Zwischen uns das Meer
Roman
Michael glaubt, seine Frau Jolene nicht mehr zu lieben, und trennt sich von ihr. Erst als Jolene schwer verletzt wird, wird ihm klar, dass er kurz davor ist, die Liebe seines Lebens zu verlieren. Er will Jolene beistehen, doch sie will ihn nie mehr sehen - zu tief sitzt der Schmerz.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zwischen uns das Meer “
Michael glaubt, seine Frau Jolene nicht mehr zu lieben, und trennt sich von ihr. Erst als Jolene schwer verletzt wird, wird ihm klar, dass er kurz davor ist, die Liebe seines Lebens zu verlieren. Er will Jolene beistehen, doch sie will ihn nie mehr sehen - zu tief sitzt der Schmerz.
Klappentext zu „Zwischen uns das Meer “
Seit einiger Zeit zieht sich Michael zunehmend von seiner Frau Jolene und den beiden gemeinsamen Töchtern zurück. In einem schrecklichen Streit schleudert er Jolene sogar ins Gesicht, dass er sie nicht mehr liebe. Das Paar trennt sich. Als Jolene eines Tages schwer verwundet wird, kommt Michael endlich zur Besinnung: Ihm wird bewusst, dass er kurz davor ist, die Liebe seines Lebens zu verlieren, und er will ihr beistehen. Doch Jolene will ihn nie mehr sehen - zu tief sitzt der Schmerz. Aber Michael kämpft - wird es ihm gelingen, ihr Herz zurückzugewinnen?
Lese-Probe zu „Zwischen uns das Meer “
Zwischen uns das Meer von Kristin HannahEins
April 2005
An ihrem einundvierzigsten Geburtstag wachte Jolene Zarkades wie jeden Tag vor Morgengrauen auf. Vorsichtig, um ihren schlafenden Mann nicht zu stören, stand sie auf, zog sich ihre Joggingklamotten an, band ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und verließ das Haus.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag mit strahlend blauem Himmel. Die Pflaumenbäume, die ihre Einfahrt säumten, standen in voller Blüte. Winzige rosafarbene Blüten schwebten über die sattgrüne Wiese. Jenseits der Straße leuchtete der Puget Sound in einem dunklen Blau. Dahinter ragten die schneebedeckten Olympic Mountains majestätisch in den Himmel.
Die Sicht war perfekt.
Sie lief genau dreieinhalb Meilen an der Uferstraße entlang, bevor sie umkehrte. Zu Hause angelangt, war sie außer Atem und hatte einen hochroten Kopf. Auf der Veranda bahnte sie sich ihren Weg an zusammengewürfelten Gartenmöbeln aus Holz und Rattan vorbei ins Haus, wo sich verlockend aromatischer Kaffeeduft mit der bitteren Note von Holzrauch vermischte.
Als Erstes schaltete sie den Fernseher in der Küche ein; er war auf CNN eingestellt. Während sie sich einen Kaffee einschenkte, wartete sie ungeduldig auf Neuigkeiten vom Krieg im Irak.
An diesem Morgen wurde kein schweres Gefecht gemeldet. Über Nacht waren keine Soldaten - oder Freunde - getötet worden.
»Gott sei Dank«, sagte sie. Mit dem Kaffee ging sie nach oben, vorbei an den Zimmern ihrer Töchter, und strebte zum Schlafzimmer. Es war noch früh. Vielleicht sollte sie Michael mit einem langen Kuss wecken. Als Einladung.
... mehr
Wie lange war es her, dass sie sich morgens geliebt hatten? Wie lange lag das letzte Mal überhaupt zurück? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Ihr Geburtstag wäre doch die perfekte Gelegenheit, dies zu ändern. Sie öffnete die Tür. »Michael?«
Ihr überdimensionales Bett war leer. Ungemacht. Michaels schwarzes T-Shirt, in dem er immer schlief, lag unordentlich auf dem Boden. Sie hob es auf, faltete es akkurat zusammen und legte es weg. »Michael?«, rief sie noch einmal und öffnete die Badezimmertür. Dampf wallte heraus, so dass sie nichts sehen konnte.
Das Bad war ganz in Weiß gehalten. Die Glastür zur Dusche stand offen und gab den Blick auf die leere Kabine frei. Ein feuchtes Handtuch war zum Trocknen nachlässig über den Badewannenrand geworfen worden. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.
Er wird schon unten sein, sagte sie sich. Wahrscheinlich im Arbeitszimmer. Vielleicht plant er aber auch eine kleine Geburtstagsüberraschung. Das hat er früher immer gemacht ...
Nach einer kurzen Dusche bürstete sie sich die Haare nur aus und band sie im Nacken zu einem Knoten zusammen. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war
- wie alles an ihr - knochig und eckig. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen etwas zu großen Mund und dichte braune Augenbrauen, die ihre weit auseinanderstehenden grünen Augen betonten. Die meisten Frauen in ihrem Alter schminkten sich und färbten sich die Haare, aber dazu fehlte Jolene die Zeit. Sie hatte kein Problem mit ihren aschblonden Haaren, die jedes Jahr dunkler wurden, und den feinen Fältchen, die sich langsam in ihren Augenwinkeln bildeten.
Sie zog sich ihre Fliegeruniform an und wollte die Mädchen wecken, aber deren Zimmer waren ebenfalls leer.
Ihre Töchter waren bereits in der Küche. Die zwölfjährige Betsy half ihrer vierjährigen Schwester Lulu an den Tisch. Jolene drückte ihrer Jüngeren einen Kuss auf die runde rosige Wange.
»Herzlichen Glückwunsch, Mom«, sagten beide wie aus einem Mund.
Heiße Liebe für ihre Töchter und ihr Leben erfasste Jolene. Ihr war bewusst, wie selten solche Augenblicke waren. Das war, angesichts ihrer Kindheit, kein Wunder. Lächelnd - nein, strahlend - wandte sie sich zu ihren Töchtern. »Danke, meine Mädchen. Es ist ein herrlicher Tag, um einundvierzig zu werden.« »Das ist aber alt«, meinte Lulu. »Bist du wirklich schon so alt?«
Lachend öffnete Jolene den Kühlschrank. »Wo ist euer Dad?«
»Schon weg«, antwortete Betsy.
Jolene drehte sich um. »Wirklich?«
»Wirklich«, bestätigte Betsy, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Jolene zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich hat er nach der Arbeit eine Überraschung für mich geplant. Nun, ich schlage vor, wir könnten nach der Schule feiern. Nur wir drei. Mit Kuchen. Was haltet ihr davon?«
»Mit Kuchen!«, jubelte Lulu und klatschte in die Händchen.
Jolene hätte sich über Michaels Vergesslichkeit ärgern können, aber was brachte das schon? Glück war eine Frage der Entscheidung, das wusste sie. Sie hatte sich entschieden, nicht an Dinge zu denken, die sie ärgerten; so verschwanden sie einfach. Außerdem hatte Michaels Hingabe an seine Arbeit immer zu den Eigenschaften gehört, die sie am meisten bewunderte.
»Mommy, Mommy, Backe-backe-Kuchen!«, rief Lulu und hüpfte auf ihrem Sitz.
Jolene sah ihre jüngere Tochter an. »Da hat es jemand aber mit Kuchen.«
Lulu hob die Hand. »Ich, ich.«
Jolene setzte sich zu Lulu und hielt die Hände vor sich. Sofort klatschte Lulu ihre Händchen gegen Jolenes. »Backe, backe Kuchen, der Bäcker ...«, Jolene hielt inne und sah, dass Lulu sie erwartungsvoll anstarrte.
»Hat gerufen«, rief sie dann.
»Wer will schönen Kuchen backen, der muss nehmen sieben Sachen. Eier und Schmalz, Zucker und Salz, Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gel.« Jolene klatschte ein letztes Mal mit ihrer Tochter die Hände zusammen und stand dann auf, um Frühstück zu machen. »Zieh dich an, Betsy. In einer halben Stunde fahren wir.«
Auf die Minute pünktlich schob Jolene ihre Mädchen in den Wagen. Sie fuhr Lulu zum Kindergarten, verabschiedete sie mit einem dicken Kuss, dann fuhr sie weiter zur Middle School, die auf einer großen, mit Rasen bewachsenen Anhöhe stand. Als sie den Parkplatz erreichte, bremste sie und hielt.
»Nicht aussteigen«, sagte Betsy scharf aus einer dunklen Ecke vom Rücksitz. »Du hast deine Uniform an.«
»Also gibt's an meinem Geburtstag wohl keine Ausnahme. « Jolene sah ihre Tochter über den Rückspiegel an. In den letzten Monaten hatte ihr netter, fröhlicher Wildfang sich in ein Hormonbündel verwandelt, für das alles die Gefahr der Peinlichkeit barg - vor allem eine Mutter, die nicht so war wie die anderen. »Mittwoch ist Berufskundetag«, erinnerte sie Betsy.
Betsy stöhnte. »Musst du wirklich kommen?«
»Dein Lehrer hat mich eingeladen. Aber ich verspreche, weder zu spucken noch zu sabbern.«
»Das ist gar nicht komisch. Eine Mom bei der Armee ist total uncool. Aber du kommst doch nicht in Uniform, oder?«
»Das ist doch mein Beruf, Betsy. Ich glaube, du ...«
»Ach, egal.« Betsy griff nach ihrem schweren Rucksack - der offenbar auch falsch war, denn gestern hatte sie einen neuen verlangt -, stieg aus dem Wagen und eilte direkt zu zwei Mädchen, die neben dem Fahnenmast warteten. Um Sierra und Zoe drehte sich bei Betsy neuerdings alles. Sie wollte unbedingt so sein wie sie. Offenbar war eine Mutter, die Helikopterpilotin bei der Army National Guard war, sehr kompromittierend. Als Betsy sich ihren Freundinnen näherte, ignorierten diese sie absichtlich und wandten ihr gleichzeitig den Rücken zu wie ein Fischschwarm, der vor der Gefahr flieht.
Jolene umklammerte fester das Lenkrad und fluchte leise.
Betsy wirkte peinlich berührt und niedergeschlagen. Ihre Schultern sackten nach vorn, ihr Kinn senkte sich. Sie zog sich schnell zurück, um so zu überspielen, dass sie zu ihren ehemaligen besten Freundinnen gerannt war. Allein ging sie zum Schulgebäude.
Jolene rührte sich so lange nicht vom Fleck, bis jemand sie anhupte. Sie litt mit ihrer Tochter. Zurückweisung war etwas, was sie nur zu gut kannte. Sie hatte ewig darauf gewartet, von ihren Eltern geliebt zu werden. Sie musste Betsy beibringen, stark zu sein und sich für das Glück zu entscheiden. Wenn man es nicht zuließ, konnte niemand einem weh tun. Angriff war die beste Verteidigung.
Schließlich fuhr sie weiter. Um dem Berufsverkehr auszuweichen, wählte sie nur Landstraßen zur Liberty Bay. An der Einfahrt neben ihrer eigenen bog sie ein, fuhr zum Nachbarhaus hinauf - einem kleinen weißen Fertighaus mit angrenzender Autowerkstatt - und hupte.
Sofort kam Tami Flynn, ihre beste Freundin, heraus. Auch sie trug bereits ihre Fliegeruniform und hatte die langen schwarzen Haare streng aus dem Gesicht frisiert. Jolene hätte schwören können, dass nicht ein einziges Fältchen die kaffeefarbene Haut von Tamis flächigem Gesicht kräuselte. Tami behauptete, das läge an ihrer indianischen Herkunft.
Sie war die Schwester, die Jolene nie gehabt hatte. Sie hatten sich als Teenager kennengelernt - zwei Achtzehnjährige, die zur Army gegangen waren, weil sie nicht wussten, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollten. Beide hatten sich auf der High School für die Ausbildung zum Helikopterpiloten qualifiziert.
Ihre Leidenschaft fürs Fliegen hatte sie zusammengebracht, eine ähnliche Sicht auf die Dinge hatte für eine Freundschaft gesorgt, die nie infrage gestellt wurde. Sie hatten zuerst zehn Jahre gemeinsam in der Army gedient und waren dann, als Ehe und Mutterschaft den aktiven Dienst schwierig machten, zur Guard gewechselt. Vier Jahre, nachdem Jolene und Michael in das Haus an der Liberty Bay gezogen waren, hatten Tami und Carl das Nachbargrundstück gekauft.
Tami und Jolene waren gleichzeitig schwanger geworden, hatten die magischen neun Monate zusammen durchlebt und durchlitten. Da ihre Männer nichts gemeinsam hatten, verreisten ihre Familien zwar nicht zusammen, aber das war für Jolene kein Problem. Für sie zählte vor allem, dass Tami und sie immer füreinander da waren. Und so war es auch.
I've got your six hieß wörtlich übersetzt, dass ein Helikopter hinter einem flog. Aber eigentlich bedeutete es: Ich bin für dich da. Ich gebe dir Rückendeckung. Genau das war es, was Jolene in der Army, bei der Guard und bei Tami gefunden hatte. Rückendeckung.
Die Guard hatte ihnen das Beste aus zwei Welten geboten: Sie konnten sich ganz ihren Kindern widmen und gleichzeitig beim Militär bleiben, ihrem Land dienen und Helikopter f liegen. Mindestens zwei Vormittage pro Woche und während der Trainings-Wochenenden flogen sie gemeinsam. Es war der beste Teilzeitjob der Welt.
Tami stieg auf den Beifahrersitz und knallte die Tür hinter sich zu. »Herzlichen Glückwunsch, Flygirl.«
»Danke«, antwortete Jolene lächelnd. »Da es mein Tag ist, such ich die Musik aus.« Sie schaltete den CD-Spieler ein, worauf Purple Rain von Prince aus den Lautsprechern dröhnte.
Auf dem Weg nach Tacoma unterhielten sie sich über alles Mögliche, und dazwischen sangen sie zur Musik ihrer Jugend mit: Prince, Madonna und Michael Jackson. Sie fuhren am Camp Murray, dem Sitz der Nationalgarde, vorbei und bogen bei Fort Lewis ab, wo die Luftstreitkräfte der Guard untergebracht waren.
Jolene holte die schwere Flugtasche mit dem Notfallequipment aus dem Schließfach und warf sie sich über die Schulter. Dann folgte sie Tami zum Empfang, bestätigte, dass sie ihr Zusatztraining, kurz AFTP, absolviert hatte, quittierte ihr Gehalt und setzte sich, während sie aus dem Hangar strebte, ihren Helm auf.
Die Crew war bereits da und bereitete den Black Hawk für den Flug vor. Vor dem strahlend blauen Himmel sah der Helikopter aus wie ein riesiger Raubvogel. Sie nickte dem Chef der Crew zu, checkte kurz den Helikopter, informierte die Crew und stieg dann auf der linken Seite ins Cockpit, wo sie ihren Platz einnahm. Tami stieg als Copilotin rechts ein und setzte den Helm auf.
»Ich checke Schalter und Sicherungen«, erklärte Jolene und zündete den Helikopter. Die Motoren erwachten zum Leben; die riesigen Rotorblätter setzten sich in Bewegung, langsam zuerst und dann, mit einem schrillen Heulen, immer schneller.
»Operation der Nationalgarde, Raptor Acht-Neun meldet sich ab«, sagte Jolene in ihr Mikrofon. Dann wechselte sie die Frequenz. »Tower. Raptor Acht-Neun, bereit zum Start.«
Sie setzte den schwierigen Balanceakt in Gang, der nötig war, einen Helikopter abheben zu lassen. Langsam stieg er in die Höhe. Routiniert betätigte sie die Steuerung - ihre Hände und Füße in ständiger Bewegung. Sie schraubten sich in den wolkenlosen Himmel, bis sie nur noch Blau um sich herum hatten. Weiter unter ihnen zeigten sich die blühenden Bäume in ihrer ganzen Farbenpracht. Ein Adrenalinstoß durchströmte Jolene. Wie sehr sie das liebte!
»Ich hab gehört, Sie hätten Geburtstag, Chief«, sagte der Chef der Crew durch die Sprechanlage.
»Das ist verdammt richtig«, erwiderte Tami grinsend. »Was glauben Sie, warum sie ans Steuer darf?«
Jolene grinste zu ihrer besten Freundin und genoss ihre Verbundenheit, die sie so nötig brauchte wie die Luft zum Atmen. Ihr war es egal, dass sie älter wurde, Falten bekam oder abbauen mochte. »Einundvierzig. Meiner Meinung nach kann man es schöner nicht feiern.«
Poulsbo, Washington, war eine Kleinstadt, die wie ein hübsches, kleines Mädchen am Ufer der Liberty Bay hockte. Die ersten Siedler hatten sich für diesen Ort entschieden, weil er sie mit dem kühlen blauen Wasser, den hohen Bergen und den üppig grünen Hügeln an ihre nordische Heimat erinnerte. Als sie Jahre später ihre Läden an der Front Street errichteten, gestalteten sie sie in skandinavischem Stil. Überall sah man Schnörkel und aufwendig geschnitzte Zierleisten.
Der Familienlegende der Zarkades gemäß hatte genau dies Michaels Mutter angesprochen, als sie zum ersten Mal die Front Street entlangging. Sie behauptete, sie hätte auf der Stelle gewusst, dass sie sich hier niederlassen wollte. In Dutzenden pittoresker Läden - der seiner Mutter eingeschlossen - wurde wunderschönes Kunsthandwerk aus der Gegend an Touristen verkauft.
Obwohl die Innenstadt von Seattle nur zehn Meilen Luftlinie vom Ort entfernt lag, war das Pendeln eine einzige Qual. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Michael die skandinavisch anmutende Schönheit des Orts aus dem Blick verloren und nur noch auf den zäh fließenden Berufsverkehr und die lange, gewundene Straße von seinem Haus bis zum Fährhafen von Bainbridge Island geachtet.
Es gab zwei Wege von Poulsbo nach Seattle - einen über Land und einen übers Wasser. Die Fahrt über Land dauerte zwei Stunden, die Überfahrt mit der Fähre von Bainbridge Island bis Seattle fünfunddreißig Minuten.
Aber dazu kam noch die Wartezeit. Um den Wagen auf die Fähre fahren zu können, musste man sich frühzeitig in eine Schlange einreihen. Im Sommer fuhr Michael oft mit dem Fahrrad zur Arbeit, wenn es aber regnete so wie heute - und an so vielen anderen Tagen im Nordwesten -, dann nahm er den Wagen. Dieses Jahr war der Winter besonders lang und der Frühling verregnet gewesen. Tag für Tag hatte er in seinem Lexus auf dem Parkplatz gesessen und zugesehen, wie das graue Licht der Dämmerung über die Wellen des Puget Sounds gekrochen war. Dann war er auf die Fähre gefahren, hatte den Wagen geparkt und war nach oben an Deck gegangen.
Heute saß Michael an der zum Hafen gewandten Seite der Fähre an einem kleinen Tisch und hatte seine Arbeit vor sich ausgebreitet: Woerners Zeugenaussage. An den Rändern der Unterlagen klebten wie gelbe Klaviertasten Notizzettel, die einzelne Aussagen betonen sollten, deren Wahrheitsgehalt anzweifelbar war.
Lügen. Michael seufzte angesichts der Schadensbegrenzung, die vor ihm lag. Sein einstiger Idealismus war durch die jahrelange Verteidigung schuldiger Klienten stark verkümmert.
Früher hätte er mit seinem Vater darüber geredet, und der hätte alles ins rechte Maß gerückt und Michael daran erinnert, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Gutes bewirkten.
Wir sind die letzte Bastion, Michael, das weißt du doch: die Verteidiger der Freiheit. Lass nicht zu, dass die Bösen dich unterkriegen. Wir verteidigen Angeklagte - schuldig oder nicht - und schützen damit auch die Unschuldigen.
Ich könnte ein paar Unschuldige mehr gebrauchen, Dad.
Wer nicht? Wir warten doch alle auf den einen Fall, der alles aufwiegt. Wir wissen besser als die meisten Menschen, wie es ist, jemandem das Leben zu retten. Etwas zu bewirken. Doch genau das tun wir, Michael. Verlier nicht die Hoffnung.
Er blickte auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.
Jetzt fuhr er schon seit elf Monaten allein zur Arbeit. Gerade war sein Vater noch gesund und munter an seiner Seite gewesen und hatte über seine geliebte Arbeit geredet. Dann war er plötzlich krank geworden. Und gestorben. Michael und sein Vater waren fast zwanzig Jahre lang Partner gewesen und hatten zusammengearbeitet. Sein Verlust hatte ihn tief getroffen. Er trauerte um ihre gemeinsame Zeit, doch vor allem fühlte er sich neuerdings einsam. Sein Verlust brachte ihn dazu, sein Leben zu betrachten. Und was er sah, gefiel ihm nicht.
Bis zum Tod seines Vaters hatte sich Michael stets vom Glück begünstigt gefühlt, war glücklich gewesen; aber jetzt nicht mehr.
Er wollte gern mit jemandem über seinen Verlust und all das reden. Aber mit wem? Mit seiner Frau war das nicht möglich, denn Jolene glaubte, dass Glück etwas war, für das man sich entscheiden konnte. Dass man allem stets mit einem Lächeln begegnen sollte. Wegen ihrer zerrissenen, unglücklichen Kindheit hatte sie keine Geduld mit Menschen, die sich nicht für das Glück entscheiden konnten. Zwar dachte sie, sie wüsste, was Trauer ist, weil auch sie ihre Eltern verloren hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, in Trauer zu ertrinken. Wie auch? Sie war stark, an ihr glitt alles ab.
Michael klopfte mit seinem Stift auf den Tisch und blickte aus dem Fenster. An diesem Tag war der Sund eisengrau und wirkte einsam und unergründlich. Eine Möwe ließ sich auf einem unsichtbaren Luftstrom vorbeitreiben. Es sah aus, als wäre sie mitten in ihrer Bewegung erstarrt.
Er hätte Jolene vor all den Jahren nicht nachgeben dürfen, als sie ihn anflehte, das Haus an der Liberty Bay zu kaufen. Zwar hatte er ihr erklärt, dass er nicht so weit außerhalb wohnen wollte - und nicht so nahe bei seinen Eltern -, aber am Ende hatte er sich von ihren Überredungskünsten und dem Argument, dass sie wegen der Kinder die Hilfe seiner Mutter bräuchte, erweichen lassen. Doch hätte er nicht nachgegeben und die Auseinandersetzung um ihren Wohnort verloren, dann säße er jetzt nicht täglich auf einer Fähre und vermisste den Mann, der sich hier mit ihm traf ...
Als die Fähre ihre Fahrt verlangsamte, stand Michael auf, sammelte seine Unterlagen ein und steckte sie zurück in seine schwarze Lederaktentasche. Er hatte nicht mal einen Blick hineingeworfen. Zusammen mit den anderen Passagieren stieg er die Treppe zum Parkdeck hinunter. Wenige Minuten später fuhr er von der Fähre und steuerte zum Smith Tower, der einst das größte Gebäude westlich von New York gewesen war, aber jetzt nur noch wie ein gotisch anmutendes Relikt in einer aufstrebenden Stadt wirkte.
Bei Zarkades, Antham und Zarkades im neunten Stock war alles alt: Gänge, reparaturbedürftige Fenster, zu viele Schichten Farbe - aber die Räume waren, wie das Gebäude selbst, geschichtsträchtig und schön. Riesige Panoramafenster blickten auf die Elliott Bay und die großen orangefarbenen Kräne, die die Containerschiffe beluden. In diesen Räumen hatte Theo Zarkades die Verteidigung einiger der größten und wichtigsten Strafprozesse der letzten zwanzig Jahre vorbereitet. Andere Anwälte sprachen bei Versammlungen ihres Berufsverbands, der Bar Association, immer noch fast ehrfürchtig von seiner Fähigkeit, die Geschworenen zu überzeugen.
»Hey, Michael«, grüßte die Empfangsdame lächelnd.
Er winkte kurz und ging weiter, vorbei an ernsten Assistenten, müden Anwaltsgehilfinnen und ehrgeizigen Juniorpartnern. Alle lächelten ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln. Am Eckbüro - das früher seinem Vater und jetzt ihm gehörte - blieb er kurz stehen, um sich mit seiner Sekretärin zu unterhalten. »Guten Morgen, Ann.«
»Guten Morgen, Michael. Bill möchte Sie sehen.«
»Ist gut. Sagen Sie ihm, ich sei da.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne. Danke.«
Er ging in sein Büro, das größte der Kanzlei. Ein riesiges Fenster bot Ausblick auf die Elliott Bay; die Aussicht war das eigentlich Attraktive an dem ansonsten ganz normalen Büro mit den Regalen voller juristischer Fachbücher, einem abgenutzten Holzboden, zwei Sesseln und einem schwarzen Ledersofa. Neben dem Computer stand ein Foto seiner Familie, der einzige Hinweis auf den privaten Michael Zarkades.
Er warf seine Aktentasche auf den Schreibtisch, ging zum Fenster und starrte hinunter auf die Stadt, die sein Vater geliebt hatte. Auf der Glasscheibe sah er schemenhaft sein Spiegelbild: welliges dunkles Haar, breites Gesicht, dunkle Augen. Das Bild seines Vaters als jüngerer Mann. Aber hatte sein Vater sich je so müde und ausgelaugt gefühlt?
Da klopfte es hinter ihm und die Tür ging auf. Herein kam Bill Antham, der beste Freund seines Vaters und neben Michael der einzige Seniorpartner der Kanzlei. Die Monate seit Dads Tod hatten bei Bill ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht auch bei allen anderen.
»Hey, Michael«, sagte er und hinkte zu ihm. Michael wurde mit jedem Schritt daran erinnert, dass Bill längst in den Ruhestand hätte gehen müssen. Im Vorjahr hatte er zwei neue Kniegelenke bekommen.
»Setz dich, Bill«, bat Michael und wies auf den Sessel in der Nähe des Schreibtischs.
»Danke.« Bill nahm Platz. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Michael ging wieder zu seinem Schreibtisch. »Klar, Bill. Was kann ich für dich tun?«
»Ich war gestern im Gericht und wurde von Richter Runyon festgenagelt.«
Seufzend setzte sich Michael. Es war üblich, dass Strafverteidiger Fälle vom Gericht zugewiesen bekamen - das war die Sache mit dem Sollten Sie einen Anwalt brauchen und sich keinen leisten können. Und es kam oft vor, dass die Richter dem Anwalt den Fall aufbrummten, der gerade zufällig in der Nähe war.
»Worum geht's?«
»Ein Mann hat seine Frau umgebracht. Angeblich. Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert und seine Frau durch einen Kopfschuss getötet. Das SWAT-Team hat ihn rausgeholt, bevor er sich selbst töten konnte. Ein Teil der Aktion wurde live im Fernsehen übertragen.«
Ein schuldiger Klient, der bei der Tat gefilmt wurde. Großartig. »Und jetzt soll ich den Fall für dich übernehmen. «
»Ich würde es dir nicht zumuten ... wenn Nancy und ich nicht in zwei Wochen nach Mexiko fahren würden.«
»Klar«, erwiderte Michael. »Kein Problem.«
Bills Blick wanderte durch den Raum. »Ich denke immer noch, er könnte jeden Moment hier auftauchen«, sagte er leise.
»Ja«, bestätigte Michael.
Einen Augenblick lang sahen sie sich an und erinnerten sich an den Mann, der ihr Leben geprägt hatte. Dann stand Bill auf, dankte Michael noch einmal und ging.
Danach vertiefte sich Michael in seine Arbeit und vergaß alles andere. Er studierte stundenlang Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Schriftsätze. Er hatte schon immer eine ausgeprägte Arbeitsmoral und ein noch ausgeprägteres Pflichtgefühl besessen. In der steigenden Flut seiner Trauer war die Arbeit sein Rettungsring.
Um drei Uhr meldete sich Ann über die Sprechanlage. »Michael? Jolene auf Leitung eins.«
»Danke, Ann.«
»Sie haben nicht vergessen, dass heute ihr Geburtstag ist, oder?«
Mist.
Er stieß sich von seinem Schreibtisch ab und schnappte sich den Hörer. »Hey, Jo. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.«
Sie machte ihm keine Vorwürfe, dass er ihren Geburtstag vergessen hatte, obwohl sie es sicher wusste. Er kannte keinen Menschen, der seine Gefühle derart unter Kontrolle hatte wie Jolene, und so etwas wie Wut hätte sie niemals zugelassen. Manchmal fragte er sich, ob es ihnen nicht ganz gut tun würde, sich mal zu streiten, aber zu einem Streit gehörten nun mal zwei. »Ich mach's wieder gut. Wie wär's, wenn wir in diesem neuen Restaurant oberhalb der Marina essen gehen würden?«
Bevor sie etwas einwenden konnte (was sie immer tat, wenn etwas nicht ihre eigene Idee war), sagte er: »Betsy ist alt genug, um mal ein, zwei Stündchen auf Lulu aufzupassen. Außerdem sind wir nur eine Meile von zu Hause entfernt. «
Diese Auseinandersetzung führten sie mittlerweile knapp ein Jahr. Michael war der Meinung, dass eine Zwölfjährige als Babysitter arbeiten konnte, Jolene aber nicht. Und wie bei allem in ihrem Leben wurde gemacht, was Jolene für richtig hielt. Das war er gewohnt - und hatte es satt.
»Ich weiß, dass du viel Arbeit mit dem Woerner-Fall hast«, wandte sie ein. »Wie wär's, wenn die Kinder früh zu Abend essen und dann einen Film gucken, während ich uns was Schönes koche? Oder ich könnte was Leckeres vom Bistro mitbringen; da essen wir doch immer so gern.«
»Bist du sicher?«
»Wichtig ist nur, dass wir zusammen sind.«
»Ist gut. Dann bin ich um acht zu Hause.«
Noch bevor er auflegte, war er mit den Gedanken schon wieder woanders.
Zwei
An diesem Abend zog Jolene sich sorgfältig an. Sie und Michael hatten schon seit Ewigkeiten nicht allein - als Paar - zusammen zu Abend gegessen, und sie wollte, dass alles perfekt war. Romantisch. Nachdem sie den Kindern Essen gemacht hatte, nahm sie ein duftendes Schaumbad, cremte sich mit Zitruslotion ein und zog sich dann bequeme Jeans und einen schwarzen Pulli mit U-Boot-Ausschnitt an.
Als sie wieder nach unten ging, saß Betsy am Couchtisch vor ihren Hausaufgaben, während Lulu sich auf dem Sofa in ihre gelbe Lieblingskuscheldecke gewickelt hatte und Die kleine Meerjungfrau sah. Auf dem Esstisch waren noch die Überreste ihrer improvisierten Geburtstagsfeier. Der Kuchen mit den Kerzenspuren; das rosafarbene Tagebuch, das Betsy Jolene geschenkt hatte; Lulus Geschenk, eine Glitzerhaarspange; und ein Haufen zerknülltes Geschenkpapier und zerschnittenes Schleifenband.
»Sie hat mir nichts zu sagen«, verkündete Lulu, als Jolene ins Zimmer kam.
»Sag ihr, sie soll still sein, Mom. Ich will meine Hausaufgaben machen«, erwiderte Betsy. »Sie singt zu laut.«
Und dann ging's los. Sie versuchten, einander zu übertönen, und ihre Stimmen wurden immer schriller.
»Sie hat mir nichts zu sagen«, wiederholte Lulu immer entschiedener. »Sag ihr das.«
Betsy verdrehte die Augen, verließ das Zimmer und stampfte die Treppe hinauf.
Eine Welle der Erschöpfung überkam Jolene. Sie hatte nicht gewusst, wie ermüdend es sein konnte, ein präpubertäres Mädchen zu erziehen. Wie aufmüpfig konnte man eigentlich sein? Hätte Jolene sich nur ansatzweise so benommen, dann wäre sie von einer Ohrfeige ihres Vaters quer durchs Zimmer gefegt worden.
Lulu rannte zur Spielkiste in der Ecke und stöberte darin. Als sie ihren Katzenohrhaarreif gefunden hatte, der zum letzten Halloween-Kostüm gehörte, setzte sie ihn auf und drehte sich um.
Jolene musste unwillkürlich lächeln. Da stand ihre vierjährige Tochter, die Hände in die Hüften gestemmt, mit grauen Katzenohren, die schon etwas fadenscheinig aussahen. Die spitzen grauen Dreiecke umrahmten Lulus erhitztes Gesicht und ließen sie noch elfenhafter als sonst aussehen. Aus unerfindlichem Grund glaubte Lulu, sie wäre mit diesem Haarreif unsichtbar. Jetzt miaute sie.
Jolene runzelte dramatisch die Stirn und sah sich um. »O nein ... was ist denn mit meiner Lucy Lou passiert? Wohin ist sie verschwunden?« Sie fing an, theatralisch im ganzen Zimmer zu suchen, hinter dem Fernseher, unter dem gelben Sessel, hinter der Tür.
»Hier bin ich, Mommy«, piepste Lulu und präsentierte sich kichernd mit ausgebreiteten Armen.
»Da bist du ja«, seufzte Jolene auf. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.« Sie hob Lulu auf den Arm und trug sie die Treppe hinauf. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich Lulu die Zähne geputzt und den Schlafanzug angezogen hatte, aber Jolene wartete geduldig, weil sie wusste, dass ihre Jüngere großen Wert auf Selbständigkeit legte. Als sie schließlich fertig war, legte Jolene sich zu ihr ins Bett, zog sie an sich und griff nach dem Buch Wo die wilden Kerle wohnen. Als sie es zu Ende gelesen hatte, schlief Lulu schon fast.
Sie küsste sie auf die Wange. »Nacht, Mieze.«
»Nacht, Mommy«, murmelte Lulu schläfrig.
Danach ging Jolene den Flur hinunter zu Betsys Zimmer, klopfte und trat ein.
Betsy saß auf dem Bett und hatte ihr Gesellschaftslehre- Buch auf dem Schoß. Ihr seidiges weizenblondes Haar fiel ihr in Ringellocken über den Rücken und die nackten, dünnen Arme. Eines Tages würde Betsy ihre Porzellanhaut, ihre blonden Haare und die braunen Augen zu schätzen wissen. Aber jetzt nicht. Jetzt war glattes Haar angesagt, und Pickel verunstalteten ihren Teint.
Jolene ging zu ihrer Tochter und setzte sich auf die Bett- kante. »Du könntest ein bisschen netter zu deiner Schwester sein.«
»Sie ist 'ne Nervensäge.«
»Du auch.« Jolene sah, wie Betsy die Augen aufriss, und lächelte versöhnlich. »Und ich auch. So ist das eben in Familien. Außerdem weiß ich den wahren Grund für dein Verhalten. «
»Ach, wirklich?«
»Ich hab gesehen, wie Sierra und Zoe dich heute Morgen behandelt haben.«
»Du spionierst mir ständig nach«, sagte Betsy mit brüchiger Stimme.
»Ich hab dir nachgesehen, als du in die Schule gingst. Das ist doch kein Spionieren. Im letzten Jahr wart ihr drei noch dick befreundet. Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte sie stur und presste die Lippen zusammen, um ihre Zahnspange zu verbergen.
»Weißt du, ich könnte dir helfen. Ich war schließlich auch mal zwölf.«
Betsy bedachte sie mit dem Bist-du-verrückt-Blick, der Jolene mittlerweile vertraut war. »Das bezweifle ich.«
»Vielleicht solltest du morgen nach der Schule was mit Seth machen. Weißt du noch, wie viel Spaß ihr früher zusammen hattet?«
»Seth ist komisch. Das finden alle.«
»Elizabeth Andrea, sei nicht so gehässig! Seth Flynn ist nicht komisch. Er ist der Sohn meiner besten Freundin. Was soll's, wenn er die Haare lieber lang trägt und ... still ist. Er ist dein Freund. Das solltest du nicht vergessen. Eines Tages brauchst du ihn vielleicht.«
»Na und?«
Jolene seufzte. Das kannte sie schon; ganz gleich, was sie jetzt noch sagen würde, von Betsy käme keine Antwort mehr. Na und hieß Ende des Gesprächs.
»Na gut.« Sie beugte sich vor und gab Betsy einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab dich lieb. Bis zum Mond und wieder zurück.«
Diese Worte waren das Motto ihrer Familie, ihre Liebe zueinander reduziert auf zwei kleine Sätze. Los, sag's auch, Betsy.
Jolene wartete etwas länger, als sie beabsichtigt hatte, und wurde prompt wütend auf sich, weil sie sich Hoffnungen machte. Schon wieder. Das Dasein einer Teenagermutter war geprägt von ständigen, winzigen Enttäuschungen. »Na gut«, wiederholte sie und stand auf.
»Wieso ist Dad noch nicht zu Hause? Heute ist doch dein Geburtstag.«
»Er kommt jede Minute. Du weißt doch, wie viel er in letzter Zeit zu tun hat.«
»Kommt er mir noch gute Nacht sagen?«
»Natürlich.«
Betsy nickte und widmete sich wieder ihrem Buch.
© Ullstein TB (Verlag)
Wie lange war es her, dass sie sich morgens geliebt hatten? Wie lange lag das letzte Mal überhaupt zurück? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Ihr Geburtstag wäre doch die perfekte Gelegenheit, dies zu ändern. Sie öffnete die Tür. »Michael?«
Ihr überdimensionales Bett war leer. Ungemacht. Michaels schwarzes T-Shirt, in dem er immer schlief, lag unordentlich auf dem Boden. Sie hob es auf, faltete es akkurat zusammen und legte es weg. »Michael?«, rief sie noch einmal und öffnete die Badezimmertür. Dampf wallte heraus, so dass sie nichts sehen konnte.
Das Bad war ganz in Weiß gehalten. Die Glastür zur Dusche stand offen und gab den Blick auf die leere Kabine frei. Ein feuchtes Handtuch war zum Trocknen nachlässig über den Badewannenrand geworfen worden. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.
Er wird schon unten sein, sagte sie sich. Wahrscheinlich im Arbeitszimmer. Vielleicht plant er aber auch eine kleine Geburtstagsüberraschung. Das hat er früher immer gemacht ...
Nach einer kurzen Dusche bürstete sie sich die Haare nur aus und band sie im Nacken zu einem Knoten zusammen. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war
- wie alles an ihr - knochig und eckig. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen etwas zu großen Mund und dichte braune Augenbrauen, die ihre weit auseinanderstehenden grünen Augen betonten. Die meisten Frauen in ihrem Alter schminkten sich und färbten sich die Haare, aber dazu fehlte Jolene die Zeit. Sie hatte kein Problem mit ihren aschblonden Haaren, die jedes Jahr dunkler wurden, und den feinen Fältchen, die sich langsam in ihren Augenwinkeln bildeten.
Sie zog sich ihre Fliegeruniform an und wollte die Mädchen wecken, aber deren Zimmer waren ebenfalls leer.
Ihre Töchter waren bereits in der Küche. Die zwölfjährige Betsy half ihrer vierjährigen Schwester Lulu an den Tisch. Jolene drückte ihrer Jüngeren einen Kuss auf die runde rosige Wange.
»Herzlichen Glückwunsch, Mom«, sagten beide wie aus einem Mund.
Heiße Liebe für ihre Töchter und ihr Leben erfasste Jolene. Ihr war bewusst, wie selten solche Augenblicke waren. Das war, angesichts ihrer Kindheit, kein Wunder. Lächelnd - nein, strahlend - wandte sie sich zu ihren Töchtern. »Danke, meine Mädchen. Es ist ein herrlicher Tag, um einundvierzig zu werden.« »Das ist aber alt«, meinte Lulu. »Bist du wirklich schon so alt?«
Lachend öffnete Jolene den Kühlschrank. »Wo ist euer Dad?«
»Schon weg«, antwortete Betsy.
Jolene drehte sich um. »Wirklich?«
»Wirklich«, bestätigte Betsy, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Jolene zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich hat er nach der Arbeit eine Überraschung für mich geplant. Nun, ich schlage vor, wir könnten nach der Schule feiern. Nur wir drei. Mit Kuchen. Was haltet ihr davon?«
»Mit Kuchen!«, jubelte Lulu und klatschte in die Händchen.
Jolene hätte sich über Michaels Vergesslichkeit ärgern können, aber was brachte das schon? Glück war eine Frage der Entscheidung, das wusste sie. Sie hatte sich entschieden, nicht an Dinge zu denken, die sie ärgerten; so verschwanden sie einfach. Außerdem hatte Michaels Hingabe an seine Arbeit immer zu den Eigenschaften gehört, die sie am meisten bewunderte.
»Mommy, Mommy, Backe-backe-Kuchen!«, rief Lulu und hüpfte auf ihrem Sitz.
Jolene sah ihre jüngere Tochter an. »Da hat es jemand aber mit Kuchen.«
Lulu hob die Hand. »Ich, ich.«
Jolene setzte sich zu Lulu und hielt die Hände vor sich. Sofort klatschte Lulu ihre Händchen gegen Jolenes. »Backe, backe Kuchen, der Bäcker ...«, Jolene hielt inne und sah, dass Lulu sie erwartungsvoll anstarrte.
»Hat gerufen«, rief sie dann.
»Wer will schönen Kuchen backen, der muss nehmen sieben Sachen. Eier und Schmalz, Zucker und Salz, Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gel.« Jolene klatschte ein letztes Mal mit ihrer Tochter die Hände zusammen und stand dann auf, um Frühstück zu machen. »Zieh dich an, Betsy. In einer halben Stunde fahren wir.«
Auf die Minute pünktlich schob Jolene ihre Mädchen in den Wagen. Sie fuhr Lulu zum Kindergarten, verabschiedete sie mit einem dicken Kuss, dann fuhr sie weiter zur Middle School, die auf einer großen, mit Rasen bewachsenen Anhöhe stand. Als sie den Parkplatz erreichte, bremste sie und hielt.
»Nicht aussteigen«, sagte Betsy scharf aus einer dunklen Ecke vom Rücksitz. »Du hast deine Uniform an.«
»Also gibt's an meinem Geburtstag wohl keine Ausnahme. « Jolene sah ihre Tochter über den Rückspiegel an. In den letzten Monaten hatte ihr netter, fröhlicher Wildfang sich in ein Hormonbündel verwandelt, für das alles die Gefahr der Peinlichkeit barg - vor allem eine Mutter, die nicht so war wie die anderen. »Mittwoch ist Berufskundetag«, erinnerte sie Betsy.
Betsy stöhnte. »Musst du wirklich kommen?«
»Dein Lehrer hat mich eingeladen. Aber ich verspreche, weder zu spucken noch zu sabbern.«
»Das ist gar nicht komisch. Eine Mom bei der Armee ist total uncool. Aber du kommst doch nicht in Uniform, oder?«
»Das ist doch mein Beruf, Betsy. Ich glaube, du ...«
»Ach, egal.« Betsy griff nach ihrem schweren Rucksack - der offenbar auch falsch war, denn gestern hatte sie einen neuen verlangt -, stieg aus dem Wagen und eilte direkt zu zwei Mädchen, die neben dem Fahnenmast warteten. Um Sierra und Zoe drehte sich bei Betsy neuerdings alles. Sie wollte unbedingt so sein wie sie. Offenbar war eine Mutter, die Helikopterpilotin bei der Army National Guard war, sehr kompromittierend. Als Betsy sich ihren Freundinnen näherte, ignorierten diese sie absichtlich und wandten ihr gleichzeitig den Rücken zu wie ein Fischschwarm, der vor der Gefahr flieht.
Jolene umklammerte fester das Lenkrad und fluchte leise.
Betsy wirkte peinlich berührt und niedergeschlagen. Ihre Schultern sackten nach vorn, ihr Kinn senkte sich. Sie zog sich schnell zurück, um so zu überspielen, dass sie zu ihren ehemaligen besten Freundinnen gerannt war. Allein ging sie zum Schulgebäude.
Jolene rührte sich so lange nicht vom Fleck, bis jemand sie anhupte. Sie litt mit ihrer Tochter. Zurückweisung war etwas, was sie nur zu gut kannte. Sie hatte ewig darauf gewartet, von ihren Eltern geliebt zu werden. Sie musste Betsy beibringen, stark zu sein und sich für das Glück zu entscheiden. Wenn man es nicht zuließ, konnte niemand einem weh tun. Angriff war die beste Verteidigung.
Schließlich fuhr sie weiter. Um dem Berufsverkehr auszuweichen, wählte sie nur Landstraßen zur Liberty Bay. An der Einfahrt neben ihrer eigenen bog sie ein, fuhr zum Nachbarhaus hinauf - einem kleinen weißen Fertighaus mit angrenzender Autowerkstatt - und hupte.
Sofort kam Tami Flynn, ihre beste Freundin, heraus. Auch sie trug bereits ihre Fliegeruniform und hatte die langen schwarzen Haare streng aus dem Gesicht frisiert. Jolene hätte schwören können, dass nicht ein einziges Fältchen die kaffeefarbene Haut von Tamis flächigem Gesicht kräuselte. Tami behauptete, das läge an ihrer indianischen Herkunft.
Sie war die Schwester, die Jolene nie gehabt hatte. Sie hatten sich als Teenager kennengelernt - zwei Achtzehnjährige, die zur Army gegangen waren, weil sie nicht wussten, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollten. Beide hatten sich auf der High School für die Ausbildung zum Helikopterpiloten qualifiziert.
Ihre Leidenschaft fürs Fliegen hatte sie zusammengebracht, eine ähnliche Sicht auf die Dinge hatte für eine Freundschaft gesorgt, die nie infrage gestellt wurde. Sie hatten zuerst zehn Jahre gemeinsam in der Army gedient und waren dann, als Ehe und Mutterschaft den aktiven Dienst schwierig machten, zur Guard gewechselt. Vier Jahre, nachdem Jolene und Michael in das Haus an der Liberty Bay gezogen waren, hatten Tami und Carl das Nachbargrundstück gekauft.
Tami und Jolene waren gleichzeitig schwanger geworden, hatten die magischen neun Monate zusammen durchlebt und durchlitten. Da ihre Männer nichts gemeinsam hatten, verreisten ihre Familien zwar nicht zusammen, aber das war für Jolene kein Problem. Für sie zählte vor allem, dass Tami und sie immer füreinander da waren. Und so war es auch.
I've got your six hieß wörtlich übersetzt, dass ein Helikopter hinter einem flog. Aber eigentlich bedeutete es: Ich bin für dich da. Ich gebe dir Rückendeckung. Genau das war es, was Jolene in der Army, bei der Guard und bei Tami gefunden hatte. Rückendeckung.
Die Guard hatte ihnen das Beste aus zwei Welten geboten: Sie konnten sich ganz ihren Kindern widmen und gleichzeitig beim Militär bleiben, ihrem Land dienen und Helikopter f liegen. Mindestens zwei Vormittage pro Woche und während der Trainings-Wochenenden flogen sie gemeinsam. Es war der beste Teilzeitjob der Welt.
Tami stieg auf den Beifahrersitz und knallte die Tür hinter sich zu. »Herzlichen Glückwunsch, Flygirl.«
»Danke«, antwortete Jolene lächelnd. »Da es mein Tag ist, such ich die Musik aus.« Sie schaltete den CD-Spieler ein, worauf Purple Rain von Prince aus den Lautsprechern dröhnte.
Auf dem Weg nach Tacoma unterhielten sie sich über alles Mögliche, und dazwischen sangen sie zur Musik ihrer Jugend mit: Prince, Madonna und Michael Jackson. Sie fuhren am Camp Murray, dem Sitz der Nationalgarde, vorbei und bogen bei Fort Lewis ab, wo die Luftstreitkräfte der Guard untergebracht waren.
Jolene holte die schwere Flugtasche mit dem Notfallequipment aus dem Schließfach und warf sie sich über die Schulter. Dann folgte sie Tami zum Empfang, bestätigte, dass sie ihr Zusatztraining, kurz AFTP, absolviert hatte, quittierte ihr Gehalt und setzte sich, während sie aus dem Hangar strebte, ihren Helm auf.
Die Crew war bereits da und bereitete den Black Hawk für den Flug vor. Vor dem strahlend blauen Himmel sah der Helikopter aus wie ein riesiger Raubvogel. Sie nickte dem Chef der Crew zu, checkte kurz den Helikopter, informierte die Crew und stieg dann auf der linken Seite ins Cockpit, wo sie ihren Platz einnahm. Tami stieg als Copilotin rechts ein und setzte den Helm auf.
»Ich checke Schalter und Sicherungen«, erklärte Jolene und zündete den Helikopter. Die Motoren erwachten zum Leben; die riesigen Rotorblätter setzten sich in Bewegung, langsam zuerst und dann, mit einem schrillen Heulen, immer schneller.
»Operation der Nationalgarde, Raptor Acht-Neun meldet sich ab«, sagte Jolene in ihr Mikrofon. Dann wechselte sie die Frequenz. »Tower. Raptor Acht-Neun, bereit zum Start.«
Sie setzte den schwierigen Balanceakt in Gang, der nötig war, einen Helikopter abheben zu lassen. Langsam stieg er in die Höhe. Routiniert betätigte sie die Steuerung - ihre Hände und Füße in ständiger Bewegung. Sie schraubten sich in den wolkenlosen Himmel, bis sie nur noch Blau um sich herum hatten. Weiter unter ihnen zeigten sich die blühenden Bäume in ihrer ganzen Farbenpracht. Ein Adrenalinstoß durchströmte Jolene. Wie sehr sie das liebte!
»Ich hab gehört, Sie hätten Geburtstag, Chief«, sagte der Chef der Crew durch die Sprechanlage.
»Das ist verdammt richtig«, erwiderte Tami grinsend. »Was glauben Sie, warum sie ans Steuer darf?«
Jolene grinste zu ihrer besten Freundin und genoss ihre Verbundenheit, die sie so nötig brauchte wie die Luft zum Atmen. Ihr war es egal, dass sie älter wurde, Falten bekam oder abbauen mochte. »Einundvierzig. Meiner Meinung nach kann man es schöner nicht feiern.«
Poulsbo, Washington, war eine Kleinstadt, die wie ein hübsches, kleines Mädchen am Ufer der Liberty Bay hockte. Die ersten Siedler hatten sich für diesen Ort entschieden, weil er sie mit dem kühlen blauen Wasser, den hohen Bergen und den üppig grünen Hügeln an ihre nordische Heimat erinnerte. Als sie Jahre später ihre Läden an der Front Street errichteten, gestalteten sie sie in skandinavischem Stil. Überall sah man Schnörkel und aufwendig geschnitzte Zierleisten.
Der Familienlegende der Zarkades gemäß hatte genau dies Michaels Mutter angesprochen, als sie zum ersten Mal die Front Street entlangging. Sie behauptete, sie hätte auf der Stelle gewusst, dass sie sich hier niederlassen wollte. In Dutzenden pittoresker Läden - der seiner Mutter eingeschlossen - wurde wunderschönes Kunsthandwerk aus der Gegend an Touristen verkauft.
Obwohl die Innenstadt von Seattle nur zehn Meilen Luftlinie vom Ort entfernt lag, war das Pendeln eine einzige Qual. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Michael die skandinavisch anmutende Schönheit des Orts aus dem Blick verloren und nur noch auf den zäh fließenden Berufsverkehr und die lange, gewundene Straße von seinem Haus bis zum Fährhafen von Bainbridge Island geachtet.
Es gab zwei Wege von Poulsbo nach Seattle - einen über Land und einen übers Wasser. Die Fahrt über Land dauerte zwei Stunden, die Überfahrt mit der Fähre von Bainbridge Island bis Seattle fünfunddreißig Minuten.
Aber dazu kam noch die Wartezeit. Um den Wagen auf die Fähre fahren zu können, musste man sich frühzeitig in eine Schlange einreihen. Im Sommer fuhr Michael oft mit dem Fahrrad zur Arbeit, wenn es aber regnete so wie heute - und an so vielen anderen Tagen im Nordwesten -, dann nahm er den Wagen. Dieses Jahr war der Winter besonders lang und der Frühling verregnet gewesen. Tag für Tag hatte er in seinem Lexus auf dem Parkplatz gesessen und zugesehen, wie das graue Licht der Dämmerung über die Wellen des Puget Sounds gekrochen war. Dann war er auf die Fähre gefahren, hatte den Wagen geparkt und war nach oben an Deck gegangen.
Heute saß Michael an der zum Hafen gewandten Seite der Fähre an einem kleinen Tisch und hatte seine Arbeit vor sich ausgebreitet: Woerners Zeugenaussage. An den Rändern der Unterlagen klebten wie gelbe Klaviertasten Notizzettel, die einzelne Aussagen betonen sollten, deren Wahrheitsgehalt anzweifelbar war.
Lügen. Michael seufzte angesichts der Schadensbegrenzung, die vor ihm lag. Sein einstiger Idealismus war durch die jahrelange Verteidigung schuldiger Klienten stark verkümmert.
Früher hätte er mit seinem Vater darüber geredet, und der hätte alles ins rechte Maß gerückt und Michael daran erinnert, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Gutes bewirkten.
Wir sind die letzte Bastion, Michael, das weißt du doch: die Verteidiger der Freiheit. Lass nicht zu, dass die Bösen dich unterkriegen. Wir verteidigen Angeklagte - schuldig oder nicht - und schützen damit auch die Unschuldigen.
Ich könnte ein paar Unschuldige mehr gebrauchen, Dad.
Wer nicht? Wir warten doch alle auf den einen Fall, der alles aufwiegt. Wir wissen besser als die meisten Menschen, wie es ist, jemandem das Leben zu retten. Etwas zu bewirken. Doch genau das tun wir, Michael. Verlier nicht die Hoffnung.
Er blickte auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.
Jetzt fuhr er schon seit elf Monaten allein zur Arbeit. Gerade war sein Vater noch gesund und munter an seiner Seite gewesen und hatte über seine geliebte Arbeit geredet. Dann war er plötzlich krank geworden. Und gestorben. Michael und sein Vater waren fast zwanzig Jahre lang Partner gewesen und hatten zusammengearbeitet. Sein Verlust hatte ihn tief getroffen. Er trauerte um ihre gemeinsame Zeit, doch vor allem fühlte er sich neuerdings einsam. Sein Verlust brachte ihn dazu, sein Leben zu betrachten. Und was er sah, gefiel ihm nicht.
Bis zum Tod seines Vaters hatte sich Michael stets vom Glück begünstigt gefühlt, war glücklich gewesen; aber jetzt nicht mehr.
Er wollte gern mit jemandem über seinen Verlust und all das reden. Aber mit wem? Mit seiner Frau war das nicht möglich, denn Jolene glaubte, dass Glück etwas war, für das man sich entscheiden konnte. Dass man allem stets mit einem Lächeln begegnen sollte. Wegen ihrer zerrissenen, unglücklichen Kindheit hatte sie keine Geduld mit Menschen, die sich nicht für das Glück entscheiden konnten. Zwar dachte sie, sie wüsste, was Trauer ist, weil auch sie ihre Eltern verloren hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, in Trauer zu ertrinken. Wie auch? Sie war stark, an ihr glitt alles ab.
Michael klopfte mit seinem Stift auf den Tisch und blickte aus dem Fenster. An diesem Tag war der Sund eisengrau und wirkte einsam und unergründlich. Eine Möwe ließ sich auf einem unsichtbaren Luftstrom vorbeitreiben. Es sah aus, als wäre sie mitten in ihrer Bewegung erstarrt.
Er hätte Jolene vor all den Jahren nicht nachgeben dürfen, als sie ihn anflehte, das Haus an der Liberty Bay zu kaufen. Zwar hatte er ihr erklärt, dass er nicht so weit außerhalb wohnen wollte - und nicht so nahe bei seinen Eltern -, aber am Ende hatte er sich von ihren Überredungskünsten und dem Argument, dass sie wegen der Kinder die Hilfe seiner Mutter bräuchte, erweichen lassen. Doch hätte er nicht nachgegeben und die Auseinandersetzung um ihren Wohnort verloren, dann säße er jetzt nicht täglich auf einer Fähre und vermisste den Mann, der sich hier mit ihm traf ...
Als die Fähre ihre Fahrt verlangsamte, stand Michael auf, sammelte seine Unterlagen ein und steckte sie zurück in seine schwarze Lederaktentasche. Er hatte nicht mal einen Blick hineingeworfen. Zusammen mit den anderen Passagieren stieg er die Treppe zum Parkdeck hinunter. Wenige Minuten später fuhr er von der Fähre und steuerte zum Smith Tower, der einst das größte Gebäude westlich von New York gewesen war, aber jetzt nur noch wie ein gotisch anmutendes Relikt in einer aufstrebenden Stadt wirkte.
Bei Zarkades, Antham und Zarkades im neunten Stock war alles alt: Gänge, reparaturbedürftige Fenster, zu viele Schichten Farbe - aber die Räume waren, wie das Gebäude selbst, geschichtsträchtig und schön. Riesige Panoramafenster blickten auf die Elliott Bay und die großen orangefarbenen Kräne, die die Containerschiffe beluden. In diesen Räumen hatte Theo Zarkades die Verteidigung einiger der größten und wichtigsten Strafprozesse der letzten zwanzig Jahre vorbereitet. Andere Anwälte sprachen bei Versammlungen ihres Berufsverbands, der Bar Association, immer noch fast ehrfürchtig von seiner Fähigkeit, die Geschworenen zu überzeugen.
»Hey, Michael«, grüßte die Empfangsdame lächelnd.
Er winkte kurz und ging weiter, vorbei an ernsten Assistenten, müden Anwaltsgehilfinnen und ehrgeizigen Juniorpartnern. Alle lächelten ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln. Am Eckbüro - das früher seinem Vater und jetzt ihm gehörte - blieb er kurz stehen, um sich mit seiner Sekretärin zu unterhalten. »Guten Morgen, Ann.«
»Guten Morgen, Michael. Bill möchte Sie sehen.«
»Ist gut. Sagen Sie ihm, ich sei da.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne. Danke.«
Er ging in sein Büro, das größte der Kanzlei. Ein riesiges Fenster bot Ausblick auf die Elliott Bay; die Aussicht war das eigentlich Attraktive an dem ansonsten ganz normalen Büro mit den Regalen voller juristischer Fachbücher, einem abgenutzten Holzboden, zwei Sesseln und einem schwarzen Ledersofa. Neben dem Computer stand ein Foto seiner Familie, der einzige Hinweis auf den privaten Michael Zarkades.
Er warf seine Aktentasche auf den Schreibtisch, ging zum Fenster und starrte hinunter auf die Stadt, die sein Vater geliebt hatte. Auf der Glasscheibe sah er schemenhaft sein Spiegelbild: welliges dunkles Haar, breites Gesicht, dunkle Augen. Das Bild seines Vaters als jüngerer Mann. Aber hatte sein Vater sich je so müde und ausgelaugt gefühlt?
Da klopfte es hinter ihm und die Tür ging auf. Herein kam Bill Antham, der beste Freund seines Vaters und neben Michael der einzige Seniorpartner der Kanzlei. Die Monate seit Dads Tod hatten bei Bill ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht auch bei allen anderen.
»Hey, Michael«, sagte er und hinkte zu ihm. Michael wurde mit jedem Schritt daran erinnert, dass Bill längst in den Ruhestand hätte gehen müssen. Im Vorjahr hatte er zwei neue Kniegelenke bekommen.
»Setz dich, Bill«, bat Michael und wies auf den Sessel in der Nähe des Schreibtischs.
»Danke.« Bill nahm Platz. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Michael ging wieder zu seinem Schreibtisch. »Klar, Bill. Was kann ich für dich tun?«
»Ich war gestern im Gericht und wurde von Richter Runyon festgenagelt.«
Seufzend setzte sich Michael. Es war üblich, dass Strafverteidiger Fälle vom Gericht zugewiesen bekamen - das war die Sache mit dem Sollten Sie einen Anwalt brauchen und sich keinen leisten können. Und es kam oft vor, dass die Richter dem Anwalt den Fall aufbrummten, der gerade zufällig in der Nähe war.
»Worum geht's?«
»Ein Mann hat seine Frau umgebracht. Angeblich. Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert und seine Frau durch einen Kopfschuss getötet. Das SWAT-Team hat ihn rausgeholt, bevor er sich selbst töten konnte. Ein Teil der Aktion wurde live im Fernsehen übertragen.«
Ein schuldiger Klient, der bei der Tat gefilmt wurde. Großartig. »Und jetzt soll ich den Fall für dich übernehmen. «
»Ich würde es dir nicht zumuten ... wenn Nancy und ich nicht in zwei Wochen nach Mexiko fahren würden.«
»Klar«, erwiderte Michael. »Kein Problem.«
Bills Blick wanderte durch den Raum. »Ich denke immer noch, er könnte jeden Moment hier auftauchen«, sagte er leise.
»Ja«, bestätigte Michael.
Einen Augenblick lang sahen sie sich an und erinnerten sich an den Mann, der ihr Leben geprägt hatte. Dann stand Bill auf, dankte Michael noch einmal und ging.
Danach vertiefte sich Michael in seine Arbeit und vergaß alles andere. Er studierte stundenlang Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Schriftsätze. Er hatte schon immer eine ausgeprägte Arbeitsmoral und ein noch ausgeprägteres Pflichtgefühl besessen. In der steigenden Flut seiner Trauer war die Arbeit sein Rettungsring.
Um drei Uhr meldete sich Ann über die Sprechanlage. »Michael? Jolene auf Leitung eins.«
»Danke, Ann.«
»Sie haben nicht vergessen, dass heute ihr Geburtstag ist, oder?«
Mist.
Er stieß sich von seinem Schreibtisch ab und schnappte sich den Hörer. »Hey, Jo. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.«
Sie machte ihm keine Vorwürfe, dass er ihren Geburtstag vergessen hatte, obwohl sie es sicher wusste. Er kannte keinen Menschen, der seine Gefühle derart unter Kontrolle hatte wie Jolene, und so etwas wie Wut hätte sie niemals zugelassen. Manchmal fragte er sich, ob es ihnen nicht ganz gut tun würde, sich mal zu streiten, aber zu einem Streit gehörten nun mal zwei. »Ich mach's wieder gut. Wie wär's, wenn wir in diesem neuen Restaurant oberhalb der Marina essen gehen würden?«
Bevor sie etwas einwenden konnte (was sie immer tat, wenn etwas nicht ihre eigene Idee war), sagte er: »Betsy ist alt genug, um mal ein, zwei Stündchen auf Lulu aufzupassen. Außerdem sind wir nur eine Meile von zu Hause entfernt. «
Diese Auseinandersetzung führten sie mittlerweile knapp ein Jahr. Michael war der Meinung, dass eine Zwölfjährige als Babysitter arbeiten konnte, Jolene aber nicht. Und wie bei allem in ihrem Leben wurde gemacht, was Jolene für richtig hielt. Das war er gewohnt - und hatte es satt.
»Ich weiß, dass du viel Arbeit mit dem Woerner-Fall hast«, wandte sie ein. »Wie wär's, wenn die Kinder früh zu Abend essen und dann einen Film gucken, während ich uns was Schönes koche? Oder ich könnte was Leckeres vom Bistro mitbringen; da essen wir doch immer so gern.«
»Bist du sicher?«
»Wichtig ist nur, dass wir zusammen sind.«
»Ist gut. Dann bin ich um acht zu Hause.«
Noch bevor er auflegte, war er mit den Gedanken schon wieder woanders.
Zwei
An diesem Abend zog Jolene sich sorgfältig an. Sie und Michael hatten schon seit Ewigkeiten nicht allein - als Paar - zusammen zu Abend gegessen, und sie wollte, dass alles perfekt war. Romantisch. Nachdem sie den Kindern Essen gemacht hatte, nahm sie ein duftendes Schaumbad, cremte sich mit Zitruslotion ein und zog sich dann bequeme Jeans und einen schwarzen Pulli mit U-Boot-Ausschnitt an.
Als sie wieder nach unten ging, saß Betsy am Couchtisch vor ihren Hausaufgaben, während Lulu sich auf dem Sofa in ihre gelbe Lieblingskuscheldecke gewickelt hatte und Die kleine Meerjungfrau sah. Auf dem Esstisch waren noch die Überreste ihrer improvisierten Geburtstagsfeier. Der Kuchen mit den Kerzenspuren; das rosafarbene Tagebuch, das Betsy Jolene geschenkt hatte; Lulus Geschenk, eine Glitzerhaarspange; und ein Haufen zerknülltes Geschenkpapier und zerschnittenes Schleifenband.
»Sie hat mir nichts zu sagen«, verkündete Lulu, als Jolene ins Zimmer kam.
»Sag ihr, sie soll still sein, Mom. Ich will meine Hausaufgaben machen«, erwiderte Betsy. »Sie singt zu laut.«
Und dann ging's los. Sie versuchten, einander zu übertönen, und ihre Stimmen wurden immer schriller.
»Sie hat mir nichts zu sagen«, wiederholte Lulu immer entschiedener. »Sag ihr das.«
Betsy verdrehte die Augen, verließ das Zimmer und stampfte die Treppe hinauf.
Eine Welle der Erschöpfung überkam Jolene. Sie hatte nicht gewusst, wie ermüdend es sein konnte, ein präpubertäres Mädchen zu erziehen. Wie aufmüpfig konnte man eigentlich sein? Hätte Jolene sich nur ansatzweise so benommen, dann wäre sie von einer Ohrfeige ihres Vaters quer durchs Zimmer gefegt worden.
Lulu rannte zur Spielkiste in der Ecke und stöberte darin. Als sie ihren Katzenohrhaarreif gefunden hatte, der zum letzten Halloween-Kostüm gehörte, setzte sie ihn auf und drehte sich um.
Jolene musste unwillkürlich lächeln. Da stand ihre vierjährige Tochter, die Hände in die Hüften gestemmt, mit grauen Katzenohren, die schon etwas fadenscheinig aussahen. Die spitzen grauen Dreiecke umrahmten Lulus erhitztes Gesicht und ließen sie noch elfenhafter als sonst aussehen. Aus unerfindlichem Grund glaubte Lulu, sie wäre mit diesem Haarreif unsichtbar. Jetzt miaute sie.
Jolene runzelte dramatisch die Stirn und sah sich um. »O nein ... was ist denn mit meiner Lucy Lou passiert? Wohin ist sie verschwunden?« Sie fing an, theatralisch im ganzen Zimmer zu suchen, hinter dem Fernseher, unter dem gelben Sessel, hinter der Tür.
»Hier bin ich, Mommy«, piepste Lulu und präsentierte sich kichernd mit ausgebreiteten Armen.
»Da bist du ja«, seufzte Jolene auf. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.« Sie hob Lulu auf den Arm und trug sie die Treppe hinauf. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich Lulu die Zähne geputzt und den Schlafanzug angezogen hatte, aber Jolene wartete geduldig, weil sie wusste, dass ihre Jüngere großen Wert auf Selbständigkeit legte. Als sie schließlich fertig war, legte Jolene sich zu ihr ins Bett, zog sie an sich und griff nach dem Buch Wo die wilden Kerle wohnen. Als sie es zu Ende gelesen hatte, schlief Lulu schon fast.
Sie küsste sie auf die Wange. »Nacht, Mieze.«
»Nacht, Mommy«, murmelte Lulu schläfrig.
Danach ging Jolene den Flur hinunter zu Betsys Zimmer, klopfte und trat ein.
Betsy saß auf dem Bett und hatte ihr Gesellschaftslehre- Buch auf dem Schoß. Ihr seidiges weizenblondes Haar fiel ihr in Ringellocken über den Rücken und die nackten, dünnen Arme. Eines Tages würde Betsy ihre Porzellanhaut, ihre blonden Haare und die braunen Augen zu schätzen wissen. Aber jetzt nicht. Jetzt war glattes Haar angesagt, und Pickel verunstalteten ihren Teint.
Jolene ging zu ihrer Tochter und setzte sich auf die Bett- kante. »Du könntest ein bisschen netter zu deiner Schwester sein.«
»Sie ist 'ne Nervensäge.«
»Du auch.« Jolene sah, wie Betsy die Augen aufriss, und lächelte versöhnlich. »Und ich auch. So ist das eben in Familien. Außerdem weiß ich den wahren Grund für dein Verhalten. «
»Ach, wirklich?«
»Ich hab gesehen, wie Sierra und Zoe dich heute Morgen behandelt haben.«
»Du spionierst mir ständig nach«, sagte Betsy mit brüchiger Stimme.
»Ich hab dir nachgesehen, als du in die Schule gingst. Das ist doch kein Spionieren. Im letzten Jahr wart ihr drei noch dick befreundet. Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte sie stur und presste die Lippen zusammen, um ihre Zahnspange zu verbergen.
»Weißt du, ich könnte dir helfen. Ich war schließlich auch mal zwölf.«
Betsy bedachte sie mit dem Bist-du-verrückt-Blick, der Jolene mittlerweile vertraut war. »Das bezweifle ich.«
»Vielleicht solltest du morgen nach der Schule was mit Seth machen. Weißt du noch, wie viel Spaß ihr früher zusammen hattet?«
»Seth ist komisch. Das finden alle.«
»Elizabeth Andrea, sei nicht so gehässig! Seth Flynn ist nicht komisch. Er ist der Sohn meiner besten Freundin. Was soll's, wenn er die Haare lieber lang trägt und ... still ist. Er ist dein Freund. Das solltest du nicht vergessen. Eines Tages brauchst du ihn vielleicht.«
»Na und?«
Jolene seufzte. Das kannte sie schon; ganz gleich, was sie jetzt noch sagen würde, von Betsy käme keine Antwort mehr. Na und hieß Ende des Gesprächs.
»Na gut.« Sie beugte sich vor und gab Betsy einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab dich lieb. Bis zum Mond und wieder zurück.«
Diese Worte waren das Motto ihrer Familie, ihre Liebe zueinander reduziert auf zwei kleine Sätze. Los, sag's auch, Betsy.
Jolene wartete etwas länger, als sie beabsichtigt hatte, und wurde prompt wütend auf sich, weil sie sich Hoffnungen machte. Schon wieder. Das Dasein einer Teenagermutter war geprägt von ständigen, winzigen Enttäuschungen. »Na gut«, wiederholte sie und stand auf.
»Wieso ist Dad noch nicht zu Hause? Heute ist doch dein Geburtstag.«
»Er kommt jede Minute. Du weißt doch, wie viel er in letzter Zeit zu tun hat.«
»Kommt er mir noch gute Nacht sagen?«
»Natürlich.«
Betsy nickte und widmete sich wieder ihrem Buch.
© Ullstein TB (Verlag)
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Autoren-Porträt von Kristin Hannah
Kristin Hannah, Jahrgang 1960, studierte zunächst Jura, obwohl ihre Mutter ihr schon früh prophezeite, dass sie Schriftstellerin werden würde. Heute ist sie eine international erfolgreiche Bestsellerautorin, deren preisgekrönte Romane auch schon verfilmt wurden. Kristin Hannah lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einer kleinen Stadt in der Nähe von Seattle, Washington.
Marie Rahn studierte und lehrte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Seit über fünfundzwanzig Jahren übersetzt sie für verschiedene Verlage Belletristik aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristin Hannah
- 2013, 3. Aufl., 512 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Rahn, Marie
- Übersetzer: Marie Rahn
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284787
- ISBN-13: 9783548284781
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
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