realen Leuten in Reality-Shows stritten, geklonte Disney-Teenager mit perfekten Zähnen und perfekten Gesangs- und Tanzeinlagen. Und nun hatten sie ... ja was? Die hohen, uralten Eichen, die das Haus umgaben, machten es nahezu unmöglich, einen öffentlich-rechtlichen Sender wie BBC1 zu empfangen. Mit dem zweiten Programm der BBC klappte es etwas besser, der Privatsender Channel 4 kam und ging, wie er wollte, und den Rest konnte man getrost vergessen. Um elf Uhr vormittags hingen Ben und Rachel in ihrer üblichen Haltung vor dem Fernseher, die Haltung, die sie fast den ganzen, verregneten Sommer über eingenommen hatten: Sie lagen bäuchlings auf dem abgewetzten Parkettboden im Wohnzimmer, auf die Ellbogen gestützt und den Blick auf die Wiederholung einer uralten Krimiserie aus den Siebzigern geheftet. »Wir werden Onkel J bitten müssen, einen Fernsehtechniker anzurufen, wofür er aber bestimmt wieder eine halbe Ewigkeit brauchen wird«, seufzte Ben.
Gedankenverloren zog er mit dem Fingernagel einen feuchten Fleck auf dem Boden nach, während Rachel eine lose Holzdiele auf- und abwippen ließ und in Richtung Bildschirm blinzelte, auf dem ein Siebzigerjahre- Detektiv ein Verbrechen löste, umschwirrt von erbarmungslosen Killerbienen. Die Bienen gehörten allerdings nicht zu dem Kriminalfall. Der Fernsehempfang war einfach furchtbar schlecht. Aus dem überlasteten TV-Gerät drang ein heißer, staubiger Geruch, doch die beiden Geschwister waren an diesem Vormittag schlichtweg zu träge und antriebsarm, um irgendetwas dagegen zu unternehmen. Gern wären sie nach draußen ins Freie gegangen, aber der endlose Regen machte das Spielen in ihrem riesigen, verwilderten Garten nahezu unmöglich. Steil abfallend und von wuchernden Sträuchern und Bäumen bedeckt, hatte er sich in ein gewaltiges Schlammbad verwandelt, vor allem auf dem unteren Rasen am Bachufer, wo sie normalerweise spielten. Dort versank man bis zu den Knöcheln im Matsch. Aber auch im Haus konnten sie nicht problemlos spielen, da Onkel J in seinem Labor unter dem Dach arbeitete. Ben und Rachel machten beim Herumtoben leider immer ziemlich viel Lärm, und Onkel J wurde deswegen leider immer ziemlich sauer, weil er sich dann nicht mehr konzentrieren konnte.
Im Grunde war Onkel Jerome kein schlechter Kerl. Er war bloß superschlau und brachte, wenn er sich in seine Arbeit vertieft hatte, für alles andere nur wenig Geduld auf. Das Ganze ließ sich etwas leichter ertragen, wenn ihre Eltern zu Hause waren, doch in diesem Sommer befanden sie sich mal wieder auf Tournee - wie fast jeden Sommer. Bens und Rachels Eltern traten als Varietékünstler auf. Wirklich. Ihr Vater konnte Feuer schlucken und zersägte ihre Mutter jeden Abend in zwei Hälften. Die beiden waren ziemlich gut und wurden daher viel gebucht, und die meisten Engagements gab es nun mal von Mai bis September. Im Moment schipperten sie auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff übers Meer. Und das bedeutete, dass Onkel Jerome, der mit ihnen in dem großen alten Haus am Stadtrand wohnte, zu ihrem Babysitter wurde, sobald die Varietésaison losging. Eigentlich war er ein ziemlich guter Babysitter, weil es ihn kaum interessierte, was sein dreizehnjähriger Neffe und seine zwölfjährige Nichte so alles ausheckten ... so lange es nicht Mord und Totschlag beinhaltete, oder schlimmer noch, eine Menge Lärm. »Glaubst du, er würde es überhaupt bemerken, wenn wir tot wären?«, murmelte Ben, das Kinn auf die Hände gestützt und den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, wo der Siebzigerjahre-Detektiv in seinem Cabrio durch den Bienenschwarm raste.
»Wer ... Onkel J?«, fragte Rachel, rollte sich auf den Rücken, gähnte gelangweilt und starrte an die hohe Stuck- decke. »Die ersten Tage bestimmt nicht. Es sei denn, es würde uns gelingen, gleichzeitig tot und laut zu sein.« Ben grinste. »Vielleicht wenn ich mit meinem letzten Atemzug auf die Fernbedienung fallen und den Lautstärkeregler einklemmen würde. Stell dir vor, Scooby-Doo wäre an, und das Gewicht meines toten Körpers würde die Folge lauter und lauter werden lassen.« Rachel kicherte. Nichtstun und Langeweile hatten sie mürbe gemacht. »Oder wenn ich mich im Deckenventilator im Esszimmer verfangen würde«, überlegte sie. »Das heißt, falls er stark genug wäre, einen Leichnam zu tragen. Und falls er eingeschaltet wäre. Dann würde ich Runde um Runde über dem Esstisch drehen und mit meinen toten Füßen jedes Mal gegen die Keksdose scheppern. « Sie lachte sich schlapp. »Allerdings müsstest du den Ventilator für mich einschalten, ehe du tot auf die Fernbedienung fällst.« Die beiden konnten gar nicht mehr aufhören zu kichern. Und dann flog der Fernseher in die Luft: Es gab einen blauen Blitz und einen lauten Knall, und der beißende Geruch von versengtem Staub drang den beiden plötzlich in die Nase. Ruckartig richteten sie sich auf und starrten einen Moment auf den schwarzen Bildschirm, ehe Ben aufsprang, zur Steckdose rannte und den Stecker zog. »Au!«, stieß er hervor. »Der ist ja total heiß!« Ängstlich schauten sie sich die Rückseite des Fernsehapparats an. Der heiße, staubige Geruch kam vor allem aus dem dunkelgrauen Plastikgehäuse mit der Fernsehröhre. Glücklicherweise hatte aber nichts Feuer gefangen. Die Geschwister setzten sich wieder auf den Boden und schauten sich ratlos an. Zugegeben, in den letzten zwanzig Sekunden hatte ihnen der Fernseher vermutlich mehr Aufregung und Spannung beschert als in den vergangenen fünf Wochen, aber jetzt blieben ihnen nicht einmal mehr die Siebzigerjahre-Krimis. Die letzte Ferienwoche schien sich plötzlich ins Unendliche auszudehnen. Noch mehr Regen. Noch weniger Fernsehen. »Oh nein«, murmelte Ben matt. »Ich fürchte, wir werden bald wieder Monopoly spielen.« »So weit ist es noch lange nicht«, widersprach Rachel. »Vielleicht hört es ja auf zu regnen.« Verloren starrten die beiden hinaus in den dunkelgrünen, matschigen Garten. Hinter dem Perlenvorhang aus Wassertropfen, die vom Himmel prasselten, fiel das Gelände steil zum unteren Rasen am Bachufer ab. Bens und Rachels Eltern waren als Gärtner einfach hoffnungslos, aber das spielte keine Rolle. Während eines normalen Sommers eignete sich der Garten hervorragend zum Spielen. Er besaß etliche hohe Bäume und Gewächse - alte Eichen, Ebereschen, Eschen und Holunder sowie mehrere ertragreiche Apfelbäume und Haselnusssträucher, die etwa einem Dutzend Eichhörnchen als Speisekammer dienten. Durch das wuchernde Gras und die dichten Büsche huschten regelmäßig Füchse, und Eichelhäher kreischten lauthals in den Bäumen. Es war ein Naturgarten; so bezeichnete ihn jedenfalls ihre Mutter. Auf diese Weise rechtfertigte sie auch die Tatsache, dass sie nie den Rasen mähte. Ein- oder zweimal im Jahr beauftragte die Familie einen Gartenbetrieb, um den Wildwuchs ein wenig zurückzuschneiden, damit sie wieder vor die Haustür treten konnte. Doch die meiste Zeit blieb der Garten sich selbst überlassen, genau wie der dichte, undurchdringliche Wald jenseits des Bachs, der ebenfalls zum Anwesen gehörte. Im Grunde war der Garten klasse, überlegte Rachel. Sie lehnte die Stirn gegen das kalte, wellige Glas der Schiebefenster. Ihr tiefer Seufzer ließ die Scheibe beschlagen. Aber wenn es draußen nass war ... dermaßen nass war ... konnte man den Garten nicht nutzen. Man schaffte es ja nicht mal hinunter zum Bachufer, es sei denn, mit dem Kopf voran.
»Mist«, sagte Ben. Niedergeschlagen hockte er sich auf den alten Lederpuff neben Rachel und ließ die Stirn ebenfalls gegen die Fensterscheibe sinken. Und dann hörte es plötzlich auf zu regnen. Einfach so. Und die Sonne kam zum Vorschein. »Was ist denn das für ein merkwürdiges Licht?«, fragte Ben. Rachel war sich nicht sicher, ob ihr Bruder wirklich nur scherzte. Zum ersten Mal seit über drei Wochen lächelte ihnen die Sommersonne zu. Die beiden jubelten lauthals. Stießen Freudenschreie aus. Sprangen auf und ab und rannten in den Flur. Am oberen Treppenabsatz tauchte Onkel Jerome auf und schaute zu ihnen hinab. »Was ist das für ein Radau?«, rief er grimmig. »Die Sonne! Die Sonne!« Aufgeregt hüpfte Rachel durch den Flur, während Ben ihre Gummistiefel aus dem Schrank unter der Treppe fischte. »Guck doch!« Onkel Jerome sah blinzelnd zur großen Haustür mit den Buntglasscheiben. Die Grün-, Rot- und Gelbtöne der farbigen Glasflächen spiegelten sich in den matten Fliesen des Flurbodens. Sogar Onkel Jerome begann zu lächeln. »Das ist ja mal eine gute Nachricht!«, meinte er. »Jetzt könnt ihr eine Weile nach draußen und wir müssen uns nicht mehr gegenseitig in den Wahnsinn treiben.« In dem Moment, als Ben die Haustür öffnete, klatschte ihm eine tropfnasse Geißblattblüte ins Gesicht. Aber das war ihm egal. Seine Schwester und er stürmten die Veranda hinunter und blieben auf dem schmalen Kiesweg stehen, der oberhalb des steil abfallenden Teils des Gartens verlief. Sie reckten die blassen Gesichter in den Himmel und spürten, wie ihnen die helle Sonne mit ihren sanften, warmen, lang ersehnten Strahlen über Nase und Wangen strich. »Ah! Endlich!«, sagte Rachel aus tiefstem Herzen. Sie hatte das Gefühl, vor Freude fast in Tränen ausbrechen zu müssen. Selbst der Anblick der herabgestürzten Satellitenschüssel, die neben der Veranda an ihrem Kabel baumelte, störte sie nun nicht mehr. Die Geschwister stürmten am Zierbrunnen vorbei und hinüber zum riesigen Ahornbaum, der oberhalb des Bachufers in einem dichten Gewirr aus hellem Stamm und Ästen wuchs - ein idealer Halt, um sich vorsichtig die ersten Meter der rutschigen Grünfläche hinunterzulassen. Danach folgte ein Sprung zu den Rhododendronbüschen, die einen möglichen Sturz hoffentlich abfangen würden, ehe man durch kniehohe Sträucher und Liliengewächse streifen musste, um zum unteren Rasen zu gelangen. Der untere Rasen erinnerte an einen gewaltigen Schokoladenpudding: Das Gras lag zehn bis elf Zentimeter hoch unter Schlammwasser verborgen. Der Bach war weit über seine Ufer getreten. Auf der gegenüberliegenden Seite stieg das Ufer wieder steil an, fest im Griff der knorrigen Wurzeln der Bäume, die dort schon seit Hunderten von Jahren standen. Ben und Rachel wateten mit ihren Gummistiefeln über den Rasen und spritzten eine Menge Wasser auf, als sie das steinige Flussbett durchquerten. Am anderen Ufer angekommen, hielten sie sich an den Baumwurzeln fest und hievten sich die Böschung hinauf. »Versteck?«, fragte Ben nur. »Wenn es nicht weggespült worden ist!«, erwiderte Rachel. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg zu einer Ansammlung von Holzbrettern und alten Türen, aus denen sie sich im Sommer zuvor ein Versteck gebaut hatten. Wie eine Art Zelt lehnten die Bretter gegen den fast waagerecht wachsenden Ast einer Buche. Im Inneren ihres Verstecks erwarteten sie triefend nasse Plastikwannen, und die hölzerne Teekiste, die sie als Tisch genutzt hatten, war durchweicht und verschimmelt. »Wir hätten alles mit einer Kunststoffplane abdecken sollen «, seufzte Rachel. Doch Ben hörte ihr gar nicht zu. Gebannt starrte er auf irgendetwas, das sich zwischen den Bäumen befand. Er runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.
»Was ist los?«, fragte Rachel und versuchte, seinem Blick zu folgen. »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Ben. »Da hinten ist irgendwas ... irgendetwas Glänzendes. Siehst du? Da unten. Im Boden steckt irgendetwas Glänzendes.« Rachel schob sich neben Ben und starrte in die Richtung, in die er zeigte. Er hatte recht. Da war wirklich etwas ... etwas Glattes, das im fahlen Sonnenlicht glitzerte, tief zwischen Wurzeln und Efeu und dunkelbrauner Erde verborgen. »Wahrscheinlich eine alte Radkappe von einem Auto oder so was Ähnliches«, meinte Rachel. »Vermutlich hat mal wieder jemand einfach seinen Krempel hier abgeladen. Hey! Warte auf mich!« Ben war bereits losgerannt und rutschte und schlitterte über den knorrigen Waldboden, um den Gegenstand genauer zu untersuchen. Rachel kletterte hinter ihm her. Vermutlich würde sich das Ding als Müll entpuppen, aber falls nicht, wollte sie dabei sein. Als sie Ben eingeholt hatte, hockte er bereits über dem Ding und wischte faulige Blätter, Erde und Moos von der Oberfläche. Aus der Nähe betrachtet, erinnerte es an ein Autolenkrad - ein altmodisches, großes Lenkrad aus Metall, wie man es von Oldtimern kannte. Es steckte mit einer leichten Neigung in der Erde, halb verdeckt von den stark zersetzten Überresten eines alten Baumstamms. Es hatte den Anschein, als wäre der Baumstamm durch die heftigen Regengüsse ein Stück die Böschung hinuntergerutscht. »Was ist das?« »Keine Ahnung«, sagte Ben und stöhnte vor Anstrengung beim Versuch, das Lenkrad aus dem Boden zu befreien. Es war ihm gelungen, seine Finger an zwei Stellen um die kreisförmige Metallröhre zu krallen, aber obwohl er kräftig daran zog, rührte sich das Ding nicht vom Fleck. Rachel hockte sich neben ihn und grub ihre Finger ebenfalls in die kalte Erde, die das Metall umgab. Instinktiv holten beide tief Luft; dann zogen sie aus Leibeskräften. Angestrengtes Ächzen und Stöhnen drang durch das dichte Gestrüpp und scheuchte ein paar Ringeltauben auf, die schwerfällig zwischen den hohen Ästen hin und her flatterten und sich gurrend über die Störung beschwerten. Doch das Lenkrad rührte sich keinen Millimeter. »Vermutlich ist es an irgendetwas im Boden befestigt«, sagte Ben und grub die Finger tiefer in die dunkle Erde, die das Objekt umgab. »Komm, hilf mir.« Rachel verstand nicht, warum er so aufgeregt war. Es handelte sich doch nur um ein Lenkrad. Trotzdem zuckte sie die Achseln, kniete sich auf die feuchte Erde und ignorierte das Wasser, das von ihrer Jeans wie von einem Schwamm aufgesogen wurde. Dann formte sie die Finger zu einem Spaten, so wie ihr Bruder.
Nach gut einem Monat unaufhörlichen Regens war der Boden vollkommen durchweicht und gab bereitwillig nach. Schon bald hatten die beiden eine Art Krater rund um das Lenkrad freigelegt, in dessen Mitte jetzt eine dicke Metallstange zu erkennen war, die senkrecht in das Erdreich führte. »Was ist das für ein Metall?«, fragte Rachel und schnipste einen sich windenden, verärgerten Regenwurm von ihren Fingern. »Stahl, vermute ich«, sagte Ben, obwohl er es nicht genau wusste. »Jedenfalls irgendetwas sehr Hartes und Massives. Grab weiter.« Ihre Kleidung wurde nun richtig dreckig, aber das kümmerte die beiden nicht. Onkel Jerome würde es gar nicht auffallen, und da sie ihre Sachen ohnehin selbst wuschen, würde bei ihrer Rückkehr niemand mit tadelndem Schnaufen und verärgert verschränkten Armen auf sie warten. Wenige Minuten später war der Krater mehrere Zentimeter tief, und die Erde schien nur noch feucht, nicht mehr völlig durchweicht. Allmählich verlor Ben die Geduld. Er packte das Lenkrad und rüttelte daran, doch es tat sich nichts. Entnervt setzte er sich auf seine matschigen Fersen und strich sich den dunkelblonden Pony aus den Augen, was eine breite Spur erdiger Waldtusche auf seiner Braue hinterließ. »Das Ding müsste eigentlich langsam nachgeben!«, murrte er verärgert. »Wir müssten in der Lage sein, es herauszuziehen! Dann können wir einen Gokart oder was Ähnliches damit bauen.« Auch Rachel hockte sich auf die Fersen und atmete schwer von der Anstrengung. »Vielleicht ist es ja gar kein Lenkrad«, überlegte sie. Ben runzelte die dreckbespritzte Stirn und dachte nach. Dann stand er auf und betrachtete die umliegenden Bäume. Als Nächstes stellte er mit seinen schlammverkrusteten Händen ein paar vage Berechnungen an, hielt sie senkrecht und musterte den Himmel durch die Lücken zwischen den tropffeuchten Blättern. Dann wandte er sich wieder dem Lenkrad zu. »Das Ding liegt absolut waagerecht!«, stellte er nachdenklich fest. »Wirklich?« »Ja. Am Anfang konnte man das nicht genau erkennen, weil der Untergrund hier eine Neigung hat. Wir sind ja schließlich auf einer Uferböschung.« Erneut ließ er sich auf den Boden sinken, kniete sich an den Rand des Kraters und stützte Ellbogen und Unterarme auf das widerspenstige Metallrad. Dann kaute er eine Weile auf der Unterlippe, wie immer, wenn ihm eine Idee kam. »Ich glaube, das Ding ist mit irgendetwas Großem, Schwerem unter der Erde verbunden. Es muss sich hier schon seit Jahren befinden, aber der Baumstamm hat darauf gelegen. Los, lass uns weitermachen!« Mit neuem Schwung tauchte er in den Krater und buddelte weiter. Rachel schloss sich ihm an: Sie schob ihre Finger tief in die Erde, riss das Geflecht aus feinen Wurzeln auseinander, schaufelte schwere Erdklumpen nach oben und warf sie aus der Ausgrabungsstätte. Beide Geschwister wirkten plötzlich wie aufgedreht, das hier war viel besser als Fernsehen. Schon nach kurzer Zeit stieß Ben einen kleinen Schrei aus. Seine Finger waren auf weiteres Metall gestoßen ... die dicke Säule, die senkrecht ins Erdreich führte, verband das Rad mit einer flachen Metallplatte. Gemeinsam versuchten sie, die Platte aus ihrem dunkelbraunen Schlammbett zu lösen, aber sie war so unbeweglich wie das Rad. Verblüfft ließen Ben und Rachel sich zurücksinken und starrten ihren Fund an. Dann stieß Ben einen Freuden- schrei aus und rieb die metallene Oberfläche weiter frei, etwa fünf Zentimeter unterhalb der Säule. Unter seinen Fingern flog die Erde nur so beiseite. Das Metall war an dieser Stelle gewölbt, es bildete eine Art Relief: Ein geschwungener Bogen zog sich um den Fuß der Säule herum und mündete in einer dreieckigen Spitze. »Das ist ein Pfeil!«, keuchte Ben. »Ein Pfeil!« »Und was bedeutet das?« Ben betrachtete seine Schwester mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen. »Das ist ein Pfeil! Wie die auf Wasserhähnen oder Flaschendeckeln. Er sagt uns, in welche Richtung wir das Rad drehen müssen!« Rachel starrte auf das Rad und dann auf den Pfeil. »Kapierst du denn nicht?«, rief Ben; seine Stimme klang vor Aufregung viel heller als sonst. »Das Ding lässt sich öffnen! Da unten ist irgendetwas ... und es lässt sich öffnen! «
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Autoren-Porträt von Ali Sparkes
Sparkes, AliAli Sparkes arbeitet als Journalistin und BBC-Moderatorin und nutzt ihre Söhne regelmäßig als häusliche Versuchskaninchen für ihre Kinderbuchmanuskripte - ihrer Ansicht nach ein fairer Tausch dafür, dass man sie als wandelnden Speise- und Getränkeautomat behandelt.Bevor Ali Sparkes als Produzentin und Moderatorin zu BBC Radio Solent kam, war sie als Lokalreporterin und Kolumnistin tätig. Schließlich entschloss sie sich, ihre sichere Stelle aufzugeben, um sich nur noch dem Schreiben von Drehbüchern und Manuskripten zu widmen. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Southampton.'Zeitsprung ins Jetzt' wurde 2010 mit dem Blue Peter Book of the Year Award ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ali Sparkes
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2012, 400 Seiten, Maße: 12,4 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Fritz, Franca; Koop, Heinrich
- Übersetzer: Franca Fritz, Heinrich Koop
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596809401
- ISBN-13: 9783596809400
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