Zug um Zug
Sie zählen zu den bedeutendsten Politikern ihrer Generation und sie verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen. Sie treffen sich diesmal nicht...
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Produktinformationen zu „Zug um Zug “
Sie zählen zu den bedeutendsten Politikern ihrer Generation und sie verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen. Sie treffen sich diesmal nicht zum Schachspielen, sondern um über große politische Themen zu reden, die zurzeit die Menschen bewegen.
Hier sprechen Altkanzler Helmut Schmidt und Peer Steinbrück über große politische Themen und kommen zur Sache: gezielt, ohne Politjargon, Zug um Zug.
Lese-Probe zu „Zug um Zug “
Zug um Zug von Helmut Schmidt und Peer SteinbrückVorwort zur Taschenbuchausgabe
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Als dieses Buch Ende Oktober 2011 erschien, löste es ein erstaunliches Maß an Erregung und belehrendem Spott aus. Das schreckliche Wort »Shitstorm« war damals zwar noch nicht gängiger Sprachgebrauch, aber um so etwas Ähnliches handelte es sich: um eine künstlich herbeigeführte, den eigentlichen Anlass schnell hinter sich lassende Aufregung, die jede Proportion vermissen ließ. Mehrere Tage schien es für die Gazetten des Landes und Empörungswillige keine spannendere Frage zu geben als die, wie ein Schachbrett aufgestellt wird. Den ersten Hinweis gab es auf der Frankfurter Buchmesse. Der Verlag Hoffmann und Campe, der »Zug um Zug« zwei Wochen später veröffentlichen sollte, hatte seinen Messestand mit einem großen Foto geschmückt, das Helmut Schmidt und mich beim Schachspiel zeigte. Ein gut aufgelegter Messebesucher machte die Mitarbeiter des Verlags darauf aufmerksam, dass das Schachbrett auf dem Foto verkehrt herum stehe. Das rechte untere Feld müsse stets weiß sein, das wisse jeder Schachspieler, auf der Fotografie stehe aber der Turm rechts unten auf Schwarz. Hätte der Verlag geahnt, dass das Feld des rechten weißen Turms h1 einmal derart in den Fokus der deutschen Presseberichterstattung geraten könnte, hätte er das Foto zweifellos ausgetauscht.
So aber blieb es dem »Hamburger Abendblatt« vorbehalten, am Tag vor der Veröffentlichung des Buches mit der Sensation aufzuwarten, die beiden Spieler beherrschten nicht einmal die Grundregeln. »DIE ZEIT«, bei der das falsch gedrehte Brett ebenfalls bemerkt worden war, versah ihren Aufmacher am nächsten Tag mit einem retuschierten Foto, in das man ein um 90 Grad gedrehtes Schachbrett hineinmontiert hatte - was die Sache wirklich nicht besser machte. Die »Süddeutsche Zeitung« brachte an diesem Tag ein Interview mit der Fotografin, die jede Verantwortung von sich wies. Die »Damen«, die Herrn Schmidt »betreuten«, hätten, als dieser »vom Mittagsschlaf zurückgekehrt« sei, lediglich darauf hingewiesen, dass der Aschenbecher links von ihm zu stehen habe.
Nun gibt es weder »Damen«, die Herrn Schmidt »betreuen«, noch hat mein verehrter Schach und Gesprächspartner jemals in seinem Leben Mittagsschlaf gehalten (soweit ich das beurteilen kann). In Wirklichkeit empfand Helmut Schmidt den vom Verlag organisierten Fototermin als überaus lästig; die Sitzung zerschnitt unser Gespräch für mehr als eine Stunde und brachte viel Unruhe ins Haus.
Als dann das Buch erschien, war vom »Schachskandal im Hause Schmidt« die Rede. Während die Regionalpresse und der Boulevard »zwei Falschspieler am Zug« witterten und darüber spekulierten, ob wirklich gespielt wurde - da beide Spieler gleichzeitig zu ziehen scheinen und weder geschlagene Bauern am Brettrand noch Kippen im Aschenbecher liegen, hielten einige die Szene sogar für gestellt -, ging die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« dem Stand der Partie schon im Titelbild auf den Grund und ließ ihren Schachexperten Beobachtungen darüber anstellen, wie das Spiel bis dahin verlaufen sein könnte, welche Rückschlüsse aus der Stellung auf den Charakter der Spieler zu ziehen seien und wer von beiden einen leichten Vorteil habe.
Zur Erinnerung sei angemerkt, dass am Tag der Veröffentlichung des Buches (27. Oktober 2011), die Staatsund Regierungschefs der Eurozone auf einem dramatischen Krisengipfel in Brüssel einen Schuldenschnitt für Griechenland sowie die Ausweitung (»Hebelung«) des Rettungsschirmes EFSF auf über eine Billion Euro vereinbarten (was sich später als Schall und Rauch herausstellte) und dass Italien einen Tag später, trotz des in Brüssel verkündeten Sparprogramms, Rekordzinsen auf neue Staatsanleihen in Höhe von mehr als 6 Prozent zahlen musste. Das Bundesverfassungsgericht traf eine Eilentscheidung zum EFSF, die verstaatlichte HRE-Bank verzeichnete einen Buchungsfehler von 56 Milliarden Euro, und die OECD senkte die Wachstumsaussichten für Europa auf nahezu null. Die deutschen Medien aber hatten mit den vermeintlichen »Falschspielern« ein viel lukrativeres Thema. Jenseits des anekdotischen Wertes dieser Geschichte um einen verkehrt herum aufgestellten Schachtisch bleibt festzuhalten: Diese Verkehrung von Wesentlichem in der Politik und Nebensächlichkeiten im Politikbetrieb selbst in journalistischen Qualitätsmedien, die Verdrängung von Substanz durch Unterhaltung und die künstliche Erzeugung von Empörung und Aufregung, die in alle Richtungen ausgeschlachtet werden können, ist exemplarisch für ein Phänomen, das ich »Fassadenjournalismus« nennen möchte.
Der Gesichtsausdruck der Politiker, ihre Körperhaltung (»die adrenalingesteuerten Kanzlerkandidaten der SPD«) und ihre »Performance« gewinnen einen zunehmenden Raum in Berichten, die teilweise den Charakter von psychologischen Gutachten annehmen. Was die Politiker inhaltlich vertreten, wofür sie stehen, welchen Wertvorstellungen sie folgen, das verschwindet in diesem Blick auf die Fassade. Als Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und ich auf einer Bundespressekonferenz am 15. Mai 2012 in Berlin die Position der SPD zum europäischen Fiskalpakt plus Wachstumsimpuls und damit die nicht ganz unwichtige Linie für eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag auf der Basis eines Papiers vorstellten, das substantiell etwas zu bieten hatte, konzentrierte sich die Berichterstattung hauptsächlich auf die »Troika« und ihren Umgang miteinander.
Der Trend zur Inszenierung von Politik durch die Medien birgt die Gefahr der Banalisierung und Ablenkung von Politik und trübt den Blick für das Wesentliche - einschließlich wirklicher Skandale. Geschuldet ist diese Entwicklung dem Rennen nach Aufmerksamkeit, also der Konkurrenz um Quote, Auflage und Klicks im Internet. Uns sollte interessieren, was dabei auf der Strecke bleibt.
Tröstlich war, dass die Leser »Zug um Zug« nicht wegen seines vermaledeiten Titelbildes, sondern aus Interesse an seinem Inhalt gekauft haben. Dieser Teil der Öffentlichkeit begründet Hoffnung.
Es gab jedoch noch eine zweite Ebene, auf der sich die Presse unseres Buches annahm, und die Art und Weise, wie hier ganze Wälder zu Kleinholz gemacht wurden, war nicht weniger bezeichnend für den Umgang der Medien mit Politik. »Worum es eigentlich geht, steht fast genau in der Mitte«, schrieb ein Journalist, nämlich um die Frage, wer 2013 Kanzlerkandidat der SPD werde. Genau darum ging es aber eigentlich nicht. Ein paar Hinweise zur Entstehungsgeschichte des Buches hätten solchen Spekulationen möglicherweise Einhalt geboten. Sie seien an dieser Stelle nachgeholt - auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass nachgereichte Erklärungen zumal in der Politik wenig hilfreich sind.
Im Februar 2010 hatte Helmut Schmidt mit dem Vorsitzenden des Vorstands der Bank ING-DiBa, Ben Tellings, eine Reihe von Gesprächen verabredet, in denen es um »Die Zukunft des Kapitalismus« gehen sollte. Ende des Jahres musste das Projekt storniert werden, weil der Banker mit seinem Wechsel in den Aufsichtsrat des niederländischen Geldinstituts zahlreiche neue Verpflichtungen übernahm. Die intensiven Vorarbeiten drohten plötzlich Makulatur zu werden, als die Idee auftauchte, dass »Die Zukunft des Kapitalismus« auch ein Thema zwischen Helmut Schmidt und mir sein könnte. Ich erklärte auf der Stelle meine Begeisterung für ein solches Gespräch. Allerdings wünschte ich mir einen weiter gesteckten Themenkreis, es dürfe nicht nur um Wirtschafts-, Finanz- und Bankfragen gehen, sondern das gesamte Spektrum politisch und gesellschaftlich aktueller Fragen müsse einbezogen werden. Den Titel steuerte meine Frau bei; als ich ihr von den Plänen berichtete, meinte sie spontan: Dann solltet ihr an eure Schachpartien anknüpfen und das Ganze »Zug um Zug« nennen.
Im Dezember 2010, als das Buch zwischen Helmut Schmidt und mir verabredet wurde, gab es die so genannte K-Frage weder in der SPD noch in den Medien. Die schwarzgelbe Koalition regierte seit 15 Monaten schlecht, aber unverdrossen, und dass irgendwer in der Republik sich für einen SPD-Kanzlerkandidaten 2013 interessieren könnte, kam niemandem in den Sinn. Das änderte sich im Verlauf des ersten Halbjahrs 2011. Mindestens drei oder vier Journalisten eines montäglich erscheinenden Nachrichtenmagazins wissen sehr genau, dass die K-Frage unter Spiegelung auch meiner Person nicht auf meinen Antrieb hin virulent wurde. Dem steht auch nicht ein späteres Interview von mir im Hessischen Rundfunk entgegen, das in der üblichen Hektik und Neigung zu Verkürzungen nur selten vollständig zur Kenntnis genommen wurde. Richtig ist, dass ich mit öffentlichen Vorträgen, den Lesereisen zu meinem Buch »Unterm Strich«, Artikeln und Interviews auf eine öffentliche Resonanz und Neugier stieß, die auch mich überraschte und neu motivierte.
Da kaum etwas süffiger ist als Personalfragen in der Politik, kam das eine zum anderen: In den Medien setzte ein Multiplikatoreffekt ein, der meinen Namen in einer Spekulationsblase hochtrieb, bis das Pendel vor Weihnachten 2011 wieder zurückschwenkte.
Selbst wenn die »Troika« aus Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und mir seit Juli 2011 als eine Antwort auf die Spekulationen zur K-Frage von einigen Kritikern als inszeniert wahrgenommen wird, selbst wenn Kommentatoren diese drei für Zauderer, Unentschlossene oder für nicht bissig genug halten (andere sehen in uns eher mühsam gezügelte Alphatiere), selbst wenn die SPD in der K-Frage einen getriebenen Eindruck machen sollte - selbst dann bleiben wir drei dabei, dass ein zu frühzeitiger Vorschlag weitaus mehr Nachteile als Vorteile hat.
Die Entlastung, die sich daraus ergeben könnte, den Erwartungen und dem Drängen der Medien nachzugeben (die breite Wählerschaft der Republik hat keine schlaflosen Nächte über die K-Frage der SPD) wäre sehr kurzfristig. Aber für den dann ausgerufenen Kandidaten würde ein höchst beschwerlicher Langstreckenlauf beginnen, in dem ihm dieselben Medien täglich jeden verfügbaren Stock hinhalten würden, über die er bella figura springen müsste. Im Übrigen kann sich jeder darauf verlassen, dass keiner aus der »Troika« unüberlegt und naiv eine Kanzlerkandidatur anstrebt, aber jeder im Fall des Falles auf Höchsttouren zu laufen bereit ist.
Als Helmut Schmidt und ich Ende Juni unsere ersten Gespräche führten, stand die Frage, wie wir mit dem Thema Kanzlerkandidatur umgehen sollten, also zwangsläufig im Raum. Sollte man das Thema generell aussparen, sollte man es bewusst und offensiv gleich an den Anfang stellen? Wir beschlossen, uns durch die K-Frage in unserer Gesprächsführung nicht einschränken zu lassen und uns so zu unterhalten wie immer. Im Verlauf des Gesprächs kam Helmut Schmidt dann direkt auf die Kandidatenfrage zu sprechen, und als wir hinterher die Abschriften lasen, hielten wir es beide für richtig, die Sätze so stehen zu lassen, wie sie gesagt worden waren (jetzt nachzulesen auf den Seiten 163166).
Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie man aus diesen drei Seiten die Behauptung ableiten kann, alles in diesem Buch laufe auf die Kanzlerkandidatur zu, ja, das ganze Buch sei überhaupt nur veröffentlicht worden, um Peer Steinbrück endlich auf den Schild zu heben. Wenn es die SPD als Partei nicht schaffe, sich auf einen Kandidaten zu einigen, dann müsse eben der Altkanzler ran und mit seiner ganzen Autorität erklären, wer der richtige sei: Schmidt ruft Steinbrück zum neuen Kanzler aus! Auf diese Botschaft verkürzt, wurde aus 300 Buchseiten eine Art Wahlbroschüre mit Empfehlungsschreiben - was für die Vertreter der Presse den schönen Nebeneffekt hatte, dass sie glaubten, das Buch gar nicht erst lesen zu müssen. Wo doch schon das Schachbrett falsch stand!
Die Berichterstattung rund um das Buch in der Woche zwischen dem 23. Oktober (unserem Besuch in der Sendung von Günther Jauch) und dem 30. Oktober (dem seitenlangen Nachkarten der Sonntagsblätter) ist ein Lehrstück für medialen Overkill. »Die etwas platte öffentliche Dauerpräsenz lässt das Buch selbst in den Hintergrund rücken - was ziemlich schade ist«, schrieb der »Münchner Merkur«. Nur wenige Zeitungen konnten sich der Sensationsgier entziehen, ließen das Schachbrett stehen, wie es stand, interessierten sich nur am Rande für künftige Kanzler und gingen stattdessen auf den Inhalt der Gespräche ein. Da gibt es genug Unterhaltsames, wie ich finde, und auch manches Spannende zu entdecken.
Deshalb begrüße ich das Erscheinen der Taschenbuchausgabe, mit der jetzt auch alle die erreicht werden, die vor dem medialen Hype im letzten Herbst in Deckung gegangen sind. Ihnen, Menschen, die sich gern ihr eigenes Urteil bilden und selber lesen, wünsche ich Freude - und Gewinn.
Peer Steinbrück, Juli 2012
Copyright © Ullstein Verlag
Als dieses Buch Ende Oktober 2011 erschien, löste es ein erstaunliches Maß an Erregung und belehrendem Spott aus. Das schreckliche Wort »Shitstorm« war damals zwar noch nicht gängiger Sprachgebrauch, aber um so etwas Ähnliches handelte es sich: um eine künstlich herbeigeführte, den eigentlichen Anlass schnell hinter sich lassende Aufregung, die jede Proportion vermissen ließ. Mehrere Tage schien es für die Gazetten des Landes und Empörungswillige keine spannendere Frage zu geben als die, wie ein Schachbrett aufgestellt wird. Den ersten Hinweis gab es auf der Frankfurter Buchmesse. Der Verlag Hoffmann und Campe, der »Zug um Zug« zwei Wochen später veröffentlichen sollte, hatte seinen Messestand mit einem großen Foto geschmückt, das Helmut Schmidt und mich beim Schachspiel zeigte. Ein gut aufgelegter Messebesucher machte die Mitarbeiter des Verlags darauf aufmerksam, dass das Schachbrett auf dem Foto verkehrt herum stehe. Das rechte untere Feld müsse stets weiß sein, das wisse jeder Schachspieler, auf der Fotografie stehe aber der Turm rechts unten auf Schwarz. Hätte der Verlag geahnt, dass das Feld des rechten weißen Turms h1 einmal derart in den Fokus der deutschen Presseberichterstattung geraten könnte, hätte er das Foto zweifellos ausgetauscht.
So aber blieb es dem »Hamburger Abendblatt« vorbehalten, am Tag vor der Veröffentlichung des Buches mit der Sensation aufzuwarten, die beiden Spieler beherrschten nicht einmal die Grundregeln. »DIE ZEIT«, bei der das falsch gedrehte Brett ebenfalls bemerkt worden war, versah ihren Aufmacher am nächsten Tag mit einem retuschierten Foto, in das man ein um 90 Grad gedrehtes Schachbrett hineinmontiert hatte - was die Sache wirklich nicht besser machte. Die »Süddeutsche Zeitung« brachte an diesem Tag ein Interview mit der Fotografin, die jede Verantwortung von sich wies. Die »Damen«, die Herrn Schmidt »betreuten«, hätten, als dieser »vom Mittagsschlaf zurückgekehrt« sei, lediglich darauf hingewiesen, dass der Aschenbecher links von ihm zu stehen habe.
Nun gibt es weder »Damen«, die Herrn Schmidt »betreuen«, noch hat mein verehrter Schach und Gesprächspartner jemals in seinem Leben Mittagsschlaf gehalten (soweit ich das beurteilen kann). In Wirklichkeit empfand Helmut Schmidt den vom Verlag organisierten Fototermin als überaus lästig; die Sitzung zerschnitt unser Gespräch für mehr als eine Stunde und brachte viel Unruhe ins Haus.
Als dann das Buch erschien, war vom »Schachskandal im Hause Schmidt« die Rede. Während die Regionalpresse und der Boulevard »zwei Falschspieler am Zug« witterten und darüber spekulierten, ob wirklich gespielt wurde - da beide Spieler gleichzeitig zu ziehen scheinen und weder geschlagene Bauern am Brettrand noch Kippen im Aschenbecher liegen, hielten einige die Szene sogar für gestellt -, ging die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« dem Stand der Partie schon im Titelbild auf den Grund und ließ ihren Schachexperten Beobachtungen darüber anstellen, wie das Spiel bis dahin verlaufen sein könnte, welche Rückschlüsse aus der Stellung auf den Charakter der Spieler zu ziehen seien und wer von beiden einen leichten Vorteil habe.
Zur Erinnerung sei angemerkt, dass am Tag der Veröffentlichung des Buches (27. Oktober 2011), die Staatsund Regierungschefs der Eurozone auf einem dramatischen Krisengipfel in Brüssel einen Schuldenschnitt für Griechenland sowie die Ausweitung (»Hebelung«) des Rettungsschirmes EFSF auf über eine Billion Euro vereinbarten (was sich später als Schall und Rauch herausstellte) und dass Italien einen Tag später, trotz des in Brüssel verkündeten Sparprogramms, Rekordzinsen auf neue Staatsanleihen in Höhe von mehr als 6 Prozent zahlen musste. Das Bundesverfassungsgericht traf eine Eilentscheidung zum EFSF, die verstaatlichte HRE-Bank verzeichnete einen Buchungsfehler von 56 Milliarden Euro, und die OECD senkte die Wachstumsaussichten für Europa auf nahezu null. Die deutschen Medien aber hatten mit den vermeintlichen »Falschspielern« ein viel lukrativeres Thema. Jenseits des anekdotischen Wertes dieser Geschichte um einen verkehrt herum aufgestellten Schachtisch bleibt festzuhalten: Diese Verkehrung von Wesentlichem in der Politik und Nebensächlichkeiten im Politikbetrieb selbst in journalistischen Qualitätsmedien, die Verdrängung von Substanz durch Unterhaltung und die künstliche Erzeugung von Empörung und Aufregung, die in alle Richtungen ausgeschlachtet werden können, ist exemplarisch für ein Phänomen, das ich »Fassadenjournalismus« nennen möchte.
Der Gesichtsausdruck der Politiker, ihre Körperhaltung (»die adrenalingesteuerten Kanzlerkandidaten der SPD«) und ihre »Performance« gewinnen einen zunehmenden Raum in Berichten, die teilweise den Charakter von psychologischen Gutachten annehmen. Was die Politiker inhaltlich vertreten, wofür sie stehen, welchen Wertvorstellungen sie folgen, das verschwindet in diesem Blick auf die Fassade. Als Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und ich auf einer Bundespressekonferenz am 15. Mai 2012 in Berlin die Position der SPD zum europäischen Fiskalpakt plus Wachstumsimpuls und damit die nicht ganz unwichtige Linie für eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag auf der Basis eines Papiers vorstellten, das substantiell etwas zu bieten hatte, konzentrierte sich die Berichterstattung hauptsächlich auf die »Troika« und ihren Umgang miteinander.
Der Trend zur Inszenierung von Politik durch die Medien birgt die Gefahr der Banalisierung und Ablenkung von Politik und trübt den Blick für das Wesentliche - einschließlich wirklicher Skandale. Geschuldet ist diese Entwicklung dem Rennen nach Aufmerksamkeit, also der Konkurrenz um Quote, Auflage und Klicks im Internet. Uns sollte interessieren, was dabei auf der Strecke bleibt.
Tröstlich war, dass die Leser »Zug um Zug« nicht wegen seines vermaledeiten Titelbildes, sondern aus Interesse an seinem Inhalt gekauft haben. Dieser Teil der Öffentlichkeit begründet Hoffnung.
Es gab jedoch noch eine zweite Ebene, auf der sich die Presse unseres Buches annahm, und die Art und Weise, wie hier ganze Wälder zu Kleinholz gemacht wurden, war nicht weniger bezeichnend für den Umgang der Medien mit Politik. »Worum es eigentlich geht, steht fast genau in der Mitte«, schrieb ein Journalist, nämlich um die Frage, wer 2013 Kanzlerkandidat der SPD werde. Genau darum ging es aber eigentlich nicht. Ein paar Hinweise zur Entstehungsgeschichte des Buches hätten solchen Spekulationen möglicherweise Einhalt geboten. Sie seien an dieser Stelle nachgeholt - auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass nachgereichte Erklärungen zumal in der Politik wenig hilfreich sind.
Im Februar 2010 hatte Helmut Schmidt mit dem Vorsitzenden des Vorstands der Bank ING-DiBa, Ben Tellings, eine Reihe von Gesprächen verabredet, in denen es um »Die Zukunft des Kapitalismus« gehen sollte. Ende des Jahres musste das Projekt storniert werden, weil der Banker mit seinem Wechsel in den Aufsichtsrat des niederländischen Geldinstituts zahlreiche neue Verpflichtungen übernahm. Die intensiven Vorarbeiten drohten plötzlich Makulatur zu werden, als die Idee auftauchte, dass »Die Zukunft des Kapitalismus« auch ein Thema zwischen Helmut Schmidt und mir sein könnte. Ich erklärte auf der Stelle meine Begeisterung für ein solches Gespräch. Allerdings wünschte ich mir einen weiter gesteckten Themenkreis, es dürfe nicht nur um Wirtschafts-, Finanz- und Bankfragen gehen, sondern das gesamte Spektrum politisch und gesellschaftlich aktueller Fragen müsse einbezogen werden. Den Titel steuerte meine Frau bei; als ich ihr von den Plänen berichtete, meinte sie spontan: Dann solltet ihr an eure Schachpartien anknüpfen und das Ganze »Zug um Zug« nennen.
Im Dezember 2010, als das Buch zwischen Helmut Schmidt und mir verabredet wurde, gab es die so genannte K-Frage weder in der SPD noch in den Medien. Die schwarzgelbe Koalition regierte seit 15 Monaten schlecht, aber unverdrossen, und dass irgendwer in der Republik sich für einen SPD-Kanzlerkandidaten 2013 interessieren könnte, kam niemandem in den Sinn. Das änderte sich im Verlauf des ersten Halbjahrs 2011. Mindestens drei oder vier Journalisten eines montäglich erscheinenden Nachrichtenmagazins wissen sehr genau, dass die K-Frage unter Spiegelung auch meiner Person nicht auf meinen Antrieb hin virulent wurde. Dem steht auch nicht ein späteres Interview von mir im Hessischen Rundfunk entgegen, das in der üblichen Hektik und Neigung zu Verkürzungen nur selten vollständig zur Kenntnis genommen wurde. Richtig ist, dass ich mit öffentlichen Vorträgen, den Lesereisen zu meinem Buch »Unterm Strich«, Artikeln und Interviews auf eine öffentliche Resonanz und Neugier stieß, die auch mich überraschte und neu motivierte.
Da kaum etwas süffiger ist als Personalfragen in der Politik, kam das eine zum anderen: In den Medien setzte ein Multiplikatoreffekt ein, der meinen Namen in einer Spekulationsblase hochtrieb, bis das Pendel vor Weihnachten 2011 wieder zurückschwenkte.
Selbst wenn die »Troika« aus Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und mir seit Juli 2011 als eine Antwort auf die Spekulationen zur K-Frage von einigen Kritikern als inszeniert wahrgenommen wird, selbst wenn Kommentatoren diese drei für Zauderer, Unentschlossene oder für nicht bissig genug halten (andere sehen in uns eher mühsam gezügelte Alphatiere), selbst wenn die SPD in der K-Frage einen getriebenen Eindruck machen sollte - selbst dann bleiben wir drei dabei, dass ein zu frühzeitiger Vorschlag weitaus mehr Nachteile als Vorteile hat.
Die Entlastung, die sich daraus ergeben könnte, den Erwartungen und dem Drängen der Medien nachzugeben (die breite Wählerschaft der Republik hat keine schlaflosen Nächte über die K-Frage der SPD) wäre sehr kurzfristig. Aber für den dann ausgerufenen Kandidaten würde ein höchst beschwerlicher Langstreckenlauf beginnen, in dem ihm dieselben Medien täglich jeden verfügbaren Stock hinhalten würden, über die er bella figura springen müsste. Im Übrigen kann sich jeder darauf verlassen, dass keiner aus der »Troika« unüberlegt und naiv eine Kanzlerkandidatur anstrebt, aber jeder im Fall des Falles auf Höchsttouren zu laufen bereit ist.
Als Helmut Schmidt und ich Ende Juni unsere ersten Gespräche führten, stand die Frage, wie wir mit dem Thema Kanzlerkandidatur umgehen sollten, also zwangsläufig im Raum. Sollte man das Thema generell aussparen, sollte man es bewusst und offensiv gleich an den Anfang stellen? Wir beschlossen, uns durch die K-Frage in unserer Gesprächsführung nicht einschränken zu lassen und uns so zu unterhalten wie immer. Im Verlauf des Gesprächs kam Helmut Schmidt dann direkt auf die Kandidatenfrage zu sprechen, und als wir hinterher die Abschriften lasen, hielten wir es beide für richtig, die Sätze so stehen zu lassen, wie sie gesagt worden waren (jetzt nachzulesen auf den Seiten 163166).
Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie man aus diesen drei Seiten die Behauptung ableiten kann, alles in diesem Buch laufe auf die Kanzlerkandidatur zu, ja, das ganze Buch sei überhaupt nur veröffentlicht worden, um Peer Steinbrück endlich auf den Schild zu heben. Wenn es die SPD als Partei nicht schaffe, sich auf einen Kandidaten zu einigen, dann müsse eben der Altkanzler ran und mit seiner ganzen Autorität erklären, wer der richtige sei: Schmidt ruft Steinbrück zum neuen Kanzler aus! Auf diese Botschaft verkürzt, wurde aus 300 Buchseiten eine Art Wahlbroschüre mit Empfehlungsschreiben - was für die Vertreter der Presse den schönen Nebeneffekt hatte, dass sie glaubten, das Buch gar nicht erst lesen zu müssen. Wo doch schon das Schachbrett falsch stand!
Die Berichterstattung rund um das Buch in der Woche zwischen dem 23. Oktober (unserem Besuch in der Sendung von Günther Jauch) und dem 30. Oktober (dem seitenlangen Nachkarten der Sonntagsblätter) ist ein Lehrstück für medialen Overkill. »Die etwas platte öffentliche Dauerpräsenz lässt das Buch selbst in den Hintergrund rücken - was ziemlich schade ist«, schrieb der »Münchner Merkur«. Nur wenige Zeitungen konnten sich der Sensationsgier entziehen, ließen das Schachbrett stehen, wie es stand, interessierten sich nur am Rande für künftige Kanzler und gingen stattdessen auf den Inhalt der Gespräche ein. Da gibt es genug Unterhaltsames, wie ich finde, und auch manches Spannende zu entdecken.
Deshalb begrüße ich das Erscheinen der Taschenbuchausgabe, mit der jetzt auch alle die erreicht werden, die vor dem medialen Hype im letzten Herbst in Deckung gegangen sind. Ihnen, Menschen, die sich gern ihr eigenes Urteil bilden und selber lesen, wünsche ich Freude - und Gewinn.
Peer Steinbrück, Juli 2012
Copyright © Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von Helmut Schmidt, Peer Steinbrück
Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, 1961 - 1965 Innensenator in Hamburg, 1966 - 1969 Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag, 1969 - 1972 Verteidigungsminister, 1972 Bundeswirtschafts- und Finanzminister, 1972 - 1974 Bundesfinanzminister, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt war er Mitherausgeber der Wochenzeitung 'Die Zeit'. Helmut Schmidt verstarb im November 2015.Peer Steinbrück, geboren 1947 in Hamburg, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Der Diplomvolkswirt hatte viele Ämter inne, bevor er von 2005 bis 2009 als Bundesminister der Finanzen und als stellvertretender Vorsitzender der SPD tätig war. Unter anderem leitete er das Büro des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, war erst Staatssekretär, dann Wirtschaftsminister Schleswig-Holsteins. In Nordrhein-Westfalen war er 1998 bis 2000 Wirtschaftsminister, 2000 bis 2002 Finanzminister, 2000 bis 2005 Mitglied des Landtags und von 2002 bis 2005 Ministerpräsident. 2011 wurde Peer Steinbrück mit dem "Cicero-Rednerpreis" ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Helmut Schmidt , Peer Steinbrück
- 2012, 320 Seiten, Maße: 13,6 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374344
- ISBN-13: 9783548374345
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
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